Surprise Strassenmagazin 288/12

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Zwischen Welten Unterwegs mit einer Schlafwandlerin Business statt Betreuung: der privatisierte Sozialstaat

Programmiertes Verfalldatum – warum Elektrogeräte schnell Schrott sind

Nr. 288 | 16. bis 29. November 2012 | CHF 6.– inkl. MwSt. Die Hälfte des Verkaufspreises geht an die Verkaufenden. Bitte kaufen Sie nur bei Verkaufenden mit offiziellem Verkaufspass.


Macht stark.

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Titelbild: istockphoto

Editorial Das Geschäft mit der Fürsorge BILD: DOMINIK PLÜSS

An wen wenden wir uns, wenn alle Stricke reissen? Wenn Job und Wohnung weg sind und auch Familie und Freunde nicht mehr helfen können? Die Antwort scheint klar: Für jemanden, der nicht für sich selber sorgen kann, sorgt der Staat. Doch der Staat schiebt die Betreuung von Bedürftigen zunehmend ab an eine private Sozialindustrie. Unser Artikel über die Privatisierungen in der Flüchtlingsbetreuung und in der Sozialhilfe (Seite 14) beleuchtet diese wenig bekannte Praxis und zeigt, wie mit Steuergeldern Geschäfte gemacht werden. In der Schweiz schütteln wir gern den Kopf über Länder, die staatliche Aufgaben an Unternehmen auslagern. Etwa wenn in New York nach dem Tropensturm Sandy die RETO ASCHWANDEN Stromversorgung zusammenbricht, weil die privaten Eigentümer den Unterhalt sys- REDAKTOR tematisch vernachlässigt haben. Bei uns könnte das nicht passieren, glauben wir, sorgen doch Kantone und Gemeinden direkt oder indirekt für den Unterhalt dieser Infrastruktur. Doch ausgerechnet dort, wo die Menschen am verwundbarsten sind, weil sie als Asylsuchende oder Sozialhilfeempfänger auf Fürsorge angewiesen sind, zieht sich der Staat zurück und überlässt die Betroffenen gewinnorientierten Unternehmen. Der Staat bezieht seine Legitimation zu einem grossen Teil daraus, dass er die soziale Sicherheit garantiert, denn das ist ein elementarer Bestandteil des Gesellschaftsvertrags. Das Problem bei der Privatisierung sozialstaatlicher Aufgaben sind deshalb nicht primär die Firmen, die solche Aufträge übernehmen. Sympathisch ist deren Geschäft nicht, aber wie ein Hilfswerksvertreter bei einem Hintergrundgespräch zu unserem Artikel anmerkte, leistet ein Betreuer nicht zwangsläufig schlechtere Arbeit, weil er bei einem Privatunternehmen angestellt ist statt beim Staat oder bei einer Non-Profit-Organisation. Der eigentliche Skandal besteht darin, dass die Behörden Aufträge im Asylbereich an finanzielle Bedingungen knüpfen, unter denen nur arbeiten kann, wer an der Betreuung spart. Damit stiehlt sich der Staat schäbig aus seiner Verantwortung für die Schwachen und liefert diese an Geschäftemacher aus. Und das bedeutet den Anfang vom Ende des Sozialstaates. Ich wünsche Ihnen spannende Lektüre Reto Aschwanden

Surprise ist auf Spenden angewiesen. Auch auf Ihre! Herzlichen Dank. PC-Konto 12-551455-3 Ihre Meinung! Bitte schicken Sie uns Ihre Anregungen oder Kritik: Verein Surprise, Redaktion, Spalentorweg 20, Postfach, 4003 Basel, T +41 61 564 90 70, redaktion@vereinsurprise.ch. Es werden nur Leserbriefe abgedruckt, die mit vollem Namen unterzeichnet sind. Die Redaktion trifft eine Auswahl und behält sich vor, Briefe zu kürzen. SURPRISE 288/12

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10 Schlafwandeln Seelenwühlerei im Mondlicht BILD: ISABELLE BÜHLER

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Inhalt Editorial Ausgelagert und abgeschoben Die Sozialzahl Haushalt in Frauenhand Aufgelesen Strassenzeitungen gehen online Zugerichtet Verliebt in die Schuldenfalle Charity Run Spendenlauf im Schneegestöber Starverkäufer Sanjeev Kumar Porträt Veganer auf Mission Gleichstellung Jenseits der Geschlechter Fremd für Deutschsprachige Denkerpose statt Ghettogetue Musikfestival Kultbands in der Dampfzentrale Kulturtipps Eco als Kinderbuchautor Ausgehtipps Abgründige Geschwister Verkäuferinnenporträt Der Linie entlang Projekt SurPlus Eine Chance für alle! In eigener Sache Impressum INSP

Schlafwandeln war einmal en vogue. In der Romantik beflügelte das unerklärliche Phänomen die Fantasie von Nervenärzten, Dichtern und Philosophen. Hätte Gerlinde W. damals gelebt, wären ihre nächtlichen Streifzüge als Verarbeitung von Kindheitserlebnissen interpretiert worden: Beim Schlafwandeln erledigt sie Dinge, die Parallelen zu ihrer Flucht vor den Russen im Zweiten Weltkrieg zeigen. Aber heute sagt die Forschung: Mit der Psyche hat Schlafwandeln nichts zu tun.

14 Sozialstaat Zaun bauen, abkassieren BILD: REUTERS

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Die Betreuung von Asylsuchenden und Sozialhilfebezügern ist eine Staatsaufgabe – sollte man meinen. Doch seit einiger Zeit übernehmen immer öfter gewinnorientierte Unternehmen Asylunterkünfte und Einsatzprogramme. Dank minimaler Leistungen erhalten Firmen wie ORS und ABS Aufträge, die mit Steuergeldern finanziert werden. Den Steuerzahler kommt das nicht günstiger, dafür können die Behörden billig ihre Verantwortung für Flüchtlinge und Arme abschieben.

BILD: ISTOCKPHOTO

17 Elektrogeräte Totgesagte leben länger Wenn der Tintenstrahldrucker selber sein Ableben vermeldet, muss das nicht zwingend sein Ende bedeuten: Eingebaute Zähler spielen Countdown und bestimmen, wann das letzte Blatt gedruckt ist. In Netzteilen von Fernsehern und Computern stecken Kondensatoren, die der Hitze nicht gewachsen sind, Leiterplatten in Spielkonsolen lottern nach kurzer Zeit. Werden Elektrogeräte bewusst so konstruiert, dass wir sie nach kurzer Zeit ersetzen müssen?

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Die Sozialzahl Hausarbeit bleibt F

rauensache

Es gibt sie, die Männ er, die sich in gleich em Masse an der Haus- und Familiena rbeit beteiligen wie ihr e Frauen. Doch sie sind noch immer ein e verschwindende Minderheit, wie die aktuellen Zahlen de s Bundesamts für Sta tistik über den zeitlichen Aufwand da heim zeigen. Liegt da s an den Männern, die an einer überkom menen Rollenverteil ung festhalten, oder an den unflexiblen Arbeitsverhältnissen ? Solange Frauen und Männer alleine in ihr em Haushalt leben, wenden sie äh nlich viele Stunden auf, um die Wohnun in Schuss zu halte g n und ihren familiä ren Verpflichtungen nachzukommen. Do ch schon wenn ein e gemeinsame Wohnung bezogen wird , kommt die Verteilu ng der Haus- und Familienarbeit in eine Schieflage. Der zeitli ch e Aufwand für die Frauen steigt um me hr als vier Stunden de utlich an, jener der Männer sinkt lei cht. Noch bevor ein e Fa mi lie gegründet wird, wird die tra ditionelle Aufgabe nv ert eil un g zwischen Frau und Mann off enbar bereits einge fädelt. Bekommt da Paar dann Kinder, s wächst die zeitlich e Beanspruchung de Frau zu einem Vollz r eitjob an. Im Durch schnitt kommt eine Familienfrau auf üb er 55 Stunden pro Wo che für Haushalt und Familie. Auch die Männer wenden nu n mit fast 30 Stunden deutlich mehr Ze it für die Arbeiten da heim auf, doch die Unterschiede zwisc hen den Geschlec htern sind eklatan Diese Differenzen ze t. igen sich auch bei der Zeit, die nun für die Erwerbsarbeit ein gesetzt wird. Männ er bleiben bei einer 100-Prozent-Anstel lung, während Fra uen ihren Beschäft gungsgrad deutlich ireduzieren oder ihr e Erwerbsarbeit ganz aufgeben.

wohlgemerkt um in unserer Statistik h sic es elt nd ha i Dabe fen Einkommen r Familien mit tie Fü . len ah sz itt hn Durchsc rbeit für die Mütktion der Erwerbsa du Re te an rk ma e liegt ein Löhne angewielien sind auf zwei mi Fa e es Di in. dr ter selten Umso grösser ist die nden zu kommen. sen, um über die Ru iliären Alltag uen durch den fam Fra r se die ng stu ela Mehrfachb nochmals an, rbeit. Diese steigt sa rb we Er e hlt za n und die be d Pflege von kranke ch die Betreuung un ht sie rs de wenn dann auch no An t. komm nangehörigen dazu und älteren Familie aus. Gutverdienenala sk ds an der Wohlst es am anderen Ende ltshilfen – zumeist können sich Hausha allde Paare mit Kindern sentlichen Teil der sten, die einen we rma er ein wieder Frauen – lei n und so zu ungen übernehme ht flic rp Ve n he lic . täg en beitragen dieser Familienfrau r kanten Entlastung Forderung nach de ch stellungspolitis e ren iliä Wie ist die gleich ment und fam beruflichem Engage Vereinbarkeit von hts dieser statistige und Männer an sic n ue Fra r fü n be Aufga rhin davon ausgewerten? Darf weite zu n ne tio ma for In schen eine Entlastung im Grunde nur um es ss da , en rd we gangen rte und HausKinderkrippen, Ho rch du en rau nf lie der Fami en von MänOder sind die Stimm ? ht ge g un eu etr aufgabenb Familie da sein gerne mehr für die die , en hm ne zu nern ernst einnehmen, könnten r diese Perspektive möchten? Wenn wi werden: Die ch so interpretiert au n hle Za n de en ten die vorlieg gar keine reduzier hen den Männern ch au , en rd Unternehmen geste wü auben die es ihnen erst erl Be die an Arbeitspensen zu, n ge Bindun helfen, weil dies die än hr sc ein mehr daheim mitzu aft ereitsch allzeitliche Einsatzb ch tra be So triebe lockern, die ren würde. sualen Abläufe stö tt Sta : en eh ken und die prozes Spiess umdr n argumentativen fortet müsste man de n Angestellten zu de n Flexibilität vo hr me ch der no i r be me ät im hr Flexibilit Firmen selber zu me die en sst . mü , en rn de gehalten werd tern und Müttern an Anstellung von Vä L (C .K NO EP FE L@ CA RL O KN ÖP FE BI LD : WO MM

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VE RE IN SU RP RI SE

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Aufgelesen News aus den 90 Strassenmagazinen, die zum internationalen Netzwerk der Strassenzeitungen INSP gehören.

Reiche Sozialschmarotzer Graz. Die renommierte deutsche Autorin und Journalistin Kathrin Hartmann nennt das Kind beim Namen: Die neue Armut sei eine gemachte Armut, weil Folge einer Politik, die mit Sozialabbau und Steuersenkungen für Reiche Umverteilung von unten nach oben praktiziert. Der Neoliberalismus legitimiere den Wohlstand der Reichen und die Armut der Arbeitslosen und befeuere einen Konkurrenzkampf «Leistungsträger» gegen «Sozialschmarotzer». Dabei, so Hartmann, sei es genau umgekehrt: «Die Reichen sind die Sozialschmarotzer.»

Strassenzeitung digital Glasgow. Die britische Big Issue in the North hat eine digitale Ausgabe lanciert! Strasse – Magazin – digital. Wie soll das gehen? Ganz einfach: Die Verkäufer bieten neben der herkömmlichen Ausgabe eine Karte mit einem QR-Code an, der einem den Zugang zur digitalen Version verschafft. Die weltweite Neuheit unter den Strassenmagazinen entstand in Zusammenarbeit mit dem internationalen Verband INSP. Dort ist man überzeugt, dass auch in unserem Bereich Online die Zukunft gehört. Wir bleiben dran.

Senioren für Senioren Stuttgart. Im Jahr 2040 werden auf zwei jüngere Erwachsene fünf alte Menschen kommen. Wie sollen die Jungen nur für diese Übermacht an Senioren sorgen? Josef Martin aus dem badischen Riedlingen kennt einen Ausweg: Seit 21 Jahren betreibt er eine Seniorengenossenschaft, in der rüstige Alte nicht mehr so rüstige Alte beim Ankleiden, bei der Körperpflege oder der Essenszubereitung unterstützen – und sich damit ein Anrecht auf Betreuung erarbeiten, wenn ihre Rüstigkeit dereinst nachlässt.

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Zugerichtet Alles fürs Schätzli Was am 33-jährigen Jürg Z.* eine Frau verrückt werden lässt, kann man nur vermuten. Ein weltgewandter Charmeur ist er nicht, Bildung hat er keine, Geld besass er noch nie, dafür lässt sich sein Körper sehen. Gross, athletisch, kantiges Gesicht, dunkelhaarig. Genügend Verlockungen für die Chefsekretärin Claudia B. Die durchaus nicht unattraktive 49-Jährige hatte den Hünen in einer Bar kennengelernt. Offenbar ist man sich gleich am ersten Abend nähergekommen. Zwei Wochen später stand Jürg Z. dann nachts bei ihr vor der Türe – um Abschied zu nehmen, für immer und ewig. Denn, so seine bittere Geschichte, er habe Schulden im Milieu, man habe ihn in eine Falle gelockt, er werde erpresst, brauche Geld. Da er keins habe, müsse er sich umbringen. Nur Claudia wolle er noch einmal sehen. Da schmolz das einsame Herz der Verwaltungsangestellten dahin, und ihr Verstand setzte von Stund an gründlich aus. Als Erstes plünderte sie ihr Konto. Dann nahm die grundsolide Frau einen Kredit auf für ihren Schatz und lieh sich bei Bekannten Geld zusammen. Auf diese Weise häuften sich 78 000 Franken an. Mehr war bei Claudia B. nicht zu holen. Damit war die Beziehung für Herrn Z. beendet. Vor dem Zürcher Bezirksgericht hat der Angeklagte trotz seiner schwierigen Lage auf einen Rechtsanwalt verzichtet. Weder gesteht er und bekundet Reue, noch streitet er die Geschichte ab. Schnoddrig bescheidet er die Fragen des Richters mit «kann schon sein», «möglich, dass sie das so gesehen hat» oder «Frau B. war halt mehr verschossen in mich als ich in sie.» Nur ein Heiratsversprechen leugnet er. Er glaubt wohl, das reiche für ei-

nen Freispruch, dabei ist das Eheversprechen gar nicht das Entscheidende, auf die Täuschung des Opfers kommt es an. Und gelogen hat der arbeitslose Gelegenheitsarbeiter, dass sich die Balken biegen. Seiner Freundin erzählte er, dass er Detektiv sei – nicht so ein kleiner Ladendetektiv, eher jemand, der mit geheimen Aufträgen im In- und Ausland zu tun habe. Vor Gericht erscheint Claudia B. wie für ein Vorstellungsgespräch zurechtgemacht und sitzt still auf der Zuschauerbank. Allein beim unverschämten Schlusswort ihres Exgeliebten kneift die betrogene Frau ihre Augen zusammen und beisst sich vor Wut in die geballte Faust. Jürg Z. ist nämlich die Schuld, die er auf sich geladen hat, bis zuletzt ziemlich wurscht. «Ich habe halt ein Puff mit Geld und den Frauen», mehr Einsicht kann er sich nicht abringen. Er ermahnt das Gericht, ihn nicht zu verurteilen, denn dann sei er für eine Vertrauensstellung als Kaufmann – er wird gerade vom Arbeitsamt umgeschult – erledigt. Wenn es ihr so wichtig sei, das geschenkte Geld zurückzuhaben, ergänzt er gönnerhaft, werde er es eben zurückzahlen. Später einmal, wenn er eine «angemessene» Stelle gefunden habe. Am Ende hat sich der Prozess für Frau B. zumindest moralisch ausgezahlt, der Richter lässt keinen Zweifel daran, dass er ihr jedes Wort glaubt und den Angeklagten für einen abgefeimten «Lügner und Hochstapler» hält, der die Arme «schamlos bis zum Letzten ausgeplündert» habe. Den Betrug und den Mangel an Reue und Einsicht quittiert das Gericht mit einem Jahr Freiheitsstrafe auf Bewährung. * alle Namen geändert ISABELLA SEEMANN(ISEE@GMX.CH) ILLUSTRATION: PRISKA WENGER (PRISKAWENGER@GMX.CH) SURPRISE 288/12


