Schluss Machen

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dokumentation

märz 2014

«Schluss Machen«

Kompaktseminar Designmethoden Design Research Lab | Prof. Dr. Gesche Joost | Universität der Künste Berlin

Kompaktseminar Designmethoden Dipl.-Des. Susanne Hausstein Institut für Produkt- und Prozessgestaltung Universität der Künste Berlin 17. – 21. Februar 2014 Einsteinufer 43 Raum 203 10623 Berlin



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«Schluss Machen» Kompaktseminar Designmethoden, am Fachbereich Gestaltung: Designforschung von Prof. Gesche Joost Universität der Künste Berlin. Unter Leitung von Susanne Hausstein © 2014.

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Inhaltsverzeichnis Auftakt

07

Konzeptskizze / Beschreibung Einführung: Design und Müll in der Lehre

07 07

Themen

11

Müll: Entwicklung und Ausbreitung Müll als Werkzeug im Designprozess Modell: Subjekt-Objekt-Beziehung Die Rolle des Designers «Müllprojekte»: Abfall in Kunst und Design Müll als Methode: Garbologie

11 15 17 18 19 22

Stoffsammlung

25

Field trip: Müllraum

26

Methode: Müll

28

«Recipes for Disaster» «Müllfasten» Schematisierung als Methode des Erkenntnisgewinns

28 29 30

Methode iM Test

30

«Müllfasten» Der Fasttag: Einblicke und Auszüge Biografie eines Müll-Artefakts Inszenierung als Medium des Designwissens

30 34 37 38

Manifest «Der Designer und der Müll»

45

Diskussion

47

Rituale des Verschwindens Rituale des Erscheinens «Müllfasten» als Designmethode Anmerkungen zur Gestaltung zukünftiger Müll-Seminare

47 48 48 48

Literaturangaben

50

Abbildungsnachweis

50



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Auftakt Konzeptskizze / Beschreibung

Menschen entscheiden sich meist bewusst, ob sie sich von Dingen trennen. Wenn die Beziehung zwischen Mensch und Ding beendet wird, so wird auch das zugrunde liegende Produktkonzept des Designers aufgekündigt. Im Seminar soll es um diese spannende Dreiecksbeziehung gehen. Wir wollen das menschliche Ritual des Wegwerfens zunächst allgemein, dann im Hochschulalltag und auch privat genauer kennenlernen. Unsere Rolle als Designer steht damit auf dem Prüfstand. Es soll schlussendlich gelingen die vielfältigen Erkenntnisse aus unseren Untersuchungen in Entwurfsprozessen anzuwenden.

und Zahlen berechnen muss. Nein, es handelt sich um das Alltäglichste, das ein jeder tut, aber kaum jemand beachtet. Müll, Abfall, Kehricht, Mist, Schrott – es gibt mannigfaltige Begriffe für den Zustand von Dingen (Produkten) am Ende ihres vorbestimmten Lebens durch den Designer. Doch inwiefern dieser manifeste Zustand in seiner aktuellen Ausprägung Einfluss nimmt auf die Gestaltungslehre der Designschulen, steht innerhalb des Workshops auf dem Plan. Da es naturgegeben nicht den Studenten obliegt Lehrpläne zu gestalten, soll hier eingangs der Weg nachgezeichnet werden, der aus Studentensicht zur Einsicht in das enge Beziehungskonstrukt aus Müll und Designer führt.

Einführung: Design und Müll in der Lehre

Die Ausbildung von (Produkt-) Designern in Deutschland hat eine lange Tradition, die historisch bedingt durch viele Umwege und Ausflüge gekennzeichnet ist. Seit der Zeit Henry van de Feldes und Walter Gropius’, mit dem Auf- und Niedergang des Bauhauses, der Ulmer Hochschule für Gestaltung sowie der Entstehung und Veränderung der Hochschule für industrielle Formgestaltung an der Burg Giebichenstein in Halle/Saale geht es der deutschen Gestaltungslehre um die Emanzipierung der Kunst von der Industrialisierung. Obwohl dieser Prozess als abgeschlossen angesehen werden kann, befindet sich die Disziplin Design und deren Lehre in einem ständigen Selbstfindungs- und Wandlungsprozess. Vieles, was Design leistet, wird durch die Bestimmungen und Regularien der industriellen Massenproduktion beeinflusst, ja geradezu zunichte gemacht. Die ästhetische Formgebung, als inhärentes Ziel der Aktivität des Designers, ist dabei in den seltensten Fällen das Problem. Vielmehr eröffnen sich zwei dominante Handlungsstränge entlang des Leitmotivs «Form Follows Function»: Zum einen handelt es sich dabei um die Intensivierung der technologischen Beherrschung des Alltags, sodass (neue) Technologien als Motor für neue Anwendungen und Produkte dienen. Zum anderen ringen Designstudenten nun vermehrt mit der Erschaffung und Veränderung von Bedürfnissen. Dabei geht es in der westlichen Fortschrittszivilisation schon lange nicht mehr um Grundbedürfnisse, sondern um Verlangen und Begehren, das sich vor allem auf marktwirtschaftliche Zusammenhänge zurückführen lässt. Beide Strömungen haben gewissermaßen einen großen Schatten geworfen, der von lehrenden und lernenden Designern kaum beachtet wird. In diesem Schatten stehen keine komplizierten Sachverhalte, die man mit Formeln

Im Zuge einer Abschlussarbeit an einer Designhochschule geht es meist um einen zusammenfassenden Blick auf das eigene Profil, eine Arbeit, die für alle Erkenntnisse des Studiums stellvertretend Position bezieht. So kann es passieren, dass gewisse Momentaufnahmen des Alltags Sorgen oder Problemstellungen in ein ganz bestimmtes Bild rahmen. Das Bild eines gewöhnlichen Hinterhofes eines Mehrfamilienhauses in Berlin stellt die Sorgen um die wachsende Vielzahl weggeworfener Massenprodukte als buntes Chaos sich stapelnder ‹Tütentürme› auf Dreck umspielten Containern dar. Es birgt die Frage nach der eigenen Verantwortung als Produktdesigner an den stetig wachsenden Müllbergen aus verfallenen1 Sinneinheiten.

1  ‹Verfallen› bezieht sich in diesem Kontext auf das auf Verpackungen (meist von Arznei) angegebene Verfalldatum, das die vom Hersteller garantierte Laufzeit der Wirksamkeit und Qualität des Produkts markiert.

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Der ökologische Fussabdruck von Produkten, Dienstleitungen und Infrastruktur wird zu

011 r2 ua n i J a n B e r l l ln ö uk Ne auf der

Designebene* bestimmt.

Abb. 1: Müllplatz in Berlin Neukölln, Januar 2011.

Abb. 2: 80% ökologische Verantwortung liegen beim Designer.

Analyse Eine Recherche zu dieser Problemstellung geht zunächst grob in alle Richtungen. Sodass sich sehr schnell zeigt, dass der Produktdesigner in der Tat mitverantwortlich ist für das Zustandekommen von Abfall. So hat eine Untersuchung des Design Councils ergeben, dass 80 Prozent des «ökologischen Fußabdrucks», damit also auch Schadstoffausstoß und Entsorgungsemissionen, eines Produktes auf der Designebene bestimmt werden (Design Council 2002:19). Eine kurzfristige «Schuldzuweisung» auf Hersteller, Industrie und Konsument fällt damit für den Designer zunächst aus. Dennoch enthält diese erste Rechercheerkenntnis auch eine positive Komponente. Denn sie dient gleichermaßen dazu, den Einfluss des Designwissens, also der Produktion von Erkenntnis durch Design, richtig einzuschätzen und anzuerkennen. Gleichwohl die Arbeit an dieser Stelle erst beginnt. Bezogen auf die konkrete Problematik des Abfalls gibt es kaum bestehendes Designwissen, das Anwendung findet. Der gängige Produktlebensablauf führt, über kurz oder lang, zum Entledigungsprozess, gesteuert und ausgestattet vom Menschen. Festzuhalten bleibt, dass der individuell entsorgte Gegenstand als solcher weiter existiert, in einem wertfreien Vakuum mit der geringen Chance auf ein zweites Leben. Für eine bestimmte Materialgruppe stehen die Chancen zumindest als Organspender zu fungieren besonders hoch. Überhaupt deutet die grobe Analyse des Sachverhalts Abfall immer wieder auf einen Stoff, der zugleich ein Segen und ein Problem darstellt. Kunststoffe tauchen in Zusammenhang mit Müll immer wieder auf, da ein Großteil des alltäglichen Zivilisationsabfall aus leeren Plastikverpackungen besteht. Plastik ist ebenso wie Müll ein durchaus ambivalentes Phänomen. Als künstliches Erzeugnis bietet es Gestaltern allerlei Vorteile in Formgebung, Eigenschaften und Verarbeitung. Und auch Entsorger haben das Potenzial des Materials erkannt. Kunststoffe sind gewissermaßen

die Maskottchen der Kreislaufwirtschaft – des Recyclens. Dass die Recyclingbranche lukrative Geschäfte macht mit der Verwertung (stoffliche Verwertung als Pellets sowie thermische Verwertung durch Verbrennung) von Plastik ist kein Geheimnis. Dem entgegen steht jedoch das ökologisch bedenkliche Image von Plastik. Dabei geht es generell um enthaltene Schadstoffe, am bekanntesten ist der Weichmacher BPA, der laut Studien in Verdacht steht Unfruchtbarkeit und Diabetes auszulösen. Über all dem steht zudem auch der Fakt, dass alle Kunststoffe (zu gewissen Anteilen auch BioKunststoffe) erdölbasiert sind und damit auf eine Ressource

Abb. 3 und 4: Plastik / Müll / Wertstoff

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Wertanlage Gold

«Nach der Lehman-Pleite 2008 und dem Beginn der GriechenlandKrise 2010 verzeichnen Händler wieder einen Ansturm auf Münzen und Barren.« Süddeutsche Zeitung, 19.07.2011

Wertanlage Plastik Abb. 5 : Wertanlage Gold

Abb. 6 : Wertanlage Plastik

pure trash Seriennummer

Dieser Ambivalenz wurde zumindest in Deutschland durch Bürgererziehung entgegen gewirkt. Deutschland ist eine Mülltrennungsnation. Und seit neuester Zeit haben die Bürger den Passus «Plastik ist Wertstoff» verinnerlicht, der ihnen durch den «Grünen Punkt» als umweltfreundlich vermittelt wurde. Recycling, so ergibt es die Bewertung der Analyse, ist hierzulande als technisch-pragmatische Lösung des «Müllproblems» akzeptiert. Die Problematik daran liegt in vielen komplizierten Details des tatsächlichen technischen Vorgangs Recycling. Er ist ein Überbegriff für verschiedene Konzepte der Abfallbehandlung. Sie reichen von Verbrennung unter Energieerzeugung bis zu «Downcycling».

Gelber Sack / Gelbe Tonne 7 Tage lang Wohnort

AHRENS FELDE

630

Komprimiert mit UNITED OFFICE UAV 380 A1 am 24. Juni 2011 Anzahl pure trash Barren

13 Gewicht im Vergleich

HAUS Zugehörigkeit in Altersgruppe

40 – 60 31,0%

20,8 %

24,3 %

60 – 80 ER 80 5 ,1

Ø Proband

im Barren

Berufsstand

SELBSTÄNDIGER BEAMTIN

Gelber Sack / Gelbe Tonne 7 Tage lang Wohnort

berlin neukölln

Gewicht in Gramm

180

Komprimiert mit UNITED OFFICE UAV 380 A1 am 24. Juni 2011 Anzahl pure trash Barren

4

Gewicht im Vergleich

WHG Zugehörigkeit in Altersgruppe

20 – 40 24,3 %

Ø Proband

18,8 %

BIS 20 ÜB

ER

80

5,1

31,0%

40 – 60

%

pure trash Seriennummer

010808 2011 P401/15 Gelber Sack / Gelbe Tonne 7 Tage lang Wohnort

heppen heim b.

Gewicht in Gramm

720

Komprimiert mit UNITED OFFICE UAV 380 A1 am 10. August 2011 Anzahl pure trash Barren

15

Gewicht im Vergleich

Zugehörigkeit in Altersgruppe

20 – 40 24,3 %

ÜB

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Ø Proband 31,0%

40 – 60

%

Wort

du r ch

HAUS

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im Barren

Berufsstand

studenten

Personen im Haushalt Wohnform

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Wort

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Personen im Haushalt Wohnform

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%

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ÜB

BIS 20

20 – 40

Wort

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Personen im Haushalt Wohnform

061306 2011 P201/4

20,8 %

132006 2011 P201/13

Gewicht in Gramm

60 – 80

pure trash Seriennummer

60 – 80

angewiesen sind, die endlich ist und deren Gebrauch (Verbrennung) CO2-Emissionen drastisch erhöht hat.

im Barren

Berufsstand

manager selbständigE

Abb. 7 : Grafische Auswertung einer Datenerhebung aus der Diplomarbeit [ent]SORGEN, 2011.

Projektion Wenn man also diesen Lösungsweg annimmt und Kunststoffe als wertvoll (Wertstoffe) anerkennt, so entsteht ein anders gearteter Widerspruch. Dabei handelt es sich um einen ästhetischen Widerspruch, der sich im tatsächlichen Erscheinungsbild gesammelter Wertstoffe äußert. Mit einer kulturellen Wertschätzung eines Gegenstands oder eines Materials hat das vorherrschende Bild an Müllplätzen nichts gemein.

