VWL 04 - SV

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Sozialer Ausgleich

Die Schweiz gilt als eines der reichsten Länder der Welt. Für viele Menschen ist es daher schwer vorstellbar, dass es auch bei uns Erscheinungsformen von Armut gibt. Der schweizerische Sozialstaat kennt eine Vielzahl von Instrumenten, die verhindern sollen, dass Menschen in existenzielle Not geraten. Die wichtigsten sind die Sozialversicherungen – z. B. die Alters- und Hinterlassenenversicherung und die Sozialhilfe. Der soziale Ausgleich kann nur funktionieren, wenn er auch in Zukunft finanzierbar ist. Der Altersaufbau sowie die zahlenmässige Entwicklung der Bevölkerung stellen enorme Herausforderungen an die Ausgestaltung der verschiedenen Sozialversicherungen dar.

Theorie 1 2 3 4 5 6

Übungen

Das Gesamtsystem der sozialen Sicherung in der Schweiz ...................................... Die öffentliche Sozialhilfe ...................................................................................... Das 3-Säulen-Konzept als Grundlage der Sozialversicherungen .............................. Die 1. Säule: die staatliche Vorsorge – AHV/IV/EO ................................................. Die 2. Säule: die berufliche Vorsorge (BVG) ........................................................... Die 3. Säule: die private Vorsorge .......................................................................... Das haben Sie gelernt ........................................................................................... Diese Begriffe können Sie erklären ........................................................................

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Aufgaben 1 2 3

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Das Gesamtsystem der sozialen Sicherung ............................................................. Soziale Sicherung .................................................................................................. Die 1. Säule: AHV / IV / EL / EO ................................................................................. Das 3-Säulen-Konzept .......................................................................................... Die 2. Säule: die berufliche Vorsorge ...................................................................... Die Herausforderungen an AHV und Pensionskassen .............................................

Der Gang zur Sozialhilfe ........................................................................................ 20 Lohnprozente für die 1. und 2. Säule ..................................................................... 22 Finanzierungsproblematik in der 2. Säule ............................................................... 23

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1 Das Gesamtsystem der sozialen Sicherung in der Schweiz

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■ System der sozialen Sicherung im Gesamtmodell

System der sozialen Sicherung im Gesamtmodell

Soziale Sicherheit soll die gesamte Bevölkerung vor den wichtigsten Lebensrisiken schützen. Es handelt sich somit bei der «sozialen Sicherheit» um Massnahmen, mit denen die wichtigsten Unsicherheiten des menschlichen Lebens aufgefangen werden können.

Soziales System Bereich Sozialrecht

■ Die neun Risiken der sozialen Sicherheit1 5. Alter

2. Verdienstausfall bei Krankheit

6. Tod

3. Mutterschaft

7. Invalidität

4. Arbeitsunfälle und Berufskrankheiten

8. Arbeitslosigkeit

Sozialversicherungen z. B. AHV, IV, Arbeitslosenversicherung

Sozialversicherungsrecht, Kindes- und Erwachsenenschutzrecht, Strafrecht

1. Medizinische Versorgung

9. Familienlasten

Solche Massnahmen bedingen eine Solidarität zwischen den verschiedenen Einkommensklassen und Generationen innerhalb einer Gesellschaft. Gemäss dem Grundprinzip der Versicherungen sollen dadurch grundsätzlich die von den negativen Auswirkungen und Schicksalsschlägen verschonten Bevölkerungskreise jenen Personen helfen, die von den genannten Risiken betroffen sind und einen finanziellen Schaden erleiden. Der Schweizer Sozialwissenschafter2 François Höpflinger hat vor rund zwanzig Jahren das Gesamtsystem der sozialen Sicherung in der Schweiz in einem Modell dargestellt. Er geht dabei von einem sozialen Netz im Zentrum der Gesellschaft aus. Dieses Netz soll Menschen davor schützen, in existentielle Not zu geraten. Soziale Sicherheit bieten zum einen soziale Gruppen, z. B. die Familie, ein intakter Freundeskreis, die Nachbarschaft in einem Quartier oder eine religiöse Gemeinschaft. Diese Gemeinschaften bieten den Menschen in erster Linie Geborgenheit und ein Gefühl der Zugehörigkeit; manchmal gewähren sie aber auch finanzielle Unterstützung in vorübergehenden Notlagen (z. B. wenn ein naher Angehöriger stirbt, jemand überraschend seine Anstellung verliert oder nach einer Scheidung). Dies alles schafft auch ein Gefühl von Solidarität und Sicher­heit. Wer allerdings die Werte einer solchen Gemeinschaft nicht mehr teilt, läuft Gefahr, daraus ausgeschlossen zu werden und deren Unterstützung zu verlieren. Wenn beispielsweise Kinder sich längere Zeit nicht um ihre Eltern kümmern oder man nie etwas mit den Nachbarn zu tun haben will, ist eine Unterstützung in Notsituationen nicht unbedingt zu erwarten.

