Surprise 491/21

Page 1

Strassenmagazin Nr. 491 8. bis 21. Januar 2021

CHF 6.–

davon gehen CHF 3.– an die Verkäufer*innen

Bitte kaufen Sie nur bei Verkäufer*innen mit offiziellem Verkaufspass

Immobilien

Möchten Sie hier wohnen? Am Zürichsee lässt ein Multimillionär sein Anwesen vergammeln. Warum nur? Eine Spurensuche. Seite 8



TITELBILD: PASCAL MORA

Editorial

Gekommen, um zu bleiben Könnten Sie sich vorstellen, in einer Villa zu wohnen? In einer mit allem Prunk und Protz? Oder dürfte sie auch ein wenig her­ untergekommen sein, mysteriös und ­verwunschen wie auf unserem Titelblatt? Die jedenfalls steht leer, liebe Leser*innen, und erst noch am Zürisee. Leicht zu haben ist sie trotzdem nicht. Ihr Besitzer, ein ­steinreicher Mann, lässt sie vergammeln, er scheint vor allem ein In­teresse an dem Grundstück zu haben. Was andere nicht davon abgehalten (und vielleicht ­sogar dazu animiert) hat, die Villa zu besetzen, sie zwischenzeitlich zu ihrem ­Zuhause zu ­machen – woraufhin der Besitzer das Haus verrammelt und abgeriegelt hat. Was da­ hinter steckt? Lesen Sie ab Seite 8. Man ist beinahe versucht, die Geschichte von der Villa am See als Metapher zu lesen: Manche haben ein Zuhause zu viel, anderen bleibt es verwehrt. Oder sie werden ausgesperrt. Dabei ist das Zuhause ja nicht

4 Aufgelesen 5 Vor Gericht

Fackeln vor Gericht 6 Verkäufer*innenkolumne

Theresa und ich 7 Die Sozialzahl

Armut im Alter 8 Immobilien

Die Villa am See

Surprise 491/21

14 Familiennachzug

Endlich vereint

bloss ein Dach über dem Kopf, sondern steht oft auch für ein Gefühl: an einem sicheren Ort zu sein, am liebsten für ganz lange. Da­ rauf warten viele von uns. Für Sabriel und seine Mutter dauerte das Warten eine halbe Ewigkeit. Als Hosaena sich vor sechs Jahren von Eritrea auf die ge­ fährliche Route durch die Wüste und übers Meer nach Europa machte, musste sie ihren Sohn zuhause lassen – ein Zuhause, das ihm, ohne Mutter, immer fremder wurde. Derweil versuchte Hosaena alles, um hier in der Schweiz Fuss zu fassen, ein neues Leben anzufangen, das irgendwann einmal auch ein Daheim werden sollte für ihren kleinen Sabu. Doch es wurde ein langer und ­beschwerlicher Weg. Ob es auch einer mit Happy End war, das lesen Sie ab Seite 18.

KL AUS PETRUS

Redaktor

18 Interview

«Klimaschutz lohnt sich für alle» 22 Bibliotheken

Wissen in der Werkstatt 25 Buch

Kleinkunstwerk im Taschenformat 26 Veranstaltungen

27 Tour de Suisse

Pörtner in Oberwil 28 SurPlus Positive Firmen 29 Wir alle sind Surprise Impressum Surprise abonnieren 30 Surprise-Porträt

«Ich bin froh, dass ich eine Maske tragen darf»

3


Aufgelesen

FOTO: PATRYCJA ZENKER

News aus den 100 Strassenzeitungen und -magazinen in 35 Ländern, die zum internationalen Netzwerk der Strassenzeitungen INSP gehören.

Recht auf Selbstbestimmung

Ende Oktober gab der Verfassungsgerichtshof in Polen bekannt, dass er eine umstrittene Gesetzesänderung befürworten würde, welche in der Praxis ein striktes Abtreibungsverbot bedeutet. 97 Prozent aller in den letzten Jahren vorgenommenen Abtreibungen wären nach neuer Rechtslage illegal. Offenbar gingen Hunderttausende auf die Strasse, um für das Recht auf Selbstbestimmung zu demonstrieren. Diskriminierende Bemerkungen der Regieungspartei und die Haltung der Kirche fachten die Wut der Menschen zusätzlich an. Auf vielen Transparenten wurde eine endgültige Trennung von Kirche und Staat sowie der Rücktritt der Regierung gefordert. GAZETA ULICZNA, POZNAN, POLEN

FOTO: GILES CLASEN

Strukturell vernachlässigt Indigene in den USA sind überdurchschnittlich von Covid-19 betroffen. «Die Menschen verstehen nicht, was wir im Reservat durchmachen», sagt eine Angehörige der Navajo. «Wir wurden schon lange vor Covid-19 vergessen. Wegen dieser jahrelangen Vernachlässigung sind wir nun auch stärker betroffen.» Verantwortlich dafür ist auch die schlechte Wasserversorgung in der Wüste von Arizona. Der durchschnittliche Pro-Kopf-Verbrauch in den USA liegt bei knapp 380 Litern Wasser am Tag, die meisten Navajo-Familien sind auf dieselbe Menge pro Woche beschränkt. Viele müssen ihr Trinkwasser aus den umliegenden Kleinstädten holen. Das erschwert häufiges Händewaschen, die ­Menschen in den Kleinstädten tragen zudem häufig keine Maske.

DENVER VOICE, DENVER, USA

4

Surprise 491/21


ILLUSTRATION: PRISKA WENGER

Auf der Suche nach Schutz

1,4 Millionen Geflüchtete leben unter unsicheren und prekären ­Umständen in Krisenregionen – und dies, obschon sie gemäss Flüchtlingswerk der Vereinten Nationen UNHCR als besonders schutz­ bedürftig gelten. Es handelt sich dabei vor allem um Folteropfer, ­vergewaltigte Frauen und Männer, geflüchtete Kinder, Schwangere und ältere Menschen. Das UNCHR fordert, dass sichere Staaten diesen Menschen vermehrt die Möglichkeit bieten, direkt einzureisen und sich ein neues Leben in Frieden aufzubauen. 2019 nahmen die USA, Kanada, Australien sowie einige europäische Länder, darunter auch Deutschland, im Rahmen der sog. Resettlement-Programme ­insgesamt lediglich 92 000 dringend Schutzbedürftige auf. Diese Programme sind für Geflüchtete oft der einzige Weg, ohne Lebensgefahr in sichere Länder zu gelangen.

HINZ & KUNZT, HAMBURG

«Weibliche Leiden»

1953 wurde einem nordamerikanischen zwölfjährigen Mädchen operativ seine Klitoris entfernt. Dies war die letzte bekannte Klitoridektomie in den USA. Offiziell ver­ boten wurde die sogenannte weibliche Genitalverstümmelung dort aber erst 1996. Lange Zeit hatte man ebenso wie in Europa, Teilen von Afrika und Asien geglaubt, damit als «weibliche Leiden» bezeichnete Diagnosen wie Hysterie, Nervosität, Depression oder auch den Drang nach Masturbation heilen zu können. Von Menschenrechtsorganisationen wird die weibliche Genitalverstümmelung heute aktiv bekämpft. Die WHO geht davon aus, dass es weltweit 200 Millionen Mädchen und Frauen gibt, die genital verstümmelt wurden. Drei Millionen Mädchen seien jährlich gefährdet.

MEGAPHON, GRAZ

Surprise 491/21

Vor Gericht

T1, P1, bitte was? Manchmal trifft man auf Verhandlungslisten auf einen seltenen Straftatbestand wie «Vergehen gegen das Sprengstoffgesetz». Wurde ein Terroranschlag vereitelt? Oder war ein Feuerwerksenthusiast am Werk? Weder, noch. Laut Anklageschrift hat ein Mann Anfang zwanzig im vergangenen Januar an einer Demo «eine pyrotechnische Rauchlichtfackel (Kategorie P1) abbrennen lassen». Dabei habe er gewusst, «dass Rauchlichtfackeln nicht zu Vergnügungszwecken bestimmt sind und er nicht berechtigt war, diese zu verwenden». Die Polizei hatte den Mann mitgenommen – es liegen Videobilder der mutmasslichen Tat vor. Der Beschuldigte, der sich am Bezirksgericht Zürich diesem Vorwurf stellen muss, sieht aus wie ein Kleinkinderzieher. Und tatsächlich: Nach einer technischen Berufsmatur bereitet sich der 22-Jährige gerade auf die Aufnahmeprüfung an die Pädagogischen Hochschule vor. In seiner Freizeit engagiert er sich als Fussballtrainer und bei den Jungen Grünen. Dass er an der besagten Demo eine Fackel abbrennen liess, sei korrekt. Das habe er der Polizei sofort bestätigt, als er angehalten wurde. Denn er sei überzeugt gewesen, nichts Illegales getan zu haben. Er wollte visuell für Stimmung sorgen. Ihm sei auch bewusst gewesen, dass Rauchlichtfackeln problematisch sind. Weshalb er zuvor die Polizeiverordnung der Stadt Zürich konsultiert habe. Dort stehe aber nichts von einem generellen Verbot, nur dass sie keinen Lärm machen und keine Hitze entwi-