Surprise Charity Run Bestzeiten bei Tiefsttemperaturen Bei dichtem Schneetreiben starteten über 9000 Sportler beim «6. Lucerne Marathon». Mit dabei auch eine Gruppe von Surprise. Bei Temperaturen um den Gefrierpunkt wurde der Lauf zum Durchhalte-Test für die rund 20 Charity-Läufer – darunter auch sieben Surprise-Strassenverkäufer und drei -Mitarbeiter –, die in den Kategorien Halbmarathon und 5 Mile Run an den Start gingen. Besonders beeindruckend war die Leistung der Strassenverkäufer, die täglich bei Wind und Wetter auf der Strasse im Einsatz sind. Nach einer kurzen Vorbereitungszeit nahmen die meisten von ihnen zum ersten Mal an einem Rennen teil. Alle hielten durch bis ins Ziel. Auch Reto Bommer, Surprise-Vertriebsleiter in Zürich, wagte sich an seinen ersten Halbmarathon. Total sammelten die Läufer rund 5000 Franken an Spendengeldern. Beim Lucerne Marathon liefen Surprise-Verkäufer und -Mitarbeiter unter dem Motto «Surprise macht stark» bereits zum zweiten Mal für Spendengelder. Gherezgihier Ghide entpuppte sich dabei als Sportskanone: In Basel lief er auf den 21. Platz, in Luzern landete er bei rund 400 Läufern in seiner Kategorie auf dem 20. Platz – beim Laufen ist jeder ein Sieger. ■

Gut gelaunt trotz schlechtem Wetter: Suprise-Läufer.

Weitere Informationen und Fotos finden Sie hier: charityrun.vereinsurprise.ch

Nominieren Sie Ihren Starverkäufer! Schreiben Sie uns mit einer kurzen Begründung, welche/n Verkäufer/in Sie an dieser Stelle sehen möchten: Verein Surprise, Redaktion, Spalentorweg 20, Postfach, 4003 Basel, F +41 (0)61 564 90 99, redaktion@vereinsurprise.ch

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BILD: ZVG

Spass muss sein: Gherezgihier Ghide (links) lief auf den 20. Platz.

Starverkäufer Sanjeev Kumar Robert Debrunner aus Elsau nominiert Sanjeev Kumar als Starverkäufer: «Ich finde es erfreulich, dass bei Surprise nicht die Umsatzzahlen für einen Starverkäufer massgebend sind, sondern die Art, wie die Zeitschriften verkauft werden. Und da gehört Herr Kumar längstens zu meinen Favoriten. Immer ein freundliches Wort und ein Gruss für Kunden und Passanten. Hie und da ein Schwatz über einen Artikel in der Zeitschrift, ein aktuelles Thema oder etwas, das ihn persönlich beschäftigt. Und das in seiner bescheidenen, zurückhaltenden Art. Ein richtiger Aufsteller in den Mittagspausen oder auf dem Heimweg. Danke, Herr Kumar.»

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Porträt Der Abräumer Als Jens Hermes begann, sich an der Uni Basel für eine fleischfreie Mensa einzusetzen, rechnete er mit guten Diskussionen und Widerstand. Aber nicht mit Angriffen unter der Gürtellinie. VON MICHAEL GASSER (TEXT) UND LUCIAN HUNZIKER (BILD)

dass ich nicht mehr lange an der Uni sein werde und weil ich gut vortragen kann, habe ich zusammen mit anderen beim Studienrat beantragt, dass die Mensa auf ein rein vegetarisches Angebot umschwenkt.» Und etwa auch gefordert, dass die Essenspalette um eine vegane Variante ergänzt wird. In einer ersten Sitzung wurde der Antrag angenommen. Doch es kam zu einem Referendum, woraufhin ein Kompromissvorschlag entwickelt wurde: Verteuerung des Fleischmenüs, Einführung zweier vegetarischer Tage pro Woche, Verbilligung des Salatmenüs. Was vom Studienrat gebilligt wurde. Und zwar einstimmig. Bislang wurde das Vorhaben allerdings nicht umgesetzt. Erneut wurde aus studentischen Kreisen das Referendum ergriffen. Nachdem das

Als Jens Hermes noch an der Uni Münster studierte, stand ein Lebensmittel besonders häufig auf seinem Speiseprogramm: Fleisch. «Ich war früher eher ignorant», gesteht er. Heute verzichtet er nicht bloss auf Fleisch, sondern obendrein auf Honig, Milchprodukte und Eier. Hermes ist im Januar dieses Jahres zum Vegetarier mutiert und binnen Tagen auch zum Veganer. Grund? Ein paar Freunde hätten ihm erzählt, sie ernährten sich aus gesundheitlichen Gründen vegetarisch. «Da sagte ich mir: Das probiere ich auch aus.» Rasch habe er seinen Fleischkonsum reduziert und die Reste aufgebraucht. Wenige Tage nachdem die Umstellung abgeschlossen war habe er Bei seinem letzten Geburtstagsfest hat er seine Verwandtschaft ein Video gesehen, das zeigte, welche Massen schockiert – mit einem Büffet, das zu 70 Prozent vegan war. an Wasser und Energie für die Tierzucht verschwendet würden. «Das bewog mich, gleich einen Schritt weiter zu gehen und Veganer zu werden.» Um an weiterThema im September durch lokale wie schweizweite Medien geisterte, führende Informationen zu gelangen, besuchte der 29-Jährige ein habe er an die 30 Mails erhalten. Nebst diversen zustimmenden NachReformhaus. Dort wurde ihm unter anderem der Vegan-Stammtisch richten gab es auch rassistische. «Ich war schon schockiert, als ich eiempfohlen, der laut Website einmal monatlich dazu einlädt, sich zum nen Flyer erhielt, auf dem ‹Jens Hermes – go home› stand.» Nicht so Thema «auszutauschen und im gemütlichen Beisammensein was Feines sehr die Message per se habe er als schlimm empfunden, sondern den zu essen». Umstand, dass zwei Buchstaben seines Vornamens in anderer Farbe herFrüher habe er häufig fantasielos gekocht, erinnert sich Hermes. vorstachen: NS. Eine Abkürzung, die für Nationalsozialismus steht. «Meist habe ich ein Stück Fleisch in die Pfanne geworfen, dazu gab’s «Tiefer kann man nicht sinken.» Reis oder Nudeln und ein wenig Gemüse. Fertig.» Heute sei seine MeVielleicht hätte er beim Eintreten für die Sache des Veganismus nügestaltung um einiges abwechslungsreicher, sagt er. Und scheint damehr darauf achten sollen, dass das Ganze nicht als Verbot, sondern als bei selbst ein wenig über seine gar nicht so lange zurückliegende VerAngebot rüberkommt, meint Hermes nachdenklich und nippt an seigangenheit als Karnivore zu staunen. Bei seinem letzten Geburtstagsfest nem Tee. «Und bei manchen Diskussionen hätte ich den Spiess wohl habe er seine Verwandtschaft ein wenig schockiert und zum Nachdenumdrehen müssen», sagt er. Ständig habe er sich für seine Meinung geken gebracht: «Ich offerierte ihnen ein Büffet, das zu 70 Prozent vegan rechtfertigt, obschon: «Von der Gegenseite habe ich eigentlich nie ein war.» Fleisch gab es selbstredend keines, bloss ein bisschen Käse und stichhaltiges Argument pro Fleischkonsum vernommen.» Wenn NeustuMilch für den Kaffee. Kein persönlicher Kompromiss, sondern der Tatdierende an der Basler Mensa in zwei Jahren Gulasch orderten, solle es sache geschuldet, dass er die Einladung gemeinsam mit seiner Mutter selbstverständlich sein, dass es sich dabei um die vegetarische Variante organisierte, die einen Tag vor ihm Geburtstag feiert. «Ich selbst bin handelt. «Das ist und bleibt mein Bild für die Zukunft.» strikt», betont er. Seinen Tisch an der Uni hat Hermes unlängst geräumt. Die DoktorNach Basel kam der in der Nähe von Bremen aufgewachsene Herarbeit ist verfasst, noch stehen ein paar letzte Aufgaben und ein Bericht mes, um seinen Doktor in Chemie zu machen. Das ist vier Jahre her. Er zwischen ihm und seinem Titel. Gross Freizeit zu geniessen, das liege selbst habe ursprünglich eher an die USA oder Kanada gedacht. Doch für ihn momentan nicht drin. Zeit für Fussball muss aber sein: Der Anseine damalige Lebensgefährtin, eine Erdwissenschaftlerin, habe aus hänger des Bundesligisten SV Werder Bremen spielt seit 2008 – und das Studiengründen den alpinen Raum bevorzugt. Wien oder Zürich kam als einziger Deutscher – beim kleinen Basler Fussballverein FC Telefür beide nicht infrage, zu grossstädtisch. Übrig blieben Innsbruck und graph. Auf der Position des zentralen defensiven Mittelfeldspielers. «Ich Basel. «Und fachlich war Basel für mich deutlich attraktiver.» Dass es in bin also so etwas wie der Abräumer und Organisator.» Eine Beschreider Nordwestschweiz keine Berge gibt, habe er gewusst. «Aber es hat so bung, die irgendwie auch auf sein Engagement für den Veganismus zuseine Zeit gebraucht, bis ich realisierte, dass die Stadt ziemlich genau da zutreffen scheint. liegt, wo die Berge des Landes am weitesten weg sind.» Hermes hat bereits konkrete Pläne für sein Leben nach der Uni. VerDass Hermes diesen Sommer begann, sich an der Uni Basel für eine raten will er diese jedoch nicht. «Ich bleibe aber in der Schweiz», erklärt fleischfreie Mensa einzusetzen, sei «einer Art Entwicklung» geschuldet. er. Angenommen, Jens Hermes landet demnächst bei einem IndustrieAn der Zürcher Hochschule hätten ähnliche Bestrebungen existiert, die unternehmen, würde er sich denn auch dort für vegane Speisen in der seien jedoch vorerst versandet, so viel er gehört habe. «Da ich wusste, Kantine einsetzen? «Auf jeden Fall!» ■ SURPRISE 288/12

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Schlafwandeln Flucht durch die Nacht Gerlinde W. k端mmert sich seit Jahrzehnten nachts um Essen und Betten, manchmal will sie fliehen. Die Schlafwandlerin scheint in ihre Vergangenheit zur端ckzukehren. Das kann nicht sein, sagt nicht nur sie selber. Sondern auch die Forschung.

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VON DIANA FREI (TEXT) UND ISABELLE BÜHLER (ILLUSTRATION)

Loch, wo ich durchkann. Aber da ist die Mauer, sonst nichts. In letzter Zeit ist es oft so, dass ich vergessen habe, für irgendeinen Besuch die Betten zu richten.» «Früher war es mehr das Essen, heute sind es eher die Betten», sagt die Tochter und lacht. Die Mutter lacht nicht mit. Schlafwandeln war einmal en vogue. In der Romantik herrschte reges Interesse an den Abgründen der Seele, Nervenärzte zerpflückten den Somnambulismus und dokumentierten mit grossem, heute etwas schaulustig wirkendem Eifer unzählige Fallbeispiele. Die Wissenschaft nährte die «wachsende Hoffnung, mit Hilfe der somnambulen Ausnahmezustände Ein- und Ausblicke in die Geheimnisse von Religion und Metaphysik zu erlangen», wie der Arzt und Naturphilosoph Gotthilf