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Gemäss Definition der Internationalen Arbeitsorganisation (ILO)

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SSozialwissenschaften ozialwissenschaften befassen sich (vereinfacht ausgedrückt) mit dem Zusammenleben der Menschen und dem Funktionieren der gesamten Gesellschaft.

Abstimmungen

Sicherung durch den Staat

Sicherung durch soziale Gruppen z. B. durch Familie, Hausgemeinschaften, Freunde

soziale Lage

Wahrnehmungsfilter

«soziales Netz»

sozialer Ausschluss Massnahmen zur Wiedereingliederung

Wirtschaftslage und Umweltqualität

z. B. öffentliche Sozialhilfe, Massnahmen des Kindesund Erwachsenenschutzrechts, Strafrecht

Soziale Sicherheit bietet zum andern auch der Staat. Sozialversicherungen basieren im Gegen­satz zu den sozialen Gruppen nicht auf einheitlichen Normen und Werten ihrer Mitglieder, vielmehr umfassen sie eine grosse Zahl von Menschen mit unterschiedlichem weltanschaulichem Hintergrund. Das gemeinsame und verbindende Ziel besteht darin, die finanziellen Folgen grosser sozialer Risiken wie Alter, Tod, Invalidität oder Arbeitslosigkeit gemeinsam mithilfe des Versicherungsprinzips zu bewältigen. Wer sich und seine nächsten Angehörigen versichern will, muss dazu einen Teil seines Erwerbseinkommens (Lohnprozente) als Versicherungsprämie einzahlen. Aber bei den Sozialversicherungen gilt: versichert ist nur, wer Beiträge zahlt. Und Beiträge zahlt, wer arbeitet.3 Der Versicherungsschutz gilt darüber hinaus einzig für Ehegatten und nicht erwachsenen Kindern von Beitragszahler/innen. Wenn jemand also über längere Zeit keine Arbeit findet oder aus freien Stücken nicht arbeiten möchte, wird der Versicherungsschutz geschmälert oder geht ganz verloren. Vom so beschriebenen sozialen Netz profitieren also nur Menschen, die sozialen Gruppen angehören oder einer Erwerbsarbeit nachgehen können. Man spricht in diesem Zusammenhang von sozialer Integration. Kann oder will jemand nicht arbeiten und bestehen auch keine enge Bindungen an soziale Gruppen, droht der soziale Ausschluss (= soziale Desinte3

ie Beiträge sind lückenlos zu bezahlen. Fehlende Beitragsjahre können zu einer Kürzung der Renten führen. D Der Mindestbeitrag für Nichterwerbstätige, wie z. B. Studierende, beträgt CHF 482.– pro Jahr (Stand 2019).


gration). Eine solche Person läuft Gefahr, durch die Maschen des sozialen Netzes zu fallen, wenn sie von den finanziellen Folgen von Invalidität, Alter, Arbeitslosigkeit oder Tod betroffen wird. Dann greift die öffentliche Sozialhilfe ein. Sie kümmert sich um jene Menschen, bei denen die beschriebenen Sicherungssysteme versagt haben oder nicht ausreichen. Wie viele Arme gibt es in der Schweiz? Das Bundesamt für Statistik orientiert sich für die Definition an den Richtlinien der Schweizerischen Konferenz für Sozialhilfe (SKOS). Diese Armutsgrenze berechnet sich aus einem Pauschalbetrag für den Lebensunterhalt, den individuellen Wohnkosten sowie monatlich 100 CHF pro Person ab 16 Jahren für weitere Auslagen. Im Jahr 2020 betrug die Armutsgrenze durchschnittlich 2279 CHF pro Monat für eine Einzelperson und 3963 CHF pro Monat für einen Haushalt mit zwei Erwachsenen und zwei Kindern unter 14 Jahren. Danach waren 2020 4,2 % aller Erwerbstätigen von ­Armut betroffen. Dies entspricht rund 158 000 Personen. Die Einkommenssituation der Erwerbstätigen wird wesentlich durch die Arbeitsform ­sowie die Arbeitsbedingungen bestimmt. Folgende Gruppen waren besonders häufig trotz Erwerbstätigkeit armutsbetroffen: • Personen, die nicht ganzjährig erwerbstätig waren • Selbstständigerwerbende • Personen mit befristeten Arbeitsverträgen • Personen, die in kleinen Betrieben tätig sind