ckeln dürften. Im Online-Shop wählte er deshalb ein kalt brennendes Modell, das für den Einsatz beim Paintball und auf Bühnen empfohlen war. Ausser dass man achtzehn Jahre alt sein müsse, habe es keine weiteren Bedingungen für den Kauf von zehn Fackeln gegeben. Der Verteidiger zeigt dem Gericht einen Ausschnitt aus einem Bericht der «Tagesschau» über demonstrierendes Pflegepersonal, auch dort sorgten Rauchfackeln visuell für Stimmung. Das seien zwar T1-Fackeln, aber aus derselben Kategorie wie die P1-Fackeln des Beschuldigten. Solche Rauchgranaten seien Standard bei Sportaktivitäten, gemäss Hersteller-Website zugelassen für Spiel- und Vergnügungszwecke. Sein Mandant habe alle Sorgfaltspflichten erfüllt, weitere Abklärungen habe er nicht tätigen müssen. Und selbst wenn er sich vor dem Kauf das Sprengstoffgesetz zu Gemüte geführt hätte, so der Anwalt, hätte das nichts gebracht: Das versteht kein Schwein! In diesen Worten hat er das natürlich nicht gesagt, aber in diesem Sinn. So sieht es auch der Einzelrichter. Das Gericht sei «schön durch den Paragrafendschungel geturnt», bis es sich einen Reim machen konnte. So halb zumindest. Eigentlich seien P1-Gegenstände an Demos nicht zulässig, sondern «nur zum angegebenen Verwendungszweck». Was der sein soll, habe das Gericht nicht herausgefunden. «Für Schiffbrüchige vielleicht?», fragt sich der Richter. Im Gesetz, sagt er, stünden Vorgaben für den Vertrieb solcher Produkte. Wenn es ein Problem gebe, dann in diesem Bereich: Es seien wohl Hinweispflichten verletzt worden. Geradezu erleichtert lässt er den 22-Jährigen springen und wünscht ihm alles Gute für seine Zukunft als Pädagoge. Y VONNE KUNZ  ist Gerichtsreporterin

in Zürich. 5


ILLUSTRATION: CAMILLE FRÖHLICH

Verkäufer*innenkolumne

Theresa und ich «Ich Tarzan – du Jane». Oder: «Madame Présent und Monsieur le Président». Aber auch einfach nur: «Bäse». So, aber auch ganz anders könnte unser Debüt-Comedy-Programm heissen. Das Comedy-Programm von Theresa und mir. Aber sie will nicht! Dabei: Wir sind echt gut – und obendrein saukomisch – Theresa und ich. Aber sie will nicht. Zusammen könnten wir die Bühnen dieser Welt erobern – locker – Theresa und ich. Wir hätten allemal das Zeug dazu – Theresa und ich. Aber sapperlottnochmal: Sie will nicht. Seit Jahren nörgele ich vergeblich an ihr herum, bezirze sie, umwerbe sie. Doch sie bleibt standhaft bei ihrem kategorischen Nein. Obwohl ich gegen Standhaftigkeit im Allgemeinen nichts einzuwenden habe – ich lobe sie! –, finde ich doch: Alles zu seiner Zeit. Jetzt ist der Moment, etwas zu wagen. Immerhin geht es in diesem Fall um die grosse ­Karriere zweier prächtiger Comedians. Aber nein, sie will partout nicht: Immer nur üben, üben, üben. Glauben Sie mir: Wir üben täglich mehrmals in der Bahnhofunterführung zu Rapperswil. Am Morgen, wenn sie vorbeigeht, am Mittag, wenn sie vor­ beigeht, und am Abend, wenn sie vorbeigeht. Unserer komödiantischen Phantasie sind schier keine Grenzen gesetzt. Mal trällere ich ihr meine selbstkomponierten Melodien inklusive Beat vor. Dann machen wir Comedy über die Hagebutten, denn Theresa hat auf dem Gemüsemarkt doch tatsächlich, als Dekor für ihr Büro, ein paar kahle Zweige Hagebutten gekauft, 6

ich nenne das Bäse. Oder über Suppen, die kalt werden. Highlights über Highlights! Oder über Sinn und Zweck von Norden und Süden. Extraklasse ist auch unsere Comedy über den blauen Regenschirm, ihren blauen Regenschirm, den ich so ­gemocht habe, der ihr aber davongelaufen ist, wie Theresa steif und fest behauptet. Dabei hat sie ihn ganz einfach verloren. Mal üben wir uns in stummer Gestik, so eine Art von Pantomime. Dann hauen wir auch mal ordentlich auf den Putz und machen auf Streit der gehobenen Klasse, sie als Madame ­Présent und ich als Monsieur le Président. Theresa legt halt Wert auf Niveau, Gassenhauer kommen bei ihr nicht infrage. Mir soll’s recht sein. Wenn sie nur endlich mit mir die Bretter, die die Welt bedeuten, besteigen würde! Ich verstehe Theresa. Sie hat es mir nie gesagt, aber ich weiss, was sie denkt: Schuster, bleib du mal schön bei deinem Leisten.

URS HABEGGER  (64) lebt seit zwölf Jahren vom Surprise-Verkauf in Rapperswil (SG). Er hat schon als Junge in einem Kindertheater mitgespielt, später gab er Kinderkonzerte mit selbstgeschriebenen Kinderliedern. Seine komödiantischen Vorbilder sind Ruedi Walter und das Cabaret Rotstift.

Die Texte für diese Kolumne werden in Workshops unter der Leitung von Stephan Pörtner und Surprise erarbeitet. Die Illustration zur Kolumne entsteht in Zusammenarbeit mit der Hochschule Luzern – Design & Kunst, Studienrichtung Illustration. Surprise 491/21


Alter ist damit ein guter Armutsindikator, zumal beim Anspruch auf Ergänzungsleistungen nicht nur die Einkommens-, sondern auch die Vermögensverhältnisse berücksichtigt werden.

Armut im Alter Wie hoch ist die Armut im Alter? Orientiert man sich an der Einkommensarmut, so weisen die Rentner*innen von allen Altersgruppen mit 13,6 Prozent (2018) die höchste Armutsquote auf. Diese Zahl wird mit dem Hinweis auf vorhandene Vermögensbestände relativiert, von denen die Rentner*innenhaushalte zehren können. Wird das Vermögen in der Berechnung der Altersarmut berücksichtigt, so sinkt die Armutsquote markant und unterscheidet sich kaum mehr von den Armutsquoten anderer Altersgruppen. Was genau also ist gemeint, wenn immer ­wieder vor einer wachsenden Armut im Alter gewarnt wird? Ein Blick in die Statistik der Ergänzungsleistungen zur AHV lässt aufhorchen. Die Ergänzungsleistungen im Alter haben zwei Aufgaben zu erfüllen. Im sogenannten dritten, agilen Alter, das oft mit der Altersspanne zwischen 65 und 79 Jahren assoziiert wird, gleichen sie zu tiefe Renteneinkommen aus. Die Ergänzungsleistungen garantieren so das soziale Existenzminimum im Alter. Im darauffolgenden, sogenannten vierten, fragilen ­Alter der über 80-Jährigen fangen sie ferner zu hohe Ausgaben auf, die meist mit Eintritten ins Pflegeheim einhergehen. In dieser Phase ersetzen sie die in der Schweiz fehlende Betreuungs- und Pflegeversicherung.

Schaut man sich die EL-Quoten der 65- bis 79-Jährigen an, so sieht man zweierlei. Zum Ersten ist der Anteil der Rentner*innen, die in den ersten Jahren des Ruhestands schon Ergänzungsleistungen beziehen, in den letzten zehn Jahren angestiegen. 2008 bezogen 9,3 Prozent aller Rentner*innen zwischen 65 und 79 ­Jahren Ergänzungsleistungen, 2019 waren es 10,6 Prozent. Für sie reichen die Renten nicht mehr aus, um die Ausgaben für den täglichen Bedarf, die Miete und Krankenkasse zu decken. Zum Zweiten unterscheiden sich die Verläufe der EL-Quoten zwischen den Geschlechtern deutlich. 2019 betrug die EL-Quote der Frauen zwischen 65 und 79 Jahren 11,9 Prozent, jene der Männer 9,1 Prozent. Neurentnerinnen sind also häufiger auf Ergänzungsleistungen angewiesen. Sie haben in ihrem Erwerbsleben weniger verdient, häufiger Teilzeit gearbeitet und mehr Unterbrüche in der Lohnarbeit erlebt. Die unbezahlte ­Care-Arbeit in den Familienhaushalten, die in bedeutend höherem Ausmass von Frauen geleistet wird, ist mit Ausnahme der Betreuungsgutschriften nicht rentenrelevant. Auch im Alter ist die Armut weiblich.

Renteneinkommen spiegeln die Erwerbsbiografien von Pensionierten. Wer im Laufe seines Erwerbslebens wenig verdient hat, hat oft eine tiefere Rente als jene mit einer ungebrochenen Erwerbsbiografie. Diese Renteneinkommen können so niedrig sein, dass man Ergänzungsleistungen beanspruchen darf. Die entsprechende Quote der EL-Beziehenden im dritten

PROF. DR. CARLO KNÖPFEL  ist Dozent am Institut Sozialplanung, Organisationaler Wandel und Stadtentwicklung der Hochschule für Soziale Arbeit der Fachhochschule Nordwestschweiz.