Synthese Aus den erlangten Erkenntnissen ergibt sich die Entwicklung eines Services aus Designerhand. Dieser Service stellt überspitzt die Reaktion des Designers auf die Problematik Entsorgen dar. In Anlehnung an die Kulturtechnik des Goldsammelns und -hortens sind «Müllbarren» entstanden, die als Wertanlage praktisch und als Erinnerungsstück ästhetisch sind. Tatsächlich sind die Objekte das Ergebnis einer Fallstudie verschiedener Personen über sieben Tage (siehe Abb. 7). Die Probanden dieser Studie stellten den Wertstoffmüll einer Woche zur Verfügung, der bis auf das Kleinste untersucht und dokumentiert wurde. Der Transformationsschritt (siehe Abb. 8), den es braucht um von der Eigenschaft Müll abzusehen, liegt in der Zerstörung. Wie auch in der Abfallwirtschaft wird der Wertstoff zunächst zerkleinert – hier aber in einem Maßstab der Gewesenes nicht komplett überdecken soll. Reminiszenzen

Das Verständnis von Wertstoffen aus Plastik (im Gegensatz zu Wertstoffen aus Metall) ist erst gut zehn Jahre alt und bekam erst in den letzten fünf Jahren richtig Aufschwung. Dies mag erklären, dass sich ein kulturelles Wertgefühl noch nicht entwickelt hat. Möglich ist, dass die bestehende Kulturtechnik der Hortung von Gold (siehe Abb. 5) in Krisenzeiten eine Vorlage bietet für die Entwicklung des Wertstoffempfindens für Kunststoffe. Das projizierte Bild besteht also darin dem Wertstoff Plastik ein ähnlich gutes Image wie dem des Goldes zuzugestehen. Wer würde schon Gold wegwerfen? 9


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mapping: 0108082011P407/15

15 5 4 4 4 4 2 2 2 2 2 1 1 1 1 1 1 1 1 1 1 1 1 1 1 1 1 1 1 1 1 1 1 1 1 1 1 1 1 1 1 1 1 1 1 1 1 1 1 1 1 1 1 1

Bonbonpapiere Durchbeißer H-Milch 1,5% Kronkorken Schokoladenpapiere Lindt Strohhalme Vanille-Schoko Eis am Stiel Apfelsaft rio d’oro Haribo Goldbären klein Joghurt Vanille Knusperjoghurt Tütchen Movicol Balea Kosmetiktücher Bodenreiniger W5 Coffeemate Vanilla (USA) Einwickelpapier Butter (USA) Eistee Zitrone Rauch Espresso Lavazza Folgemilch Aptamil Folie Strauß Blumen Folie Wursttheke toom Supermarkt Fruchtschokriegel Frühstücksdirektsaft GeNuss Mix Ültje Goldfish Snack (USA) H-Schlagsahne Käsestück Gouda Kekse Maischips Tostitos (USA) Müsli-Riegel TLC (USA) Packung Windeln Paprika Mix Plastikmesser Schale Antipasti Schale Hähnchenfilet Schale Hähnchenkeulen Schale Heidelbeeren Schale Himbeeren Schale Parmesan Schale Rinderfilet Schale Röstzwiebeln Schinken Fresco Schnittkäse EpiFol Sekundenkleber Sesamsnack Simply Lemonade (USA) Snickers Studentenfutter Seeberger Tüte Kaminwurzen Tüte Milka Crspiy Snax Tüte Mozzarella Tüte Salzbrezeln Tüte Schokolinsen Tüte Sonntagsbrötchen zum Aufbacken Verschlussclip Plastik

Abb. 8 : «Müll-Mapping«, 2011.

der Farben und Titel der Wertstoffprodukte bleiben erhalten und steigern dessen Wert. Dann bedarf es eines Schrittes der dem Umgang mit Gold entlehnt ist und gleichzeitig den Charakter des «Konservierens» trägt. Die Wertstofffetzen werden (wiederum in Plastik) in Barrenform gegossen. Im Ergebnis erhält man einen stapelbaren Wertstoffbarren aus purem Müll. Die Anzahl der Barren ist nicht nur ein Indikator für Reichtum, sondern zeigt auch den Raum, der von Müll eigentlich eingenommen werden müsste, wäre es nicht ein an die Peripherie gedrängtes Phänomen, wie es aktuell der Fall ist.

Bonbonpapiere Durchbeißer Tüte Milka Crispy Snax Eistee Zitrone Rauch Tütchen Movicol Bodenreiniger W5 Packung Windeln Tüte Salzbrezeln H-Milch 1,5% Schokoladenpapiere Lindt Knusperjoghurt Vanille-Schoko Eis am Stiel Schale Himbeeren Goldfish Snack (USA) Paprika Mix

Anhand der Darstellung eines Diplomprojektes aus dem Fach Produktdesign lässt sich neben der Herleitung des Themas, auch der im Fokus stehende Designprozess erläutern. Dieser Arbeitsprozess beschreibt den Beginn der Objekte in der Subjektwelt. Als Rituale des Erscheinens stehen Entwurfsprozesse des Designers als Geburtsstunde von Produkten den Ritualen des Verschwindens, also Wegwerfund Entsorgungspraktiken, gegenüber. In Bezug auf die Untersuchung der Prozesse während der Entwurfsphase eines Produkts gab es in den letzten Jahren beachtliche wissenschaftliche Anstrengungen, sodass der iterative Designprozess sozusagen entschlüsselt wurde. Grundlegend wird er im «Generischen Designprozessmodell» (Hugentobler,

Abb. 9 und 10 : «Müll-Barren«, realisiertes Produkt / Service, 2011.

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Designprozessmodell

Jonas, Rahe 2004) als Hyperzyklus beschrieben, von welchem sich alle bekannten Prozessmodelle2 ableiten lassen. Das Modell beschreibt einen kreislaufförmigen Ablauf der Arbeitsschritte Analyse, Projektion und Synthese innerhalb des Entwurfprozesses. Sie stellen die Makroebene der Wissenserzeugung im Design dar. Auf der Mikroebene, also auf Ebene eines jeden der einzelnen Arbeitsschritte, vollzieht sich ebenfalls kreislaufförmig jeweils der gleiche Prozess von Beobachtung / Recherche über Analyse / Bewertung über Auswertung / Planung zu Aktion / Realisierung. Dies unterstreicht die Bedeutung der Präsentation von Zwischenschritten im Entwurfsprozess von Studenten. So wird deutlich, dass schon das Zusammentragen aller Kontext relevanten Informationen und dessen verständliche Interpretation einer realisierten Designleistung entsprechen, obwohl der Designprozess noch nicht zu seinem Ende gekommen ist.

Abb. 11 : Hugentobler / Jonas / Rahe 2004.

der «Cloaca Maxima» im Antiken Rom dar. Eine erste Form der Kanalisation, die aber bis in das Mittelalter hinein wieder vergessen war. Denn zu jener Zeit wurden Abfälle ausschließlich auf die Straße entsorgt, teilweise ohne dabei das Haus zu verlassen, da man Bettpfannen, zum Beispiel, einfach aus dem Fenster schüttete. Die Abfälle, die auf der Straße landeten, ließ man dann lediglich von Schweinen durchwühlen, die organische Bestandteile fraßen. Der Rest bildete eine übel riechende Dreckschicht, deren Kraft sich in Form von allerlei Seuchen und Infektionskrankheiten äußerte. Der Zusammenhang zwischen dem modernden Müll und den kursierenden Krankheiten vollzog sich erst Mitte des 15. Jahrhunderts. 1493 ist in Hannover die erste Straßenreinigung urkundlich vermerkt, welche, wie anderenorts auch, bis ins 19. Jahrhundert hinein dem Scharfrichter unterstellt war. Ein Gewerbe war entstanden, das darauf beruhte, dass Wohlhabende Geringverdienern für

Themen Müll: Entwicklung und Ausbreitung

Das Wort ‚Müll‘ entstammt dem Beruf des Müllers, der das klein geriebene Produkt der Mühle so bezeichnete. Historisch betrachtet gab es Müll schon in der Steinzeit. Archäologen waren in der Lage Haufen aus Knochen, Scherben, Asche und anderen organischen Materialien zu identifizieren, die etwas abseits der Siedlungen angelegt wurden. Ein nächster Meilenstein in der Müllgenese stellt die ‚Erfindung‘  2  Weitere bekannte Prozessmodelle sind «Das Grundlegende Methodikschema» des Institute of Design, Chicago (Owen 1998) sowie «Der Innovationsprozess» nach Basadur und NextDesign (Jonas, Mönch 2007: 24f).

Die Straßenreinigung ist dem Scharfrichter unterstellt. 11

Abb. 12 : Historische Karikatur der Müllentsorgung in Potsdam im Mittelalter.


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Gesamtabfallaufkommen und Fraktionen

Be

rg e

Ba uun m at d Ab er ia Ab l a bru fä ch us lle ab de au fä m lle s B Pr S er od ied gb lu uk tio ngs au n ab un fä d l Ge le w er Be be B rg a em uat und Ab er ia Abb fä la lle us ruc au de hab s Pr m fä od Sie ll B uk dl er e tio un gb n gs au un ab f d Ge älle w er Ba be Üb u rig Ab - un e fä d Ab l A le fä b lle au br s uc (P de ha ro du S m bfä kt ied Be lle io lu rg n un ngs bau d a Se Ge bfä ku we lle nd rb är e ) ab fä lle

(Statistisches Bundesamt 2011) beziffern müssen. Diese Zahl sprengt ohne Frage den Vorstellungsrahmen. 1999 Dabei handelt es sich um die Angabe einer Masse, die 408.675.000 t 2011 386.690.000 t sich im Alltag nirgendwo wiederfindet. Dabei gilt es 2005 331.889.000 t zu bedenken, dass sich das Gesamtabfallaufkommen auch aus nicht alltäglichen Fraktionen zusammensetzt. Bau- und Abbruchabfälle stellen den größten Teil 250.000.000 187.500.000 des Abfallaufkommens dar. An der Entwicklung des 125.000.000 Gesamtabfallaufkommens aber kann man erkennen, 62.500.000 dass der Trend wieder leicht ansteigt entgegen 0 aller Kampagnen und Bildungsmaßnahmen. Der individuell relevante Anteil der Siedlungsabfälle liegt bei dreizehn Prozent (Stand 2011) des Gesamten. Durchaus vorstellbar und vergleichbar mit dem Gewicht eines Eisbärs liegt die Masse der Haushaltsabfälle pro Einwohner in Deutschland bei 548 Kilogramm (Statistisches Bundesamt 2011). Die Abb. 13 : Daten: Statistisches Bundesamt, Wiesbaden. sogenannten Haushaltsabfälle stellen einen für den Designer das Wegschaffen ihres stinkenden Abfalls Geld bezahlten. durchaus relevanten Teil des Abfallaufkommens dar und Eine weitere wichtige Veränderung vollzog sich parallel zur lassen sich ebenfalls differenziert betrachten. Es lässt sich Industrialisierung im 19. Jahrhundert. Mit der Entdeckung erkennen, dass «Hausmüll» (auch oft bezeichnet als Restmüll) und Verbreitung von Kunststoff sowie der einsetzenden weiterhin den größten Anteil am Abfall hat, gefolgt von Papier Mechanisierung und Technisierung von Produktionsabläufen und den sogenannten Wertstoffen. Bei der Betrachtung der potenzierte sich die Anzahl der Waren und Güter und damit Masseangaben für die getrennt gesammelten Fraktionen in einhergehend das Abfallaufkommen in den Städten. Bis zum Haushalten fällt der starke Anstieg an Leichtverpackungen / heutigen Tage ist der generelle Wohlstand und damit der Kunststoffen ab 2002 auf (von 2001 mit 1.870.000 Tonnen Konsum immer weiter gestiegen, sodass wir in Deutschland über 5.654.000 Tonnen in 2002 zu 5.367.000 Tonnen in das Gesamtabfallaufkommen mit 386.690.000 Tonnen 2011). Dieser Anstieg fällt zusammen mit der gestiegenen Haushaltsabfälle Zusammensetzung

2011

11 % Garten- und Parkabfälle biologisch abbaubar 18 % Papier, Pappe, Kartonagen

6% Glas 1% Elektrische und Elektronische Geräte

6% Sperrmüll

12 % Leichtverpackungen / Kunststoffe

4% Sonstiges 9% Abfälle aus der Biotonne

33 % Hausmüll Abb. 14 : Daten: Statistisches Bundesamt Wiesbaden.

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Haushaltsabfälle Gewichtsanteile

Papier 2002 8.590.000 t

t 8.000.000 7.000.000 6.000.000

Glas 2005 3.572.000 t

Bio-Müll 2009 3.882.000 t

Leichtverpackungen / Kunststoffe 2002 5.654.000 t

5.000.000 4.000.000 3.000.000 2.000.000 1.000.000

1999 2000 2001 2002 2003 2004 2005 2006 2007 2008 2009 2010

2010

2009

2008

2007

2006

2005

2004

2003

2002

2001

2000

1999

1999 2000 2001 2002 2003 2004 2005 2006 2007 2008 2009 2010

1999 2000 2001 2002 2003 2004 2005 2006 2007 2008 2009 2010

0

Abb. 15 : Daten: Statistisches Bundesamt Wiesbaden.

Abfallprognose für urbane Gebiete

Aufmerksamkeit und Vermarktung von Recycling in der breiten Öffentlichkeit, ebenso wie dem Ausbau und der Modernisierung von Abfallbehandlungsanlagen. Die deutsche Abfallwirtschaft ist ein hochmodernes und hochtechnisiertes, Maschinen gesteuertes Unternehmen, das mittlerweile auf eine Mindestzufuhr an Müll angewiesen ist. Sodass Belange der Abfallminimierung nicht immer auf der politischen Agenda stehen. International wird die Abfallproblematik ganz verschieden behandelt und bewertet. Oftmals erschrickt das umweltgeschulte deutsche Auge beim Anblick von Müllszenarien aus anderen Ländern. Erst dann wird sich der Deutsche seiner heimatlichen Müllerziehung und des sauberen Ablaufs der Müllentsorgung bewusst. Es wurden Versuche angestellt um das Abfallaufkommen auch global zu beziffern. Da diese Zahl so enorm hoch und abstrakt ist, gibt man das globale Abfallaufkommen in urbanen Gebieten pro Tag an. Für 2010/11 ermittelt die Erhebung etwa 3.532.252 Tonnen pro Tag bei 2,9 Milliarden

Menschen (The World Bank 2012). Die Prognose bis 2025 schätzt das Abfallaufkommen dann bei 4,3 Milliarden Menschen auf rund 6.000.000 Tonnen pro Tag (ebenda).

Abb. 17 : Im Großraum Casablanca, Marokko 2011.

Abb. 18 : Neapel, Italien 2008.

6.069.703 Tonnen/Tag 4,3 Milliarden Menschen

3.532.252 Tonnen/Tag 2,9 Milliarden Menschen

Weltbevölkerung in urbanen Gebieten

aktuelle Daten

Prognose für 2025

Abb. 16 : Daten: The World Bank, 2012.

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46.000 Teile aus Plastik pro Quadratkilometer*

Abb. 19 : Plastikmüll in den Ozeanen. * nach aktuellen Studien der UN (zitiert durch Studioswine 2013)

Mit der Aussage «Müll ist überall» liegt man durchaus richtig. Die globale Entwicklung hat gezeigt, dass Müll nicht nur überall entsteht und vorhanden ist, Müll hat sich auch weiterentwickelt, gewissermaßen spezialisiert. Seit einiger Zeit ist bekannt geworden, dass Müll nicht mehr unbeweglich an einen Platz gebunden ist, sondern dass er die Fähigkeit besitzt zu reisen. Der «Müllstrudel» in den Weltmeeren beweist dies. Aus aller Herren Länder schwimmt, durch die Reibung des Wassers, zerfetzter Plastikmüll in den energiearmen Strömungszentren der Ozeane. Die Plastikteilchen sind teilweise so zermahlen, dass man sie mit dem bloßen Auge kaum mehr erkennt. Darin liegt auch eine der großen Bedrohungen, die von diesen «Müllstrudeln» ausgeht. Die Teilchen aus Kunststoff gehen in die maritime (und damit auch in die menschliche) Nahrungskette über, da sie in Verwechslung mit Plankton von Kleinstlebewesen im Meer gefressen werden, aber weitestgehend unverdaulich sind und ihre Auswirkung auf die Organismen bisher noch nicht erschöpfend erforscht ist. Man weiß gar nicht genau welche Folgen dies für die menschliche Entwicklung haben wird. Das stereotype Bild von Abfall als

Mülltonne mit herausquellenden Müllbeuteln entspricht also kaum noch dem eigentlichen ‚Wesen‘ von Müll. Der ist in seiner Omnipräsenz kaum zu übertreffen. So er hat es, neben einigen wenigen Menschen, bereits bis in das Weltall geschafft. Schon

23.000 Objekte größer als 10 cm im Orbit*

mehr als 300.000 Objekte kleiner als 1 cm im Orbit

Abb. 20 : Weltraumschrott * Quelle: ESA, NASA. Stand 25. April 2013.