Auf einer Reise in Polen geriet sie in einem Hotel einmal auf die Feuertreppe, wusste aber nicht, wie sie da hingekommen war. Es war in Thorn an der Weichsel, der Mond schien, Vollmond, klarer Himmel, im Garten standen Brennesseln und Brombeersträucher. Sie war im dritten Stock, ging runter, kam nirgends zu einer Tür wieder rein, ging wieder hoch, kam auch nicht rein und dachte dann: «Naja, nun wartest du halt bis um acht Uhr, wenn die Leute alle kommen.» Gerlinde W. lebt unweit von Basel im südbadischen Lörrach und hatte damals eine Stelle in Weil am Rhein. Nachts in Thorn war sie überzeugt, sie sei bei der Arbeit, im Treppenhaus in Weil. Sie setzte sich auf die Treppe und ging dann runter, da waren Über«Wenn ich das grosse Bild abhänge, erwarte ich dahinter reste eines Banketts, Lachs und anderer Fisch, einen Fluchtweg. Aber da ist die Mauer, sonst nichts.» leergegessene Teller, die Leute am Aufräumen. «Ich kam aus dem Dunkel auf eine Frau zu Heinrich Schubert schrieb. Der somnambule Zustand wurde wie auch und sprach die an, und die ist so was von erschrocken», sagt Gerlinde der Traum als Brücke zu einer anderen Welt gedeutet. Auch in der LiteW. «Da habe ich gedacht: Also so was, stellen die Leute ein, die nicht ratur tauchte das Schlafwandeln immer wieder als Motiv auf. So ist zum mal Deutsch können.» Beispiel Heinrich von Kleists Prinz von Homburg ein Schlafwandler, Rhein statt Weichsel, Treppenhaus statt Feuertreppe, badische Arund auch das Käthchen von Heilbronn antwortet in der berühmten Hobeitskollegin statt polnischer Bankettgast: Die Welten überlagern sich, lunderbuschszene schlafend auf die Fragen des Grafen. Und vielleicht innere Bilder mischen sich mit der Wirklichkeit. «Welche Zimmerist es auch kein Zufall, dass Lord Byrons Leibarzt John William Polidonummer haben Sie?», fragte der Mann an der Rezeption, wohin die Pori nicht nur die Erzählung «The Vampyre» schrieb, sondern Jahre zuvor lin sie geführt hatte. 301 war es, und da war sie plötzlich hellwach. mit einer These zum Schlafwandeln promovierte. Denn auch der Vam«Früher», sagt W.s Tochter Sybille, «wenn meine Schwester und ich pirismus ist mit dem Schlafwandeln verwandt: Der Schlaf als kleiner noch wach waren, kam meine Mutter manchmal rein, sah normal aus Bruder des Todes. Ein Nachtwandler als Untoter. Als unheimliche und redete normal mit uns. Dann haben wir plötzlich an einem Satz geNachtgestalt. Der Somnambulismus ist ein weites Feld für Mystifiziemerkt, dass sie gar nicht da war. Sie war in einer anderen Welt.» Meistens rungen und Überinterpretationen. mussten sie lachen, und die Mutter reagierte beleidigt, weil sie sich nicht ernst genommen fühlte. Dass die Töchter sagten: «Nun wach doch auf!», Flucht in Viehwaggons drang nicht bis zu ihr durch. «Sie stand scheinbar jeweils unter Druck, Gerlinde W. war fünf, als sie 1945 mit ihrer Mutter und der kleinen dass sie noch etwas erledigen musste», sagt die Tochter. Sie versuchte imSchwester aus dem Sudetenland im heutigen Tschechien flüchten musmer, für andere Personen den Tisch zu decken, Essen zu besorgen, Betste. Der Vater war im Krieg. Der Weg nach Franken, Bayern, von wo der ten zu beziehen, Leute zu empfangen, anderen eine Unterkunft zu beVater stammte, dauerte etwa ein Vierteljahr, man reiste in Viehwaggons, sorgen, sich um andere zu kümmern. Es ging immer ums Essen und versteckte sich, versuchte Essen aufzutreiben. Als die Soldaten kamen, Schlafen. Und ab und zu wollte sie ihren Mann aus dem Keller retten. musste die Mutter mit den Kindern innerhalb von 20 Minuten ihr Hab und Gut zusammenpacken, Gerlinde stahl sich zum Schluss nochmals Brücke zu einer anderen Welt zwischen den uniformierten Beinen hindurch, um eine Puppe zu holen, Gerlinde W. sitzt am Wohnzimmertisch in ihrem kleinen Einfamidie sie vergessen hatte. Danach in Pilsen liess die Mutter sie mit der kleilienhaus. Hier hat sie schon einen imaginären Einbrecher in den Spienen Schwester im Lager warten, während sie nachts durch den Magelschrank gesperrt, weil sie sich «nicht mit ihm herumärgern wollte», schendrahtzaun kletterte, um die Grosseltern zu holen. «Die hatten den sie hat im Schlaf ihre Handtasche gesucht, das Bild über dem Bett mit Befehl für ein Lager hinter Prag, und meine Mutter wusste anscheinend, den Sonnenblumen, zwei auf zwei Meter gross, abgehängt, und sie ist wenn sie da hinkommen, ist es das Todesurteil», sagt Gerlinde W. Wäre die Treppe hinuntergestürzt. Das war, bevor ihr Mann einen Bewedie Mutter angehalten worden, sie wäre nicht durchgekommen. «Wir gungsmelder installierte, damit eine Lampe angeht und ihr Orientierung waren einmal in einer Kirche, da war das Dach zerschossen, es regnete gibt. Jetzt hat sie Cappuccino gemacht, es gibt Schwarzwälder Torte, Zurein, und dann im Lager, viel auf Bahnhöfen in Waggons, und wenn es ger Kirschtorte, es ist genug da. irgendwo die Möglichkeit gab, hat man uns Kinder rausgelassen aus «Das Gefühl, sich nicht unter Kontrolle zu haben, nicht zurechdem Waggon. Einmal habe ich an der Bahnschiene gespielt, da hat mich nungsfähig zu sein, ist schon unangenehm. Es ist oft mit Druck verbunplötzlich jemand weggerissen, und der Zug fuhr durch.» Auf dem Weg den, etwas erledigen zu müssen. Oder mit Angst. Zum Beispiel, wenn in den Westen wurden der Fünfjährigen in einem Spital die Mandeln ich das grosse Bild abhänge, erwarte ich dahinter einen Fluchtweg, ein SURPRISE 288/12

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nen Schmerz empfindet, dass Licht hereinscheint. Irgendein Weckreiz herausgenommen, obwohl sie gesund war. Es war die Empathie der Ärzist da, aber das Gehirn schläft so intensiv, dass es ein vollkommenes te, damit auch sie für ein paar Tage eine sichere Unterkunft hatte, als ihAufwachen verweigert. Ein Teil des Gehirns wacht auf, während der re kleine Schwester während der Flucht operiert werden musste. Rest weiterschläft. Die Veranlagung dazu ist genetisch bedingt. Mit AlbKnapp 70 Jahre später sagt Gerlinde W.: «Ich wundere mich ja immer träumen hat Schlafwandeln nichts zu tun, weil es aus dem tiefen Nonwieder, wenn Leute in meinem Alter die Flucht als so etwas Negatives REM-Schlaf heraus entsteht und nur vereinzelt mit einer vagen Traumeempfinden. Für mich war’s toll. Wir waren jeden Tag woanders.» rinnerung verbunden ist. Genau wie beim Pavor Nocturnus oder Sleep «Das hat dich nicht belastet?», fragt die Tochter. «Nein», sagt die Terror, bei dem man schreiend aufschreckt, steckt kein elaborierter Mutter. Traum dahinter, sondern es sind stereotype Fantasien, Schreckbilder. Die Tochter: «Beim Schlafwandeln geht es immer ums Gleiche. Flucht, Beim Sleep Terror kann es das Gefühl des Zerdrücktwerdens sein, die Essen, sich um Schlafgelegenheiten kümmern. Und du sagst immer so Decke kommt herunter, die Wände werden zusammengeschoben. «Die penetrant: Die Flucht war gut. Es war nicht schlimm, dass die Soldaten Erzählungen sind so stereotyp, man glaubt es kaum», sagt Brunner, «es kamen, es war nicht schlimm, dass wir alles verloren haben. Man hat so sind sehr basale Funktionen, die sich hier zeigen. Beim Schlafwandeln ein bisschen das Gefühl, den Link möchtest du nicht machen?» höre ich oft, dass man Familienmitglieder retten muss.» Die Mutter: «Das hat ja alles nichts mit Schlafwandeln zu tun.» Die Tochter: «Und Hunger ist nicht schlimm?» Flüchtlingstreck aus Ostpreussen Die Mutter: «Ich weiss noch, wie Brot schmeckte, das mit SägespäEtwa zwei Prozent der Erwachsenen sind Schlafwandler. Die meisten nen gestreckt war. Aber ich hab das nicht als so negativ empfunden. Für von ihnen sieht Daniel Brunner nie, weil sich nur diejenigen behandeln ein Kind ist Hunger nicht so tragisch wie für einen Erwachsenen.» lassen, die sich einmal grob verletzt haben oder aus dem Fenster geSchlafwandeln sei nichts anderes als eine Störung des Aufwachprozesses, sagt Daniel Brunner, Somnologe am Zentrum für Schlafmedizin Hirslanden in ZolDer Schlaf als kleiner Bruder des Todes: Der Somnambulikon: «Noch vor ein paar Jahrzehnten war lismus ist ein weites Feld für Mystifizierungen und Überschnell die Rede von Stressanfälligkeit, es wurden psychische Modelle herangezogen. Heute interpretationen. beginnt man aber den Mechanismus der Aufstiegen sind. «Mir ist aufgefallen, dass sich Schlafwandler keine Sorgen wachstörungen zu verstehen. Und da hat die Psyche keinen Einfluss.» machen. Es ist für sie psychisch nicht belastend», sagt Brunner. Seine Schlafwandeln tritt in sehr intensiven Schlafphasen auf. Der MechaAufgabe ist es, herauszufinden, ob der Patient wirklich schlafwandelt nismus geht so: Es kann sein, dass die Harnblase drückt, dass man eioder nicht. Es gibt andere Störungen, die ähnlich aussehen: «Diese Betroffenen machen sich meist grosse Sorgen darüber, dass sie etwas machen, an das sie sich nicht erinnern können.» Dass ein Trauma Einfluss haben kann, will Brunner nicht ganz ausschliessen. «Schlafprozesse funktionieren normalerweise zwar sehr kurzfristig. Da kommt es darauf an, was Sie am Abend vorher gemacht haben oder ob Sie Alkohol getrunken haben. Aber die Weckbereitschaft hat nach einem Trauma vielleicht eine permanente Erhöhung oder eine tiefere Schwelle.» Das einzige Mal, dass Gerlinde W. vermutlich zum Fenster hinausgestiegen wäre, wenn es denn aufgegangen wäre, war auf jener Reise nach Polen vor etwa zehn Jahren, als sie auf der Feuerleiter landete. Es war eine Erinnerungsreise an einen der Flüchtlingstrecks, die im Winter 1944/45 vor der russischen Front in Richtung Westen starteten. Zwei Millionen Menschen starben. Die Erinnerungsreise nach Polen galt der Flucht ihres späteren Arbeitgebers Alexander D. Er war auf dem letzten Treck, der nach Westen ging und es auch schaffte, bevor die russische Armee kam. Alexander D.s Kinder hatten die Angestellte eingeladen mitzukommen, sie gehörte sozusagen zur Familie. Nach dem Krieg war Gerlinde W. Alexanders Privatsekretärin und arbeitete bis zu seinem Tod fast 30 Jahre bei ihm. Sie war bis zum Schluss mit seiner Fluchtgeschichte beschäftigt, weil sie an seiner Biografie mitarbeitete. Und für genealogische Anfragen bearbeitete sie dicke Ordner mit Fluchtberichten. «Mein Mann hat immer gesagt, du verbringst mehr Zeit mit ihm als mit mir. Man war so verwachsen.» Ostpreussen und Sudetendeutschland. Die Schicksale berühren, die Erinnerungen gleichen, die Welten überlagern sich.

Gerlinde W. steigt im Schlaf öfter die Treppe hinunter. Einmal ist sie gestürzt.

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«Kümmert euch selber um eure Betten» Alexander S. war in Stalingrad gewesen, und zu seiner Privatsekretärin sagte er, er könne nur mit jenen darüber sprechen, die dasselbe erlebt haben. In seiner Biografie schreibt er 30 Jahre nach dem Russlandfeldzug: «Über die schrecklichsten Ereignisse bin ich hinweggegangen, als ob sie wie selbstverständlich zum täglichen Leben gehörten. Ich scheine alles sofort beiseite geschoben zu haben, anders wusste ich mir offensichtlich nicht zu helfen.» SURPRISE 288/12


Motiv herhalten, weil es sich für Slapstick genauso wie fürs Gruseln Wenn Gerlinde W. ihre Erlebnisse schildert, entstehen Bilder, die fast eignet. Auf Youtube lässt sich zudem verfolgen, wie Kinder von Schlaffilmisch sind. Sie erinnert sich an Details, Situationen, Gespräche, Einwandlern ihre Eltern filmen, um sie mit grossem Vergnügen im Schlafdrücke. Was war, was sie dachte. Als ob’s gestern gewesen wäre. Fragt man sie nach Gefühlen, so war es: negativ, positiv. Angenehm, unangenehm. Vielleicht einSchlafwandeln sei nichts anderes als eine Störung des mal «schon sehr unangenehm». Mehr nicht. Aufwachprozesses, sagt der Somnologe. Sie ist jetzt 72, und kürzlich hat sich nachts bei ihr wieder das Gefühl festgesetzt, sie müsanzug und im Haus herumstolpernd einem Millionenpublikum vorzuse für die anderen noch die Betten beziehen: «Ich weiss nicht, wie oft führen. ich aufgestanden bin und nachgeguckt habe, in welchem Zimmer das Heute hat die Wissenschaft die Rätsel der Nachtgänge gelöst, sie Bett noch nicht bezogen ist.» Aber dann hat sie sich wieder hingelegt kann den Mechanismus im Hirn verorten, sie kann das Schlafwandeln und gedacht, kümmert euch selber um eure Betten. «Das ist neu», sagt von Störungen mit ähnlichem Erscheinungsbild abgrenzen und die Gerlinde W. und lacht. nächtlichen Wanderungen bei Bedarf medikamentös unterdrücken. Und Die Faszination, die der Somnambulismus für die Nervenärzte und trotzdem stellt Gerlinde W.s Tochter Fragen, die sie nie ganz zur Ruhe Literaten der Romantik hatte, hat sich längst gelegt. Nur ab und zu kommen lassen. muss das Schlafwandeln für eine Komödie oder einen Horrorfilm als ■

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SURPRISE 288/12 BILD: KEYSTONE KARL MATHIS


Sozialstaat Das Geschäft mit dem Versagen der Politik Die Betreuung von Asylsuchenden und Sozialhilfeempfängern wird zunehmend an gewinnorientierte Unternehmen ausgelagert. Der Problemlösung dient das nicht, stattdessen generieren Privatfirmen Profite mit Steuergeldern.

VON CHRISTOF MOSER

reich Steuermillionen an eine Firma fliessen, die möglichst keine Steuern bezahlen will, ist noch nicht einmal das grösste Problem. Der eigentliche Skandal sind Behörden, die Aufträge nicht gesetzeskonform ausschreiben, Geheimverträge, die der Öffentlichkeit vorenthalten werden – und fragwürdige Staatsausgaben, die nicht Probleme lösen, sondern Profite generieren. Dass von Auslagerungen staatlicher Aufgaben die Steuerzahler nicht unbedingt profitieren, zeigten Recherchen der WoZ im Dezember 2011. Die Zeitung enthüllte, dass ORS in der Zürcher Gemeinde Weiach für einen alten, baufälligen Bauernhof, in dem zehn Asylsuchende untergebracht sind, monatlich 7000 Franken Miete kassiert – das sind 84 000 Franken im Jahr. Jedem Asylbewerber werden von den 1493.95 Franken Pro-Kopf-Pauschale des Bundes neben 371 Franken für die Krankenkas-