EL-Quote nach Geschlecht und Jahr für die 65- bis 79-Jährigen in Prozent

9,1 %

11,9 % 8,8 %

11,7 %

11,6 % 8,7 %

8,5 %

11,5 %

11,6 % 8,4 %

8%

7,9 %

7,7 %

7,5 %

6

7,5 %

8

8,3 %

11,5 %

11,3 %

11,3 %

11,1 %

10,9 %

10,9 %

10

11 %

12

7,3 %

INFOGRAFIK: BODARA ; QUELLE: BUNDESAMT FÜR SOZIALVERSICHERUNGEN: EL-STATISTIK

Die Sozialzahl

4

2

0

2008

Surprise 491/21

2009

2010

2011

2012

2013

2014

2015

2016

2017

2018

2019

7



Die Villa am See Immobilien In der Gemeinde Kilchberg am Zürichsee steht an allerbester Lage eine stattliche

Villa. Ihr Wert: kaum bezahlbar. Ihr Zustand: überwuchert, geheimnisvoll, in jedem Fall aber desaströs. Ihr Besitzer: ein Multimillionär aus Kasachstan. Was ist hier los? TEXT  LUCILLE LANTHEAUME, SOPHIA BERNASCONI, TAMARA BURRI FOTOS  PASCAL MORA


Immer wenn Markus Kern* den unscheinbaren Trampelpfad entlangläuft, der sich durch das ruppige Grün schlängelt, fühlt sich das für ihn an wie eine andere Welt. Er zwängt sich zwischen den dichten, dornigen Ästen hindurch und gelangt zum Haus. Die geschindelte Fassade wirkt ordentlich, doch die Fensterhöhlen im Erdgeschoss sind mit Backsteinen zugemauert. Von einer Veranda aus führt eine wacklige Leiter zu einem der oberen Fenster. Wer sie wohl hier hingestellt hat? Kern weiss es nicht. Auf jeden Fall muss sie schon sehr lange hier stehen, denn sie ist mit Vogelkot übersät. Sprosse für Sprosse steigt er dann das manchmal glitschige Gerüst empor, im Fensterrahmen stecken nur noch einige Glassplitter. Der Rest der Scheibe liegt auf dem Zimmerboden. Die Scherben knirschen unter seinen Schuhen. Ansonsten ist es still. Seit etwa drei Jahren besucht der Rechtswissenschaftsstudent Kern regelmässig die verlassene Villa in Kilchberg. Zu Beginn konnte er noch bequem die Eingangstür nehmen. «Eines Tages waren alle Fenster und Türen im Erdgeschoss zugemauert, also mussten wir eine Lösung finden. Uns kam die Idee, eine Leiter zu gebrauchen, damit wir im ersten Stock durchs Fenster können», erzählt der Student. Er hatte mit Freunden herausgefunden, dass die Villa einem Oligarchen gehört. Mehr habe er aber nie recherchiert. In der Mitte des Raumes stehen zwei zerlöcherte Schaumstoffsofas, schildert Kern. Die Wände sind mit Graffitis übersät. Eines blieb ihm in Erinnerung: «dini MUETER, dini MUM» in krakeliger Schrift, einmal quer durchs Zimmer. Daneben ist die Wand eingeschlagen. In einer Ecke steht eine Truhe aus massivem Holz. Darin befinden sich Fotos, Grusskarten aus den Ferien, Glückwünsche zu Ronnies* 18. Geburtstag und sogar ein Babyalbum. Und überall herum verstreut Konfetti, Zigarettenstummel und leere Bierflaschen. Mittendrin: die Spuren eines Lagerfeuers. All diese Erinnerungsstücke lassen darauf schliessen, dass in diesem heruntergekommenen Haus tatsächlich einst Leute wohnten oder sich zumindest darin breitgemacht hatten. Aber wer waren diese Menschen? Wieso nahmen sie nichts mit, als sie auszogen? Was ist aus ihnen geworden? Und wem gehört nun eigentlich dieses Haus? Einen Teil der Antwort kann Kern selbst geben. Die Villa werde regelmässig von jungen Leuten für Partys genutzt. Das 10

könne man schon daraus schliessen, dass immer wieder neue Sachen – wie etwa Lampen von Baustellen – auftauchen. Auch übernachtet werde hier hin und wieder. Das hat Kern selbst schon gemacht, denn es hat genug alte Matratzen. Nach einer Weile sei es ihm und seinen Freund*innen aber zu unheimlich geworden und sie seien mitten in der Nacht gegangen. Kern ist erstaunt, dass nicht mehr Leute von dieser Villa wissen. «Dafür wird es nicht so schnell verschmutzt und man hat das Haus eigentlich immer für sich.» Seltsame Dokumente Manche Geheimnisse der Villa bleiben mysteriös, auch wenn man ihnen nachgeht. Zum Beispiel: Wie kommen all die persönlichen Briefe an einen gewissen Ronnie hierher? Ausfindig gemacht, sagt dieser am Telefon: «Ich weiss es nicht. Das alles ist sehr komisch.» Er sei einmal in der Psychiatrie gewesen und musste dort seine Erinnerungsstücke abgeben. «Sie hatten meine persönlichen Sachen irgendwo verstaut, wahrscheinlich im Keller oder so.» Die Briefe habe er nie zurückbekommen. Deshalb glaubt er, dass sie jemand gestohlen hat und die so auf verschlungenen Wegen in die Villa gelangten, aus welchem Grund auch immer. «Anders kann ich es mir nicht erklären.» Die ersten Zeitungsartikel über die Villa erschienen in den 2000er-Jahren. Gebaut wurde sie laut einer Inschrift im Keller, die Kern entdeckt hat, im Jahr 1939. Ein Stockwerk höher befinde sich auch ein Büro. Darin lägen hunderte Dokumente,

Spekulation verboten Das Gesetz verbietet es Ausländer*innen, Wohnliegenschaften als reine Geldanlage aufzukaufen. Denn damit würde knapper Wohnraum noch teurer. Zuständig für die Umsetzung dieser als Lex Koller bekannten Vorschrift sind die Gemeinden. Diese sind bei der Anwendung des Gesetzes unterschiedlich streng. Entscheidend für eine Bewilligung ist, ob der Käufer seinen Lebensmittelpunkt in der Schweiz hat – eine Frage mit Ermessensspielraum. Dass sich der Oligarch, der Online-Berichten zufolge in Almaty (Kasachstan) lebt, dauerhaft in der Schweiz aufhält, darf zumindest angezweifelt werden. EBA

die meisten aus den 1990er-Jahren. Einige beinhalteten Bankkontoeröffnungen und Transaktionen von Hunderttausenden D-Mark, adressiert an einen gewissen Eddie Egloff. Sucht man nach diesem Namen, stösst man zuerst auf die Webseite einer Strategie- und Managementfirma. Diese berichtet über Egloffs Erfahrung im Bereich Rohstoffe und beschreibt ihn als Mitgründer von Glencore. In jedem anderen Suchresultat taucht sein Name neben Marc Rich auf, einem der umstrittensten Rohstoffhändler weltweit. Aber wieso befinden sich in dieser zerfallenen Villa Dokumente eines Millionärs? Das erklärt sich mit einer anderen Geschichte, die sich in der Villa abgespielt hat. Vor etwa zwanzig Jahren gehörte das Grundstück der Künstlerin und Designerin Laura Hildegard Wilkesmann. Diese hatte das Haus einem Ehepaar abgekauft und entwickelte grosse Pläne dafür. Sie träumte von einem Kunst- und Kulturzentrum direkt am See, welches ein Begegnungsort für Jung und Alt werden sollte. Keine Kunst für Kilchberg In verschiedenen spiralförmig angeordneten Häusern sollten sieben unterschiedliche Künste erlebt werden können. Pro Kunstrichtung ein Raum: Im «Wortraum» würde Theater gespielt, im «Schauraum» bildende Kunst ausgestellt, im «Tonraum» hätte es Platz für Musik, im «Episodenraum» fänden Lesungen statt und im «Ruheraum» würde philosophiert. Ein «Schaffensraum» sollte jungen Künstler*innen eine Schwelle zum Erfolg sein und im «Schmaus- und Trankraum» schliesslich würden alle hungrigen Bäuche gefüllt. Dieses Restaurant sollte ausserdem die Hemmungen nehmen und die Besucher*innen dazu animieren, auch die anderen Künste zu geniessen, so Wilkesmann. Das Projekt, «Laurana» genannt, sollte von der Zürcher Architektin Gret Loewensberg gebaut werden. Nach der Fertigstellung wäre «Laurana» ein Geschenk an die Gemeinde Kilchberg gewesen. Doch daraus wurde nichts. Das Grundstück befindet sich nämlich in der Wohnzone W1 und das Projekt hätte die zulässige Baumasse um über 500 Prozent überschritten. Zudem gab es Probleme mit dem Grenzabstand und es waren zu wenige Parkplätze vorhanden. Kurz: «Laurana» bekam von den Behörden kein grünes Licht. «Da wollten wir der Gemeinde Kilchberg gratis und franko zu einem Kulturzentrum verSurprise 491/21