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bei der ersten Mondlandung hinterließen die Astronauten Müll auf der Mondoberfläche, die Moonboots von Aldrige, selbst das Mondmobil ließen die Männer zurück. Betrachtet man die Erde aus dem Weltraum so liegt sie in einer Wolke aus Schrott. Inaktive, beschädigte und zertrümmerte Satelliten und Sonden ziehen im Orbit ihre Bahnen um die Erde. Mehr als 23.000 Objekte, die größer sind als zehn Zentimeter, umkreise die Erde als Weltraumschrott. Auch sie sowie die abertausend kleineren Trümmerteile bedrohen die alltäglichen Abläufe menschlichen Lebens. Wird ein aktiver Satellit von einem 1 Zentimeter großen Trümmerteile getroffen, so ist ein 100 Millionen Euro Kommunikationssatellit nur noch Schrott.

Rituale des Verschwindens

Abb. 22

aber werden verordnete Reglements erfüllt und Zeitpläne3 eingehalten. Gleichzeitig aber ist ein konträr verlaufendes Ritual zu beobachten, welches sich in dem Herausnehmen von Dingen aus dem Müll äußert. So können die Funde auf Müllplätzen der Hinterhöfe in Städten ganze Flohmärkte o. Ä. füllen und damit auch über Existenzen entscheiden. Im gesellschaftlich installierten Umgang mit Abfällen zeigt sich eine ähnlich geartete Ambivalenz. So lässt sich das öffentlichkeitswirksame Handlungsspektrum der institutionellen Abfallentsorgung an den Polen wertsichernder Erhalt (‚Recycling‘) und totaler Vernichtung (Müllverbrennungsanlagen) verorten. Dies symbolisiert die klare Positionierung zu Werten und der Einhaltung von Sitte und Ordnung. Tatsächlich aber ist die Trennung zwischen Erhalt und Vernichtung nicht so deutlich. Dass im Zuge des Thermischen Recyclings ebenfalls Abfälle verbrannt werden, passt dementsprechend kaum in die gewünschte klare Logik des installierten Rituals.

Designerreferenz

Nutzerreferenz

Abb. 21 : Nutzer / Designer / Müll.

Müll als Werkzeug im Designprozess

Es ist festzuhalten: Entsorgen ist auf der einen Seite eine soziale Praktik vergleichbar mit einer Gewohnheit oder Sitte. Auf der anderen Seite ist es eine konkrete, beobachtbare, manifeste Handlung des Menschen. Abfall in Form von Artefakten referenziert nicht nur den vorherigen Besitzer sondern auch den Entwerfer. Daher geht es in der Behandlung von Müll in der Designwissenschaft auch um die Entstehung von Artefakten durch Designer («Rituale des Erscheinens»). Der manifeste Müllhaufen sowie die sozio-kulturelle Praktik des Entsorgens sind durchaus relevante Faktoren («Rituale des Verschwindens») in der Designlehre. Beide Aspekte beinhalten Informationen, Methoden und Bilder, die den Designprozess bereichern können.

Designerreferenz

Rituale des Verschwindens Wie auch in der staatlich organisierten Abfallsammlung und -behandlung sind die individuellen Rituale des Verschwindens gezeichnet von einem alles leitenden Pragmatismus. Dieser Pragmatismus erweist sich in einigen Fällen als kreative Leistung, die aus der «Not» geboren wurde. Vor allem

Abb. 23

3  Das eigens dafür entwickelte Medium nennt sich «Der Abfallkalender». Jede Stadt und jede Kommune bringt einen eigenen «Abfallkalender» heraus. Er enthält die Abfuhrtermine sämtlicher Müllarten. 15


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Rituale des Erscheinens Beim Erscheinen der Artefakte in der Welt sind es oftmals Designer, die sie konzipieren und manifestieren. In einem Arbeitsprozess kommen sie schließlich zu dem Konzept eines Produkts, das auf Basis einer Frage- oder Problemstellung entstanden ist. Diesem Designprozess wird in den letzten Jahren durch die Designforschung immer mehr Aufmerksamkeit geschenkt. Viele Forscher stufen ihn als probates Medium der Wissensgenerierung ein. Das Modell dieses Prozesses wurde weiter oben bereits erläutert. Innerhalb des Modells lassen sich denn auch die vielfältigen Designmethoden einordnen, die vor allem angehenden Designern in ihrer Ausbildung helfen sollen, die Vektoren einer Designaufgabe und dessen Lösung(en) richtig zu deuten und zu behandeln. In diesem Sinn ist die Anfertigung eines Prototypen des Entwurfs ebenso eine lehrreiche Designmethode wie auch die Befragung von Nutzergruppen.

«Ordnungschaffen«

Unterscheidung von «Gut und Böse«

Abb. 24

In Bezug auf die soziale Praktik des Wegwerfens lässt sich vor allem der Ritualcharakter mit dem Mechanismus des Ordnens in Verbindung bringen. Geordnete Beziehungen als soziales Netz herzustellen manifestiert sich unter anderem im Aufräumen und Ausmisten. Als seelische Übung wird die Trennung von Gegenständen vollzogen um einem drohenden Chaos aus dem Weg zu gehen. Dieses «Ordnungschaffen» (Keller 1998: 33) hat gleichsam die moralische Aufgabe zwischen «gut» und «böse» zu unterscheiden und diesen Unterschied zu manifestieren. Eine solche Unterscheidung gleicht einem Zuweisungsakt, der sich nicht aus den Objekten selbst ergibt sondern individuell ausgetragen wird. «One man’s trash is another man’s treasure.» (McGraw-Hill Dictionary of American Idioms and Phrasal Verbs 2002).

Aber auch zunächst zusammenhanglos erscheinende Handlungen können dem Designer zur Methode werden. So kann ein Spaziergang im Park, die Beobachtung spielender Kinder oder ähnliche Situationen zur Idee – zum Lösungsweg einer Fragestellung führen. Als Werkzeug lässt sich dagegen alles definieren, dass der Designer bewusst einsetzt um zu Wissen oder Inspiration zu gelangen. Bewusst würde er zum Beispiel ein Buch über eine bestimmte Technologie lesen oder Statistiken einer bestimmten Region studieren.

Designprozess: Methoden

Abb.: Tabelle 1: The toolbox, categories of design methods / tools: questions and outcomes (Hugentobler / Jonas / Rahe 2004)

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Modell: Subjekt - Objekt - Beziehung

Abb. 25: «Der Müll-Pilz« – Modell nach Baudrillard (1968)

Materialität des Artefakts, die völlig im Einklang mit dem Zweck, aber auch eher zusammenhangslos erscheinen kann. Dies sind Eigenschaften, die durch Designer gestaltet und verwaltet werden. Generell steht das Artefakt mit diesen beiden Vektoren den Bedürfnissen des Subjekts gegenüber. Das subjektive Bedürfnis ist gewissermaßen Anlass für die Entstehung des Artefakts, sagt aber nichts über dessen Erfüllung oder Nichterfüllung aus. Die Erweiterung dieses klassischen Systems bringt nun die Erkenntnis, dass oberhalb der Charakteristika ‚Funktion‘ und ‚Materialität‘ (Form) die eigentliche, immanente Aufgabe der Artefakte darin liegt, sich in ein bestehendes Ganzes (ein System) einzufügen (Ordnung). Diese Aufgabe der Artefakte besteht in der Erfüllung einer symbolischen Beziehung zum Menschen als

Modell: Subjekt-Objekt-Beziehung

Zwischen dem Erscheinen und Verschwinden der Dinge liegt das Verhältnis zwischen Objekt und Mensch. Der Designprozess ist ihr Beginn und Müll schließlich der Ausdruck des Scheiterns oder Sterbens der Beziehung zu den Artefakten. Auf der Basis von Baudrillards Schrift «Das System der Dinge» (1968) wurde ein Schema entwickelt, das das Verhältnis zwischen Subjekt und Objekt mit der Kategorie ‚Müll‘ vollendet. Es stellt gleichermaßen ein Verständnismodell von Müll als Phänomen für Designer dar und soll die ‚Immanenz des Wegwerfens‘ erläutern. Das (jegliches) Artefakt hat eine konkrete Funktion bzw. einen Zweck, den es erfüllt. Dem gegenüber steht die konkrete 17


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Zweck und Material hat, erscheint ‚Müll‘ daher wie eine ständige Ermahnung (der Menschen) an das Artefakt, die seit seiner Entstehung drohend vorhanden ist.

universelles Zeichen4 . Jedes Ding ist Teil des Zeichensystems, welches die Umwandlung von Natur zu Kultur bezeichnet. Dieser Zusammenhang ist wichtig, da sich das Subjekt so der ständig gemeisterten Natur in der «Kulturalität» (Baudrillard 1968: 83) der Dinge versichert. Diese Sinngebung bildet die Grundlage für die symbolischen Verbindungen (Beispiel «Mein Auto gibt mir Freiheit.»), die Menschen zu Dingen führen. Innerhalb dieses Verständnisses der Zeichen und ihrer Kraft, wird klar, dass die der Natur immanente Vergänglichkeit ebenfalls eine Entsprechung in den Dingen findet. Sie wurde gewissermaßen zur kulturellen Praktik umgewandelt und führt zu dem Zustand – dem Zeichen – den wir Müll nennen. Da dies in vielen Fällen kaum Einfluss auf

Die Rolle des Designers

Um zu klären, was und wie der Designer vom Phänomen ‚Entsorgen‘ Nützliches lernen kann, dient ein Schema der beteiligten Akteure und Aktionen zum Verständnis zugrunde liegender Abhängigkeiten und Bedingungen. Das entstandene Netz, als wertfreier Raum, kann eine Grundlage bieten um die eigene Position als Designer in dem Konstrukt Artefakt – Abfall zu finden und zu argumentieren.

4  Ein Zeichen ist ein semiotisches Phänomen und macht dem Betrachter etwas präsent, ohne selbst dieses etwas zu sein. (Vgl. Barthes 1957)

Modell: Akteure-Netzwerk

Abb. 26: Rolle des Designers bei der Entstehung von Müll

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Abb. 27 : Aktion von HA Schult: «Situation Schackstraße.«, München 1969

Nacht durchführte. Fünf Tonnen Altpapier ließ er dort in einem wilden Durcheinander abladen. Die polizeilichen Konsequenzen trug er gern, als Teil der Kunstaktion. Für Schult stellt Müll vor allem ein Medium der Provokation dar. Er nutzte dieses Medium in vielen Installationen und Aktionen seiner frühen Schaffensphase. Er ließ den Markusplatz in Venedig über Nacht mit Zeitungsabfällen füllen, ließ Opernsänger auf Müllkippen Wagner vortragen und vieles mehr.

«Müllprojekte»: Abfall in Kunst und Design

Obwohl Müll als Ausdruck des Umgangs des Menschen mit Objekten bisher wenig Einfluss auf die Erscheinungsformen von Design nimmt, gibt es durchaus Projekte aus Kunst und Design, die das Phänomen in irgendeiner Form behandeln. Die Vorstellung verschiedener gelungener oder weniger gelungener Arbeiten mit diesem Schwerpunkt soll nicht zuletzt die Urteilskraft der angehenden Designer auf den Plan rufen. Entwürfe und Konzepte werden von Designern gerne und oft diskutiert und auch bewertet. Dieser Prozess spiegelt dann auch die eigene Emotionalität gegenüber der jeweiligen Thematik. Wenn es dabei um Abfall geht, stellt es eine spannende Übung dar, Designkriterien auf vorgestellte Projekte zu beziehen. Aktion «Situation Schackstraße», München 1969 HA Schult ist als deutscher Aktionskünstler international bekannt, wobei seine erfolgreichste Phase in Deutschland in den 1960er Jahren lag. Er war einer der ersten deutschen Künstler, der Ökologie und Kunst zusammenbrachte und zum Thema machte. Bis heute bezeichnet er Müll als das wichtigstes Thema in seinem Schaffen. Vor allem die von ihm durchgeführten Kunstaktionen Ende der 1960er Jahre schufen einen völlig neuen Blickwinkel auf die sonst im Verborgenen gehaltenen Abfälle. So kam die Aktion in der Schackstraße in München zustande, die er 1969 über

Abb. 28: Aktion von HA Schult: «Venezia Vive«, Markusplatz, Venedig 1976

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Dokumentarfilm und Kunstprojekt «Waste Land», Rio de Janeiro 2010 Der in New York erfolgreich arbeitende Künstler Vik Muniz kehrt 2010 für ein Projekt mit der Filmemacherin Lucy Walker in seine Heimatstadt Rio de Janeiro zurück und dokumentiert dort auf der weltgrößten Mülldeponie «Jardim Gramacho» die Entstehung der sogenannten «Pictures of garbage» durch die vor Ort arbeitenden ‚Catadores‘ (‚Müllpicker‘). Dabei handelt es sich um ganz verschiedene Persönlichkeiten und Geschichten, die aber alle gemeinsam haben, auf der Deponie als selbstständige «Recyclingspezialisten» praktische Mülltrennung zu betreiben um Geld zu verdienen. In dieser unwirtlichen Umgebung legt der Künstler mit den Arbeitern Klassiker der europäischen Malerei nach. In einer Lagerhalle werden diese riesigen Müllcollagen mit den Arbeitern als Protagonisten aus der Höhe fotografiert und schließlich auf einer Auktion verkauft. Der Erlös (mehrere Zehntausend Dollar) kommen den Arbeitern der Deponie zugute.

Fotoserie «Intolerable Beauty: Portaits of American Mass Consumption», USA 2003-2005 Die ‚Bildgewalt‘ des heutigen Ausmaßes an gesammeltem, sortiertem und unsortiertem Müll fasziniert in jüngster Zeit immer mehr Künstler. Chris Jordan portraitiert in seiner Serie das Ergebnis des «Konsumkapitalismus» und zeigt damit ein Bild vom Ende einer Spirale. In seinen Fotos erkennt der Betrachter Muster, Codes oder Miniaturstädte, alles aus Müll.

Abb. 31: «New Landscapes« 2008

Fotoserie «New Landscapes», China 2008 Ganz ähnlich ausgerichtet ist die Arbeit des Chinesen Yao Lu, die erheblich Anerkennung erfuhr und mit zahlreichen Preisen ausgezeichnet wurde. Lu verfälscht in seinen Arbeiten Aufnahmen chinesischer Mülldeponien durch Computermanipulation zu traditionellen chinesischen Landschaftsgemälden. Es bedarf erst genauer Betrachtung um die mit grünen Netzen abgedeckten Müllberge in den Arbeiten zu erkennen.

Abb. 29: «Waste Land« 2010

Artist in Residence «Recology», San Francisco 2011 Die Thematik Recycling fördert seit einigen Jahren ebenfalls einiges an gestalterischem und künstlerischem Schaffen zu Tage. Ein Beispiel dafür stellt ein Kunstprogramm eines städtischen Entsorgungsunternehmens in San Francisco dar. Der Künstler Ethan Estess erhielt 2011 die Möglichkeit sich frei auf den städtischen Mülldeponien und Recyclinghöfen zu bewegen und ließ die einströmenden Eindrücke sich zu Kunstwerken verdichten. Eines befasst sich mit der enormen Anzahl an vorgefundenen Kunststoffdeckeln von «Coffee-to»-Bechern. In seiner Skulptur lässt er 8000 davon

Abb. 30: «Intolerable Beauty Series: E-Waste« 2003-2005

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ausgestattet sind. Neu an diesem Entwurf ist tatsächlich die Positionierung der Müllbehälter, die prominent an die Wand gehangen werden sollen. Das Verwenden von Müllbeuteln wird dennoch keine Revolutionierung des Abfalleimers bewirken, da das System dasselbe bleibt.