«Asylindustrie», «Sozialindustrie» – die Schlagworte aus dem rechtsbürgerlichen Propaganda-Repertoire sollen suggerieren, dass sich Hilfswerke und gutmenschelnde Sozialromantiker auf Kosten der Steuerzahler mit der Verhätschelung von Asylsuchenden und Sozialhilfebezügern die Taschen füllen. Die Begriffe sind durchaus treffend – sofern man sie richtig adressiert. Dann nämlich, wenn sie auf ein System zielen, in dem sich staatliche Aufgaben in ein knallhartes Business verwandeln, das dort auf Effizienz und Kosteneinsparungen ausgerichtet ist, wo Fürsorge und Menschlichkeit gefragt wären. Ausgelagert von bürgerlichen Politikern, die so wenig Staat wie möglich wollen, unterstützt von linken Politikern, die sich aus der Verantwortung stehlen, weil mit Politik für Asylsuchende und Sozialhilfebezüger keine Blumentöpfe zu gewinnen sind und schon gar Sozialdienste verschleudern Steuergelder für ausgelagerkeine Wahlen. Das Geschäft, von dem hier die te Integrationsprogramme, während Sozialhilfeempfänger Rede ist, ist ein Geschäft mit dem Versagen der über jeden Rappen Rechenschaft ablegen müssen. Politik. In letzter Zeit geraten Firmen, die in diesem Umfeld tätig sind, immer mal wieder in die Schlagzeilen. Es werden Fälse und 22 Franken für Betriebskosten auch 700 Franken pro Monat für le bekannt, die ein Schlaglicht werfen auf das fragwürdige Gewinnstredie «Nutzung des Wohnraums» abgezogen. Obwohl die Miete des Bauben bei der Betreuung von Asylsuchenden, das letztlich zwei Verlierer ernhauses die ORS nur 18 000 Franken pro Jahr kostet. Bereichert sich kennt: die Asylsuchenden und die Steuerzahler. Anderes bleibt unter das Unternehmen an der Differenz von 66 000 Franken? ORS weist das dem Deckel: zum Beispiel, dass Sozialbehörden mit ausgelagerten Intein aller Form zurück: Man halte sich an die «Rahmenbedingungen» der grationsprogrammen für Sozialhilfeempfänger Zehntausende von FranGemeinde. Die Gemeindebehörden schweigen. ken verschleudern, während die gleichen Sozialbehörden mit Akribie Der profitable Einstieg ins Asylwesen gelang ORS Service AG im Jahr Jagd auf sogenannte Sozialschmarotzer machen, die über jeden Rappen 1991, als die Asylbetreuung vom Bund an die Kantone überging. Der daRechenschaft ablegen müssen. malige Baselbieter SVP-Regierungsrat Werner Spitteler beauftragte den Personal-Vermittler Adia Interim (heute Adecco) mit dem Betrieb der Geheimverträge statt gesetzeskonforme Ausschreibungen Asylunterkunft in Liestal. Adia Interim gründete dafür kurzerhand die Die Politiker und Behördenvertreter, die davon profitieren, sitzen in Tochterfirma ORS. Beim darauffolgenden, atemberaubenden Aufstieg Kantonsregierungen und Gemeinderäten, sind für das Asylwesen zuvom kleinen KMU zur Grossfirma profitierte ORS vom wachsenden ständig oder stehen Sozialämtern vor. Sie lagern aus, was der freie Interesse der Behörden am Outsourcing – und den Kriegen in Ex-JugoMarkt günstiger anbietet und den Steuerzahler dann trotzdem oftmals slawien. In den Achtzigerjahren, als sich Tamilen auf der Flucht vor dem teurer kommt. Es geht nicht nur um Spardruck, es geht auch um politiKrieg in ihrer Heimat in die Schweiz aufmachten, waren es Privatpersosche und gesellschaftliche Verantwortung, die möglichst billig abgetrenen und Hilfswerke, die sich um die Flüchtlinge kümmern mussten; ten werden soll. Die Firmen, die davon profitieren, heissen ORS Servistaatliche Infrastruktur fehlte fast gänzlich. Als 1992 die ersten Flüchtces AG oder ABS Betreuungsservice AG. linge aus dem Kosovo-Krieg die Schweiz erreichten, wurde den BehörDie ORS Services AG setzte 2011 mit dem Betrieb von sieben Asylden schnell klar, dass Kapazitäten auf- und ausgebaut werden müssen. Bundeszentren, über 50 Unterkünften in sieben Kantonen und der BeIm gleichen Jahr beauftragte das Bundesamt für Migration (BFM) die treuung von täglich 6500 Asylsuchenden rund 70 Millionen Franken um. ORS mit dem Betrieb der Empfangszentren in Basel, Kreuzlingen, ChiORS ist eine gewinnorientierte Aktiengesellschaft und gehört heute der asso und Carouge. Heute, exakt 20 Jahre später, verdrängt ORS Service Private-Equity-Firma Invision, die über einen Fonds an der OX-Holding AG die Hilfswerke, die mit gemeinnützigen Absichten die staatlichen Beim Kanton Zug beteiligt ist und über ihre operative Einheit ORS «Outhörden in aufziehenden Asylnotständen unterstützten, mit Dumpingsourcing-Lösungen» anbietet. Klingt kompliziert und ist es auch: Das preisen aus dem Markt. Als SVP-Regierungsrätin Rita Furrer 1998 ORS Konstrukt dient der legalen Steuervermeidung. Dass damit im Asylbedas Betreuungsmandat des Kantons Zürich übertrug, machte die Firma SURPRISE 288/12

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20 Millionen Franken Umsatz. Jetzt ist es mehr als das Dreifache, und den gesetzlichen Leistungsauftrag zur Asylbetreuung lagern 33 Zürcher Gemeinden an ORS aus. Die Firma ist so erfolgreich, dass sie jetzt nach Österreich expandiert. Wie der Wachstumskurs von ORS funktioniert, zeigt exemplarisch die Vergabe des Betreuungsmandats für Asylsuchende im Kanton Freiburg im Jahr 2008, als die Firma von den Behörden den Auftrag erhielt, sich mit 45 Vollzeitstellen um die 1300 Asylsuchenden im Kanton zu kümmern. Das Freiburger Rote Kreuz, das diese Aufgabe zuvor 24 Jahre lang übernommen hatte, ging leer aus. Bei den Vergabekriterien, die von den Behörden im Gegensatz zum ausgelagerten Leistungsauftrag veröffentlicht wurden, ist ersichtlich, dass die Qualität der angebotenen Dienstleistung nur 30 Prozent der Offertenbewertung ausmachte. Entscheidend war das Preis-Leistungs-Verhältnis. Die ORS Service AG offerierte mit 4,1 Millionen Franken rund 20 Prozent oder 800 000 Franken günstiger als das Rote Kreuz.

(die wie andere Behördenvertreter in diesem Artikel nicht namentlich zitiert werden will) offensichtlich: «Zaun bauen, Kameras aufstellen und zweimal pro Woche Mitarbeiter vorbeischicken, die nach dem Rechten sehen.» Auch die Menschenrechtsorganisation Amnesty International kritisiert, der Kostendruck im Asylwesen führe dazu, dass Asylbewerber sich selbst überlassen würden – ohne jede Tagesstruktur, von Gesetzes wegen von jeder Arbeitstätigkeit ausgeschlossen. ORS kontert wie gehabt: Man halte sich strikt an «die Rahmenbedingungen der Auftraggeber». Die gesetzliche Leistungsvereinbarung mit den Behörden sehe vor, dass in den Zentren «Verpflegung, Sauberkeit und Nachtruhe» sichergestellt werden müssten. Die Firma schiebt damit den Schwarzen Peter dahin, wo er hingehört: an die Politik und die zuständigen Behörden. «Die Ausschreibungen erfolgen in immer kürzeren Rhythmen mit immer härteren Auflagen. Der politische Auftrag wird so eng gefasst, dass nur noch eine minimale Betreuung möglich ist, die kaum über reine Observationen hinausgeht», sagt Carlo Knöpfel, der als ehemaliges Caritas-Geschäftsleitungsmitglied ein profunder Kenner des Asylgeschäfts ist. Das führe dazu, dass Hilfswerke wie die Caritas, aber auch Heilsarmee, Heks und Rotes Kreuz «aus ethisch-moralischen Gründen» gut überlegen müssen, ob sie mitbieten können und wollen: «Die Aufträge werden zur Verwaltung des Elends.» Knöpfel vermutet dahin-

Der Bund als Goldesel Laut Brancheninsidern sind diese tiefen Offerten nur möglich, weil ORS mit dem Betrieb der Bundeszentren einen Goldesel an Land gezogen hat. Mit Quersubventionierungen aus dem hochprofitablen Bundesauftrag würden Konkurrenten in den Kantonen und Gemeinden unterboten. ORS widerspricht: Hilfswerke ziehen sich aus der Asylbetreuung zunehmend «Wir arbeiten mit einer schlanken Administrazurück: «Die Aufträge werden zur Verwaltung des Elends.» tion.» Zupass kam ORS auf jeden Fall, dass der Bund den Auftrag für den Betrieb der Empter nicht nur zunehmenden Spardruck, sondern auch politisches Kalkül: fangszentren während 15 Jahren nicht wie vom Gesetz vorgesehen aus«Da wird ein Puffer eingerichtet, damit die Politik bei Problemen die Vergeschrieben hat, sondern einfach ORS zuschanzte. SVP-Nationalrat und antwortung auf private Firmen abschieben kann.» Asyl-Hardliner Heinz Brand brachte den Skandal im März 2012 an die ÖfBeispiel Liestal, Kanton Baselland: Dort hat die Gemeinde Ende 2011 fentlichkeit. Der Bundesrat gelobte Besserung. Die 12,2 Millionen Franentschieden, das Betreuungsmandat für Asylsuchende auszulagern – an ken Budget für den Betrieb der nationalen Empfangszentren im laufenden zweiten privaten Player in der Asylindustrie: ABS Betreuungsserviden Jahr sollen ausgeschrieben werden. ORS wünschte sich, dass der Bece AG. Im Gemeinderat kam es zu einem Streit, weil das Outsourcing trieb aller Zentren als Paket vergeben wird. Was Konkurrenten faktisch 431000 Franken pro Jahr kostet, 20 000 Franken mehr als eine interne ausschliesst, weil kein Anbieter auf einen Schlag das ganze AuftragsvoLösung. «Mit der externen Lösung können Schwankungen besser auflumen übernehmen kann. «Eine Arbeitsgruppe prüft derzeit, wie die gefangen werden», begründet die zuständige FDP-Sozialvorsteherin ReAusschreibung gestaltet werden soll», sagt BFM-Sprecher Michael Glaugula Gysin den Entscheid. ser. Geheim wie bis anhin bleibt der bestehende Vertrag zwischen Bund und ORS. Das BFM würde den Vertrag offenlegen. «ORS hat uns jedoch Sozialdienst in privaten Händen aus wettbewerbstechnischen Gründen gebeten, Stillschweigen zu beDie ABS Betreuungsservice AG, gegründet 1998 mit Sitz in Pratteln, wahren», so Glauser. Geheim sind auch die Verträge in Kantonen und Geist nicht nur im Asylwesen tätig, sondern kümmert sich im Auftrag von meinden. 2006 hat ORS im Kanton Solothurn den Zuschlag für die AsylGemeindebehörden auch um Sozialhilfebezüger, führt Integrationsprobetreuung erhalten. Klickt man in der Datenbank der Staatskanzlei auf jekte durch und beschäftigt Sozialinspektoren. Insgesamt hat ABS 140 das Geschäft, erscheint die Mitteilung: «Dieser Regierungsratsbeschluss Mitarbeiter und erwirtschaftet rund 20 Millionen Franken. «Als speziaist nicht öffentlich.» lisierter Partner bietet die ABS den Gemeinden die komplette Führung Im Januar dieses Jahres vergab der Kanton Bern den Betrieb der Asylihres Sozialdienstes an, inklusive der Übernahme des bestehenden Perunterkunft Hochfeld im Stadtberner Länggassquartier an ORS – ohne öfsonals», wirbt die Firma auf ihrer Website. Die Gemeinde Liestal kaufte fentliche Ausschreibung. Von einer «Notsituation» spricht der zuständi2011 von ABS zwölf Plätze für Anti-Littering-Einsätze ein. Kostenpunkt: ge FDP-Regierungsrat Heinz Käser. Keine andere Firma habe die Unter150 000 Franken. Tatsächlich arbeiteten aber zeitweise nicht einmal die kunft innert nützlicher Frist in Betrieb nehmen können. Dabei war die Hälfte der vorgesehenen zwölf Personen im Beschäftigungsprogramm. Heilsarmee, die drei Jahre zuvor die Unterkunft bereits einmal betreut Die ABS profitierte von der staatlich eingekauften Überkapazität. Mitthatte, im November 2011 vom Kanton informell mit den Vorbereitungen lerweile wurde der Auftrag anderweitig vergeben. für den Betrieb des Hochfelds beauftragt worden. Der Rückzieher kam Ebenfalls an die ABS ausgelagert wurde die Dossierbearbeitung in überraschend. Die Heilsarmee, die für sich in Anspruch nimmt, bei ihder Sozialhilfe in Allschwil BL. Die Gemeinde sieht kein Problem: Die rer Arbeit «die Würde jedes Menschen in den Vordergrund zu stellen», rechtlichen Grundlagen dafür seien gegeben und: «Rekurse laufen vermutet Kostendruck als Grund: «Der Druck, immer noch günstiger zu weiterhin über die Behörde.» Die Baselbieter Grünen-Politikerin Esther werden, ist enorm», sagt Paul Mori, Geschäftsleiter der HeilsarmeeMaag sieht dies kritischer: «Es ist äusserst problematisch, wenn staatliFlüchtlingshilfe. Der implizite Vorwurf: ORS springe in die Bresche – che Aufgaben, die Bundesgesetzen unterstehen, durch intransparente und spare bei den Menschen. Allerdings ist auch der Umgang der HeilsOutsourcing-Verträge der demokratischen Kontrolle entzogen und Firarmee mit öffentlichen Geldern nicht über jeden Zweifel erhaben: Gemen anvertraut werden, die Profite erwirtschaften wollen. Damit wird mäss einem Bericht des «Sonntag» vom Juli dieses Jahres verlangte der der Missbrauch von Steuergeldern begünstigt.» Und am Ende schiebt Kanton Bern Rechenschaft darüber, wo genau Zahlungen für Unterbrinman den Schwarzen Peter für die hohen Ausgaben wieder Asylbewergungen und Integration von Asylsuchenden eingesetzt wurden. Wie die bern und Sozialhilfebezügern zu. ORS geschäftet, ist laut einer Mitarbeiterin eines Baselbieter Sozialamts ■

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Elektroger채te Finaler Error Waschmaschinen, TV-Ger채te und Drucker geben heute in der Regel schon nach wenigen Jahren den Geist auf. Der Verdacht dr채ngt sich auf: Werden elektronische Ger채te bewusst kurzlebig konstruiert, um uns das Geld aus der Tasche zu ziehen?

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VON STEFAN MICHEL

Ein paar Beispiele kurzlebiger Technik: In modernen Waschmaschinen werden schwächere Heizstäbe verwendet als früher, diese brennen durch, die Maschine ist nach einer Handvoll Jahren hin. In Netzteile von Computern und Fernsehern werden Kondensatoren eingebaut, die der darin auftretenden Temperatur nicht gewachsen sind. Hitzeresistente Bauteile würden nur ein paar Rappen mehr kosten und die Lebensdauer um Jahre verlängern. In Spielkonsolen werden die Leiterplatten so schlecht befestigt, dass sie sich nach wenigen Jahren ablösen, Wackelkontakte entwickeln oder den Start des Geräts komplett verhindern. Soweit so schlecht. Aber werden Elektro- und Elektronikgeräte tatsächlich immer defektanfälliger? Peter Jacob von der Empa (Eidgenössische Materialprüfungs- und Forschungsanstalt) widerspricht: «Mir