Die Fassade ordentlich geschindelt, die Fenster zugemauert: Diese Villa ist nicht zum Wohnen da. Surprise 491/21

11


Das GrundstĂźck ist direkt am See gelegen: ungenutzt und unbezahlbar. 12

Surprise 491/21


helfen, und die sagen einfach Nein. Man kann es nicht glauben!» So beschwerte sich Wilkesmann damals gegenüber der NZZ. Auf Nachfrage sieht die Künstlerin die Angelegenheit heute gelassener. Sie sei zwar sehr enttäuscht gewesen – es war immerhin ein Geschenk –, doch sei Kilchberg für sie damit gegessen. In der Villa am See wohnte sie nie. «Dort haben wir nur Familienfeste gefeiert.» Einige Jahre später verkaufte ihr Bruder die Villa an einen deutschen Immobilienhändler. Dieser Bruder ist eben Eddie Egloff, Gründungsmitglied von Glencore und einer der grössten Rohstoffhändler weltweit. Ein paar Jahre vergingen und ein weiteres Bauprojekt scheiterte. Stattdessen wurde die Villa an einen Multimillionär aus Kasachstan verkauft: Alijan Ibragimov. Dessen Vermögen wird auf zwei Milliarden Franken geschätzt. Es heisst, Ibragimov habe seine Villa bisher noch nie besucht. Das Haus stand etwa vier Jahre lang leer. In dieser Zeit verlotterte es immer mehr. Das änderte sich, als die Villa im August 2011 von mehreren Personen besetzt wurde. Die Besetzer*innen waren eine Gruppe junger Leute und ein älterer Architekt. Dieser erzählte damals gegenüber 20 Minuten, dass er und die junge Bande gerade dabei seien, «d’Hütte instand z’chlöpfe». Bei vielen Nachbarn kam das gut an, denn die Villa war schon damals ziemlich überwachsen. Der Architekt erklärte, das Ziel sei es nicht, das Haus weiterhin zu besetzen, sondern mit dem Besitzer und der Gemeinde einen Vertrag auszuhandeln. «Für üs wär’s es riise Glück, wenn mir i dere scheiss Hütte chönted bliibe!», sagte er in dem Video-Interview. Verbarrikadiert und zugemauert So schrieb die Gruppe dem Oligarchen einen Brief, doch dieser blieb unbeantwortet. Stattdessen wurden die Besetzer*innen einen Monat später von Ibragimov rausgeschmissen. Dieser engagierte auch noch ein Bauunternehmen, das die Villa unbewohnbar machte. Kücheneinrichtungen und Sanitäranlagen wurden zerstört, die Fenster verbarrikadiert. Selbst das Gartenhäuschen fiel der Aktion zum Opfer. Vor etwa drei Jahren wurden dann auch die Eingangstür und alle Fenster im Erdgeschoss zugemauert. «Da wird lieber Wohnraum zerstört, als dass er einen sozialen Nutzen erhält – das ist Kapitalismus in Reinkultur», kommentierte der Architekt in der Zeitung. Surprise 491/21

Auch die Gemeinde wusste von der Hausbesetzung. Sie könne solch widerrechtliches Vorgehen zwar nicht unterstützen, kümmere sich aber auch nicht gross darum. Das sei Sache des Eigentümers. Auch das Pflegen oder, wie in diesem Fall, das Überwachsenlassen des Grundstücks sei alleinige Sache von Ibragimov. «Die Gemeinde kann erst einschreiten, wenn Drittpersonen gefährdet sind», erklärt Christian Benz, Gemeinderat von Kilchberg und Vorsteher des Ressorts Hochbau und Liegenschaften. Auch ihn stört der Zustand des Hauses. Er fände es schön, wenn das Areal etwas besser gepflegt würde. «Das Haus ist zumindest praktisch nicht mehr sichtbar und das Grundstück fast zu einem Wäldchen mutiert. Ich weiss nicht, ob wenigstens die Botaniker in der Bevölkerung dieser Situation etwas mehr abgewinnen können als ich.» Wer will, wer hat noch nicht? Ein Grund, warum die Villa leer steht, könnte der öffentliche Fussweg sein, der zwischen dem Grundstück und dem See verläuft. Dieser wird von Spaziergänger*innen rege benutzt. Dies schränkt die Privatsphäre auf dem Grundstück bedeutend ein. «Ich bin mir nicht sicher, ob sich der Käufer dessen bewusst war», sagt Benz. Zudem lässt die aktuelle Bauzonen-Ordnung kein Grossprojekt zu. Im Dorf erzählt man sich aber auch noch eine andere Geschichte, warum der Eigentümer seine See-Villa verwuchern lässt: sein Interesse gelte nicht dem Boden, sondern dem Geld. Der Wert der Villa wird zwischen zehn und fünfzehn Millionen Franken geschätzt. Das Gerücht hält sich, dass er das Grundstück lediglich zu Spekulationszwecken gekauft hat. Dies wäre verboten (siehe Kasten). Die Frage, warum der Kauf seinerzeit bewilligt wurde, kann Gemeinderat Benz nicht beantworten. Im Gespräch lässt Benz lediglich durchblicken, dass Ibragimov wohl zum Verkauf der Villa am See bereit wäre. Jedenfalls sei er selber deswegen schon informell von einem Makler angegangen worden. «Bisherige Angebote scheiterten offenbar am Preis.» Da Benz es nicht als Kernaufgabe der Gemeinde erachtet, die Villa zu kaufen, müsste wohl ein anderer Multimillionär dafür sorgen, dass der Ort seine verlassene Villa an bester Lage wieder instand setzt. Wer auch immer die Millionen aufwirft: profitieren würde wohl vor allem Alijan Ibragimov – jener Mann, der das Grund-

stück an der Seestrasse 136 während dreizehn Jahren sich selbst überlassen hat. Zwar ist nicht bekannt, wie viel der Multimillionär aus Kasachstan im Jahr 2007 für das Grundstück bezahlte. Da die Bodenpreise am Zürichsee seither um mindestens fünfzig Prozent gestiegen sind, dürfte aber bei einem Verkauf ein stattlicher Gewinn in seine Taschen fliessen. Und es könnte sogar noch mehr werden, falls das Grundstück dereinst umgezont werden sollte. Das würde die Attraktivität – und damit den Wert – der Liegenschaft massiv erhöhen. Derzeit ist es lediglich möglich, einstöckig zu bauen., was sich ändern könnte. Gemeinderat Benz bestätigt, dass dies im Rahmen des laufenden Projekts Raumentwicklungskonzept möglich wäre. Er betont aber, dass der Anstoss zu einer Umzonung von der Bevölkerung kommen müsste. Derzeit fordert die Gemeinde ihre Einwohner*innen dazu auf, Ideen einzubringen, wie sich Kilchberg entwickeln könnte – per Online-Umfrage und nun auch im Rahmen einer Bevölkerungskonferenz mit mehreren Treffen in einer Turnhalle. Gefragt wird beispielsweise nach Lieblings-Orten. «Vielleicht wird ja auch die Villa eingebracht», sagt Benz. Was hat der Besitzer der Villa mit dem 4000 Quadratmeter grossen, verlassenen Grundstück vor? Hatte er je vor, die Villa zu bewohnen? Wird er es verkaufen? Surprise hat Alijan Ibragimov per Brief um ein Gespräch gebeten. Doch der kasachische Milliardär, der ein paar Dörfer weiter in der Gemeinde Wollerau (SZ) gemeldet ist, liess die Anfrage unbeantwortet.

*Alle Namen sind der Redaktion bekannt. Die Autor*innen besuchen das Gymnasium Liceo Artistico in Zürich. Der Text entstand im Rahmen eines Reportage-Projekts in Zusammenarbeit mit Surprise-Reporter Andres Eberhard.