Abb. 32: «A Wake« 2012

aus einem alten Rucksack ragen und erzeugt damit eine Verlängerung des Menschen in eine außerirdische, irgendwie bedrohliche Form. Diese Arbeit eigenet sich gut um das enge Verhältnis zwischen Müll (als Artefakt) und einer sozialen Praktik des Menschen (Gewohnheit) herauszustellen.

Abb. 34: «Die Wohntonne« auf Bild.de 2012

Abb. 35: «Die Wohntonne« 2012

Abb. 33: «New Order« 2011

Mülleimer «New Order», Berlin 2011 Durchaus spannend für die angehenden Designer ist ein konkretes Designprojekt, das sich präzise auf den Entsorgungsakt zu Hause bezieht und diesen als Fragestellung und Designaufgabe abhandelt. In einem Wettbewerb des Berliner Entsorgers BSR und der Initiative Trenntstadt Berlin wurden Entwürfe für Behältnisse zur Mülltrennung gesucht. Der Gewinnerentwurf von «böttcher + henssler» soll Müllbehälter als Wohnaccessoirs mit durchaus angenehmer und wohnlicher Ästhetik etablieren. Entstanden sind Mülltaschen, die als Einkaufstasche mit Mehrfachnutzen

Designprojekt «Wohntonne», Halle / Saale 2012 Der Designstudent Philipp Stingl entwarf im Rahmen eines Studienprojektes an der Hochschule für Kunst und Design Halle ein düsteres Zukunftsszenario zum Thema «Ü60 – Design für morgen». Unter dem Stichwort ‚Altersarmut‘ übersetzte er die Kritik am momentanen Sozialsystem in eine bewohnbare Mülltonne. Das hat viele Reaktionen provoziert (unter anderem in der BILD Zeitung), vor allem Entrüstung. Stingls «Wohntonne» sei diskriminierend alten Menschen gegenüber. Der Entwurf wird als Beleidigung aufgefasst. Das liegt vor allem daran, dass die Mülltonne (selbst wenn sie leer 21


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ist) ausschließlich mit Dreck, Schmutz und Ausgestoßenem assoziiert wird. Aber der Entwurf nimmt sich selbst ernst, das Konzept ist durchdacht. Die Wohntonne verfügt über einen abschließbaren Wohnraum, außen montierte Frischwassertanks mit Wasserleitung nach innen und einer Abwasservorrichtung. Ein angehängter Container kann als Badewanne genutzt werden. Im Bereich oberhalb des Wohnraums befindet sich ein Abfallsortierbehälter, in dem Passanten Bioabfälle spenden oder die Bewohner Pfandflaschen oder andere wertvolle Rohstoffe sammeln können. Im Deckel befindet sich noch Stauraum für Kleidung. Sowohl die starke Reaktion einiger Personen, als auch das generelle Medieninteresse für die «Wohntonne» sind sehr interessant. Völlig neutral betrachtet kann man den großen ‚Rummel‘ um den Studentenentwurf eines Mikrowohnraumes durch Umnutzung nicht erklären. Doch die emotionale Auslegung der immanenten Zeichen führt zu allerhand Diskussionsstoff.

dass die Befragten doppelt so viel Chips, Speck und Süßigkeiten verzehrten wie sie zugaben. Bis in das letzte Jahrzehnt hinein sind derartige Ergebnisse von Studien im Rahmen der Garbologie vorgelegt worden. 2001 ergaben Befragungen und parallele Analysen der Abfälle, dass hispanoamerikanische Frauen in den USA, entgegen ihrer Angaben in Umfragen, genauso viel Fertig-Babynahrung benutzen wie Frauen anderer Ethnien. Dieses Ergebnis lässt Rückschlüsse auf das «Glaubenssystem» im Bereich Lebensmittelkonsum zu und kann somit dahingehendeThesen untermauern oder widerlegen.

Müll als Methode: Garbologie

Abfälle enthalten Wahrheit. Das Herauslesen dieser Wahrheit (Information) aus dem Müll ist eine erkenntnisorientierte Methode, die in einem neueren Spezialgebiet der Archäologie, namentlich Garbologie (von engl. ‚Garbage‘ für Müll) praktiziert wird. Der Begründer Professor William Rathje der Universität in Arizona (USA) stellte in den 1970er Jahren grundlegend fest, dass aktuelle Kulturen genauso wie uralte oder verschwundene Kulturen anhand von Untersuchungen der archäologischen Überreste (Müll) beschrieben und erforscht werden können. Die erste bahnbrechende Erkenntnis ließ danach nicht lange auf sich warten. Die Forschergruppe fand heraus, dass sich die Ergebnisse von Befragungen signifikant von den der Funde unterschieden. Eine Langzeitstudie ergab,

Abb. 36: «Garbology Project« USA

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Seite 21 Abb. 37: «Boro Yogi« Bettkimono, der aus alten Stofffetzen immer wieder geflickt wird. Abb. 38 «Bettgeschichten« Taschen aus alter Bettwäsche. Abb. 39 und 40: Müll auf dem Catwalk. Abb. 41: Kampagne von Vivienne Westwood in Kenia. Abb. 42: Installation einer Matratze am SEZ, Berlin von Bosso Faraka. Abb. 43-45: «Art is Trash« Installationen von Francisco de Pajaro, Barcelona. Abb. 46: «Marseille Playground« The Wa, Marseille 2011.

Abb. 46

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Stoffsammlung

Eine interessante Identifizierung von Ritualen des Verschwindens macht ein Student des Produktdesigns. Er entlarvt den Keller als räumliche und moralische Zwischeninstanz zwischen Müll und Artefakt. Dinge, die im Keller landen, warten gewissermaßen wie in einem Gerichtsprozess auf ihr Urteil. Der Keller birgt die Chance doch irgendwann einmal wieder gebraucht und reanimiert zu werden. Oder aber er macht das Unausweichliche offensichtlich: Dieses oder jenes Ding kann ich getrost wegwerfen, denn es lag nun schon so lange Zeit im Keller und wurde nicht gebraucht oder vermisst. In vielen Fällen

Als ersten Auftrag erhalten die Studenten Zeit um eine Übersicht oder eine Stoffsammlung unter dem Aspekt «Wie endet die Beziehung zwischen Objekt und Mensch?» zusammenzustellen. Unter dem Hinweis auf Analogien zum ‚Schluss Machen‘ bei zwischenmenschlichen Beziehungen sollen Gedanken und eigene Strategien gesammelt werden. Die Fokussierung auf bestimmte Teilaspekte oder Themen steht den Studenten frei. Es besteht kein Anspruch auf Vollständigkeit sondern vielmehr die Offenlegung der Interessenlage. Außerdem gilt es in dem Herausgefundenen eine Ordnung, Struktur oder Klassifizierung zu identifizieren. Neben einiger Beispiele für Mode aus Müll oder Müll und Mode präsentieren die Studenten Projekte der «Streetart», welche viel und gerne Abfälle thematisiert und als Material selbst nutzt. Dabei scheint die Inspirationsquelle für Gestaltung in der Umwandlung von Bedeutung zu liegen. Nutzloses wird wichtig oder ausdrucksstarke Persönlichkeiten werden in namenlosen Müll ‚eingeimpft‘.

Abb. 47: Das «Warum« und «Wie« des Schluss Machens.

Abb. 48: Der Keller als «Zwischenstelle«

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ist der Keller gleichzusetzen mit einem Müllraum, da sich das Chaos aus Dingen, Schmutz, Staub und Dunkelheit augenscheinlich nicht von regulären Müllplätzen unterscheidet. Die Auflistung des «Warum» und «Wie» des Entsorgens führt einerseits zur Wahrnehmung des Kellers als «Zwischenstelle» und andererseits zu einer Übersicht an persönlichen Strategien, die sich deutlich um das Thema «Verschenken» zentrieren. Das Ende der Beziehung zwischen Objekt und Mensch kann natürlich auch ungewollt eintreten, z.B. bei Verlust oder Diebstahl. Innerhalb des «Schluss Machens», des gewollten Endes der Beziehung, wird von Studenten die Unterscheidung zwischen «Müll und Nicht-Müll» getroffen. Sie soll beschreiben, dass das Entsorgen von Dingen, die noch intakt aber nicht mehr gewollt sind, nicht dem gemeinen Wegwerfen (Müll) entspricht. Als Indikator dafür wird auf den Nutzen oder den Wert des Objektes verwiesen. Dies führe zu verschiedenen «Klassen von Objekten, in denen Dinge von persönlichem oder sentimentalen Wert anderen Regularien des ‹Wegwerfens› unterliegen als Dinge des Konsums (verderbliche Dinge, Verpackungen, Zubehörteile)».

Abb. 49: Ein kaputter Hammer als Beispiel für ein Objekt, das zuvor während der Erfüllung seiner Funktion (Nägel Versenken) transparent war (nach Heidegger).

Diese emotionale Bedeutung eines Objektes sei aber als Entwurfsstrategie von Designern bereits überbeansprucht und führe zum Verlust der «Glaubwürdigkeit» von Objekten.

In Hinblick auf die theoretische Klärung der Fragestellung wird unter anderem D. W. Winnicotts Theorie der Übergangsobjekte (1953) angeführt. Sie soll die Frage nach der menschlichen Abhängigkeit von bestimmten Objekten erläutern. Dabei wird die erste Bindung des Menschen (Säuglings) an einen Gegenstand, der nicht die Brust der Mutter ist, als erstes frei gewähltes Abhängigkeitsverhältnis definiert. Während dieser erste Gegenstand im Laufe des ersten Lebensjahrs nur kurzzeitig die Anwesenheit der Mutter ersetzen kann, wächst seine Bedeutung für das Kind in der weiteren Zeit. Die mit der Auseinandersetzung mit dem Übergangsobjekt (z.B. einem Kuscheltier) einhergehende Veränderung des Bezugssystems markiert den ersten Schritt hin zur Individualisierung und Entwicklung von Selbstständigkeit beim Kind (vgl. Habermas 1999: 350ff).

Field Trip: MüllRaum In einer «Müllexpedition» sollen die Studenten ihren universitären Alltag in Bezug auf Müllsysteme hinterfragen. Im Mittelpunkt steht die Offenlegung der Strukturen, die gewöhnlich weitestgehend im Hintergrund ablaufen. Außerdem soll das eigene Verhaltenem im Kontext der Institution «Schule» diskutiert werden. Die Expedition findet im Haus der Fakultät der teilnehmenden Studenten statt, erster Treffpunkt ist in der Cafeteria. Hier wird der bisherige Kenntnisstand zur Abfallsammlung und -entsorgung geteilt. Der Großteil der Studenten weiß sehr genau zu welcher Uhrzeit die Putzkräfte durch das Gebäude gehen und die Abfallbehälter leeren (zwei Personen, zwischen 4 und 5 Uhr morgens).

In einer anderen theoretischen Positionierung zum «Schluss Machen» findet ein Ordnungsversuch anhand der drei Grundfunktionen des Design: Funktion, Ästhetik und Symbolik statt. So wird in Anlehnung an Martin Heideggers «Sein und Zeit» (1927) argumentiert, dass die Beziehungsdauer zwischen Objekt und Mensch in erster Linie von dessen «Brauchbarkeit und physischen Langlebigkeit» abhängt. Daneben wird herausgestellt, dass Objekte einen «Reiz der Benutzung» als auffordernde Kapazität besitzen sollen, die sich bei Ausfall einer technischen Funktion nur über ästhetische und symbolische Werte ersetzen lässt.

Danach besichtigt die Gruppe den «Müllraum», der sich außerhalb des Gebäudes in einem dunklen, engen Hof befindet. In einem Vorgespräch mit dem Hausmeister wurden die tatsächlichen Fakten zum Abfall der Studenten in Erfahrung gebracht. Der erste Sachverhalt, der Müll wird nicht in den Arbeitsräumen der Studenten getrennt, sondern computergesteuert nachsortiert vom städtischen Entsorger BSR, löst eine mitunter heftige Diskussion zwischen den Teilnehmern aus. Während der Hausmeister von einer 26


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Methode: Müll

«neuen Generation an Studenten, denen alles egal ist» spricht, stehen sich hier zwei Lager gegenüber. Die einen beschreiben, wie leicht es doch eigentlich sein müsste, als Designer, eine eigene Mülltrennung in den Räumen zu installieren und diesen «Aufwand» selbst zu gestalten. Die anderen widersprechen und meinen, dass die Universität als übergeordnete Institution dafür zu sorgen hat, dass Mülltrennung stattfindet. Dies wird vor allem mit den entrichteten Gebühren begründet, die für alle Verwaltungsakte aufkommen müssten. Außerdem beklagen sie die wenige Zeit, die sie generell für alltägliche Dinge aufbringen können und die grundsätzlich «harten» Reglements des Hausmeisters in Bezug auf ihre Projektarbeiten (Zugang zu Werkstätten, Schließzeiten der Arbeitsräume, Benutzung von Geräten).

Um designrelevante Erkenntnisse aus Müll zu ziehen, werden Methoden erprobt, die sich ganz individuell und persönlich auf die Gestalter auswirken. Die hermeneutische Erfahrung eines Experiments kann als Wahrheitsanstrengung verstanden werden (nach Hans-Georg Gadamer). Eine persönliche Erfahrung zu objektivieren und Schlüsse daraus zu ziehen, ist das Ziel der designwissenschaftlichen Methode des Selbstexperiments. Diese qualitative Methode kann anhand von Hineinversetzen, Nachbilden und Nacherleben zu Erkenntnissen über Verhaltenshintergründe und Motive führen. Eine solche ganzheitliche Untersuchung stellt vordergründig die Frage nach dem «Warum», aber beleuchtet den spannenden Aspekt des «Wie fühlt sich das an» gleichermaßen. Die meisten Menschen neigen dazu die Motive und Gründe ihres Verhaltens als rationaler zu erleben, als es tatsächlich ist. Gerade bei Experimenten, die das rational normale Verhalten reglementieren oder lenken, zeigen sich deutlich Gewohnheiten, die als solche kaum mehr wahrgenommen werden. Ausgestattet mit dem Basiswissen eines Designers bilden die Studenten eine besonders interessante Probandengruppe für ein Müll-Selbstexperiment. Faktisch ist diese Gruppe in der Lage sich durch kreative Techniken und Alternativstrategien eine wie auch immer geartete Lösung für ein Problem des Alltags zu finden. Diese antizipierten rudimentären Lösungsstrategien sowie dokumentierte Empfindungen bilden das große Erkenntnispotenzial eines Selbstexperiments, das sich deutlich von der Anwendung theoretischer Leitsätze unterscheiden kann.