Plötzlich bleibt der Bildschirm schwarz, das Handy stumm und der Drucker spuckt keine Seiten mehr aus. Reparieren kostet fast so viel wie neu kaufen, manchmal sogar mehr. Also ersetzt man und entsorgt das Alte. Die Lebenserwartung der praktischen Apparate scheint immer kürzer zu werden. Für viele steht fest: Die Industrie konstruiert die Geräte absichtlich so, dass sie nach wenigen Jahren den finalen Error produzieren und sich die Kunden etwas Neues kaufen müssen. «Geplante Obsoleszenz» nennt sich das; zu Deutsch: Veraltung. Ist das Todesdatum nicht schon einprogrammiert, so der Verdacht, dann wird so gebaut, dass das Gerät unmöglich länger als drei oder vier Jahre funktionieren kann. Ersetzen die Leute ihre Geräte so häufig, weil sie so schnell «Für uns ist klar, dass vieles getimed ist», kaputtgehen, oder gehen diese so schnell kaputt, weil sie sagt Sara Stalder, Geschäftsleiterin der Stiftung sowieso nicht länger benutzt werden? für Konsumentenschutz. «Zu viele Menschen melden sich bei uns, deren Geräte zwei Monascheint, dass die Geräte sogar langlebiger werden, hingegen ist die Rete nach Ende der Garantie kaputtgehen oder die im Bekanntenkreis festparierbarkeit drastisch reduziert.» Jacob kennt sich mit Material- und gestellt haben, dass gleichartige Maschinen bei allen ungefähr gleich Konstruktionsfehlern aus: Er untersucht sie nicht nur wissenschaftlich, lang funktionieren.» auch privat flickt er gerne alte Radiogeräte. «Ein Radio aus den Fünfzigerjahren lässt sich problemlos reparieren. Bei einem fünfjährigen DABSchwache Heizstäbe und lotternde Leiterplatten Radio geht das heute vielleicht gerade noch. In 20 Jahren ist es sicher Diverse Medienbeiträge liefern Beispiele, so die Arte-Dokumentation nicht mehr reparierbar.» Hauptgrund dafür sei, dass kaum mehr Stan«Kaufen für die Müllhalde» von Cosima Dannowitz. Der Beweis für die dardbauteile verwendet werden, sondern speziell für das Gerät entwiArglist freilich ist schwer zu erbringen, denn die Hersteller können stets ckelte integrierte Schaltungen, die nach wenigen Jahren als Ersatzteile auf die Kosten verweisen. Dauerhaft ist teurer. Das Angebot in den Disnicht mehr erhältlich sind. Es gibt aber auch ganz andere Gründe: Gecount-Märkten legt tatsächlich nahe, dass es für einen wesentlichen Teil häuse, die sich nicht öffnen, sondern nur knacken lassen oder fest einder Kundschaft gar nicht billig genug sein kann. gebaute Akkus, die, wenn überhaupt, nur der Spezialist wechseln kann, wenn ihre Kapazität nachlässt. Anzeige: Es geht auch anders – vorausgesetzt, man ist beim Kauf bereit, etwas tiefer in die Tasche zu greifen. Qualitätsprodukte sind robuster und lassen sich im Falle eines Falles vom Fachmann reparieren. Andere, die das frühe Ende ihres Geräts nicht akzeptieren wollen, finden im Internet Hilfe. Seiten wie ifixit.com oder insidemylaptop.com bieten detaillierte Anleitungen, wie sich die geliebten Gadgets auseinandernehmen und reparieren lassen. Voraussetzung sind handwerkliches Geschick, Spezialwerkzeug und je nach Schaden Ersatzteile. Ein Gerätefehler, der dem programmierten Tod schon sehr nahekommt, tritt bei verschiedenen Tintenstrahldruckern auf: Ein sogenannter Waste Counter («Abfallzähler») registriert jede gedruckte Seite. Nach einer bestimmten Anzahl (beispielsweise 5000) gibt er an, der Schwamm sei voll, welcher die Tinte auffängt, die beim Reinigen der Düsen austritt – ob dies wirklich der Fall ist oder nicht. Der Schwamm lässt sich austauschen, jedoch nützt dies nichts, wenn der Zähler nicht auf Null gesetzt wird. Im Arte-Film wird dem Probanden geraten, einen neuen Drucker zu kaufen. Nach langer Suche in Web-Foren und Hilfeseiten entdeckt der Mann auf einer russischen Website ein Programm, das den Zähler seines Druckers zurücksetzt. Er riskiert das Leben seines Computers, lädt das Programm herunter, lässt es laufen und siehe da: Der Drucker druckt wieder. Inzwischen sind sogenannte Waste-Counter-Reset-Programme relativ leicht zu finden, einige Drucker können den Zähler sogar selber zurücksetzen, wenn man die richtige Tastenkombination kennt. Natürlich sollte man sich vergewissern, ob der Schwamm nicht doch ersetzt werden muss. Auch dafür gibt es Anleitungen im Netz. Zurück zum Vorwurf der geplanten Obsoleszenz. Im Internet findet sich nach kurzer Suche eine Handvoll Fachleute, die überzeugt sind und dafür hinstehen, dass Hersteller ihre Geräte absichtlich auf eine kurze Lebensdauer auslegen, um möglichst viele neue Geräte verkaufen zu können. Empa-Forscher Peter Jacob sieht einen anderen Grund, weshalb Geräte immer weniger lange benutzt werden: «Die tatsächliche Le-

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Antiquitäten als Alternative? Zumindest liessen sich analoge Telefone und Radios reparieren.

bensdauer ist nicht entscheidend, sondern technische Standards und Features: Kaum begann sich das Digitalradio DAB durchzusetzen, stellte man auf DAB plus um und viele nur wenige Jahre alten Radios blieben stumm. Videorecorder wurden durch DVD-Recorder ersetzt und diese nun durch Video-on-demand und Festplattenrecorder. Ein Handy würde ohne Weiteres zehn bis 15 Jahre funktionieren, aber niemand verwendet es so lang, weil die neuste Generation wieder einiges mehr kann.» Immer nur das Neuste Kaum vorstellbar, dass ein modernes Smartphone in 15 Jahren noch funktioniert. Aber wer verwendet nur schon ein fünfjähriges? Die durchschnittliche Nutzungsdauer von Handys in Deutschland beträgt 18 bis 24 Monate. In der Schweiz dürfte es ähnlich aussehen, denn entscheidend ist, wann der Provider ein neues Gerät anbietet. Hand aufs Herz: Wie viele der Telefone, die Sie ausgemustert haben, funktionierten wirklich nicht mehr? Am Computer verlangen immer neue System- und Programmversionen nach immer höherer Rechenleistung. Wer nicht mitmacht, muss entweder ein Soft- und Hardware-Tüftler sein oder er landet auf dem digitalen Abstellgleis. Viele sind ohnehin magisch angezogen von Geräten der neusten Generation. Schliesslich wird ihnen mindestens einmal pro Jahr ein neues technologisches Zeitalter versprochen. Umso angenehmer, wenn das alte Teil ohnehin schwächelt. Wieso also sollen die Apparate länger halten, als sie benutzt werden? Es bleibt die Frage nach dem Huhn und dem Ei: Ersetzen die Leute ihre Geräte so häufig, weil sie so schnell kaputtgehen, oder gehen diese so schnell kaputt, weil sie sowieso nicht länger benutzt werden? SURPRISE 288/12

Es gibt auch gute Gründe, einen alten Computer oder sonst ein Gerät nicht mehr weiter zu verwenden: dann nämlich, wenn sein Stromverbrauch so hoch ist, dass ein neues Gerät innert nützlicher Frist inklusive Herstellung und Transport zum Endkunden weniger Energie verbraucht. Teresa Medaglia von der Stiftung Entsorgung Schweiz (SENS) verweist auf eine Broschüre von Energie Schweiz*: Darin wird für verschiedene Haushaltsgeräte sowie Bildschirme angegeben, ob es sinnvoller ist, das defekte Gerät reparieren zu lassen oder ein neues zu kaufen. Grundsätzlich gilt: Je älter das Gerät, desto weniger Reparaturkosten lohnen sich, denn das neue schont die Umwelt und entlastet die Stromrechnung. Werden Elektroapparate schneller ersetzt, verbreiten sich umweltfreundliche Technologien schneller. Das räumt auch Sara Stalder ein, meint aber: «Es macht natürlich keinen Sinn, alle zwei Jahre einen energieeffizienteren Kühlschrank zu kaufen und den alten zu entsorgen.» Für die Konsumentenschützerin überwiegt das Interesse der Menschen, die nicht binnen drei bis fünf Jahren ihren gesamten Haushaltsmaschinenpark ersetzen wollen. «Es ist ein Kampf David gegen Goliath», beschreibt Stalder die Situation der Konsumenten, «nur mit vereinten Kräften – einer internationalen Initiative – könnten die grossen Hersteller dazu bewegt werden, langlebigere Produkte zu entwickeln.» Auf die Leute, die für das neuste iPhone stundenlang Schlange stehen oder regelmässig auf Schnäppchenjagd gehen, kann sie in diesem Kampf wohl nicht zählen. ■

* Die Broschüre «Defekte elektrische Geräte reparieren oder ersetzen?» kann gratis heruntergeladen werden auf www.energieschweiz.ch

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Gleichstellung Sei, was du willst Egalia ist die umstrittenste Vorschule Schwedens. Ihr Ziel: Eine geschlechtsneutrale Erziehung. Dafür werden auch neue Wörter erfunden.

VON MARIE-CHARLOTTE MAAS

oder Alleinerziehende. Und noch mehr wird getan, um die Gleichstellung der Geschlechter voranzutreiben: Einige traditionelle Lieder wurden so umgedichtet, dass ebenfalls das geschlechtsneutrale Pronomen verwendet wird. Und wenn die Kinder einmal ganz klassisch Mutter, Vater, Kind spielen, werden sie ermutigt, andere Varianten des Spiels auszuprobieren. «Wir erklären ihnen, dass es auch die Möglichkeit Papa, Papa, Kind oder Mama, Mama, Kind gibt», sagt Lotta Rajalin. Die Kinder sollen lernen, dass die traditionellen Lebensentwürfe, die sie von zu Hause oder aus ihrem familiären Umfeld kennen, nicht die einzigen sind. Ein grosser Teil der Eltern, die ihre Kinder bei Egalia anmelden, lebt selbst in gleichgeschlechtlichen Beziehungen. «Sie sind froh, dass ihre Kinder bei uns in einem liberalen Umfeld gross werden. Mit ihrem Hintergrund hätten sie es in anderen Vorschulen schwerer», sagt Rajalin.

Lotta Rajalin erinnert sich noch gut an den Moment, als ihr die Idee zu Egalia kam. 1998 bestimmte der schwedische Staat, dass die Geschlechtergleichstellung in schwedischen Kindergärten vorangetrieben werden solle. Das grosse Ziel: Jedes Kind soll sich so entwickeln, wie es möchte, und sich nicht durch geschlechtsspezifische Stereotypisierungen in der Erziehung und die Erwartungen der Gesellschaft in eine bestimmte Rolle gedrängt fühlen. Ein ambitioniertes Ziel – wie man es erreichen sollte, wusste kein Mensch. Die Stockholmer Lehrerin Lotta Rajalin, die Geschäftsführerin mehrerer Vorschulen in Stockholm ist, ging das Ganze systematisch an. Sie filmte sich und ihre Kollegen bei der Arbeit. Die Aufnahmen zeigten ziemlich deutlich, dass Erzieherinnen und Erzieher Jungen und Mädchen unterschiedlich behandelten. Ein von der schwedischen Regierung Eine Geschlechterideologie ersetzt die andere veröffentlichter Bericht aus dem Jahr 2006 bestätigt diese BeobachtunDer deutsche Entwicklungspsychologe Peter Zimmermann, Professor gen: Darin heisst es, dass Lehrer Jungen unbewusst mehr Aufmerksaman der Bergischen Universität Wuppertal, sieht hinter Egalia die gute keit erteilen und ihnen mehr Freiraum zugestehen als den Mädchen. Absicht, die Gleichwertigkeit der Geschlechter zu fördern, bringt aber Hier, beim Handeln der Erzieher, so beschloss Lotta Rajalin, musste man die Frage auf, ob dort nicht eine vermeintliche Geschlechterideologie ansetzen. durch eine andere ersetzt werde und man so in eine andere Richtung Zwölf Jahre sollte es noch dauern, bis Rajalin 2010 in Stockholm Egaausgrenzend wirke. Und er hat noch einen Kritikpunkt: «Kinder kennen lia eröffnete. Und sie ahnte nicht, was das auslösen würde. bereits sehr früh Geschlechtsunterschiede, aber durch diese FokussieZwei Jahre später ist Egalia die bekannteste Vorschule Schwedens. rung bekommt das Thema Geschlecht eine Relevanz, die nicht alterstyUnd die umstrittenste. Die Erzieherinnen und Erzieher sagen statt «Jungen» und «Mädchen» «Freunde». Die Pronomen «er» und «sie» gibt es nicht, stattdessen Nach Märchen sucht man in Egalia vergeblich, denn die wird der in Schweden mögliche geschlechtsvermitteln Klischees. neutrale Kunstbegriff hen benutzt, ein Kompromiss aus han (er) und hon (sie). Erst vor pisch für die Bewertungen und Handlungen der Kinder ist.» Das VerKurzem wurde er in die Onlineversion der Nationalenzyklopädie aufgeständnis gesellschaftlich bedingter Rollenbilder, das in Egalia verändert nommen. Auch einige Zeitschriften und Bücher arbeiten bereits mit ihm. werden solle, werde erst deutlich später entwickelt. Besucht ein Handwerker Egalia, wird er konsequent als «hen» beDie Soziologin und ehemalige Gleichheitsexpertin der Schwedischen zeichnet – die 36 Kinder von Egalia sollen nicht das Gefühl bekommen, Akademiker-Organisation (Sveriges Akademikers Centralorganisation) dass ein Installateur immer ein Mann sein muss. «Wir zeigen den KinElise Claeson geht sogar noch weiter. In der schwedischen Tageszeitung dern auch Antistereotype: Sprechen wir beispielsweise über den Beruf Dagens Nyheter kritisierte sie die Einführung des Begriffs hen. Das Astronaut, zeigen wir ihnen das Bild einer Astronautin. So sollen sie lerSchaffen eines dritten, neutralen Geschlechts sei nicht gut, sondern vernen, dass sie wirklich alles machen können, was sie möchten, und dass wirrend für Kinder. Erwachsene sollten auf diese Weise nicht in das Entsie nicht durch ihr Geschlecht auf eine Berufsgruppe festgelegt werden», decken von Geschlecht und Sexualität eingreifen. sagt Lotta Rajalin. Die Eltern scheinen diese Sorge nicht zu teilen. Die Wartelisten für Auch bei der Auswahl der Spielsachen und der Literatur wird genau Egalia sind lang. Ein bis zwei Jahre dauert es, bis man einen Platz bedarauf geachtet, wie es die Entwicklung der Kinder in Geschlechter- und kommt. Auch Lotta Rajalin geht mit der Kritik an ihrem Projekt gelassen Gleichheitsfragen beeinflussen könnte. Nach Märchen sucht man verum – so gelassen, wie man es kann, wenn das Team hinter Egalia angebens in den Regalen, denn Märchen vermitteln Klischees, die in Egalia onyme Drohbriefe bekommt und Beschimpfungen auf die Tür der Vornicht gerne gesehen werden. Stattdessen stösst man auf die Geschichte schule geschmiert werden, die den Erziehern vorwerfen, sie machten eines männlichen Giraffenpaares, das ein Krokodilbaby adoptiert. In aus Jungen Mädchen und aus Mädchen Jungen. vielen Büchern geht es um homosexuelle Elternpaare, Adoptivkinder

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BILD: REUTERS/MICHAELA REHLE

Kommt da der Handwerkmensch? Im Egalia-Kindergarten gibt es keine Geschlechter-Stereotypen. (Symbolbild)