Hintergründe im Podcast: Der Autor spricht im Podcast mit dem Radio­macher Simon Berginz über die Hintergründe der Geschichte. Mehr auf: surprise.ngo/talk 13


Endlich vereint Familiennachzug Sechs Jahre waren Hosaena und ihr Sohn Sabriel getrennt,

er im Sudan, sie in der Schweiz. Das Wiedersehen war zum Greifen nahe, doch dann kam Corona. Protokoll einer bangen Geschichte mit Happy End. TEXT UND FOTOS  KLAUS PETRUS

14

Surprise 491/21


Als die Eritreerin Hosaena Misgina sich über ihren Sohn beugte und ihn aus dem Schlaf küsste, dachte Sabriel wohl, es werde ein kurzer Abschied. Seine Mutter würde den Bus in Richtung Grenze nehmen, sie würde gewiss den ganzen Tag brauchen, um in den Sudan zu gelangen, dort, so hatte sie ihm Tage zuvor erklärt, werde sie mehr Geld verdienen als hier in Keren. Ob der kleine Sabu ihr glaubte? Warum gehst du allein, nimm mich mit, habe er geflüstert und ihre Hand auf seine Brust gedrückt. Alles wird gut, habe sie zu ihm gesagt, schon bald werde ich dich zu mir holen. So Gott will. Das war am 21. August 2014, an einem Donnerstag, um fünf Uhr früh. Hosaena war damals dreissig, ihr Sohn Sabriel sechseinhalb. Aus dem Tag des flüchtigen Abschieds wurden Wochen, aus Wochen Monate, und aus den Monaten wuchsen lange Jahre der Erwartung, der Pein, der erschöpften Freude. Zehn Kinder waren sie, zwei früh verstorben, aufgewachsen in einem Dorf nahe Keren, einer Stadt mit 120 000 Einwohner*innen im Landesinnern von Eritrea. Viel hatten sie nicht zum Leben. Mit sieben Jahren zog Hosaena zu ihrer ältesten Schwester, die schon verheiratet war und ein Kind hatte, wo sie, wenn sie nicht gerade in der Schule war, im Haushalt half, fünf Jahre lang. Wieder bei den Eltern im Dorf, kehrte Hosaena nach einem Jahr nach Keren zurück, dort besuchte sie eine Klosterschule, später, mit sechzehn, lebte sie bei einer Familie, die ein italienisches Hotel besass, dort arbeitete sie als Mädchen für alles. Anstrengend sei es gewesen, sagt Hosaena heute, doch sie konnte weiter zur Schule, was ihr schon damals das Wichtigste war. In dieser Zeit lernte Hosaena den Vater von Sabriel kennen. Es war eine Liebe voller Hoffnung, so glaubte sie. Doch als sie schwanger wurde, wies der Mann sie zurück, eine Heirat, befand er, sei ausgeschlossen: er christlich-orthodox, sie katholisch. Die Eltern hielten zu Hosaena, auch ihre Geschwister standen ihr bei, und doch, plötzlich war sie allein. Die Jahre danach waren hart. Hosaena arbeitete als Lehrerin, unterrichtete Mathematik und Sprachen, sie bot sich als Haushaltshilfe an, hatte immer zwei oder drei Jobs zugleich. Und nie reichte das Geld. An trüben Tagen dachte sie daran, fortzugehen aus Eritrea, an einen Ort, wo sie Perspektiven hat und unbeschwert an eine Zukunft denken kann. Doch sie zögerte. Hoseana will selbst entscheiden Dann aber, im August 2014, fasste Hosaena den Entscheid, sie wollte durch die Wüste und übers Meer nach Europa. Wohin genau, das spielte keine Rolle, sie kannte diese Länder nicht. In ein paar Wochen würde sie das Festland erreichen, wenn alles gut ging, dann könnte sie Arbeit suchen, Geld verdienen, weiterschauen. Das war der Plan. Und Sabriel, der kleine Sabu? Er sollte bei ihrer Schwester bleiben und glauben, seine Mutter sei bloss über der Grenze im benachbarten Sudan. «Die Rechnung war schnell gemacht: Entweder ich überlebe, dann hole ich Sabu zu mir, irgendwann. Oder ich sterbe unterwegs, dann lebt wenigstens mein Sohn weiter», sagt Hosaena, sechs Jahre später, auf einem weissen Sofa in ihrer Wohnung nahe dem Thunersee, und es sind Tränen in ihren Augen. Schon als kleines Mädchen wollte Hosaena von niemandem abhängig sein und selber entscheiden. Als der Vater ihr einen Mann zur Heirat anbot – Hosaena war fünfzehn Jahre alt –, sagte sie: Erst will ich zur Schule! Und als die Mutter sich beschwerte, dass ihre Tochter die Kaffeezeremonien versäumte, wo immer Surprise 491/21

so viel und lange geredet wird, sagte diese: Keine Zeit, es wartet ein Buch auf mich! Beide akzeptierten all ihre Entscheide. Auch als sie sich auf die grosse Reise begab, als Frau und mutterseelenallein – sie umzustimmen, das wussten die Eltern, wäre zwecklos gewesen. Zwei Tage und eine furchtbare Nacht Als Hosaena Ende August 2014 die Grenze zum Sudan überquerte, rief sie zuhause an, beruhigte die Schwester, erkundigte sich nach Sabriel («mit ihm reden, das konnte ich nicht, hätte ich seine Stimme gehört, wäre er noch tiefer in meinem Herzen gewesen»). Dann suchte sie nach Schleppern, die sie durch die grosse Wüste bringen. Doch alles zog sich hin. Es vergingen Tage und Wochen.

«Mit meinem Sohn reden, das konnte ich nicht, hätte ich seine Stimme gehört, wäre er noch tiefer in meinem Herzen gewesen.» HOSAENA ME YER

Bis Hosaena Anfang Oktober auf einem Lastwagen nach Libyen gebracht wurde, wo sie abermals einen Monat steckenblieb, in engen, stickigen Räumen, mit hundert anderen Geflüchteten. Dann endlich bekam sie das OK für die Fahrt über das Mittelmeer, zwei Tage und eine furchtbare Nacht dauerte sie. Es war anfangs November, als Hosaena die Küste Italiens erreichte. Drei Wochen später und nach einer langen Zugfahrt, am 25. November 2014, stellte sie in Vallorbe im Kanton Waadt einen Antrag auf Asyl – 96 Tage und 6000 Kilometer von zuhause entfernt. Von Vallorbe wurde Hosaena nach Burgdorf gebracht und wenige Wochen später in eine neue Asylunterkunft nach Aeschiried mit Sicht auf den Thunersee. Dort besuchte sie Deutsch- und Computerkurse, sie nahm an einem Beschäftigungsprogramm teil, schnitt Büsche und Bäume. Und lernte Dani kennen («es war der 23. Mai 2015, ich weiss es noch genau»), mit dem sie sich zum Kaffee traf, einmal die Woche, und so erzählten sie einander ihre Geschichten: Sie vom kleinen Dorf bei Keren und von ihrem Sohn, der zuhause auf sie wartete, und er von seiner erwachsenen Tochter, vom Leben in Reichenbach im Kandertal und davon, wie sehr sie ihm gefalle. Heute sitzt Daniel Meyer auf dem weissen Sofa neben Hosaena und lacht: «Hätte mir einer gesagt, dass ich mit Mitte fünfzig noch einmal Vater werde, ich hätte ihm den Vogel gezeigt.» Seit Oktober 2018 sind die beiden verheiratet, Sohn Carlos kam im Februar 2017 auf die Welt. Damals telefonierte Hosaena jeden 15


Sonntag mit Sabriel, der inzwischen bei einer anderen Schwester im Sudan lebte, sie erzählte ihm von der Schweiz und dass sie die Sprache lerne, noch auf Asyl warte, sich schon bald Arbeit suche, und immer wieder: dass er, Sabu, sich noch gedulden müsse. «Dass ich schwanger war, sagte ich ihm erst, als ich im neunten Monat war. Ich wusste ja nicht, wie er reagieren würde. Nach der Geburt schickte ich ihm per Whatsapp ein Bild, Sabu hat sich so gefreut über seinen Bruder.» Zu jener Zeit war Hosaenas Herz oft finster, sie wusste kaum weiter: Existenzängste, eine krebskranke Schwester, das ewige Warten auf die Papiere, die quälende Frage, ob ihr Sohn sie nicht vergessen werde, irgendwann. Schon drei Jahre waren vergangen, seit sie ihn das letzte Mal gesehen hatte.

«Ich wusste immer, dass Mami mich holen wird.» SABRIEL

Als Hosaena im Sommer 2017 die Aufenthaltsbewilligung B bekam und damit finanziell auf sich selbst gestellt war, nahm sie kleinere Arbeiten an, sie verkaufte das Strassenmagazin Surprise, und Daniel Meyer half mit, wo er nur konnte. Bis zum 26. Oktober 2018, als er auf seiner schwarzen Triumph nach Thun unterwegs war, ihn ein Fahrzeug von hinten packte, er quer über die Strasse flog und mit offenem Bein und Handbruch liegenblieb. Zwei bange Wochen verbrachte Daniel im Spital. Dann kam der Papierkram – SUVA, IV, RAV –, der sich zu einem Berg türmte, eine einzige grosse Last. Und die dumpfe Gewissheit, dass er, ein Sportler im Herzen, wohl nie mehr wird unbeschwert rumtollen können, tschutten und secklen mit den beiden Jungs. Den beiden Jungs: «Ja, für mich stand nie ausser Frage, wir holen den Sabu in die Schweiz, er gehört zur Familie», sagt Daniel, der sich immer noch am Aufrappeln ist und hofft, schon bald wieder sechzig Prozent zu arbeiten, und der auch sagt: «Diese Zeit hat Hosaena und mich zusammengeschweisst.» Und dann noch Corona Eigentlich wäre Sabriel bereits über ein Jahr bei den Meyers, so lange bemühen sie sich schon. Doch etwas kam immer dazwischen. Einmal war Hosaenas Aufenthaltsbewilligung das Problem, ein andermal fehlten Papiere, es brauchte das schriftliche Einverständnis des Vaters, den man in Eritrea zuerst ausfindig machen musste, dann musste Sabriels Geburtsurkunde mithilfe von Kurieren über die Grenze in den Sudan gebracht werden, zu guter Letzt verlangte das Staatssekretariat für Migration SEM von Mutter und Sohn einen DNA-Test. Als die Dokumente endlich beisammen waren und jeder Stempel an seinem Ort, brach im März die Corona-Pandemie aus und alle Verfahren wurden zwischenzeitlich eingestellt. Dann, am 31. August, später Nachmittag, kam per Email die Bestätigung für das Visum, und Daniel schenkte Sekt ein und Hosaena griff zum Handy, sie rief die Eltern an, ihre Schwester und Sabu: nani, akairigin – endlich! 16