Außer den verschiedenen Abfalltonnen im Müllraum befindet sich ein riesiger Sperrmüllcontainer auf der Straße vor dem Universitätsgebäude. Dieser wird etwa alle vier Wochen kostenpflichtig geleert und dient vor allem der Entsorgung von Modellen und Material, das sich nach Semester- oder Diplompräsentationen bergeweise türmt. In Bezug auf diesen «Müll» vertreten alle Studenten die Einstellung, dass er naturgegeben bei der Arbeit als Designstudent anfällt und mit der «Richtigkeit» der Sache (Projekte werden von Professoren entwickelt und beauftragt) abgegolten sei. Zur Semantik des Ortes als solchem gibt es keine Kommentare oder Beanstandungen. Gestalterische oder ästhetische Anforderungen gelten für diese Räumlichkeiten des Abfalls nicht, was durch die Peripheriestellung abseits der CafeteriaSofas zu erklären ist. Ebenso unkommentiert bleibt die Menge des Abfalls, der zu einem augenscheinlich großen Teil aus Papp-Kaffeebechern und Softgetränkflaschen besteht.

Als Designmethode ist das Phänomen «Wegwerfen» ausgesprochen gut geeignet. Die Eigenschaften, die Müll zum globalen Problem werden ließen, erleichtern gewissermaßen die Anwendung und Umkehrung des Selben als Erkenntnispool. Ein jeder Mensch konstruiert Müll. Niemand kann von sich behaupten, dass er mit diesem Thema nichts zu tun hat. Und dennoch ist die Bereitschaft das eigene Verhalten in Bezug auf Abfall und Entsorgung zu hinterfragen oder beleuchten sehr gering. Dies schon bei den «Schöpfern des Abfalls» zu ändern, ist das Ziel einer jeden Müllmethode. «Recipes for Disaster»

Die Bezeichnung Diät kommt von griechisch δίαιτα (díaita) und wurde ursprünglich im Sinne von «Lebensführung oder Lebensweise» verwendet. Heute wird das Wort beinahe ausschließlich für die Umstellung der Ernährungsweise zum Zwecke einer (gesunden) Gewichtsabnahme verwendet.

Seite 25 Abb. 50-54: Die Expedition in den Müllraum der Universität der Künste Berlin, Institut für Produkt und Prozessgestaltung, Februar 2014.

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Fasten dagegen bezeichnet den vorübergehenden Verzicht auf Nahrung, meist aus religiösen Gründen. Unter dem Gesichtspunkt der Methodologie kann eine Diät oder das Fasten nicht nur auf Nahrungsmittel sondern vielmehr auf Handlungen oder Verhalten bezogen werden. Im Zuge dessen kann dokumentiert werden, inwiefern es überhaupt möglich ist auf bestimmte Verhaltensweisen zu verzichten und wie der Verzicht emotional und sozial empfunden wird. Dies passiert unter der Zielausrichtung auf Einsparung oder Reduzierung eines Verhaltens oder eines sozial konstruierten Phänomens. Um den Studenten diese Vorgehensweise zum einen «schmackhaft» und zum anderen anschaulich zu machen, wird ein gut dokumentiertes Beispiel vorgestellt. Bei diesem Beispiel handelt es sich um einen Dokumentarfilm über eine einjährige «Erdöl-Diät». John Websters Film beschreibt die Durchführung eines Selbstexperiments, das von dem Verzicht auf Plastik und Plastikverpackungen über den Verkauf des Autos bis hin zur Installation eines SolarGenerators reicht. Obwohl die einzelnen Beispiele durchaus lehrreich sind, geht es in der Essenz um die emotionalen Auswirkungen der Maßnahmen auf die Webster Familie.

Abb. 57: «Müllfasten«, Berlin 2011.

«Müllfasten»

«Tag fünf des Müllexperiments. 20:30 Obwohl der Tag ruhig und ohne großen Müll verläuft, haben wir ab und zu Rückfälle. Wie Menschen auf Entzug begehen wir dann heimlich, wie Verbrecher, kleine Verstöße gegen unsere Müllregeln. Das kleine Stück Schokolade, das da noch liegt wird verputzt. Das hätten wir eigentlich nicht tun dürfen, denn das gute Stück war in Aluminiumfolie eingeschlagen. An diesen kleinen Stellen merke ich, wie schwierig eine konsequente Umsetzung dieses Experiments eigentlich ist.» (Susanne Hausstein, 2011) Für die Durchführung des Selbstexperiments erhalten die Studenten einen vollen Tag zur freien Verfügung, unter der Maßgabe des «Müllfastens». Das bedeutet, es gelten für diesen Tag spezielle Regeln in Bezug auf Müllerzeugung. Vor allem gilt der Fastengrundsatz. 24 Stunden lang sollen die Probanden keinen Müll (Festmüll; flüssige Abfälle werden nicht betrachtet) verursachen. Dabei werden allerdings Ausnahmen zugelassen, d. h. biologische Abfälle werden dem Abfallkonto nicht hinzugeschlagen, da sie als «natürlich» nicht direkt dem Schaffensprozess des Designers zugerechnet werden können. Weiterhin wird vereinbart jeglichen Abfall, der dennoch anfällt, aufzubewahren, wenn nötig auszuwaschen. Der gesamte Tag soll in den Momenten dokumentiert werden, die sich direkt oder indirekt auf Müllerzeugung oder -vermeidung beziehen. Gleichzeitig sind die Probanden beauftragt ihr Wissen als Designer an diesem Fasttag zu nutzen und alternative Strategien zur Müllvermeidung zu erproben.

Abb. 55: Film-Stil «Recipes for Disaster« 2007 Abb. 56: «Müllfasten« 2011.

Der bleibt leer!

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Schematisierung als Methode HUNGER / APPETIT

Anlass / Bedürfnis / Grund

HUNGER / APPETIT

KEKSE

Lösung / Trigger / Bedürfniserfüllung

KEKSE

KEKSVERPACKUNG

Nebenerscheinung / kulturelle Praxis / unmittelbarer Auslöser für Müll

Sinneinheiten in passender Form zu identifizieren und zu benennen. Diese Abstraktionsstufe der eigenen Motive und Verhaltensweisen erleichtert die gezielte Suche nach Alternativen oder zumindest alternativen Ansätzen, die wiederum in vielfältiger Form Eingang in die Entwurfsarbeit der angehenden Designer finden kann. Deshalb spielt bei einer solchen Erarbeitung die Realisierbarkeit zunächst eine untergeordnete Rolle. Gerade unkonventionelle Strategien enthalten die überzeugenden Impulse für Innovationen (Dinge oder Services, die es zuvor noch nicht gab).

MÜLL

MÜLL

KEKSAUTOMAT / KEKSMANN / KEKSDOSENPFAND / KEKSFREITAG

Methode iM Test

Abb. 58: Schemtisierung der Zusammenhänge im Beispielfall einer Keksverpackung.

«Müllfasten»

Schematisierung als Methode des Erkenntnisgewinns

Die Berichte und Dokumentationen des Fasttags schildern vor allem eins: Essgewohnheiten. Sehr schnell wird deutlich, dass der häufigste Kontakt mit Müll im Zusammenhang mit Nahrungsmitteln steht. Die einhellige Meinung geht in die Richtung: Es ist unmöglich keinen Müll zu verursachen. Diese Erkenntnis geht einher mit dem Bewusstwerden, dass der eigene Haushalt überall Müll beherbergt.

«Schnell ging es nicht mehr um die Frage ‚Darf ich Müll erzeugen?‘, sondern eher darum ‚WIE VIEL Müll darf ich erzeugen?‘»

Im Nachgang – der Reflexion des Experiments muss eine Verallgemeinerung bzw. eine Objektivierung in irgendeiner Form stattfinden, um die individuellen Erkenntnisse allgemein nutzbar zu machen. Als Schematisierung wird hier die Beschreibung des Konzepts eines bestimmten Verhaltens verstanden. Dabei geht es vor allem darum übergeordnete

Abb. 59: Alle mitgebrachten Müll-Artefakte des Fasttags der Studenten, Berlin 2014.

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«Ein geregelter Tagesablauf ohne Müllerzeugung ist in unserem Lebensstil nicht vorgesehen, und aufgrund der Rahmenbedingungen unseres Konsums auch sehr schwer möglich.» Der unmittelbarste Müll entsteht hauptsächlich durch Verpackung von Lebensmitteln. Aber auch Shampoo- und Waschmittelpackungen werden nun als potenzielle Müllmacher identifiziert. Da Lebensmittel und Hygieneprodukte als Basisbedürfnisse eingestuft werden, erscheint der Kauf von Müll umhüllten Waren alternativlos. Die Studenten beklagen, ja ergeben sich in ein Gefühl des Gefangenseins im System. Ihnen wird klar, dass bei aller Auswahl in den Supermärkten die Wahl zwischen mit oder ohne Müll nicht besteht. In dieser Betrachtungsweise erscheinen alle Produkt letztendlich gleich.

Abb. 60: Der meiste Müll steht im Zusammenhang mit dem Essen.

«Kein Problem, ich ess‘ einfach nur Obst und Gemüse, da fällt schon kein Müll an.» Einzig Bio-Lebensmittel seien teilweise weniger aufwendig verpackt und böten im Generellen einen besseren, gesünderen Lebensstil. Der Hinweis, dass auch Verteilungssysteme gestaltet werden müssten und auch Lebensweisen Trends unterliegen (siehe Bio-Lebensmittel), ruft müde Zustimmung hervor. Eine solche Aufgabe wirkt auf die Designstudenten eher unattraktiv.

Abb. 61: Die Fasttags-Bilanz.

Abb. 63: Der absolute Müllklassiker scheint das «TetraPak« HMilch zu sein.

«1. lange schlafen, denn wenn man schläft, produziert man keinen Müll» Die Tagesberichte erhalten kaum Aussagen über Emotionen, Gefühle oder dergleichen. Die formulierten Empfindungen bewegen sich allein zwischen Erstaunen (über die Omnipräsenz des Mülls) und Erstaunen (über das Vergessen der Tagesaufgabe und dem reflexartigen Erzeugen von Müll). Dies mag daran

Abb. 62: Auch frisches Gemüse ist allzu oft in dünne Plastiktüten eingepackt.

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Abb. 64: Eine weitere Fasttag-Bilanz.

liegen, dass die gestellte Aufgabe nicht selbstgewählt ist und Erlebtes eher distanziert beurteilt werden kann. Dennoch wird das «Herumlaufen mit Müll» als peinlich empfunden (der anfallende Abfall soll zu jeder Zeit aufbewahrt werden). Vielmehr erscheint der Auftrag, den Abfall nicht verschwinden

zu lassen, als gleichwertig schwierige Aufgabe wie ihn gar nicht erst zu erzeugen. So betitelt eine Studentin das Experiment als «Mein 24 Stunden Müll-sammel-Tag». Dies könnte man durchaus als das Gegenteil der eigentlichen Aufgaben deuten.

Abb. 65: Klein, aber trotzdem Müll.

Abb. 66: Papiermüll.

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«Er meinte: Schmeiß du ihn doch selbst weg! Der Müllvermeiden Tag ging schon gut los.» In der Erprobung von Tricks und Kniffen, um die Müllregeln einfach zu umgehen, waren die Teilnehmer hingegen durchaus kreativ. So wurden «Togo»-Becher Freunden mitgegeben, leere Verpackungen wurden wieder in den Kühlschrank gestellt, um sie erst am nächsten Tag zu entsorgen oder aber Taschentücher wurden in der Toilette heruntergespült. Obwohl die Studenten in vielen Fällen der eigentlichen Aufgabe damit aus dem Weg gehen, wird dies von allen auch bewusst und ehrlich als Unvermögen dokumentiert («beginnender Selbstbetrug»). «Obwohl ich meinen Freunden meinen Müllfastentag angekündigt habe, lassen mich die Einkaufstüten erahnen, dass sich an diesem Abend viel Müll anhäufen wird.» In der Frage des sozialen Müllzwangs kommen einige Studenten zu dem Schluss, dass Freunde und Bekannte in ihren Worten durchaus unterstützend, in ihren Taten eher verheerend sein können. So sei der Besuch von Freunden eigentlich immer Anlass des Mülls, seien es die Geselligkeitsartikel («Bier, Chips, Erdnüsse und einige Packungen Schokolade») oder das gemeinsame Kochen mit folienverschweißtem Gemüse.

Abb. 67: Der Müll von unterwegs wird mitgenommen.

Abb. 68: Ein geselliger Abend ist leider oft durch viel Müll gekennzeichnet, da die Gäste meist etwas (Verpacktes) mitbringen.

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Keiner der Studenten hat den Ablauf des Tages vorher geplant. Der ‚chaotische‘ Lebensstil, der Studenten gemeinhin nachgesagt wird, scheint sich in Bezug auf das Selbstexperiment Müllfasten als Vorteil zu erweisen. Bei ihnen gibt es keine Tagesroutine, die sie zwingt jeden Tag die gleichen Rituale auszuführen (ausgenommen das Heißgetränk am Morgen, das alle Teilnehmer erwähnen). Dies ermöglicht es ihnen um klassische Müllfallen herum zu manövrieren. Dennoch sind sie zu fest in der Ungebundenheit verwurzelt, als dass sie kreative Strategien im täglichen Leben erproben würden. Obwohl sie sich alle ihrer Profession Design bewusst sind, wird sie doch im übertragenen Sinn als Uniform im Büro zurückgelassen. Daheim sind sie dann nur mehr normale Menschen ohne besondere Fähigkeit. So bleibt die Frage im Raum stehen, ob Müllvermeidung schlicht zu anstrengend ist oder ob es eher zu einfach ist Müll zu verursachen. «Wollte man dieses Experiment ausdehnen, so müsste man sich Strategien entwickeln und seinen Lebensstil - und Rhythmus dem Experiment anpassen und unterordnen.»

Abb. 70: «Taschentücher« aus einem alten T-Shirt.

Der Kassenbon als Instanz der Versicherung und Absicherung der eigenen Entscheidungen ist ein Symbol für alle «Müllkleinigkeiten». «Später an der Kasse hatte die Kassiererin mir eine Quittung gegeben. Ich hätte sie nicht annehmen können allerdings hätte es den Müll nicht vermieden. Außerdem hatte ich das «Müllfasten» in diesem Moment vergessen und aus Routine den Beleg angenommen.»

Durchaus überraschend fällt die Ehrlichkeit auf, mit der die Studenten auch ihren «intimsten» Müll dokumentieren. So sind mehrere benutzte Taschentücher, leere Klopapierrollen und Wattestäbchen unter den mitgebrachten «Müllartefakten».

Waschbare, wiederverwendbare Taschentücher wurden aus einem alten T-Shirt gewonnen. Hier wird auf den noch vor einiger Zeit üblichen Brauch des Herrenstofftaschentuchs verwiesen. Auch an dieser Stelle wird deutlich, dass sich viele Müllvermeidungsstrategien innerhalb kultureller Rituale abspielen. «Während des Frühstück kam es zum Entleeren einer Frischkäseverpackung. Ich hätte den Verzehr auf morgen verschieben können, aber das wäre keine wirkliche Strategie gewesen den Müll zu vermeiden.» «Schlafen - Kein Müll» «Abendessen draußen - Weniger Müll als zu Hause kochen, da das Restaurant Großpackungen nutzt.»

Abb. 69: In der kalten Jahreszeit kaum zu vermeiden: ZellstoffTaschentücher.