«Wir wollen den Kindern nur die besten Startchancen geben, sodass sie Egalia als starke Persönlichkeiten verlassen und gelernt haben, dass sie alles machen können und es nicht auf ihr Geschlecht ankommt. Wir nehmen den Kindern nichts weg», wehrt die Mutter von zwei leiblichen und drei Pflegekindern die Vorwürfe der Gegner ab. «Wir haben eine eigene Art, zu reden und zu handeln. Wir versuchen, nur das sozial konstruierte Geschlecht zu negieren, nicht aber das biologische.» Dabei, betont sie, lasse man den Kindern alle Freiheiten. Mädchen, die mit Puppen spielen wollten, dürften das natürlich, ebenso werde den Jungen nicht verboten, mit Autos zu spielen. Kajsa Wahlström ist Pädagogin und gilt als Schwedens Gleichheitscoach. Sie hat in den vergangenen Jahren viele Kindergärten in Europa in Sachen Geschlechterfragen beraten. Von der Philosophie Egalias ist sie jedoch nicht überzeugt. Weder die Einführung des Wortes «hen» noch die Tatsache, dass man auf Märchen und klassische Literatur verzichtet, sagen ihr zu: «Wörter oder Geschichten unsichtbar zu machen ist auch eine Art von Diskriminierung.» Ergänzen statt verstecken, das ist ihre Devise. Egalia steht mit seinem Konzept nicht mehr allein da. Eine schwedische Grundschule verzichtet neuerdings auf Spielzeugautos, da Jungen ihnen eine grössere Bedeutung beim Spielen beimessen, als es den Erziehern lieb ist. An einer anderen Schule wurde die freie Spielzeit von der Agenda gestrichen, mit der Begründung, die Kinder würden dabei auf stereotype Rollenmuster zurückfallen, man habe das Entstehen von Hierarchien und Ausgrenzungen beobachtet. Jürg Brühlmann vom Dachverband Schweizer Lehrerinnen und Lehrer (LCH) hält ein Konzept, wie es Egalia praktiziert, in privaten Kindergärten auch in der Schweiz für denkbar, jedoch nicht in öffentlichen: «Eltern können mit ihrem Recht auf Erziehung entscheiden, was sie ihSURPRISE 288/12

ren Kindern zumuten wollen.» Man müsse hier von einem eigentlichen Forschungsprojekt sprechen: «Niemand kann heute sagen, ob überhaupt und wie die angeregten Perspektivenwechsel in den Spielen und die veränderte Sprache im Täglichen bei den Kindern längerfristig wirken.» Es stelle sich zudem die Frage, warum dieses Experiment nicht zuerst mit Erwachsenen durchgeführt werde. Spiderman mit pinkfarbenem Kinderwagen Seit dem Jahr 2008 wurden in Schweden rund zwölf Millionen Euro ausgegeben, um den traditionellen Stereotypisierungen in Schulen und Kindergärten entgegenzuwirken. Und die Diskussion ist noch lange nicht zu Ende. Einige Politiker fordern sogar, dass in jeder Vorschule in Stockholm ein Genderpädagoge anwesend sein soll, um zu überprüfen, inwieweit die Gleichstellung der Geschlechter durch die Erzieher umgesetzt wird. Das Thema Genderperspektive ist auch Bestandteil der Lehrerausbildung. Während die Politik noch Pläne schmiedet, hat die Debatte um eine geschlechtsneutrale Erziehung die Räume von Kindergärten und Schulen bereits verlassen: In der Diskussion sind geschlechtsneutrale Toiletten. Eine Kleidermarke verzichtet in ihren Geschäften seit Kurzem auf Jungen- und Mädchenabteilungen, in Spielzeugkatalogen werden kleine Mädchen im Jeans-Outfit auf Traktoren gezeigt, und Jungen schieben im Spiderman-Kostüm pinkfarbene Kinderwagen vor sich her. Die Geschlechterdebatte als Lifestylefrage – so schnell kann das manchmal gehen. ■

Mit freundlicher Genehmigung von Die Zeit. Die Stellungnahme von Jürg Brühlmann wurde von der Surprise-Redaktion eingefügt.

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Fremd für Deutschsprachige Der Nerd kommt Der Nerd ist in. Jetzt auch bei den Jungs in der mazedonischen Provinz. Mein kleiner Cousin etwa, in seinem ebenso unbeholfenen wie entschlossenen, ja zornigen Versuch, trendy zu sein, trägt nun auch eine dicke Nerdbrille über den kindlichen Pausbacken. So sah ich ihn neulich auf einem Foto bei Facebook. Bewusst etwas geknickt steht er da, auf der Landstrasse am Dorfrand, vor der Weideparzelle des alten Resul, und schickt einen schüchtern-traurigen Blick durch die Brillengläser in die wwWelt hinaus. Er ist bemüht, das Tragen der mächtigen Sehhilfe, die er eigentlich nicht braucht, selbstverständlich aussehen zu lassen. Auch die Migrantenjugendlichen in der Schweiz scheinen den Nerdtrend für sich zu entdecken. Eine jugendarbeitende Freundin erzählte mir etwa von einem Event, den ihre

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Kids auf die Beine stellen wollen: Eine Strandbar, an der sie Fruchtcocktails anbieten – unter dem Motto «Nerd goes Beachparty!». Unter bekennenden «echten» Nerds im privaten Umfeld der Freundin sorgte das für Empörung. Sie, die in der Jugend unter ihren introvertierten Freizeitinteressen oder ihrer unzeitgemässen Kleidung gelitten hatten, konnten solch eine unlautere Inbesitznahme ihrer Identität nicht akzeptieren. Sollen die heutigen Pausenplatzkönige sich mit dem schmücken dürfen, wofür sie selbst einst von ebensolchen verspottet wurden? Wie ist diese ästhetische Gratwende zu erklären? Mit einer gestiegenen Attraktivität des Intellekts, des Buches? Was meinen Cousin betrifft, so liest dieser, mittlerweile auf dem Zenit seiner Pubertät angelangt, weniger denn je. Und er las schon in der vierten Klasse nicht gern. Wenn ich früher gelegentlich mit ihm übte, blühte er zwar auf, sobald ihm die richtige Aussprache gelang – machte er jedoch Fehler oder geriet ins Stocken, so schmiss er das Buch hin und zog mit ein paar abfälligen Scherzen über «diesen Kinderkram hier» ab. Schwäche war ihm beissend peinlich und schwer zu vereinen mit der vagen, aufkeimenden Ahnung dessen, was Mannsein bedeutet. Und nun kommt also der Nerd, der feinfühlige. Er sitzt auf den Nasen der Töfflibueben im Balkandorf und geistert durchs Lifestyle-Repertoire adoleszenter Jungs in der Schweiz.

Ganz unangekündigt ist er nicht erschienen. In der Fotoflut auf Flickr, Facebook und Co. tauchte schon vor geraumer Zeit der Denker auf, eine Pose, die neben zahlreichen bodyfixierteren Handyfoto-Sujets vor dem heimischen Badezimmerspiegel abfotografiert und im Netz präsentiert wird. Der Denker scheint dabei den Jungs vorbehalten zu sein und geht so: Der leicht gesenkte Kopf ruht auf einer Hand, die Finger stützen die Schwere der inneren Welt und der Blick, ernst bis melancholisch in die Ferne gerichtet, ist Zeuge derselben. Spiegelt die Betonung von Verletzlichkeit, Innerlichkeit und Geist neue Befindlichkeiten und Bedürfnisse der jungen Generation wider? Wenn es die Modeindustrie so will und mit Hochglanzmagie beschwört, wohl schon. Doch bestimmt ja auch die Nachfrage den Markt. Zum Beispiel die Nachfrage von Migrantenjungs nach einer neuen, vagen Idee vom Mannsein und davon, was jenseits der Rolle des harten Ghetto-Jungen sonst noch so für sie bereitliegen könnte.

SHPRESA JASHARI (SHPRESAJASHARI@HOTMAIL.COM) ILLUSTRATION: RAHEL NICOLE EISENRING (RAHELEISENRING.CH) SURPRISE 288/12


Musikfestival Legenden aus den Randzonen Saint Ghetto ist ein Geheimtipp unter den Schweizer Musikfestivals. Seit fünf Jahren treten in der Berner Dampfzentrale Pioniere, Kultfiguren und Newcomer zwischen Avantgarde und Pop auf – dieses Jahr die Untergrundlegende Tuxedomoon.

Schweizer Musikfans sind sich allerhand gewohnt, finden sich doch in der Vielfalt der Festivals auch exotische und extravagante Veranstaltungen. Dass das Publikum vor der Bühne übernachtet, ist aber doch aussergewöhnlich. So geschehen anlässlich des Auftritts des britischen Avantgardisten Steven Stapleton (Nurse With Wound) beim Saint Ghetto Festival 2010. Sein Schlafkonzert dauerte von Mitternacht bis acht Uhr morgens, und währenddessen lagen und lauschten in der Berner Dampfzentrale 50 Leute auf eigens aufgestellten Feldbetten aus Zivilschutzbeständen. Als der Tag anbrach, gab es Kaffee und Gipfeli für alle. Die Regel sind solche Auftritte auch bei Saint Ghetto nicht. Die Episode veranschaulicht aber, dass das dreitägige Festival ein bisschen anders ist als das Gros der Konzertveranstaltungen. «Wir präsentieren Legenden und Kultfiguren, die an den Rändern der Popmusik Wichtiges geschaffen haben, aber selten bis nie in Bern aufgetreten sind. Dazu stellen wir relevante jüngere Acts vor, die einflussreich werden könnten. Also quasi das Gegenteil von Hypes, die in einem Jahr keiner mehr kennt», beschreibt Programmleiter Roger Ziegler die Ausrichtung. Bei der ersten Austragung 2008 traten die exzentrische Chanteuse Brigitta Fontaine und Pierre Henry, einer der Urväter der Musique Concrète und des Techno, auf. Damals ging es darum, Musik aus Paris aus der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg in einen zeitgenössischen Kontext zu stellen, daher auch der Festivalname, der auf das Quartier Saint-Germaindes-Prés anspielt. Eine Wiederholung war ursprünglich nicht geplant, trotzdem feiert Saint Ghetto mit der fünften Austragung dieses Jahr ein kleines Jubiläum. Das ist nicht selbstverständlich, denn im übersättigten Schweizer Markt noch ein Festival zu etablieren, ist schwierig. «Wichtig ist es, ein Profil zu schaffen, zu zeigen, dass es ein solches Programm sonst nirgends gibt», sagt Ziegler. «Dabei geht es mehr um die Idee hinter dem Festival als um die Namen der auftretenden Musiker.» Die Namen zeigen aber doch die Ausrichtung: Über die Jahre gastierten in der Dampfzentrale The Residents, Die Goldenen Zitronen, The Fall oder Charlemagne Palestine – klingende Namen in Kreisen, wo ein exklusiver Musikgeschmack als Statussymbol dient. Dieses Jahr spielen von Donnerstag bis Samstag jeweils drei Acts. Das Zugpferd am Donnerstag bildet Phantom Ghost, ein Duo, mit dem Tocotronic-Sänger Dirk von Lowtzow und der Produzent Thies Mynther mit Flügel und Gesang postmoderne Kammermusik zelebrieren. Am Freitag folgen The Legendary Pink Dots, die seit 30 Jahren himmeltraurig-schöne Songs zwischen elektronischem Pop und psychedelischem Rock spielen, sowie das österreichische Wunderkind Anja Plaschg, alias Soap & Skin, die ihre düsteren Lieder zwischen Pianoballade und Brachialelektronik mit einem achtköpfigen Ensemble aufführt. Eine echte Überraschung ist der Hauptact vom Samstag: Tuxedomoon wissen laut Ziegler selber nicht mehr genau, wann sie zuletzt in der Schweiz gespielt haben. Vor 35 Jahren in San Francisco gegründet, landeten sie mit SURPRISE 288/12

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VON RETO ASCHWANDEN

Zwischen Klangerkundungen und lyrischem Liedgut: Tuxedomoon.

«No Tears» 1978 einen kleinen Hit, der bis heute an jeder zweiten NewWave-Party erklingt. Dem Post-Punk entwuchs die Band allerdings bald, dafür entwickelte sie im Lauf der Achtzigerjahre einen eigenständigen Stil aus repetitiven Bassmelodien, elektronischen Meditationen, melancholischem Jazz-Gebläse und beseeltem Sprechgesang. Nach einer Pause um die Jahrtausendwende erschienen seit 2004 zwei Studioalben sowie ein Soundtrack, die Tuxedomoon erneut als Meister der traumwandlerischen Komposition zwischen Klangerkundungen und lyrischem Liedgut zeigen. Nostalgische Aufführungen von Frühwerken will Programmleiter Roger Ziegler ausdrücklich keine, ansonsten aber lässt er den Musikern freie Hand: «Ich lasse mich wie das Publikum überraschen, ob alte Hits gespielt werden oder ein spezielles neues Programm. Ich buche eine Band im Vertrauen, dass sie ein tolles Konzert geben wird.» Die Wahrscheinlichkeit, bei Saint Ghetto Extraordinäres zu erleben, ist gross. Auch wenn es diesmal keine Feldbetten vom Zivilschutz geben wird. ■ Saint Ghetto: Do, 22. November, 20 Uhr, Fr, 23. und Sa, 24. November, 20.30 Uhr, Dampfzentrale, Bern.

www.dampfzentrale.ch

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Kulturtipps

Der Ami, der Chinese und der Russe fliegen auf den Mars. Und merken erst dort, dass sie sich doch mögen.

Noch ist Jay konzentriert bei der Arbeit, aber bald gerät so einiges aus den Fugen.

Buch Fabeln aus der Heutewelt

DVD Blutlachende Entgleisung

In seinen Kindergeschichten findet Umberto Eco so schlichte wie fantasievolle Bilder für grosse Probleme.

Im britischen Chiller «Kill List» will Auftragsmörder Jay sowohl seine Finanzen als auch seine Familie retten. Statt Killer-Coolness erwartet uns eine Kinoachterbahn ohne Sicherheitsgurte.

VON CHRISTOPHER ZIMMER VON NILS KELLER

Als 1980 mit «Der Name der Rose» der erste Roman Umberto Ecos erschien, wurde er nicht nur zu einem Weltbestseller, sondern löste auch grosses Erstaunen aus, nicht zuletzt unter Gelehrten. Einer der führenden Semiotiker hatte den Elfenbeinturm der Wissenschaft verlassen und sich in den Mainstream der Unterhaltung begeben. Potzblitz! Dieser Eco war und ist wirklich einer, der für Überraschungen gut ist. Etwa dafür, dass er auch Kindergeschichten geschrieben hat. Wer hätte das gedacht! Kein Wunder allerdings ist, dass diese Geschichten nichts Niedliches an sich haben. Der kritische Denker Eco scheut ganz im Gegenteil nicht davor zurück, existenzielle Themen anzupacken, und dabei gelingen ihm einfache und verständliche Bilder für grosse Probleme: für Krieg, Intoleranz und Umweltzerstörung. Das mag den Kindern einiges abverlangen, nimmt sie dafür aber auch ernst – und ist nicht zuletzt deswegen «kindgerecht». In Ecos «Tre Racconti» (in der deutschen Übersetzung anspielungsreich: «Geschichten für aufgeweckte Kinder») stehlen sich Atome aus den Bomben, um einem General den Krieg zu vermasseln, und Kosmonauten dreier Nationen erkennen auf dem Mars, dass sie so verschieden gar nicht sind, nur weil sie andere Sprachen sprechen. In der längsten, der dritten Geschichte schliesslich, schickt ein Kaiser einen Weltraumforscher ins All, weil es auf der Erde nichts mehr zu erobern gibt. Auf dem Planeten der Gnome von Gnu aber erweist sich der schöne Schein der Zivilisation, die der Forscher den «Eroberten» anbietet, als Mogelpackung: graue Städte unter Smog, verschmutzte Meere, Abfall, Stau und Verkehrsopfer. Jede dieser Fabeln birgt, den düsteren Themen zum Trotz, eine hoffnungsvolle Botschaft in sich: den symbolhaften Widerstand der Atome, das Zueinanderfinden der Kosmonauten, die sogar die Menschlichkeit eines «hässlichen» Marsianers erkennen, oder die Hoffnung, dass die Gnome von Gnu eines Tages unseren versehrten Planeten heilen. Wie die Leser dieses Buches, die Kinder nämlich, denen die Gnome nicht unähnlich sind, vielleicht die Welt der Zukunft klüger und besser verwalten werden als wir erwachsenen Bewohner der Heutewelt.