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In erster Linie versucht die öffentliche Sozialhilfe mit finanziellen Mitteln sicherzustellen, dass Menschen nicht in existentielle Not geraten und auch weiterhin am sozialen Leben teilhaben können. Denn mit der Aufrechterhaltung oder Stärkung ihrer Beziehungen wird der drohenden sozialen Desintegration entgegengewirkt. Im Idealfall können die Betroffenen nach ­einiger Zeit wieder selbst für ihren Lebensunterhalt sorgen. Bei einer erneuten Notlage ­greifen schliesslich die Sicherungssysteme des sozialen Netzes, d. h. die sozialen Gruppen und/oder die Sozialversicherungen wieder (= Reintegration). Die öffentliche Sozialhilfe ist eines von vielen Instrumenten, mit denen sich der Staat um Menschen in Ausnahmesituationen kümmert. Andere Instrumente sind z. B. Massnahmen des Kindes- und Erwachsenenschutzrechts, wenn die Urteilsfähigkeit einer Person infrage gestellt ist oder Ausbildungsangebote, wenn junge Menschen straffällig geworden sind und im Gefängnis auf ein selbständiges Leben in Freiheit vorbereitet werden sollen. Das soziale System und seine Sicherungsmechanismen sind Veränderungen unterworfen, die sich auf die Rechtsordnung auswirken können. Dies zeigt sich zum einen durch Reformen im Vormundschaftswesen. Seit dem 1. 1. 2013 gilt ein neues Kindes- und Erwachsenenschutzrecht, das u. a. durch die Förderung des Selbstbestimmungsrechts und die Stärkung der Solidarität in der Familie geprägt ist. Zum andern manifestieren sich diese Veränderungen durch die periodischen Anpassungen der Sozialversicherungssysteme. So wurden z. B. bei der AHV seit ihrer Gründung bereits zehn Reformen durchgeführt. In der laufenden, elften «Revisionsrunde» steht dabei die Befürchtung im Mittelpunkt, dass der immer grössere Anteil rentenberechtigter Personen die langfristige Finanzierbarkeit der Sozialversicherungen infrage stellen könnte. Diese Beispiele zeigen die Wirkungsweise des in unserem Lehrmittel verwendeten Gesamtsystems auf: Gesellschaftliche und wirtschaftliche Entwicklungen führen allenfalls zu ­einer veränderten Wahrnehmung der sozialen Lage, was in der Folge Anpassungen der Rechtsordnung (z. B. Sozialversicherungsrecht, Vormundschaftsrecht etc.) auslösen kann.

2 Die öffentliche Sozialhilfe Wie muss man sich die öffentliche Sozialhilfe konkret vorstellen? Grundsätzlich geht es um Geldbeiträge des Staates (deshalb «öffentliche» Sozialhilfe) an Personen, die sich in einer speziellen Notlage befinden. Die Sozialhilfe soll die soziale Integration von Sozialhilfebezügern sicherstellen, d.h. die betroffenen Personen sollen sich in das gesellschaftliche Leben «einfügen» können und nicht ausgegrenzt werden. Deshalb geht sie über die rein materielle Existenzsicherung hinaus. Ziel ist, die Selbstständigkeit der betroffenen Personen zu fördern, um zu verhindern, dass sie in eine demütigende und dauernde Abhängigkeit von staatlichen Behörden geraten. Darum wird der traditionelle, rein ökonomische Bereich der Sozialhilfe mit Beratungsangeboten ergänzt. Um den Anspruch auf Sozialhilfe überprüfen zu können,