Zigaretten und Rauchzubehör stellen eine Besonderheit dar, da sie als unverzichtbar für Raucher gelten. Der übrigbleibende Abfall dokumentiert einerseits ganz akribisch wie viel geraucht wurde (möglicher Weise eine unangenehme Wahrheit, da man sich etwas anderes vorgenommen hatte). Andererseits ähnelt dieser Abfall kaum den Konsumverpackungen, die leer wie voll gleich aussehen. Zigarettenstummel fallen viel mehr in die Dreck- und Schmutzkategorie als anderer Müll.

Der Fasttag: Einblicke und Auszüge

«Ein sehr interessanter Fasten Tag mit der Erkenntnis, dass es wirklich angenehm ist, Müll machen zu können.» «Das Mittagessen vom Becker hab ich ohne Serviette und extra Plastiktüte bestellt.» 34


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Abb. 71: Tagesdokumentation des Fasttags.

Hundekotbeutel sind nicht bef체llt mitgebracht worden, da eine systematische Entsorgung bzw. das sofortige Verschwinden lassen dieser Art Abfall als absolut und ohne Frage notwendig eingesch채tzt wird.

Abb. 72: Menthol-Zigarettenschachtel.

Abb. 73: Sieben Zigaretten geraucht.

Abb. 74: Sechs Hundekotbeutel verwendet.

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Abb. 75: Diese Beziehung zwischen Mensch und Zigarette ist beendet worden.

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erstickt hat.» … «Als eine von 95 Milliarden Plastiktüten, die jährlich in der EU verbraucht werden, wurde sie mit tausenden Schwestern in einer Fabrik gestanzt und verschweißt.» … «Im Durchschnitt wird eine Tüte 25 Minuten benutzt, bevor sie entsorgt wird. Bei mir wird sie immer noch als Mülltüte benutzt, sodass ich zweimal etwas darin transportiere, bevor sie verbrannt wird.»

Biografie eines Müll-Artefakts

«Kultur und Tradition wird aus Bequemlichkeit konserviert. Dauerhaft. Auf Ewigkeit.» In Vorbereitung auf die abschließende Herausarbeitung einer persönlichen Stellungnahme und der emotionalen Aufladung eines der angehäuften Müllartefakte, erhalten die Teilnehmer die Aufgabe eine Biografie des Gegenstands zu schreiben. Sie sollen die Geschichte und Eigenschaften erforschen, um seinen Sinn in ihrem Leben zu beleuchten. Außerdem zeigt die formale Untersuchung von Produkten die Vielzahl der Designaktivitäten, die mit dem Objekt einhergegangen sind. So können die Studenten wieder einmal die Rolle ihrer Profession innerhalb des Themas Abfall erkennen.

Abb. 77: Das Toilettenpapier ist täglicher Abfall.

Toilettenpapier «Das Toilettenpapier ist ein zur einmaligen Verwendung gedachtes Tissue-Papier zur Reinigung der Ausscheidungsorgane nach dem Stuhlgang oder nach dem Harnlassen.» … «Das Holz zur Zellstoffherstellung wir vor allem aus Kiefern,Fichten und Birken gewonnen.»

Konservendose «Oft glaubt man nicht, dass die heutige Konservendose bereits seit 1810 existiert.» … «Für mich lösen Konservendosen ein fremdes und gleichermaßen vertrautes Gefühl aus. Die Haptik des Materials, die Prozedur des Öffnens und der Geruch, der sich danach im Raum verflüchtigt. Es sind alles Erinnerungen an früher, meine Vergangenheit oder an eine alte Generation, die darauf angewiesen war.» … «Konservendosen werden häufig aus Weißblech oder Aluminiumblech hergestellt. Während Weißblech ein dünnes Stahlblech ist, das zum Schutz vor Korrosion durch ein Tauchverfahren mit Zinn beschichtet wird, werden heutzutage auch oft chromarisierte Stahlbleche verwendet. Um eine Reaktion nach dem Öffnen mit dem Metallblech zu vermeiden, sind Dosen von innen häufig mit einem Kunststoff beschichtet.» … «Die frischen Lebensmittel werden zunächst so vorbereitet, dass sie möglichst platzsparend in ihrem Behältnis untergebracht werden können.»

Abb. 76: Plastiktüten

Plastiktüte «Schon gleich am Morgen meines Fastentages begegnete ich ihr in meinem Kühlschrank. Eine leckere knackige rote Paprika war umhüllt von dieser durchsichtigen sich anschmiegenden leichten, aber stabilen, Tüte. Ich bin nicht sicher, ob sie eher ein leichter Schleier für die Paprika war oder ob sie wie ein Killer die Paprika 37


38 Inszenierung als Medium des Designwissens

«Übertreiben erwünscht! Setzen Sie ein Artefakt oder eine Begebenheit des Müllexperiments in Szene, passend aber zu der Emotion, die Sie damit verbinden. Ist es etwas «Schönes», soll es noch schöner werden oder in einem »schönen Kontext» gezeigt werden. Ist es etwas «Ekliges», machen Sie es noch ekliger, oder über Kreuz. Manipulieren Sie das Artefakt um sein Wesen / Charakter darzustellen.» Die Aufgabe sich auch emotional, möglicherweise sehr überspitzt, mit einem der Gegenstände des Müllfasttages auseinanderzusetzen, soll die vielfältigen sozial konstruierten Zuweisungen und Deutungen unterstreichen. Dabei soll der Gedanke manifest werden, dass Müll in jeglicher Hinsicht eine gedankliche Abstraktion der Wirklichkeit ist. Außerdem liegt in der übertriebenen Aufmerksamkeit für ein scheinbar alltägliches Ding ein Handlungsappell an die angehenden Designer. Wie sie selbst auch schnell feststellten, macht es keinen Unterschied, ob sie als Auftrag ein Designobjekt oder ein Müllobjekt manipulieren / verändern.

Abb. 78: Der Buttermilch-Becher.

Buttermilchbecher «Ein Thermoformingprodukt, wie schön!» … «Ein sehr effizienter Verpackungsprozess für Molkereiprodukte ist nämlich das Form-FillSeal-Verfahren (FFS). Es integriert die vorher getrennten Einzelschritte Formen, Befüllen und Verschließen von Lebensmittelbehältern in einem Arbeitsgang. Das Molkereiunternehmen erhält eine PS-Folie vom Folienhersteller und führt dann sämtliche Arbeitsgänge mit komplexen, multifunktionalen FFS-Maschinen durch. Die Folie wird in der FFS-Maschine erhitzt und im Tiefziehverfahren zu Bechern verformt. Die Becher werden beispielsweise mit Buttermilch gefüllt und anschließend mit einer bedruckten Siegelfolie verschlossen.»

Abb. 79: Die Inszenierung des H-Milch «TetraPak« von ALDI.

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Abb. 80: Und das Pendant von der «BIO COMPANY«.

«Schützen sie ihre Kinder gleichzeitig vor schädlichen Umwelteinflüssen und regen sie deren Wohlbehagen und geistige Entwicklung an mit einer Verpackung, die die Sinne umspielt und kitzelt. Mit unserer weltweit einzigartigen Materialkomposition setzen sie einen wichtigen Schritt für unseren Planeten und setzen sich für ihre Familie ein. Jeden Tag.»

«Doppelte Milch» Die Feststellung, dass Bio-Lebensmittel oftmals weniger oder ökologisch gelungener verpackt sind, bezieht sich nicht automatisch auf alle Lebensmittel. So kommt es, dass Bio-Milch im augenscheinlich baugleichen «TetraPak» verkauft wird wie die eines Discounters. Diesen Widerspruch haben zwei Teilnehmer in den Fokus ihrer Inszenierung gestellt und die zwei Milchkartons gegenübergestellt. Tatsächliche Unterschiede fand sie nicht, daher schufen sie, wie Werbefachleute, entsprechende Slogans, die mit mehr oder weniger Wahrheit den eigentlichen Unterschied der beiden Objekte beschreibt.

«Danke Gerda und Alfred und Tobias und den 40 Millionen Steuerzahlern, dass ihr uns Jahr für Jahr helft die Erde weiter auszubeuten um eure Milch in dieser billigen Verpackung kaufen zu können.» «Fürs Wachstum in Form geschnittene Bäume in extra beleuchteten Gewächshäusern geben unserer Milchverpackung ihr kantiges, anorganisches Äußeres und lassen das Vertrauen in unsere vollkommen maschinelle Produktion stetig steigen.»

«In ehrreicher Tradition verarbeitet unsere Manufaktur das erlesene, von Hand geschöpfte Löwenzahnpapier. Doppelt gefalzt und mit einer milden Bienenwachs Emulsion bestäubt, erschließen sich die, der Natur nachempfundenen Schutzmechanismen, welche so hervorragend für die empfindlichen Mineralien und Vitamine unserer Frische Vollmilch der Bio Company sind.»

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«Der Supermarkt - ein Eldorado des Vergessens und der Unkenntlichkeit.» Gewisse Verpackungsentitäten sind in dem immer schneller werdenden Austausch von Waren historisch so aufgeladen, dass sie es schaffen zu überleben. Das beste Beispiel dafür ist die Konservendose. Sie steht für eine grundlegende Stabilität und Dauerhaftigkeit, sie ist im «One-MinuteMeal»- und «To-Go»-Kontext ein Fels in der Brandung. In der Zeit ihrer Entstehung (um 1800) war die langfristige Lagerung von Lebensmitteln unerlässlich – lebensnotwendig. In ihrer simplen Form und Funktionalität war sie damals unter wirtschaftlichen und pragmatischen Erwägungen gestaltet worden. Heute ist aus diesen Erwägungen eine geradezu sentimentale Ästhetik erwachsen, die aber oftmals vollflächig von bunter Werbung überdeckt wird. Dennoch, in der Hauptcharakteristik der Konservendose, das Konservieren, kann man durchaus den Gegenpol zum Wegwerfen erkennen. Als Verpackungseinheit ist sie schlichtweg der Inbegriff des Wegwerfens, doch ihr Wesen und ihr «Wille» scheinen genau das Gegenteil anzustreben. «Das, was uns einst einen so schönen Anblick bescherte und was wir als natürlich bezeichnen, erkennen wir nun oft nicht mehr. Der einst goldene Inhalt wird aufbewahrt, aufgewärmt und kurzerhand in einem Zustand der offenbaren Bewusstlosigkeit verschlungen.» Zwei blitzblanke Konservendosen wurden mit weißen Kunststoffpellets (Modellbaumaterial) gefüllt sowie mit einem demolierten iPod in Einzelteilen. Dessen Platine wurde mit einer LED-Lichterkette verbunden, die sich ebenfalls im Inneren der Konservendose befindet. Die Übersetzung geht wie folgt: Diese durchaus ästhetischen Metalldosen beherbergen in einer undefinierbaren, womöglich giftigen Masse etwas, das – nicht mehr erkennbar als etwas Natürliches – einen großen Wert für die Menschen darstellt.

Abb. 81-82: Die Inszenierung der Konservendose als Manipulation des Wertvollen.

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«Um seinen Wert für mich zu erhöhen, habe ich eine Hülle für ihn genäht, welche man am Gürtel tragen kann und so den Becher weiterhin als Behältnis für Abfälle o. Ä. benutzen kann - eine Art lebensverlängernde Maßname deren Arbeitsaufwand im kompletten Gegensatz zu ihrem Nutzen steht, ebenso wie die Herstellung des «Coffee-to-go»-Bechers.»

«Coffee-to-go» Der Kaffee im Becher zum mitnehmen symbolisiert vor allem zwei Dinge. Zum einen steht er für die mobile, zeitbestimmte, schnelle und bequeme Lebensweise unserer urbanen Welt. Zum anderen stellt er ein Paradebeispiel für unverhältnismäßigen Energie- und Materialaufwand bezogen auf die Art der Nutzung und die Nutzungsdauer des Gegenstands dar. Es handelt sich bei diesem Gegensatzpaar um die grundlegenden Voraussetzungen, die zur heutigen «Müllsituation» geführt haben. Schon Richard Buckminster Fuller führte 1981 den Begriff «Obnoxico» in seinem theoretischen und praktischen Schaffen ein. «Obnoxico» ist  ein erfundener  Name  für  Unternehmen  und  Produkte,  welche  aus  «heißer  Luft»  Geld  machen  mit  geringem  oder  gänzlich  ohne Nutzen  für  die  Menschheit (vgl. Fuller  1981:  225). Er selbst hatte seiner Zeit ein «Obnoxico»-Unternehmen aufgebaut, das Eltern die Vergoldung der letzten benutzten Windel ihres Kindes anbot. «Es [der «Coffee-to-go»-Becher] ist Müll, der vermeidbar wäre, aber es ist auch eine Art festes Morgenritual auf welches ich nicht verzichten möchte.»

Abb. 84: Charakteristische Merkmale wurden zeichenhaft übernommen.

Abb. 83: Die Veredelung des «Coffee-to-go«-Bechers.

Abb. 85: Der edle Stoff umschließt den Becher und verlängert dadurch sein Leben.

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«Kinder Überraschung» Produkte speziell für Kinder werden in Deutschland sehr streng überwacht und mit vielen Reglements belegt. Dennoch gibt es einige wenige Produkte, die aufgrund ihrer Historie oder ihrer Beleibtheit eine Ausnahme darstellen. So ist es in einigen Ländern der Welt verboten kleinteilige Spielsachen in Schokolade einzuhüllen. Die Verbindung zwischen dem Essen der Schokolade und dem Verschlucken von Kleinteilen liegt einfach zu nahe. In Deutschland sprechen die Statistiken dagegen, das «Überraschungsei» hat bisher zu keinen nennenswerten Opfern geführt.

Seite 41 Abb. 87: Die Entstehung des Denkmals für den vermeintlichen Erfinder des «Überraschungseis«.

Warum Kinder das «Überraschungsei» lieben erklärt sich von selbst, doch warum sind auch viele Erwachsene davon so angezogen? Süßigkeiten, Schokolade und Kekse nehmen einen besonderen Stellenwert im Leben Erwachsener ein. So könnte man argumentieren, das was im Säuglingsalter die Übergangsobjekte waren, sind im Erwachsenenalter die kleinen süßen Snacks. Diese süßen Sünden sind die klassischen Müllverursacher, gerade während der Müllfastenzeit. Sie lindern Schmerz, Frustration und Heißhunger, helfen dabei sich zu konzentrieren und geben Kraft. All das ist wissenschaftlich nicht nachweisbar, wird aber von den meisten Menschen so gesehen. Sich den bunten Leckerbissen zu verkneifen fällt oftmals schwer. Daher ist die «Kinder Überraschung» ein interessantes und extremes Beispiel für ein Müllartefakt. Da es den meisten Erwachsenen oftmals «nur» um die Schokolade geht und weniger um das Spielzeug, wird absolut überflüssiger und aufwendiger Abfall verursacht. Der Student beschreibt die imaginäre Entstehungsgeschichte der «Kinder Überraschung» als Horrorgeschichte. Der vermeintliche Erfinder «Petotinio Albercelotti», Sohn einer italienischen Handelsfamilie, die im Krieg all ihr Hab und Gut verlor, sei durch die traumatische Erfahrung des Verlustes seiner Hoden («Eier») als Strafe für den Diebstahl von Hühnereiern zu der Idee des «Überraschungseis» gekommen. Um den Kindern dieser Welt eine Kindheit voll schöner Erlebnisse (Spielzeuge und Schokolade) zu bescheren und um selber den Verlust seiner «Eier» zu kompensieren, erfand er Minispielzeuge umhüllt mit schwarz-weißer Schokolade. Ihm zu Ehren hat der Student ein Denkmal geschaffen, das den Erfinder «wohl gekleidet und in der Natur stehend festhält».