Keine vierzehn Tage später, am 12. September, flog Hosaena in den Sudan, es war zwei Uhr in der Nacht, als sie beim Haus der Schwester ankam und ihren Sohn ein zweites Mal aus dem Schlaf küsste, 2214 Tage nach ihrem letzten Abschied. «Ich habe ihn geweckt, wir haben uns umarmt, wir haben geweint.» Eine Woche später betrat Sabriel in Thun, nur wenige Minuten vom Schloss Schadau entfernt, die kleine 4-Zimmer-Wohnung der Meyers. Ob sie je die Hoffnung verloren habe, dass ihr Sohn irgendwann wieder bei ihr sein wird? «Nie», sagt Hosaena. Und Sabriel, der jetzt neben seiner Mutter sitzt, sagt: «Ich wusste immer, dass Mami mich holen wird.» «Wir mussten uns aneinander gewöhnen», sagt Hosaena: sie an einen Buben, der ihr die ersten Jahre seines Lebens so vertraut war wie kein anderer Mensch und den sie jetzt neu kennenlernen muss; der kleine Carlos an einen Bruder, der plötzlich alle Aufmerksamkeit auf sich zieht und dann noch Blin, die Sprache seiner Mutter, spricht; ihr Mann Daniel an einen Jungen, der schon bald ein Teenie sein wird mit allem Drum und Dran; und Sabriel an eine Familie, die er nicht hatte, an die Schule, die fremde Sprache, die Kleider, den Scooter, den ersten Schnee – und daran, dass er seine Grosseltern in dem kleinen Dorf auf einem Hügel nahe von Keren noch viele Male vermissen wird. Noch immer, sagt Hosaena, gebe es diese Momente, da ihr alles wie ein Traum vorkomme – wenn sie in der Küche steht oder früh morgens aus dem Bett steigt und Sabriel an ihr vorbeihuscht, einfach so, da frage sie sich: Ist das mein Junge, ist das mein Sabu? Ist er es wirklich?

Ein Recht auf Familie Artikel 14 der schweizerischen Bundesverfassung bildet die allgemeine Grundlage für den Familiennachzug. Gemäss diesem Recht muss es einer Person grundsätzlich möglich sein, die Kontakte zu ihren Familienmitgliedern zu pflegen und nicht von ihnen getrennt zu werden. In der Schweiz wurden zwischen Januar und Juli 2020 19 405 Fälle von Familiennachzug registriert; 10 520 waren Familienangehörige von EU-/EFTA- Staatsbürger*innen (vor allem Deutschland, Italien und Frankreich), 8885 waren Familienangehörige von Drittstaatenangehörigen. Dabei sind die Auflagen sehr unterschiedlich. Für EU-/EFTA-Angehörige ist das Freizügigkeitsabkommen massgebend, für Angehörige aus Drittstaaten hingegen das rigidere Ausländergesetz und für Flüchtlinge das Asyl- und Ausländergesetz. Organisationen wie Caritas kritisieren, dadurch werde das Prinzip der Rechtsgleichheit untergraben. Sie fordern, dass die im Ausländerrecht bestehenden Benachteiligungen gegenüber Nicht-EU/EFTA-Angehörigen abgeschafft und das Recht zum Nachzug demjenigen des Freizügigkeitsrechts angepasst wird: Alle müssten gleichermassen das Recht haben, Ehegatten, eingetragene Partner sowie Kinder und StiefKP kinder bis 21 Jahre nachzuziehen.

Surprise 491/21


Vom kleinen Baby in Eritrea zum grossen Bruder in einer Schweizer Familie: Sabriel findet sich gut ein in sein neues Leben.

Surprise 491/21

17


«Klimaschutz lohnt sich für alle» Umwelt Reto Knutti gehört zu den führenden Klimaforschern weltweit.

Ein Gespräch über brennende Wälder, die Lehren der Corona-Krise und die Unwahrscheinlichkeit des Weltuntergangs. INTERVIEW  SIMON JÄGGI

18

Surprise 491/21


FOTO: ROLAND SCHMID

Klimawandel, der ins Auge sticht: Schwindender Rhonegletscher wird mit Tüchern vor der Sonne geschützt.

Herr Knutti, war 2020 für das Weltklima ein gutes Jahr? Die Luftqualität hat sich als Folge von Corona kurzfristig verbessert, der CO2-Ausstoss ist 2020 leicht gesunken. Aber die industrielle Produktion ist noch immer da. Die Heizungen laufen weiter, wir müssen immer noch essen. Dies zeigt, dass wir das Klima mit einem Lockdown nicht retten können. Wir lösen es nur mit einer Dekarbonisierung, dem Ausstieg aus fossilen Energiequellen. Immer wieder erreichen uns alarmierende Meldungen von Höchsttemperaturen in der Arktis, von tauenden Permafrostböden und Waldbränden. Die CO2-Konzentration in der Luft steigt weiter stark an. Gleichzeitig arbeiten immer mehr Länder und Firmen an einer drastischen Reduktion der Emissionen. Wo stehen wir? Einzelne Katastrophen lassen sich medial gut verkaufen. Es stellt sich jeweils die Frage, wie repräsentativ diese sind. Überraschend waren für mich die Waldbrände in Kalifornien und Australien, die man so früh nicht in diesem Ausmass kommen sah. Dabei war der Klimawandel vermutlich nicht der einzige Faktor. Im Wesentlichen entwickelt sich das Klima so, wie wir es vorausgesagt haben. Der Rückgang des Meereises, die Temperaturanstiege, das entspricht ziemlich genau unseren Vorhersagen. Nur können sich die Leute unter den Prognosen der Wissenschaft oft wenig vorstellen. Wenn dann die ersten Ereignisse und Bilder davon auftauchen, reagieren sie anders, als sie es selbst erwarten. Der Mensch bezeichnet sich gerne als rationales Wesen. Die meisten unserer Entscheide treffen wir aber aufgrund von Emotionen, das zeigt die Forschung. Für den Klimaschutz wäre es also besser, wenn gewisse Extremereignisse früher eintreffen würden, da sie, wie etwa die Waldbrände in Australien, die Menschen wachrütteln? Das klingt etwas blöd, aber es stimmt. Dies zeigen auch Umfragen. Wenn Florida oder New Orleans von einem grossen Wirbelsturm getroffen werden, steigt die Bereitschaft für Klimaschutz kurzfristig massiv an. Der Mensch ist sehr empfänglich für solche Ereignisse. Als Naturwissenschaftler finde das etwas tragisch. Es zeigt, dass die meisten Menschen kaum fähig sind, faktenbasierte Entscheide zu treffen. Unser letztes Gespräch liegt zwei Jahre zurück, die Klimabewegung stand noch ganz am Anfang. Damals machten Sie im Gespräch einen etwas resignierten Eindruck. Sind Sie heute zuversichtlicher, dass wir die Klimaziele von Paris einhalten werden? Ja, ich bin optimistischer. Vor den Klimastreiks passierte eigentlich nichts. Die Fakten waren seit Langem bekannt, aber niemand wollte handeln. Ich habe den Eindruck, dass die vergangenen zwei

Surprise 491/21

19


FOTO: MANUEL RICKENBACHER

Jahre in der öffentlichen Wahrnehmung viel bewirkt haben. In der Wirtschaft, der Politik, aber auch der Gesellschaft insgesamt. Der Klimawandel wurde von einem links-grünen Weltretter-Anliegen zum Mainstream. Inzwischen sagt auch eine Partei wie die FDP, wir müssen handeln. Wenn dann Joe Biden wieder dem Klimaabkommen beitritt, haben wir mit China, der EU und England sechzig Prozent aller weltweiten CO2-Emissionen unter einem Netto-Null-Ziel. Und auch immer mehr Firmen erkennen, dass wir endlich handeln müssen. Auch aufgrund von sachlichen Risikoüberlegungen. Aber die Ankündigung von Zielen ist das eine, die Umsetzung bekanntlich etwas anderes. Gemessen am CO2-Ausstoss hat sich noch wenig verändert, das gilt auch für die Schweiz. Ist das globale Umdenken auch ein Erfolg der Wissenschaft? Die erarbeiteten wissenschaftlichen Grundlagen sind zentral. Der Druck aber kam von der Gesellschaft, vor allem der Jugend. Die Politik liess sich von den Hunderttausenden treiben, die für den Klimaschutz auf die Strasse gingen. Der Dialog zwischen Wissenschaft und Politik ist besonders in der Schweiz ungenügend, andere Länder machen das besser. In Deutschland gibt es einen Wissenschaftsbeirat der Regierung, mit dem sich Angela Merkel regelmässig trifft. Was wird passieren, wenn es bei den Ankündigungen bleibt und der CO2-Ausstoss weiter steigt wie bisher? Er wird mit Sicherheit nicht mehr so steigen wie bisher, weil das ökonomisch keinen Sinn mehr ergibt. Kohle ist tot, die Preise sind viel zu hoch und steigen weiter. Ein Teil des Ausstosses wird damit auf jeden Fall zurückgehen. Man kommt im Moment auch etwas weg von diesen Horrorszenarien, wo man den Trend der letzten Jahrzehnte einfach extrapoliert hat.