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muss aber zuerst eine Beurteilung der individuellen Situation eines Antragstellers vorgenommen werden. Dabei lassen sich die Fürsorgebehörden von folgenden Grundsätzen leiten: ■ Wahrung der Menschenwürde: Hilfesuchende sollen ein menschenwürdiges Leben führen können und bei der konkreten Ausgestaltung der Hilfe ein Mitspracherecht haben. So soll verhindert werden, dass sie ihre Selbstachtung verlieren. ■ Die Sozialhilfe soll aber immer erst als letztes Mittel zum Zuge kommen, d.h., wenn die anderen Sicherungen versagen oder nicht genügen. Diesen Grundsatz bezeichnen wir als Prinzip der Subsidiarität. Konkret bedeutet dies, dass geprüft wird, ob z.B. die Verwandten nicht in der Lage sind, den Antragsteller zu unterstützen oder ob allenfalls ein Anspruch auf Leistungen der Sozialversicherungen besteht. ■ Ein Sozialhilfeempfänger hat zudem Anspruch darauf, dass seine persönliche Lebenssituation bei der Bemessung der Unterstützungsbeiträge berücksichtigt wird. Nach unten ist die Unterstützung durch die Festlegung eines allgemeinen Existenzminimums begrenzt, nach oben soll aber ein gewisser Spielraum für individuelle Lösungen bestehen. ■ Bedarfsdeckung: Als weiterer Grundsatz gilt, dass Sozialhilfe immer von einem tatsächlichen aktuellen Bedarf ausgeht und frühere Zustände unberücksichtigt lässt. Das heisst, man kann den Sozialhilfeanspruch einer Person nicht mit der Begründung beschneiden, sie habe in früheren Jahren durch einen verschwenderischen Lebenswandel viel zur Entstehung der aktuellen Notlage beigetragen. Entscheidend ist einzig die Frage, ob im Moment sowie in der näheren Zukunft tatsächlich ein Bedarf nach staatlicher Unterstützung besteht. Darin unterscheidet sich die Sozialhilfe übrigens auch deutlich von Rentenansprüchen gegenüber einer Sozialversicherung. Dort werden Renten nämlich nicht aufgrund des Bedarfs eines Rentenbezügers ausgerichtet, sondern einzig aufgrund versicherungstechnischer Daten wie Prämienhöhe, Beitragsdauer, versichertes Einkommen usw. Deshalb hat beispielsweise auch ein Millionär Anspruch auf eine AHV-Rente. ■ Angemessenheit: Um das Zusammenleben innerhalb einer Gemeinschaft nicht unnötigen Spannungen auszusetzen, darf die geleistete Sozialhilfe schliesslich nicht übermässig sein. Jemand, der Sozialhilfe erhält, sollte finanziell nicht besser gestellt sein als sein Nachbar, der vom Staat nicht unterstützt wird. Die Sozialhilfe gehört in der Schweiz in den Aufgabenbereich der Gemeinden. Um sicherzustellen, dass zwischen den Gemeinden nicht zu grosse Unterschiede entstehen, gibt die Schweizerische Konferenz für Sozialhilfe (SKOS) regelmässig Empfehlungen heraus ( SKOS-Richtlinien), an denen sich viele Gemeinden orientieren. Meistens werden die Ansätze innerhalb eines Kantons vereinheitlicht.


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 Das haben Sie gelernt Soziale Sicherheit erläutern Die neun Risiken der sozialen Sicherheit aufzählen Das verbindende Ziel der Sozialversicherungen nennen Das Ziel der öffentlichen Sozialhilfe erklären Die Ziele und Kriterien bei der Vergabe von Sozialhilfe von jenen der Sozialversicherungen unterscheiden Die fünf Grundsätze aufzählen, nach denen Fürsorgebehörden handeln Das schweizerische 3-Säulen-Konzept mit der staatlichen, beruflichen und privaten Vorsorge erklären Herausforderungen und Lösungsmöglichkeiten für die Finanzierung der AHV aufzeigen Ziele und Formen der beruflichen Vorsorge aufzeigen Das Kapitaldeckungsverfahren als Finanzierungsgrundlage der AHV erklären Herausforderungen und Lösungsmöglichkeiten für die Finanzierung der beruflichen Vorsorge aufzeigen Ziele und Formen der privaten Vorsorge aufzeigen

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Offene Fragen


 Diese Begriffe können Sie erklären Soziale Sicherheit

Berufliche Vorsorge (BVG)