Acht Monate ist es her, dass Jay (Neil Maskell) seinen letzten Job als Auftragskiller völlig vermasselt hat. Sein vorstädtisches Einfamilienhaus steht unter Hochspannung: Das Geld geht aus, seine Frau Shel prügelt mit Worten und Fäusten auf sein zermürbtes Ich ein, und sein siebenjähriger Sohn Sam möchte lieber Ritter spielen als Papas Gutenachtstorys von explodierenden Konvois in Bagdad hören. Sein alter Armee- und Arbeitspartner Gal (Michael Smiley) motiviert ihn, einen neuen, lukrativen Auftrag anzunehmen: eine Kill-Liste mit drei Namen abzuarbeiten. Bis zu diesem Zeitpunkt fühlt sich «Kill List» noch nach einer zeitgeistigen Studie kleinbürgerlichen Elends an: Statisch beobachtende Bilder kontrastieren die emotionalen Ausbrüche. Eine allgegenwärtige Angst ist der Kitt, der die Figuren sich aneinanderklammern lässt und die Akustik prägt. Der verstörende Soundtrack, der knappe Erzählstil und die kruden Bilder kündigen einen Genrewechsel an. Wenn okkulte Zeichen in Spiegel gekratzt werden und Jay im Garten gefundene Kaninchenüberreste isst, weiss man: Ein Gangsterthriller ist das nicht. (Hier sollte diese Besprechung eigentlich enden, denn je weniger man über den Film weiss, umso besser. Dennoch, nur noch das:) Als die zwei Profikiller quer durch England unterwegs sind und gelangweilt ihre Opfer beobachten, hilft ihnen der kaltblütige Soldatenhumor nur bis zum nächsten Reizmoment. Jays Opfer, die sich bei ihm bedanken, und Beweise für einen Kinderpornographie-Ring lassen das Fass überlaufen: Je länger, desto mehr brennen Jays Sicherungen durch, und die Killer geraten in einen dunklen Sog. So wandelt sich «Kill List» schrittweise und mit visueller Wucht zum Horror. Doch Blut und zertrümmerte Gliedmassen nehmen nicht überhand, die emotionale Zerklüftung der Protagonisten hält ihnen die Waage. Erst kurz vor Schluss dreht sich der Genre-Spiess ganz um, und als Zuschauer weiss man nicht, wie einem geschieht. Der Film ist ein wuchtiger Schlag in die Magengrube. Aber gekonnt. Ben Wheatley: Kill List, GB 2011, 95 Min., mit Neil Maskell, MyAnna Buring, Michael Smiley u. a., OV und deutsch synchronisiert, deutsche Untertitel, Extras:

Umberto Eco: Geschichten für aufgeweckte Kinder.

Making Of, Interviews bzw. Audiokommentare mit Regisseur, Drehbuchautorin,

Illustrationen von Eugenio Carmi. Geeignet für Kinder ab 8 Jahren.

Darstellern und Produzenten.

Hanser 2012. 21.90 CHF.

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Die 25 positiven Firmen Diese Rubrik ruft Firmen und Institutionen auf, soziale Verantwortung zu übernehmen. Einige haben dies schon getan, indem sie dem Strassenmagazin Surprise mindestens 500 Franken gespendet haben. Damit helfen sie, Menschen in prekären Lebensumständen eine Arbeitsmöglichkeit zu geben und sie auf ihrem Weg zur Eigenständigkeit zu begleiten. Gehört Ihr Betrieb auch dazu? Die Spielregeln sind einfach: 25 Firmen werden jeweils aufgelistet, sind es mehr, fällt jener Betrieb heraus, der am längsten dabei ist.

Welche Vielfalt. Aber nur auf dem Markt.

Piatto forte Vielseitige Frucht Sie stehen zur Zierde in den Gärten oder als furchterregende Laternen auf Fenstersimsen: Kürbisse. In der Küche ermöglichen die verschiedenen Sorten allerlei kulinarische Entdeckungen. VON TOM WIEDERKEHR

Der Kürbis ist, auch wenn man ihm das nicht ansieht, eine Frucht und gehört zur selben Pflanzenfamilie wie Melonen, Zucchetti und Gurken. Er ist eine der ältesten bekannten Kulturpflanzen: Aus prähistorischen Funden weiss man, dass der Kürbis bereits 10 000 vor Christus kultiviert wurde. Dass wir ihn schon so lange essen, ist vielleicht auch der Grund, weshalb der Kürbis in der jüngeren Vergangenheit in der Gunst der Konsumenten gesunken ist und teilweise nur noch als anspruchsloser Lieferant von Tierfutter angepflanzt wurde. Mit dem Trend zu Nahrungsmitteln, welche nicht vom anderen Ende des Planeten kommen, erlebt der Kürbis nun aber sein Comeback. Zu Recht: Er liefert wertvolle Vitalstoffe bei wenigen Kalorien und ist in der Küche vielseitig einsetzbar. Leider wird dem Gourmet die grosse Kürbisvielfalt bei den Grossverteilern häufig vorenthalten und es steht nur der grosse Muskatkürbis zur Auswahl. Diese Sorte ist zwar für fast alles zu verwenden, aber dadurch auch einfach nur gewöhnlicher Durchschnitt. Je nach Rezept lohnt es sich, auf dem Bauernmarkt zu suchen oder mit dem Gemüsehändler Ihres Vertrauens ein ernstes Wort zu wechseln: Die birnenförmigen Butternuts zum Beispiel haben im Vergleich zum Supermarkt-Kürbis ein deutlich zarteres und süsseres Fruchtfleisch und eignen sich daher bestens für die Herstellung von Kuchen, Marmelade oder Chutneys. Der orange leuchtende Hokkaido hat ein nussiges, intensives Aroma und ist der ideale Kandidat für Suppen oder schmackhaft als im Ofen gegarte Gemüsebeilage. Die kleinwachsende Sorte Chestnut ist mit ihrem Duft nach Marroni auch roh in einem Kürbis-Nuss-Pesto oder gemischten Salat eine genüssliche Abwechslung. Und der weisse Kürbis Baby Boo empfiehlt sich mit seinem leicht mehligen Fruchtfleisch als gute Grundlage für Kürbisgnocchi. Zu guter Letzt: Auch das Innenleben des Kürbisses hat es wortwörtlich in sich: Die Kerne sind der Rohstoff für das wertvolle Kürbiskernöl oder geröstet eine Knabberei, die nicht nur gegen Prostata-Beschwerden Gutes tut.

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Kaiser Software GmbH, Bern

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Balcart AG, Carton, Ideen, Lösungen, Therwil

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Lions Club Zürich-Seefeld

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Klimaneutrale Druckerei Hürzeler AG, Regensdorf

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Scherrer & Partner GmbH, Basel

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Balcart AG, Carton Ideen Lösungen, Therwil

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Psychiatrische Dienste Aargau AG (PDAG)

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Locher, Schwittay Gebäudetechnik GmbH, BS

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fast4meter, storytelling, Bern

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Klinik Sonnenhalde AG, Riehen

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Schweiz. Tropen- und Public Health-Institut, BS

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seminarhaus-basel.ch

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Supercomputing Systems AG, Zürich

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AnyWeb AG, Zürich

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VXL gestaltung und werbung ag, Binningen

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Cilag AG, Schaffhausen ‹›

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Coop

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Zürcher Kantonalbank

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Kibag Management AG

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Knackeboul Entertainment

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Brother (Schweiz) AG

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Musikschule archemusia, Basel

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Stoll Immobilientreuhand AG, Winterthur

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Proitera GmbH, Betriebliche Sozialberatung, BS

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responsAbility Social Investments AG

Möchten Sie bei den positiven Firmen aufgelistet werden? Mit einer Spende von mindestens 500 Franken sind Sie dabei! PC-Konto: 12-551455-3, Verein Surprise, 4051 Basel Zahlungszweck: Positive Firma + Ihr gewünschter Eintrag. Wir schicken Ihnen eine Bestätigung.

Bezugsquellen und Rezepte: http://piattoforte.ch/surprise

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BILD: CORALIE WENGER

BILD: ILAN PAPPE, THE ETHNIC CLEANSING OF PALESTINE

BILD: ZVG

Ausgehtipps

«Waisen» zeigt Geschwisterbande als rohe Poesie.

Die Palästinenser auf der Flucht.

Diese Sieben haben Soul – Min King.

Zürich Blutsbande

Bern Bilder der «Nakba»

Auf Tournee Redding vom Rheinfall

Der englische Dramatiker Dennis Kelly hat ein Gespür für brüchige Schicksale und menschliche Abgründe – vielleicht biografisch bedingt: Der Vater war Buschauffeur, und aufgewachsen ist Kelly als eines von fünf Kindern in einer städtischen Wohnsiedlung. Schon sein Stück «Schutt», in dem sich ein Geschwisterpaar mit fantastischen Geschichten aus der Tristesse des Lebens hievt, ging in der Inszenierung von Stephan Roppel, dem künstlerischen Leiter der Winkelwiese, mit seiner rohen Poesie unter die Haut. Jetzt inszeniert der Chef «Waisen». Wieder sind es Geschwisterbande, die im Zentrum des Kammerspiels stehen, und diesmal werden wir Zeugen, wie die Vergangenheit die Figuren einholt und mit einem Schlag zerstörerisch wird. (dif)

Min King ist ein Septett, das den Soul nach Art von Stax nachbaut und dazu im Schaffhauser Dialekt singt. Kann auf dem Papier nicht funktionieren, wird in Songform aber zum heissesten Scheiss. Das Debütalbum «Am Bluemeweg» präsentiert sich als mitreissende Retro-R&B-Revue voller toller Nummern. Die Band spielt mit Druck und Gefühl und Sänger Philipp Albrecht singt so beseelt, dass wir ihn fortan «Otis Redding vom Rheinfall» nennen wollen. Fans von Charles Bradley, den Aeronauten oder auch Phenomden sei diese Band ans Herz gedrückt. Es gibt ein Mittel gegen Herbstdepressionen, und sein Name ist Min King. (ash)

«Waisen», Wiederaufnahme, Theater Winkelwiese,

Israel-Palästina: Kaum ein Begriffspaar, das heftigere Reaktionen auslöst als dieses. Kritische Leserbriefe sind jeweils garantiert, egal aus welcher Optik man berichtet. Viele stellen bei dem Thema auch gleich auf blind oder taub, denn: Wer hat noch den Durchblick, wer wie warum schuld ist und warum der Konflikt kein Ende findet? Das Kornhausforum bietet aktuell Gelegenheit, sich mit einer der Ursachen auseinanderzusetzen: der «Nakba», wie die Palästinenser sagen, der Katastrophe. Gemeint ist die Massenflucht und -vertreibung aus ihrer Heimat 1948. Die Ausstellung basiert unter anderem auf Recherchen «neuer Historiker» in Israel, die die Gründungsmythen ihres Landes hinterfragen. Im Reitschulkino gibt’s Filme zum Thema, im Kornhausforum «Mittagsgespräche» und im Progr ein Abschlusskonzert. (fer)

29. und 30. November, 1. und 6. bis 8. Dezember,

«Die Nakba», Ausstellung mit Begleitprogramm,

jeweils 20.30 Uhr. www.winkelwiese.ch

noch bis 2. Dezember, Kornhausforum Bern.

Sa, 17. November, 21.30 Uhr, Chrämerhuus, Langenthal; Sa, 1. Dezember, 20 Uhr, ZAK, Jona; Sa, 8. Dezember, 21 Uhr, Kaserne, Basel.

www.nakbabern.ch

Anzeigen:

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BILD: RODO WYSS

BILD: ZVG

Federnde Rhythmen von freundlicher Leichtigkeit: Mulatu Astatke.

Poet, Beamter und kinderfreundlicher Rebell: Nationalheld Mani Matter.

Basel Befriedet vom Vibraphon

Bern Mani zählt

Wer heute Äthiopien hört, denkt an Bürgerkrieg und Hungersnot. Dabei war zumindest die Hauptstadt Addis Abeba einst eine pulsierende Metropole und Ursprungsort des Ethio-Jazz. Als Geburtshelfer fungiert dabei Mulatu Astatke. Nach einem Studium am Berklee College of Music kehrte der Musiker Mitte der Sechzigerjahre in seine Heimat zurück, wo er Jazz, lateinamerikanische Rhythmen und traditionelle äthiopische Musik zu einer einzigartigen Mischung fusionierte. Diese instrumentale Musik steckt wie der Soul voll intensiver Gefühle, bewahrt dank dem warmen Klang von Astatkes Vibraphon und den entspannt-federnden Rhythmen aber stets eine freundliche Leichtigkeit. Diese befriedet auch Griesgrame, wie sich in Jim Jarmuschs Film «Broken Flowers» zeigte, wo Astatkes Stücke Bill Murray auf der Suche nach seinen Verflossenen begleiten. Dem etwas in Vergessenheit geratenen «Mulatu of Ethiopia» (so ein früher Albumtitel) brachte dieser Soundtrack ein verdientes Comeback. Wenn Sie sich etwas Gutes tun möchten, besuchen Sie das CHexklusive Konzert in Basel. (ash)

«Money matters» steht auf einem Strassenkunstplakat neben dem Konterfei des Troubadours an einer Mauer in den Strassen Berns. Über diese Aussage könnte man streiten, unumstritten ist: Mani matters! Der Rechtsanwalt und Liedermacher, der vor genau 40 Jahren bei einem Autounfall «so trurig isch ums Läbe cho», ist noch immer allgegenwärtig. Die runde Jährung des Todestags bietet nun Gelegenheit, dem Mythos MM auf den Grund zu gehen: Das Historische Museum Bern zeigt die grosse Ausstellung des Landesmuseums, die seit letztem Jahr durch die Schweiz tourt. Darin werden Mani Matters Geschichten visualisiert, Hintergründe zu seinem Leben und Werk präsentiert und mit grossen Stimmungsbildern der Geist der Fünfziger- und Sechzigerjahre zum Leben erweckt. Ein iPad führt multimedial durch die Ausstellung, was sie auch für Kinder zu einem Erlebnis macht. Für einen Fünfliber können Kids zudem jeweils am Samstagnachmittag Geschichten hinter Manis Musik kennenlernen und seine Lieder singen, für die Erwachsenen bietet Stattland eine Führung durch die Altstadtgassen an, die den Spuren des Beamten, Politikers und Familienvaters Mani Matter folgt. Nicht verpassen! (fer)

Do, 29. November, 21 Uhr, Kaserne Basel.

«Mani Matter 1936 bis 1972», Ausstellung, noch bis 13. Januar, Historisches Museum,

Sa, 17. November und Sa, 8. Dezember, Start jeweils 14 Uhr beim Münsterbrunnen.