«Vielleicht ist es einfach das Naturell des Menschen, dass wir immer erst dann reagieren, wenn es schon weh tut.» RE TO KNUT TI

47, ist Professor für Klimaphysik an der ETH Zürich und gehört zu den Leitautor*innen von Berichten des Weltklimarates IPCC.

20

Eine fünf Grad wärmere Erde wird es also nicht geben? Mit den beschlossenen Massnahmen steuern wir auf eine drei bis vier Grad wärmere Erde zu. Auch das ist immer noch zu viel. Im letzten Jahrhundert hatten wir eine Erwärmung von einem Grad und die Auswirkungen sind deutlich. Mit einem Grad kann man noch umgehen, mit dem zweiten knapp und mit dem dritten wird es extrem schwierig. Wie müssen wir uns denn eine drei Grad wärmere Erde vorstellen? Einige Küstenabschnitte wären überschwemmt, es gäbe keine Gletscher mehr, viele Tier- und Pflanzenarten würden aussterben. Ein solcher Planet wäre zwar nicht unbewohnbar, doch es wäre dies eine Welt, die völlig anders aussieht als jene, die wir heute kennen. Gewisse Akteur*innen in der Klimabewegung setzen auf Weltuntergangszenarien und sprechen von einer unbewohnbaren Erde. Es gibt auch Sachbücher, die solche Szenarien beschreiben. Sie sagen nun, unbewohnbar wird die Welt nicht. Wem soll man glauben? Auch innerhalb der Klimabewegung machen gewisse Gruppen Aussagen, die wissenschaftlich unhaltbar sind. Extinction Rebellion ist so ein Beispiel; einige Anhänger*innen verbreiten das Szenario, dass Milliarden von Menschen in den nächsten Jahrzehnten aussterben. Dafür gibt es wissenschaftlich keinerlei Hinweise. Es wird auf beiden Seiten des Spektrums oft faktenfrei diskutiert. Surprise 491/21


Wie kann man sich in dieser Diskussion orientieren? Wer zuverlässige Fakten sucht, darf sich nicht an eine Person halten. Es gibt zahlreiche Berichte, in denen Dutzende von Forscher*innen ihr Wissen zusammentragen. Der Bericht vom Weltklimarat gehört dazu. Das sind zuverlässige Quellen. Man muss nicht den Teufel an die Wand malen, damit allen klar wird, dass wir jetzt handeln müssen. Es gab im vergangenen Jahr viele hoffnungsvolle Signale. Die EU hat angekündigt, bis 2050 klimaneutral zu werden. Ein Meilenstein für den Klimaschutz? Es ist das, was die Wissenschaft seit Langem sagt, und das ist, was nötig ist. Nur so können wir die Klimaziele von Paris noch einhalten. Wenn der ganze Planet bis 2050 auf Netto-Null ist, haben wir gute Chancen, dass wir die Klimaziele von Paris erreichen. Die Klimabewegung fordert Netto-Null bis 2030. In BaselStadt wird die Bevölkerung darüber abstimmen. Ist dies aus wissenschaftlicher Sicht ein vernünftiges Ziel? Früher als 2050 wäre sicher besser, aber es wird bald einmal unrealistisch. Netto-Null bis 2030 wäre schweizweit machbar, wenn wir einen grossen Teil der Emissionen im Ausland kompensieren. Aber im eigenen Land ist das innerhalb von zehn Jahren mit unserem heutigen System nicht umzusetzen. Die Entscheidungsprozesse und technologischen Erneuerungsraten lassen das nicht zu. Für Schlagzeilen sorgten im vergangenen Jahr auch die Ankündigungen von grossen Ölfirmen wie BP und Shell. Auch sie wollen bis 2050 klimaneutral werden. Kritiker*innen sprechen von Greenwashing. Wie schätzen Sie das ein? Das sind sicher wichtige Signale. Diese Konzerne haben sich solchen Zielen lange Zeit entgegengestellt und den Klimawandel geleugnet oder kleingeredet. Während über fünfzig Jahren hat die Erdölindustrie viel Geld bezahlt, um die Politik zu manipulieren und die Bevölkerung in die Irre zu führen. Einhalten können sie ihre Klimaziele aber nur dann, wenn sie viel Geld in Technologien investieren, mit denen der Atmosphäre CO2 entzogen wird. Wie gross ist das Potenzial solcher technologischen Lösungen? Es gibt vielversprechende Projekte. Etwa die Speicherung von CO2 im Gestein, das funktioniert bereits heute. Solche Technologien sind aber kein Freipass, damit die Menschheit weitermachen kann wie bisher. Das ist weder technisch möglich noch ökonomisch sinnvoll. Es ist viel günstiger, den Ausstoss zu minimieren, als das CO2 wieder aus der Luft zu holen. Zurzeit stossen wir jedes Jahr vierzig Milliarden Tonnen CO2 aus, das sind unvorstellbar grosse Mengen. Die Speicherung ist der Notnagel für das, was wir bis 2050 nicht schaffen. Die Corona-Krise stellt die Gesellschaft und die Politik vor ähnliche Herausforderungen wie der Klimawandel. Was für Lehren können wir daraus ziehen? Man kann viele Analogien zum Klimawandel finden. Es sind die genau gleichen Mechanismen und Fragen, die sich stellen. Wir haben in der Pandemie deutlich gesehen, was passiert, wenn die Politik zu wenig auf die Wissenschaft hört: Dann fliegt es einem um die Ohren. Wir sind voll in die zweite Welle reingerannt, obSurprise 491/21

wohl wir sie haben kommen sehen. Aber vielleicht ist es einfach das Naturell des Menschen, dass wir immer erst dann reagieren, wenn es schon weh tut. Wie kann es gelingen, die Bevölkerung für die Umsetzung der Klimaziele rechtzeitig ins Boot zu holen? Man muss den Menschen klarmachen, dass wir vom Mikado wegkommen müssen – dieser Idee, dass verloren hat, wer sich zuerst bewegt. Klimaschutz lohnt sich für jedes Land, das ein bisschen langfristig denkt. Wie schon gesagt, das ist viel günstiger, als wenn wir nichts tun und dann die Folgen bekämpfen müssen. In der Vermittlung können Vorbilder eine wichtige Rolle spielen, da sehe ich viel Potenzial. Ich denke zum Beispiel an die Kirchen, die Kunstszene, den Musikbereich, den Sport. Wenn mehr prominente Akteure zu mehr Klimaschutz aufrufen, erreichen wir nochmals ein ganz anderes Publikum. Sie erwähnen immer wieder den ökonomischen Wert des Klimaschutzes. Haben wir nicht auch eine ethische Verantwortung, dass wir unsere Ökosysteme für die Nachwelt erhalten? Natürlich haben wir das, und das Grundprinzip der nachhaltigen Entwicklung steht weit oben in der Bundesverfassung. Leider ist es mit der Ethik oft schnell vorbei, wenn es ums Geld geht. Oder wie Bertolt Brecht es formulierte: «Erst kommt das Fressen, dann kommt die Moral.» Dabei gibt es keinen Widerspruch zwischen Klimaschutz und Wirtschaft oder zwischen Corona und Wirtschaft. Was der Natur und Gesellschaft nützt, hilft langfristig auch der Wirtschaft. Klimaschutz lohnt sich auch aus einer Risikoperspektive heraus. Sie gehören weltweit zu den führenden Forschenden bei einem Thema, das sehr emotional diskutiert wird. Sie entwickeln Szenarien, die Angst machen können. Wie gelingt es Ihnen, einen kühlen Kopf zu bewahren? Auch ich habe zwei kleine Kinder. Wenn ich mich frage, wie unsere Welt in fünfzig Jahren aussieht, dann zerreisst es mich manchmal. Diese Momente gibt es. Aber in der Wissenschaft und der Kommunikation versuche ich das auszublenden. Meine Aufgabe ist, objektiv und analytisch zu informieren und zu erklären. Ich sehe mich wie ein Notarzt, der einen kühlen Kopf bewahren und dafür sorgen muss, dass der Patient nicht stirbt. Was die Politik und die Gesellschaft mit diesem Wissen tun, das liegt aus­ serhalb von unserem Einflussbereich. Und das gilt es zu akzeptieren. Zum Schluss: Das Jahr 2021 wird für den Klimaschutz ein gutes Jahr, wenn ...? ... wenn wir aus der Pandemie lernen, wie wir mit Krisen, Expertenwissen und Risiken umgehen. Und erkennen, dass wir bestehende Strukturen durchbrechen müssen und können. Einerseits materiell, indem wir die Finanzspritzen nach Corona für eine nachhaltige Wirtschaft einsetzen. Andererseits mental, indem wir unsere Pläne nicht daran ausrichten, was uns heute möglich erscheint, sondern daran, was für die Zukunft nötig ist.