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Abb. 86: Eine Freundschaft ist entstanden.

Mensch versetzt sich in das Objekt hinein («Einfühlung»)5.

«Buttermilch – leider geil» Wie bereits herausgearbeitet, wird Müll nicht produziert sonder sozial konstruiert. Dies soll ausdrücken, dass es eine Entscheidung ist etwas als wertvoll oder wertlos einzuschätzen. Diese Entscheidung wird natürlich maßgeblich von gesellschaftlichen Konventionen bestimmt. Dennoch spielt eine emotionale Bindung an ein Objekt (wie bereits erläutert im Zusammenhang mit «Übergangsobjekten») eine wichtige Rolle, die auch gesellschaftliche Konventionen überlagern kann. Ist diese emotionale Bindung an ein Objekt dauerhafter Natur, so ist es wenig wahrscheinlich, dass ihm der Status Müll angeheftet wird.

In der Umwandlung der gewöhnlichen Erscheinung in einen ursprünglicheren Zustand lässt sich dann auch eher ein Akt der Pflege als ein Akt der Zerstörung erkennen. Der massenhaft in Form gezogene Kunststoffbecher wurde im Backofen erhitzt und zerfloss daraufhin in seine Ausgangsform als Platten- bzw. Folienmaterial. Alle inhaltlichen Attribute, wie die Bezeichnung, Inhaltsinformationen und selbst Logos und Abbildung sind, wenn auch verzerrt und geschrumpft, erhalten geblieben. «Da ich wusste wie anstrengend es sein kann tiefgezogen zu sein, und auf Dauer unter solcher Anspannung zu stehen wie mein neuer Freund der Becher, hab ich es ihm mal gemütlich warm gemacht, sodass er sich entspannen konnte. In dieser seiner neuen Form erscheint er mir nun auch deutlich entspannter.»

«Ein alter Freund, Bekannter, ja Vertrauter offenbarte sich mir.» «Uns beide verbindet etwas, der Hang zum Tiefziehen!» Diese Erwägungen kommen beim genaueren Kennenlernen von noch so alltäglichen Objekten zum Tragen. So treten bei der Untersuchung immer wieder Gemeinsamkeiten von Objekt und Mensch auf. Das Objekt wird menschlich oder der

5  Der Begriff ‚Einfühlung‘ wurde vom deutschen Philosophen und Kunsthistoriker Robert Vischer in seiner Dissertation «Über das optische Formgefühl» 1872 geprägt. Im Rahmen der ästhetischen Einfühlungstheorie verfolgte er die These, die «Seele» (gemeint ist das Spektrum der Emotionen) sei eine Projektion des Betrachters in ein betrachtetes Objekt. Der Prozess der ‚Einfühlung‘ führe dazu, dass betrachtetes Objekt und erlebte Emotion verschmelzen. Später vertiefte der deutsche Philosoph Theodor Lipps diese Annahmen dahingehend, dass er als eine unwillkürliche, instinkthafte und kinästhetische Form der Anverwandlung betrachtet. Vgl. Lipps 1913 44


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Manifest «Der Designer und der Müll»

In Anlehnung an die Einschätzung der eigenen «Macht» und Verantwortung als Designer wird infolgedessen an andere Professionen verwiesen, die sich mit bestimmten Fragestellungen zum Müll beschäftigen sollten. Erstaunlich ist das nicht, vielmehr zeigt sich auch darin der bei den Designer tiefverwurzelte Technikglaube. Mit der Hoffnung auf neue Technologien soll es in der Zukunft möglich sein Müll «verschwinden zu lassen». Gleichermaßen kommt eine resignierende Ohnmacht und Einsicht in die wirtschaftlichen Abläufe der Gesellschaft und die globalen Verstrickungen zum Tragen, derer gegenüber der Designer sich völlig machtlos fühlt.

Zusammenfassend geht es in dem Seminar um das Bewusstwerden der eigenen Rolle als Designer im Entstehen von Müll. Die individuellen, persönlichen Erfahrungen können lediglich Argumente liefern, die tatsächliche, praktische Arbeit wird aber ganz stark vom Berufsethos bestimmt. Bezogen auf Sachverhalte, die eng verknüpft sind mit der Arbeit des Designers, sollen die Studenten in der Lage sein ihren Standpunkt, ihre Rolle klar zu definieren. Dies lässt sich über das Verfassen einer programmatischen Streitschrift – eines Manifests – üben.

«Daher sollten Gestalter, Chemiker und Ingenieure immer weiter an umweltfreundlichen Verpackungsmaterialien arbeiten, damit wir nicht mühsam Müll sparen müssen sondern, dass der Müll einfach bald kein Müll mehr ist sondern vielleicht Dünger oder Fischfutter.»

Verschieden konnotierte Schriften sind entstanden. Dabei fallen einige, den Studenten gemeinen, Einstellungen auf, aber auch eher dezidierte Erkenntnisse und Fragen. Das Definieren des Problems, bezogen auf die Profession des Designers, gehört zu einer der wichtigsten Vorraussetzung für die Bearbeitung desselben.

«But even in that [design] studio, I often experience that in the end, the production company has the last word - and although they also care for sustainability, they find the budget to be more important.»

«Müll bildet für mich eine unangenehme Nebenerscheinung. Er ist hässlich, steht in keinem relevanten Kontext zu seinem eigentlichen Ziel oder Inhalt. Massenware ist Müll. Plastik ist Müll. Etwas, dass rein zweckmäßig und ohne Bedacht verpackt wurde, erzeugt Müll. Müll symbolisiert also kritische gesellschaftliche Abläufe, die für mich als Designer weit mehr als nur eine unnötige Umverpackung aus logistischer Gefälligkeit sind.»

«Irgendwie denke ich, dass wir ganz andere Probleme haben. In einer Gesellschaft, in der es normal ist ein Flugzeug zu benutzen, Kosmetik an gequälten Tieren getestet wird und unsere Ozeane beginnen Kontinente zu verschlucken…» «Die Umweltverschmutzung durch Müll ist nicht zu verachten [gemeint ist ‚beträchtlich‘], allerdings gibt es meiner Meinung nach schwerwiegendere Probleme auf der Welt.»

Das Phänomen erst einmal einzuordnen und zu untersuchen, scheint aber nicht automatisch zu einem lösungsorientierten Optimismus zu führen – eher im Gegenteil. Die mehrheitliche Meinung zum Müll oder besser zum Leben ohne Müll klingt so: Es ist unmöglich. Ebenso niedrig wird das Gewicht des eigenen Einflusses durch Design bewertet. Die angehenden Designer sind tatsächlich in zwei Lager gespalten, die Einen selbstbewusst und stolz, zuständig für die Zukunft, die Anderen ernüchtert und pessimistisch, Knechte der Gegenwart.

Natürlich ist es gerade für einen Designer nicht abwegig den Status quo der Abfallsituation zumindest in Deutschland als akzeptabel einzustufen. Recycling und «Upcycling» als Strategie mit dem Müll ‚umzugehen‘ werden teilweise als ausreichend angesehen. Als designeigene («Upcycling») und materialfokussierte (Recycling) Strategien entstammen sie dem Kenntnisbereich von Gestaltern, können sozusagen als Stellvertretermaßnahme einverleibt werden.

«Warum werden in Zeiten von ‚Bestattungs-Discounts‘ nicht auch Müll und Tod designt? Steckt hier nicht ein ungeheures Potenzial die Welt, die Umwelt, die Zukunft und das Leben jedes einzelnen Menschen nachhaltig zu verbessern? Ich denke hier sollte der Designer der Zukunft ansetzen. Bei den Problemen von morgen beginnend, die Lösungen von heute gestalten!»

«Die Bezeichnung des Mülls oder Abfalls relativiert sich in Anbetracht, dass Dinge recycelt, wiederaufbereitet oder in Energie umgewandelt werden können.» An den zuvor genannten Umständen mag es liegen, dass beinahe alle Studenten die Verantwortung gegenüber wachsenden Müllmassen vor allem im Privaten sehen – abseits ihrer Profession. Dies überrascht schon, da dies bedeuten würde, dass es leichter ist für jeden Einzelnen eine

«Es ist utopisch zu glauben, dass sich Müll komplett vermeiden lässt.» «Ich weiss, ich werde die Welt nicht umwälzen oder revolutionieren.» 45


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«Allgemein denke ich aber, dass Müllvermeidung ohne die eigene umsichtige Denkweise nicht möglich ist.»

man noch aufrecht erhalten durch das Studium hindurch?» «Was sagt der Mülloutput unserer Uni über die Qualität der gemachten Entwürfe aus? Kann es sein, dass Studenten hauptsächlich mit der Produktion von Objekten beschäftigt sind, die nach Semesterende zu 90 Prozent im Müll landen? Ist hier ein Umdenken in der Lehre erforderlich? Wollen wir nicht Dinge schaffen, die nicht sofort weggeschmissen werden? Schreiben wir uns nicht Nachhaltigkeit auf die Fahnen? Wollen wir nicht ganzheitlich leben?»

«Dennoch versuche ich meinen Teil dazu beizutragen. Ich bemühe mich umweltbewusst zu leben im Kleinen, sei es Recyclingpapier zum Ausdrucken, oder das Wassersparprogramm und das umweltfreundliche Waschmittel bei der Waschmaschine.»

«Verpackung sollte ein selbsterklärender Schritt zwischen Produkt und Kunde sein - wer würde es wagen ein seidenes Kleid, das hunderte Arbeitsstunden in Entwurf und Produktion gekostet hat, in einen Plastiksack zu stecken?»

Korrespondierend mit der Einstellung, dass Müllvermeidung zu allererst im Privaten beginnt, werden die selbst erfahrenen, gängigen «Öko»-Strategien diskutiert. «Tee bags were kept for future art projects. Glass jars were made into drinking glasses and all sorts of the typical alternative/cheap way of living. Needless to say, it was all new to me and for a while also very exciting. »Dumpster diving» seemed like the most reasonable thing to do and it all looked like a sustainable way of living.» All diese Strategien wurden nicht gestaltet, sie sind improvisierte Amateurreaktionen auf ein in der Gesellschaft schwelendes Problem. Daher mag es kommen, dass viele der gut gemeinten Tätigkeiten am Ziel vorbeigehen und auch dass das Ausführen der Tätigkeit zur religiösen Handlung mutieren kann. Der Designer hingegen bringt alle Kompetenzen mit, um sich dem Problem zu stellen, nur hat ihn bisher niemand darum gebeten.

In einem der Programme findet sich eine deutliche Formulierung des eigenen Berufsethos. Hier wird die eigene Arbeitsweise als Designer klar abgesteckt. Die persönliche Auslegung von (Mode-)Design will sich deutlich von «industrieller Formgestaltung» abgrenzen und enthält eine, wenn auch exklusive, Müllvermeidungsstrategie.

Veränderung zu vollziehen als das dahinter liegende System zu gestalten, sodass es Veränderung bewirkt. Ohne Zweifel ist es richtig das eigene Handeln, auch im Alltag, immer wieder zu hinterfragen und zu ändern, aber gefragt nach der Arbeitshaltung eines Designers zu Abfall, verrät es nicht viel.

«Für mich ist Mode logisch. Ich möchte stolz sein können auf das, was ich tue. Mode als Luxus trägt eine Verantwortung der gesamten Gesellschaft gegenüber. […] Arbeitsstunden, auf der aus Zeit, Mühe und angewandter Erfahrung gewonnene Erkenntnis prägen ein Kleidungsstück und verwurzeln Identität und Zeitgeist in ihm. Als natürliche Nebenerscheinung überleben diese Produkte für Jahrhunderte, werden geliebt, weitergegeben, dokumentiert, sind Quelle für Bewunderung und Inspiration, Verwunderung oder Hohn einer vergangenen Zeit und dessen Auffassung des Weltgeschehens.»

Gewissermaßen als Bestätigung der angestrebten Implementierung von «Mülltheorie» und «Müllmethoden» im Designstudium, stellen die Teilnehmer in ihren Manifesten mehr Fragen als sie Antworten geben. So scheint es einen großen Diskussionsbedarf zu geben über konkrete Fragen zu Abfallsystemen, aber mehr noch zu kulturellen und gesellschaftlichen Formen und Sichtweisen, die Abfall impliziert und dem Designer in Form von SORGEN vor die Füsse wirft. Dabei handelt es sich auch ganz grundlegend um Fragen, die an Design als Disziplin gehen. Die Auseinandersetzung mit solchen Fragen birgt gleichermaßen die Chance, die Designdisziplin in ihrem Prozess der Konturenschärfung zu unterstützen.

Auch in diesem letzten Statement wird eine konkrete Strategie vorgeschlagen, wie Designer Müll in ihren Entwürfen vermeiden können. Sie bezieht sich im groben auf den Aufbau einer emotionalen Beziehung zum Objekt. Um dieses Vermögen im Entwurfsprozess zu evaluieren, darf / kann / soll / muss der Designer seine eigenen Motive und Einstellungen zum Entwurf hinterfragen. So simpel könnte die Frage lauten: Würde ich dieses Ding selber haben wollen? «Just to avoid that there might be one day you were afraid of facing yourself as a »Trash Designer», you’d better first be sure about no matter what would happen to your creation, you’d always love to keep it for yourself.»