BILD: MICHAEL FUCHS 2011: «SWOOSH»

Deutschschweiz Die knappen Kurzen

Bern. «Ein Berner namens Matter», Stadtführung von Stattland,

Das Team von Kurz&Knapp stellt regelmässig Kurzfilmprogramme zusammen, die in verschiedenen Städten zu sehen sind. Demnächst stehen Werke zur Lage der Nation an. «Einspruch VI» von Rolando Colla, der vom tragischen Ende einer Ausschaffung erzählt, kennen unterdessen viele, aber er geht immer wieder an die Substanz. Auch «Gypaetus Helveticus» von Marcel Barelli nimmt die Schweizer Migrationspolitik unter die Lupe: Das Thema ist heikel, der Film humor-, aber nicht minder wirkungsvoll. Des Weiteren gibt’s die drei Gewinner des HelvetasKurzfilmwettbewerbs «No Fair – No Deal!» zu sehen. Und viel Lustiges, Prägnantes, Kurzes, Knappes. Zum Beispiel einen Bösewicht, der zwei hilflosen Frauen die Handtasche klauen will, aber nicht mit dem Superhelden gerechnet hat, der den holden Damen zur Rettung eilt und die Sache regelt. In einer einzigen Minute Film. (dif) «CHurz und CHnapp»: Zwischen 20. und 29. November in diversen Kinos. Freier Film Aarau, Treibhaus Luzern, Taptab Schaffhausen, Neues Kino Basel, Cinématte Bern, Kraftfeld Winterthur, Xenix Zürich, Kugl St. Gallen. www.kurzundknapp.ch SURPRISE 288/12

Der Mann in der Unterhose: dein Freund und Helfer.

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Verkäuferinnenporträt «Die Menschen sind eigenartig» Yvonne Probst (51) musste lernen, auf sich selber zu hören. Sie ist eine Einzelgängerin, die trotzdem gerne unter Menschen geht. Auch wenn die manchmal nicht wissen, woher sie sie kennen.

«Ich teile meine Zeit gern ein. Heute Morgen zum Beispiel bin ich früh aufgewacht. Und da habe ich mir gesagt: Yvonne, jetzt stehst du auf und machst was. Ich bin in Pratteln, wo ich wohne, zum Bahnhof gegangen. Eigentlich wollte ich auf den Bus, aber als ich sah, dass er ein wenig Verspätung hatte, beschloss ich, den Zug zu nehmen. So mache ich das oft: Ich handle nach meiner inneren Wahrnehmung und Stimmung. Also fuhr ich mit dem Zug nach Liestal, um dort am Bahnhof Surprise zu verkaufen. Mein Platz ist neben einem Briefkasten. Da müssen viele Leute hin, und wenn sie ihre Briefe einwerfen, spreche ich sie an, ob sie ein Heft kaufen möchten. Heute habe ich nur während einer Stunde verkauft, danach musste ich zu meinem Job in Rheinfelden. Dort arbeite ich über Mittag in einem Veloladen. Ich putze und helfe beim Raus- und Reinstellen. Ich bin froh um diese Anstellung, denn von Computern und so verstehe ich nichts. Und ich brauche die Arbeit, nur schon, damit der Tag eine Struktur hat. Die hilft mir, denn wenn man nichts zu tun hat, kann es passieren, dass man Seich macht, vor den Fernseher sitzt und sich dann zu nichts mehr motivieren kann. Darum fand ich es toll, als mir eine Kollegin von Surprise erzählte. Jetzt geht es mir gut, wenn ich diese Linie habe, die sich durch den Tag zieht: erst Surprise in Liestal, dann beim Velohändler in Rheinfelden und nachmittags gehe ich gern in meinen Garten. Ich bin gelernte Gärtnerin und deshalb brauche ich es einfach, meine Finger im Dreck zu spüren. Den Garten habe ich zweigeteilt in Sonnenblumen und Gemüse. Er ist nicht gross, sondern einfach so, dass ein bisschen etwas wächst, das ich auch essen mag. Die Arbeit bei Surprise gefällt mir, denn sie bringt mich in Kontakt mit den Menschen. Es gibt immer wieder interessante Gespräche mit Leuten, die das Heft kaufen. Für jemanden, der weiss, was er will, ist das ein guter Job. Ich suche immer den Blickkontakt, das funktioniert gut. Aber die Menschen sind eigenartig: Manche schauen gleich weg, wenn sie mich sehen. Meine Einstellung ist: Wenn ich zu meiner Arbeit stehe, dann trete ich auch den Leuten gegenüber gut auf. Deshalb muss mein Selbstwertgefühl intakt sein, wenn ich verkaufen gehe. Wenn es mir dreckig geht, dann weiss ich genau: Yvonne, du musst dich gar nicht auf der Strasse zeigen. Das merken einem die Leute an. Ich mache mir viele Gedanken über mich, und wer mich kennt, weiss, dass ich viel in meinem Leben gerichtet habe. Als junge Frau hatte ich Probleme mit dem Alkohol. Ich habe dann einen Entzug gemacht und bin mit meinen beiden Buben nach Bern auf einen Bauernhof gezogen. Nach einem Jahr wollten die Buben wieder heim nach Basel. Kurz darauf beschloss ich, mich scheiden zu lassen. Es ging nicht auf: Ich kämpfte gegen den Alkohol und daneben hatte ich einen Partner, der soff. Ich habe mit ihm geredet, aber er wollte nicht aufhören. Also beschloss ich, mich zu trennen. Das hat er akzeptiert. Im Kampf gegen den Alkohol wird einem nichts in den Schoss gelegt. Ich musste lernen, mit mir selber ehrlich zu sein. Wenn ich heute einmal eine Stange trinke, ist das in Ordnung. Wenn ich gut gearbeitet habe, darf ich mir das leisten.

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BILD: ASH

AUFGEZEICHNET VON RETO ASCHWANDEN

Aber nicht fünf. Wenn ich mich umschaue, dann stelle ich fest, dass viele Leute eine Menge trinken. In meinem Bekanntenkreis gibt es einige, die immer wieder auf dem Bauch landen. Ich war immer eine Einzelgängerin, habe nie viele Freundschaften gepflegt. Die Leute haben Respekt vor mir. Viele können es nicht verstehen, dass ich die Dinge für mich selber entscheide. Das heisst aber nicht, dass ich immer nur für mich allein bin. In Liestal kennen mich viele, aber wenn sie mich mit den Heften sehen, wissen sie nicht, wo sie mich hintun müssen. Der Mensch zeigt, wenn er einen erkennt, ob er will oder nicht, das passiert unbewusst. Mein Lehrer aus der achten Klasse zum Beispiel hat schon zweimal ein Heft gekauft und ich merkte, dass ich ihm bekannt vorkomme. Das nächste Mal frage ich ihn, ob er wisse, woher er mich kennt. Manchmal treffe ich mich auch im Restaurant mit Bekannten. Oder neulich, da traf ich am Sonntagnachmittag auf der Strasse eine Kollegin. Als sie mich sah, hielt sie mit dem Velo an und wir redeten ein bisschen. Das war nur eine kurze Begegnung, aber mir reichte das, um anschliessend zufrieden einen schönen Sonntagabend zu verbringen. Ich brauche nicht viel, um meinen Frieden zu haben.» ■ SURPRISE 288/12


SurPlus – eine Chance für alle! Werden Sie Gotte oder Götti bei SurPlus Surprise kümmert sich um Menschen, die weniger Glück im Leben hatten. Menschen, die kaum Chancen auf dem ersten Arbeitsmarkt haben und ihr Leben in die eigenen Hände nehmen wollen. Mit dem Verkauf des Strassenmagazins Surprise überwinden sie ihre soziale Isolation. Ihr Alltag bekommt wieder Struktur und mehr Sinn. Sie gewinnen neue Selbstachtung und erarbeiten sich aus eigener Kraft einen kleinen Verdienst. Das verdient Respekt und Unterstützung. Das Spezialprogramm SurPlus ist ein niederschwelliges Begleitprogramm für ausgewählte Surprise-Verkaufende, die regelmässig das Strassenmagazin

verkaufen und hauptsächlich vom Heftverkauf leben. Diese Verkaufenden erhalten nur geringe soziale Ergänzungsleistungen und werden im Programm SurPlus gezielt vom Verein Surprise unterstützt: Sie sind sozial abgesichert (Ferien, Krankheit, U-Abonnement) und werden bei Problemen im oft schwierigen Alltag begleitet. Mit einer Patenschaft leisten Sie einen wesentlichen Beitrag für die soziale Absicherung der Verkaufenden und ermöglichen ihnen, sich aus eigener Kraft einen Verdienst zu erarbeiten. Vielen Dank für Ihr Engagement!

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Ja, ich werde Gotte/Götti und unterstütze das SurPlus-Programm von Surprise! 1 Jahr: 6000 Franken

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Surprise ist: Hilfe zur Selbsthilfe Surprise hilft seit 1997 Menschen in sozialen Schwierigkeiten. Mit Programmen in den Bereichen Beschäftigung, Sport und Kultur fördert Surprise die soziale Selbständigkeit. Surprise hilft bei der Integration in den Arbeitsmarkt, bei der Klärung der Wohnsituation, bei den ersten Schritten raus aus der Schuldenfalle und entlastet so die Schweizer Sozialwerke.

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Eine Stimme für Benachteiligte Surprise verleiht von Armut und sozialer Benachteiligung betroffenen Menschen eine Stimme und sensibilisiert die Öffentlichkeit für ihre Anliegen. Surprise beteiligt sich am Wandel der Gesellschaft und bezieht Stellung für soziale Gerechtigkeit. Strassenmagazin und Strassenverkauf Surprise gibt das vierzehntäglich erscheinende Strassenmagazin Surprise heraus. Dieses wird von einer professionellen Redaktion produziert, die auf ein Netz von qualifizierten Berufsjournalistinnen, Fotografen und Illustratorinnen zählen kann. Das Magazin wird fast ausschliesslich auf der Strasse verkauft. Rund dreihundert Menschen in der deutschen Schweiz, denen der Arbeitsmarkt verschlossen bleibt, erhalten damit eine Tagesstruktur, verdienen eigenes Geld und gewinnen neues Selbstvertrauen.

24 Ausgaben zum Preis von CHF 189.– (Europa: CHF 229.– ) (Verpackung und Versand bieten StrassenverkäuferInnen ein zusätzliches Einkommen.) Gönner-Abo für CHF 260.–

Sport und Kultur Surprise fördert die Integration auch mit Sport. In der Surprise Strassenfussball-Liga trainieren und spielen Teams aus der ganzen deutschen Schweiz regelmässig Fussball und kämpfen um den Schweizermeister-Titel sowie um die Teilnahme an den Weltmeisterschaften für sozial benachteiligte Menschen. Seit 2009 hat Surprise einen eigenen Chor. Gemeinsames Singen und öffentliche Auftritte ermöglichen Kontakte, Glücksmomente und Erfolgserlebnisse für Menschen, denen der gesellschaftliche Anschluss sonst erschwert ist. Finanzierung, Organisation und internationale Vernetzung Surprise ist unabhängig und erhält keine staatlichen Gelder. Das Strassenmagazin wird mit dem Erlös aus dem Heftverkauf und mit Inseraten finanziert. Für alle anderen Angebote wie die Betreuung der Verkaufenden, die Sportund Kulturprogramme ist Surprise auf Spenden, auf Sponsoren und Zuwendungen von Stiftungen angewiesen. Surprise ist eine nicht gewinnorientierte soziale Institution. Die Geschäfte werden vom Verein Surprise geführt. Surprise ist führendes Mitglied des Internationalen Netzwerkes der Strassenzeitungen (INSP) mit Sitz in Glasgow, Schottland. Derzeit gehören dem Verband über 100 Strassenzeitungen in 40 Ländern an.

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Herausgeber Verein Surprise, Postfach, 4003 Basel www.vereinsurprise.ch Öffnungszeiten Sekretariat 9 – 12 Uhr, Mo – Do T +41 61 564 90 90, F +41 61 564 90 99 info@vereinsurprise.ch Geschäftsführung Paola Gallo (Geschäftsleiterin), Sybille Roter (stv. GL) Anzeigenverkauf T +41 61 564 90 90, M +41 76 325 10 60 anzeigen@vereinsurprise.ch Redaktion T +41 61 564 90 70, F +41 61 564 90 99 Reto Aschwanden (Nummernverantwortlicher), Florian Blumer, Diana Frei, Mena Kost redaktion@vereinsurprise.ch Ständige Mitarbeit Rosmarie Anzenberger (Korrektorat), Rahel Nicole Eisenring, Shpresa Jashari, Carlo Knöpfel, Yvonne Kunz, Stephan Pörtner, Milena Schärer, Isabella Seemann, Priska Wenger, Tom Wiederkehr, Christopher Zimmer Mitarbeitende dieser Ausgabe Isabelle Bühler, Michael Gasser, Lucian Hunziker, Nils Keller, Marie-Charlotte Maas, Stefan Michel, Christof Moser Gestaltung WOMM Werbeagentur AG, Basel Druck AVD Goldach Auflage 15000, Abonnemente CHF 189.–, 24 Ex./Jahr Marketing, Fundraising T +41 61 564 90 50 Oscar Luethi (Leitung)

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Wiedergabe von Artikeln und Bildern, auch auszugsweise oder in Ausschnitten, nur mit ausdrücklicher Genehmigung der Redaktion. Für unverlangte Zusendungen wird von der Redaktion und dem Verlag jede Haftung abgelehnt. Surprise behält sich vor, an Verkaufende gerichtete Postsendungen zu öffnen. Barspenden an namentlich bezeichnete Verkaufende können nur bis zu einem Betrag von CHF 100.– weitergeleitet werden. Darüber hinausgehende Beträge sollen – im Einverständnis mit der Spenderin oder dem Spender – allen Verkaufenden zugute kommen. SURPRISE 288/12


Ist gut. Kaufen! Wer etwas verkauft, braucht Geld. Schlichte Wahrheit – gute Sache. Denn 50 Prozent des Verkaufspreises kommt Surprise zugute. Alle Preise exkl. Versandkosten.

Surprise Zeitungs-Taschen (34 x 36 cm); CHF 37.50 neon-orange schwarz

Surprise City-Taschen (24,5 x 35,5 cm); CHF 40.– rot schwarz

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Dazu passend: Leichtes T-Shirt, 100%Baumwolle, für Gross und Klein.

Schön und gut. Grosses Badetuch 100 x 180 cm aus sehr langlebigem Zwirngarn, 100% handgepflückte Baumwolle. Mit Surprise-Logo eingewebt und von A bis Z in der Schweiz hergestellt. Vorder- und Rückseite verschiedenfarbig: vorne kühles Aquablau, hinten heisses Rot.

Herren CHF 25.– S (schmal geschnitten) Kinder CHF 20.– XS S Alle Preise exkl. Versandkosten.

Strandtuch (100 x 180 cm) CHF 65.–

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Surprise gratuliert! Wir gratulieren allen Spendenläufern zu ihrem Durchhaltewillen beim Luzerner Marathon 2012.

Surprise läuft weiter! Laufen Sie mit beim Zürcher Silvesterlauf! Der Verein Surprise stellt beim Zürcher Silvesterlauf 2012 am 16. Dezember wieder ein eigenes Team auf und kommt mit allen Charity Runnern – vom Strassenverkäufer bis zur Bankdirektorin – gemeinsam ins Ziel. Wir suchen noch engagierte Persönlichkeiten, die uns beim Surprise Charity Run unterstützen möchten. Weitere Informationen und Angaben zur Anmeldung bis 1. Dezember finden Sie unter: www.charityrun.vereinsurprise.ch

Surprise macht stark – machen Sie uns stärker und unterstützen Sie unsere Läufer. Setzen Sie ein Zeichen gegen soziale Ausgrenzung und Ungerechtigkeit. Spendenkonto: PC 12-551455-3 Verein Surprise, Spalentorweg 20, Postfach, 4003 Basel, T +41 61 564 90 90, F +41 61 564 90 99


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