Soziale Gruppen

Pensionskasse

Sozialversicherungen

Koordinationsbetrag

Soziale Integration

Versicherter BVG-Lohn

Soziale Desintegration

Koordinierter Lohn

Öffentliche Sozialhilfe

Kapitaldeckungsverfahren

Subsidiarität

Freizügigkeitsleistung

Bedarfsdeckung

Deckungsgrad

Angemessenheit

Unterdeckung

SKOS-Richtlinien

Mindestzinssatz

3-Säulen-Konzept

Umwandlungssatz

AHV

3. Säule – private Vorsorge

Umlageverfahren

Säule 3a

Generationenvertrag

Gebundene Vorsorge

Ausgleichskasse

Säule 3b

Umverteilungseffekt Demografischer Wandel Altersquotient IV EL EO ALV

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Übung 4 Das 3-Säulen-Konzept Ergänzen Sie das Schema des 3-Säulen-Konzeptes mit den fehlenden Ausdrücken:

3-Säulen-Konzept

als Vorsorge für Alter, Tod und 1

2. Säule

1. Säule Staatliche Vorsorge

2

AHV / IV / EL / EO

3

Existenzsichernde

Ergänzungsleistungen

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3. Säule Private Vorsorge

Unfallversicherung 2a obligatorischer Teil

2b überobligatorischer Teil (freiwillig)

Banksparplan oder 8 Lebensversicherung 3a gebunden

3b frei

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gemäss Berufsvorsorge- und Unfallversicherungsgesetz (BVG / UVG)

obligatorisch

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freiwillig

Existenzsicherung (1. Säule) Sicherung von ca. (1. / 2. Säule zusammen) Sicherung der (1. / 2. / 3. Säule zusammen)

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Aufgabe 1 Der Gang zur Sozialhilfe In einem Beitrag des Sendegefässes «Rundschau» des Schweizer Fernsehens (www.srf.ch) vom 23. November 2011 wird am Schicksal eines Lastwagenchauffeurs dargestellt, wie «schnell» jemand durch die Maschen des sozialen Netzes fallen kann.

Nach Burnout direkt in die Sozialhilfe Ein Lastwagenchauffeur fällt durch alle Maschen des sozialen Netzes. Was zunächst wie ein bedauerlicher Einzelfall aussieht, könnte sich in Zukunft immer häufiger wiederholen, wie die «Rundschau» berichtet. Christian Rentsch Gerhard Ott fuhr Lastwagen, sein ganzes Berufsleben lang, 28 Jahre. Überstunden, wenig Ruhezeiten, eine strapaziöse Ehescheidung: Im Januar streikte sein Körper, Hyperventilation, Panikattacken, Burnout. «Ohne Schlaftablette, ohne irgendwas. Ich bin einfach einen Monat weg gewesen», sagt Ott. Der Hausarzt attestiert dem 46-Jährigen eine «reaktive Depression im Rahmen chronischer Überbelastung am Arbeitsplatz und Ehescheidung», Ott sei zu 100 Prozent arbeitsunfähig. Das bestätigen später auch die Psychiatrischen Dienste Aargau. Krankenkasse stellt sich quer Doch die CSS, die Krankentaggeldversicherung 1 von Otts Arbeitgeber, sieht das ganz anders. Das Schreiben vom 1. 4. 2011 ist kein Aprilscherz: «Da in diesem Fall nichtmedizinische Faktoren zur Arbeitsunfähigkeit geführt haben, können wir

… keine Taggeldleistungen erbringen.» Ein fatales Signal für den Arbeitgeber, der nun finanziell unter Druck gerät und darum den Arbeitsvertrag mit Gerhard Ott auf den 31. Juli kündigt.2 Ab 1. August sollte eigentlich die Arbeitslosenkasse das Einkommen von Gerhard Ott sichern. Doch auch diese lehnt ab, denn laut Hausarzt sei er arbeitsunfähig. «Der Anspruch auf Arbeitslosenentschädigung wird infolge fehlender Vermittlungsfähigkeit ab dem 1. August 2011 abgelehnt.» Auch eine Vorleistungspflicht, die eigentlich für solche Fälle vorgesehen wäre, lehnt die Arbeitslosenversicherung des Kantons Aargau ab. Situation belastet Psyche Gerhard Ott bleibt nur noch der Gang zur Sozialhilfe. Ein schwerer Gang für den fleissigen Arbeiter, der laut Tochter auch dann zur Arbeit ging, wenn er mal krank war. «Ich bin halt so erzogen worden, zu schaffen, für mich zu schauen», so Ott. Er schäme sich für seine Situation. «Wenn man so weit unten ist, geht es halt ans Lebendige.» Dabei hat Gerhard Ott keinen Grund, sich zu schämen. Alle Maschen des sozialen Netzes versagten. Nur die Sozialhilfe kann Ott noch auffangen. Allerdings mit Auflagen, die seine gesamte Lebenssituation verändern würden.