«Hier muss man sich Gedanken machen. Ist man als wahrer Designer nicht angehalten die Welt zu retten? Oder wenigstens ein wenig zu verbessern? Soll man nicht alten Idealen folgen, wie der Umerziehung des Volkes zu gutem Geschmack und bewusstem Konsum? Wie viel seiner jugendlichen Rebellion kann 46


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Diskussion

zwischen Alltags- und Designobjekten gibt in Bezug auf ihre «Wegwerf-Wahrscheinlichkeit». Die Stellungnahmen dazu unterscheiden sich bei Studenten des Mode- und des Produktdesigns stark. Die angehenden Modedesigner sehen sich in der Herstellung von Unikaten und der Erzeugung von Kunst. Abseits der «Massenware» seien ökologische Aspekte nicht Bedeutung, bzw. dürften nur unterstützend wirken, nicht hindernd. Gerade im Bereich der Mode ist man zu dem Schluss gekommen, dass kurzfristige Trends und Geschmäcker so wandelbar sind (und sein müssen), dass es keinen Sinn hat zu versuchen Menschen mit den eigenen Entwürfen zu beeinflussen. Viel eher gilt der Grundsatz: Man kann den Leute sowieso nicht vorschreiben, was sie tun sollen. Im Lager der Produktdesignstudenten wird gegenteilig – technisch-pragmatisch – an die Frage herangegangen. Da man sich als Produktdesigner durchaus in der Herstellung von «Massenprodukten» sieht, wenn auch mit Qualitätssiegel, kann man die unliebsamen Fakten nicht ignorieren. Dennoch wird unter dem Begriff «Flohmarkt-Tauglichkeit» der Aspekt des Erhalts stark betont. Diese Kapazität der Dinge bezieht sich beinahe ausschließlich auf Materialeigenschaften, die ein langes Produktleben grundsätzlich ermöglichen sollen. So wurden Keramikerzeugnisse als besonders identifiziert, da sie schon aufgrund des Materials seltener weggeworfen werden. Wenn dann noch eine ästhetische Form gewählt wird, steht dem ewigen Leben eines Produktes nichts im Weg. Eine mögliche emotionale Bindung zwischen Produkt und Mensch könne im Übrigen nur dann entstehen, wenn es seine vorbestimmte Funktion «gut» (entsprechend der Erwartungen des Nutzers) erfüllt. Dennoch als Lösungsstrategie zur Müllminimierung tauge es nicht, da es für den Designer nicht vorhersehbar sei, welche Objekte emotional belegt

Wie bereits mehrfach dargestellt, ist Müll eine vor allem persönliche, geradezu emotionale Angelegenheit. Viele allgemeine Fragestellungen zum Müllverhalten werfen kleinere Details auf, die von den Studenten heiß und kontrovers diskutiert werden. Dieser Verlauf eines Seminars ist sehr wünschenswert und hinterlässt womöglich einen tieferen Eindruck bei den Studenten als jeder ausgeführte Auftrag. Daher soll an dieser Stelle eine kurze Reflexion zu den Inhalten der Diskussionen erfolgen. Rituale des Verschwindens

Beschäftigt man sich nicht wissenschaftlich mit der Praktik des Entsorgens, so stellen sich einige grundlegende Fragen erst gar nicht. Daher wird zu Beginn des Seminars die geradezu philosophisch anmutende Frage nach dem ‚Warum werfen Menschen Dinge weg?‘ in den Raum gestellt. Bei den daraufhin gemachten Kommentaren wird deutlich, dass diese Frage überhaupt nicht philosophisch daherkommt, da sie auf einer den Designern antrainierten Logik beruhend beantwortet wird. Dabei geht es um die Definition von Müll, der sich ausschließlich durch den Verlust von Funktionsfähigkeit («ist kaputt oder nur noch Scherben») auszeichnet. Bei allen anderen Umständen, in denen funktionsfähige Produkte weggeworfen werden, weil sie z.B. hässlich sind, wird nicht von Müll gesprochen sondern von «Nicht-Müll». In Bezug darauf, dass Statistiken und Erhebungen deutlich das Gegenteil beweisen, bzw. die angewandte Definition von Müll nichts an der Menge des in Deutschland vorhandenen Abfalls ändert, wird danach gefragt, ob der Designer etwas dagegen tun kann. Dies impliziert die Frage, ob es einen Unterschied 47


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werden und welche nicht. Als Beispiel nannten einige Teilnehmer altes Geschirr von WG-Mitbewohnern, das «total hässlich» sei, aber unwiderruflich seinen Platz im Haushalt beanspruche aus Gründen der Erinnerung oder Bedeutung. In diesem Zusammenhang wandert die Diskussion zu Objektgruppen, die scheinbar immun gegen den Müllstatus sind. Musikinstrumente als Sinneinheit stellen kein klassischmodernes Designobjekt6 dar und sind höchst selten im Müll zu finden. Dies wird auf die anerzogene Sorgfalt im Umgang mit kostbaren Instrumenten zurückgeführt, ebenso wie auf die Mystifizierung von Instrumenten im Lauf der Geschichte. Musikinstrumente oder vielmehr das Spielen auf ihnen und die damit erzeugte Musik sind sehr wichtige und prägende Teile unserer Kultur. Zum kulturellen Ritual umgewandelt, sind Musikinstrumente durch ihren Historismus mit einem Schutz vor Alltäglichkeit versehen. Und in der Tat hat sich in der Gestalt einer Violine seit ihrer ersten urkundlichen Erwähnung 1523 bis zu den heute online angebotenen Geigen auf «www. geige24.de» nichts verändert. Dies erklärt, dass aktuell ebenfalls auf Violinen gespielt wird, die 200 Jahre alt sind.

dar. Daher ist es interessant zu diskutieren, ob das Modell von Designstudenten als praxisnah empfunden wird. Einerseits wird dem Modell zugestanden, dass es den Ablauf von Analyse, Projektion und Synthese im Entwurfsprozess tatsächlich gibt. In vielen Fällen jedoch wird dies erst im Nachhinein nachvollzogen, vor allem dann, wenn es darum geht die Idee vor Lehrenden zu argumentieren. Dies deckt sich gewissermaßen mit der Ansicht, das Modell sei wenig praktikabel, da der Weg zum Entwurf intuitiv abläuft und schlecht in ein Schema zu pressen sei. Schlussendlich könne man Müll, wenn überhaupt, nur in der Konzeptfindung miteinbeziehen, also eher in einem ausgesprochen frühen Stadium des Entwurfs. «Müllfasten» als Designmethode

Abschließend soll der Nutzen des Selbstexperiments «Müllfasten» von den Teilnehmern dargestellt werden. Was kann es bringen? Laut den Angaben der Studenten, ist auf der Ebene der Fakten festzuhalten, dass sie nicht merklich weniger Müll produzierten als an einem beliebigen anderen Tag. Dies wird mit dem sowieso müllarmen Lebensstil des Studentendaseins begründet. Weil man eben den ganzen Tag arbeiten müsse, sei es für den Lebensunterhalt oder für die Universität, habe man gar keine Zeit um viel Müll zu verursachen.

Den Gegenpol zur Violine stellt der «Coffee-to-go»-Becher dar, über den ebenfalls fortwährend diskutiert wird. Dass dieses urbane Ritual gänzlich überflüssigen Abfall erzeugt, stellt keiner der Studenten infrage. Seinen Kaffee auch unterwegs genießen zu können hingegen, steht für die meisten als Akt der Freiheit und Individualisierung nicht infrage. Wieder wird in Anbetracht des klaffenden Widerspruchs eine eigene pragmatische Logik erprobt: Die Designer fordern vom Material diesen Freiheitsakt ohne schlechtes Gewissen zu ermöglichen. Wäre der «Coffee-to-go»-Becher vollständig kompostierbar, dann würde er abfalltechnisch kein Problem darstellen. Dass aber diese Einstellung im Widerspruch zum «ökologischen Fussabdrucks» eines aus Rohstoffen produzierten Bechers mit einer minimalen Nutzungsdauer steht, wird mit dem Verweis auf auferlegte Zwänge des herrschenden Wirtschaftssystems beantwortet. Wolle man als Designer Erfolg haben, so müsse man das Wegwerfen auch als Notwendigkeit der ewigen Erneuerung (als Arbeitsgrundlage des Designers) anerkennen. Obwohl allen Studenten die Widersinnigkeit des Systems in Bezug auf die Belastbarkeit des Planeten bewusst ist, akzeptieren sie sie als Status quo.

Das Experiment habe vor allem eins gezeigt, nämlich dass man auch als Designer von größeren und kraftvolleren Systemen abhänge (z.B. dem Supermarkt), die einen jeglicher Alternative berauben. Solange in der Bevölkerung der Wunsch nicht da ist, diese Systeme zu «re-designen» habe auch der Designer keine Handhabe für Veränderung. Dass die Menschen heutzutage keine Zeit haben um auf dem Wochenmarkt frische unverpackte Lebensmittel zu kaufen, könne der Gestalter auch nicht ändern. Unbemerkt aber haben sich die angehenden Designer mit einer Problemstellung befasst, sich geradezu in die Recherche begeben und sind nun sensibilisiert für Zusammenhänge, die sie vor dem Seminar als natürlich akzeptiert hatten. Anmerkung zur Gestaltung zukünftiger Müll-Seminare

Gewinnbringend und durchaus aufschlussreich wäre die Durchführung eines Entwurfsprojektes unmittelbar nach oder während des Müll-Seminars. Es kann davon ausgegangen werden, dass die gewonnenen Erkenntnisse und auch gefestigten oder verschobenen Standpunkte zu einer differenzierten Umsetzung in Entwürfen führen. Die vielfältigen Gedanken zu den Objekten, die zuvor nur ‚Müll‘ waren, zeigen dieses designdidaktische Potenzial.

Rituale des Erscheinens

Das vorgestellte Modell des Designprozesses stellt lediglich eine Grundlage zur Untersuchung der Arbeit des Designers  6  Musikinstrumentenbau wird dem traditionellen Handwerk zugeordnet. Gleichzeitig wird die Herstellung von Instrumenten oftmals in Familientradition als eine Kunst angesehen, die aktuellen Moden nicht zu unterwerfen ist. 48


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LITERATURANGABEN

2012. Deutschland und Internationales. Wiesbaden. Abrufbar im Internet. URL: https://www.destatis.de/DE/ Publikationen/StatistischesJahrbuch/StatistischesJahrbuch2012. pdf?__blob=publicationFile. Stand 23. Februar 2013.

Baudrillard, Jean (1968): Das System der Dinge. Über unser Verhältnis zu den alltäglichen Gegenständen. 3. Auflage 2007. Campus Verlag Frankfurt am Main.

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Abbildungsnachweis Abb. 2: Foto © Lena Marbacher, 2011. Bearbeitet durch die Autorin. Abb. 3: Foto © thomaskirschner.com In: Pretting, Gerhard und Boote, Werner (2010) Plastic Planet. Die dunkle Seite der Kunststoffe. Orange Press Freiburg. Abb 5: Wilson, Paula (2014) How much Gold is in Fort Knox? In: Celebrity Networth. URL: http://cdn.cnwimg.com/wp-content/uploads/2014/02/ Gold-Bars-in-Fort-Knox.jpg Abb 12: Bild © swp-potsdam. URL: http://www.swp-potsdam.de/swp/ media/04-entsorgung_1/images_entsorgung/historie/hist_Karikatur_ MODULBILD_2.png Abb. 18: Foto © dpa – Bildfunk, 2008. Abb. 19: Foto © The Sea Chair Project (2013): Micro Plastic. URL: http://seachair.files.wordpress.com/2012/04/nurdles-on-beach4.jpg. Stand 29.08.2013. Abb. 20: Visualisierung mit Google earth: Data SIO, NOAA, U.S. Navy, NGA, GEBCO. Image Landsat, Image IBCAO, Image U.S. Geological Survey. Captured 29.08.2013 Abb. 23: Screenshot «freundin«. URL: http://www.freundin.de/lebenwohnen-leben-leichter-leben-ausmisten-bitte-42786.html. Foto © gettyimages. Stand 23.03.2014. Abb. 27: Lütge, Thomas (1969): Situation Schackstraße. München 1969, Archiv HA Schult. In: Schult, HA (2013): Die Zeit & Der Müll. Diözesanmuseum Paderborn 22. Februar bis 12. Mai 2013. Verlag Kettler Bönen. Abb. 28: Moses, Stefan (1976): Venezia Vive. In: Schult, HA (2013): Die Zeit & Der Müll. Diözesanmuseum Paderborn 22. Februar bis 12. Mai 2013. Verlag Kettler Bönen. Abb. 29: Fabio and Tiao point down at Marat Portrait. (SCREEN GRAB) Artwork courtesy of Vik Muniz Studio. URL: http://www.wastelandmovie. com/downloads.html Abb. 30: Foto © Chris Jordan, «Intolerable Beauty Series: E-Waste« 20032005. URL: http://blog.gessato.com/2012/11/05/chris-jordan-americanmanifest-destiny/#ixzz2sxVnokIi Abb. 31: Foto © Yao Lu, «New Landscapes«. Artwork Courtesy of Bruce Silverstein Gallery, New York. Abb. 32: Foto © Ethan Estess, «A Wake, 2012« URL: http://www.flickr. com/photos/artatthedump/6762846697/in/set-72157628298432103/

Keller, Reiner (1998): Müll – Die gesellschaftliche Konstruktion des Wertvollen. Die öffentliche Diskussion über Abfall in Deutschland und Frankreich. VS Verlag für Sozialwissenschaften / GWV Fachverlage GmbH Wiesbaden. DOI: 10.1007/978-3-531-91731-3_2 Lipps, Theodor (1913): Zur Einfühlung. In: Psychologische Untersuchungen. 2. Band, 2. und 3. Heft, Verlag Wilhelm Engelmann Leipzig. Rathje, WL (1996): The archaeology of us. In: Ciegelski, C. (ed.) (1997): Encyclopaedia Britannica‘s Yearbook of Science and the Future--1997. Encyclopaedia Britannica New York, 158-177. Abrufbar im Internet. URL: http://humanitieslab.stanford.edu/23/174. Stand 17. August 2013. Schult, HA (2013): Die Zeit & Der Müll. Diözesanmuseum Paderborn 22. Februar bis 12. Mai 2013. Verlag Kettler Bönen. Statistisches Bundesamt (Hg.) (2013a): Umwelt. Zeitreihe zum Abfallaufkommen 1996-2011. Wiesbaden. Abrufbar im Internet. URL: https://www.destatis.de/DE/ZahlenFakten/ GesamtwirtschaftUmwelt/Umwelt/UmweltstatistischeErhebungen/ Abfallwirtschaft/Tabellen/ZeitreiheAbfallaufkommen. pdf?__blob=publicationFile. Stand 14. August 2013. Statistisches Bundesamt (Hg.) (2013b): Umwelt. Erhebung über Haushaltsabfälle (bei den öffentlich-rechtlichen Entsorgungsträgern) 2011. Ergebnisbericht. 2. Auflage Juni 2013 (Neuberechnung der Pro-Kopf-Werte auf Basis Zensus 2013). Wiesbaden. Abrufbar im Internet. URL: https://www.destatis.de/DE/ZahlenFakten/ GesamtwirtschaftUmwelt/Umwelt/UmweltstatistischeErhebungen/ Abfallwirtschaft/Tabellen/ErgebnisberichtHaushaltsabfaelle. pdf?__blob=publicationFile. Stand 10. August 2013. Statistisches Bundesamt (Hg.) (2012): Statistisches Jahrbuch 49


50 Abb. 33: Screenshot «trenntmöbel«. URL: http://www.trenntmoebel.de, Foto © Trenntmöbel, BSR Abb. 34: Screenshot «Bild.de«. URL: http://www.bild.de/regional/leipzig/ designer/design-student-erfindet-wohntonne-27260098.bild.html (Stand 19.11.2012) Abb. 35: Foto © Philipp Stingl, 2012 Abb. 36: Foto © William Rathje. From the archives of Bill Rathje – some images of his life and work. Michael Shanks, http://www.mshanks.com/ wp-content/uploads/Garbology-7.jpg Abb. 37-46: Recherche Bilder der teilnehmenden Studenten Abb. 47, 48, 71, 87: Fotos © YE, 2014 Abb. 49, 60, 68, 77: Fotos © MS, 2014 Abb. 61, 73, 74: Fotos © KG, 2014 Abb. 62, 70: Fotos © UF, 2014 Abb. 63, 65, 66, 69, 78, 86: Fotos © LV, 2014 Abb. 64, 79, 80 Fotos © AP, 2014 Abb. 67 72, 75 Fotos © MZ, 2014 Alle anderen Abbildungen sind © der Autorin.

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ÂŤSchluss MachenÂŤ | Kompaktseminar Designmethoden | Dipl.-Des. Susanne Hausstein


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