1. Beantworten Sie die Fragen a) bis d) auf der nächsten Seite mithilfe des «Rundschau»-­ Beitrags und dem folgenden Textbeitrag. 2. Studieren Sie die Kapitel 18.1 und 18.2 im Theorieteil (Seite 2 und 4) und beantworten Sie anschliessend die Frage e).

Die Behörde verlangt, dass er seine Wohnung aufgebe, weil sie monatlich 30 Franken zu teuer ist. Und auch das Auto soll weg. Dabei ist Ott durch einen Leasingvertrag gebunden, aber das spielt für die Gemeinde Oftringen keine Rolle. Abhilfe dank Juristen «Unsere Aufgabe ist ganz klar, dem Klienten zu zeigen, wo seine Grenzen sind, wo er unbedingt mit dem persönlichen Mittelbedarf runterfahren muss», verteidigt der zuständige Gemeinderat Martin Bhend das Vorgehen des Sozialamtes. Nur durch das Einschalten eines Anwaltes kommt doch noch Bewegung in die ruinöse Situation. Die Arbeitslosenversicherung hat den Fall inzwischen überdacht und wird nun doch zahlen, rückwirkend ab 1. August. Das erspart Gerhard Ott in Zukunft wenigstens die Sozialhilfeabhängigkeit. Mit der CSS soll im Dezember eine Einigung vor dem Friedensrichter erzielt werden. Ein Trend? Solche Kämpfe mit den Taggeldversicherungen könnten schweizweit zunehmen. Der Arbeitsmediziner Dieter Kissling spürt eine zunehmende Tendenz von Ablehnungen. «Wir haben eine starke Zunahme von Stress in der 1

Trauriges Schicksal («Rundschau», 09 : 54 Minuten)

Arbeitswelt und dadurch auch eine starke Zunahme von Burnout-Fällen», so Kissling. Damit steige auch die Leistungspflicht der Versicherungen. Für den Gründer und Leiter des Instituts für Arbeitsmedizin in Baden ein nicht verständ­ licher, aber nachvollziehbarer Prozess, «dass Krankentaggeldversicherungen versuchen, ihre Leistungen dort nicht zu erbringen.» Burnouts seien psychische Erkrankungen und bedingten meist einen längeren Genesungsprozess als körperliche Erkrankungen. Gerhard Ott ist inzwischen wieder zu 50 Prozent arbeitsfähig. Und hofft nun auf eine neue Anstellung in seinem Traumjob, dem Lastwagenfahren. Quelle: «Rundschau» vom 23. November 2011

E ine (freiwillige) Krankentaggeldversicherung übernimmt die Kosten der Lohnfortzahlungspflicht des Arbeitgebers bei krankheitsbedingter Abwesenheit eines Arbeitnehmenden.


a ) Listen Sie die Gründe auf, weshalb der Lastwagenchauffeur Gerhard Ott durch alle ­Maschen des sozialen Netzes gefallen ist?

b) Welches wären in diesem Fall die «Maschen des sozialen Netzes»?

d) Welchen Erfolg hatte das Einschalten eines Anwaltes?

e) Studieren Sie noch einmal den Abschnitt zur öffentlichen Sozialhilfe (insbesondere den Grundsatz der Bedarfsdeckung) in der Theorie (Seite 4) und formulieren Sie in eigenen Worten den grundlegenden Unterschied zwischen der Sozialhilfe und den Sozial­versicherungen.

c ) Wie beurteilen Sie die Massnahmen der Sozialhilfebehörden der Gemeinde Oftringen?

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nmerkung der Autoren: Vermutung, dass hier der Kündigungsschutz im Krankheitsfall aufgehoben wurde, A weil (nach CSS) «nichtmedizinische Faktoren» zur Arbeitsunfähigkeit geführt hatten.

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