21


FOTO: TUOMAS UUSHEIMO

Ein Ort zum Verweilen – ohne Konsum- und sonstige Zwänge.

Wissen in der Werkstatt Bibliotheken Dienten sie in den Siebzigerjahren noch praktisch nur dem Lernen

und vertieften Lesen, werden Bibliotheken heute zunehmend zu sogenannten Dritten Orten: Räume, die Ausgleich und Gemeinschaft ermöglichen. TEXT  MANUELA DONATI

22

Surprise 491/21


«Bibliotheken sind ein Spiegelbild der Gesellschaft», sagt Heike Ehrlicher, stellvertretende Geschäftsleiterin des Dachverbandes BiblioSuisse. Sie sind heute weit entfernt von reinen ‹Büchergestellen› – so die Übersetzung aus dem Griechischen – die schon im alten Ägypten mit beschrifteten Papyrusrollen gefüllt wurden. Sie sind neutrale, zensurfreie Orte, die versuchen, den unterschiedlichen Bedürfnissen eines heterogenen Publikums gerecht zu werden, sowie die sprachliche und kulturelle Vielfalt zu fördern. Im Versuch, alle Bevölkerungsgruppen abzuholen, bieten Bibliotheken für fremdsprachige Erwachsene oder Senioren mit Sprachcafés, fremdsprachiger Literatur oder Unterstützung bei digitalen Themen wichtige Alltagshilfe. Auch wenn das Buch in regelmässigen Abständen immer mal wieder für tot erklärt wurde: Bibliotheken können anders als der traditionelle Buchmarkt, dessen Existenz vom Internet bedroht wird, mit digitalen Möglichkeiten und Angeboten bestens ko-existieren, wie Heike Ehrlicher sagt. «Durch den gesellschaftlichen Wandel mussten sich die Bibliotheken mit technischen Entwicklungen beschäftigen und das machen sie auch weiterhin.» Das zeigte sich schon Ende des 20. Jahrhunderts, als Bibliotheken immer mehr zu sogenannten «Dritten Orten» wurden. Den Begriff hat der US-amerikanische Soziologe Ray Oldenburg 1989 geprägt. Er bezeichnet neben dem Familien- und dem Arbeitsleben einen Ort des Ausgleichs und Austauschs, der grundsätzlich allen Bevölkerungsschichten offensteht. Hier kommen Menschen hin, um für kurze Zeit ohne Konsum- oder sonstige Zwänge zu verweilen. Während heute die gemütliche Sitzecke als Lese- und Verweilmöglichkeit wie selbstverständlich zu unserem Bild einer Bibliothek gehört, waren Bibliotheken bis in die 1970-Jahre stille, leere Räume, die man zum Lernen besuchte – oder dann, um die ausgeliehenen Bücher zu retournieren. Experimente zwischen Bücherregalen Im Geist dieses Dritten Ortes bildeten sich in vielen Bi­ bliotheken Makerspaces, per Definition «offene Werkstätten zum Wissens- und Fähigkeitsaustausch». Orte also, an denen sich Menschen mit gemeinsamen Interessen treffen, um unter professioneller Anleitung eine neue Fähigkeit erlernen. Vor gut zehn Jahren kam der Trend aus den USA auch in Europa an. Bibliotheken hatten bei diesem Prozess eine zentrale Funktion. Einerseits, indem sie den Raum für diesen Austausch boten. Anderseits, indem sie oft gleich selbst die Rolle der Wissensvermittlerin übernahmen. Die Stiftung Bibliomedia unterstützt Bibliotheken bei dieser Aufgabe: Seit Sommer 2019 können öffentliche Bibliotheken Makerspace-Toolboxen ausleihen. Diese laden zum Experimentieren und Lernen ein und fassen verschiedene Technologien in den Kategorien Arts & Crafts, Elektronik, Robotik sowie Audio/Video zusammen. Mit Angeboten wie diesen nehmen Bibliotheken nur scheinbar den Fokus vom klassischen Buch mit zwei Deckeln, wie Heike Ehrlicher erklärt. Mit Angeboten der Makerspaces würden Kund*innen angesprochen, die nicht primär buchaffin seien. «Und diese finden dann vielleicht in einem zweiten Schritt zum Buch, sei es in gedruckter Surprise 491/21

Makerspaces sind Orte, an denen Menschen gemeinsam eine neue Fähigkeit erlernen. Vor gut zehn Jahren kam der Trend aus den USA in Europa an. Bibliotheken hatten dabei eine zentrale Funktion. oder digitaler Form.» Die Offenheit in Bezug auf technische und digitale Möglichkeiten hat den Bibliotheken auch in der Corona-Pandemie geholfen. Öffentliche Bibliotheken erweiterten noch im Lockdown den E-Book-Bestand und nutzten Kuriere für Buchlieferungen, um den Betrieb trotzdem aufrecht zu erhalten. Heike Ehrlicher ist überzeugt «Die Pandemie hat für eine tiefere Etablierung der Bibliotheken in der Gesellschaft gesorgt.» Dies bestätigen die Erfahrungen von Sibylle Rudin. Sie ist stellvertretende Direktorin der Stadtbibliothek Basel und für die Leseförderung zuständig. «Gerade durch den Lockdown haben wir gemerkt, wie wichtig das Angebot der Stadtbibliothek Basel ist, da es schmerzlich vermisst wurde. Wir bieten normalerweise Live-Erlebnisse, die Beziehungsarbeit steht im Vordergrund. Kinder brauchen auch ausserhalb der Familie Bezugspersonen, die sie in andere Welten mitnehmen.» Lesen für die eigene Zukunft Dass Lesen weitaus mehr bedeutet, als Bücher zu verstehen, betont auch Lukas Hefti, Leiter Zentrale Dienste bei der Kantonsbibliothek Thurgau. «Lesen hat in unserer Gesellschaft einen ähnlichen Stellenwert wie Gehen, Sehen oder Sprechen», sagt er. «Lesen erleichtert den Alltag, schafft Vorteile in Aus- und Weiterbildung und öffnet Türen in die Berufswelt und in die Fantasie.» Eine hohe Lesekompetenz zu haben, heisst gemäss der OECD-Definition, «geschriebene Texte zu verstehen [..] und sich mit ihnen auseinanderzusetzen, um eigene Ziele zu erreichen.» Lesekompetenz ist prägend für Leben und Zukunft. Doch gerade diese elementare Kompetenz hat bei Schweizer Schüler*innen in den letzten Jahren gemäss PISA-Studie drastisch abgenommen. In der letzten Studie von 2018 sind deren Leistungen gar unter dem OECD-Durchschnitt. Was genau die Gründe sind – die grosse Konkurrenz von Netflix und Co. beispielsweise –, ist offen. Es besteht Handlungsbedarf, sagt Heike Ehrlicher. «Leseförderung muss im frühen Kindesalter ansetzen, um allfällige 23


Schwächen bereits vor Schuleintritt zu verbessern», fordert sie. «Lesen muss systematisch und unabhängig von Einkommen, Bildungsgrad und Herkunft der Eltern gefördert werden.» Bibliotheken sind bei der Vermittlung von Lesekompetenz neben Schule und Elternhaus schon lange eine wichtige Säule. Schweizweit bieten rund 700 öffentliche Bibliotheken sogenannte Buchstart-Anlässe an. Das vom Bund unterstützte Projekt will der Tatsache, dass rund 800 000 Erwachsene in der Schweiz Mühe mit Lesen und Schreiben haben, präventiv begegnen. Unter professioneller Begleitung von Leseanimator*innen wird Kindern im Vorschulalter und ihren Eltern die Freude am Versen und kurzen Geschichten nähergebracht. Vielerorts erfreuen sich Buchstart-Events grosser Beliebtheit, in Frauenfeld etwa ziehen die Anlässe jährlich bis zu 400 Besucher*innen an, wie Lukas Hefti von der Kantonsbibliothek Thurgau sagt. Einbinden statt stören lassen Während in Frauenfeld bei der Vermittlungsarbeit ausschliesslich auf das vorschulische Alter fokussiert wird, sieht die GGG Stadtbibliothek Basel die Leseförderung in Ergänzung zum schulischen Angebot als ihre Kernaufgabe. Den Kindern mit Büchern eine Freude zu machen, betrachte sie als Privileg, sagt Sibylle Rudin. «So können sie ohne Zielvorgaben und Notenstress in die Welt des Lesens eintauchen.» Bibliotheken können Kinder und Jugendlichen einen sicheren Ort mit einfachem Zugang zu Medien bieten, sagt Heike Ehrlicher. Nicht immer ist das in Schule und Elternhaus gegeben. Gerade Jugendliche profitieren sehr von Bibliotheken als Dritten Orten – für sie neben Jugendhäusern oft einer von wenigen Orten, an dem sie sich ohne Zwang aufhalten können. «Jugendliche verbrachten schon oft viel Zeit in den Bibliotheken, aber nicht immer war der Umgang mit ihnen einfach», bestätigt Sibylle Rudin. Ein schönes Beispiel, wie ein Problem zur Lösung wurde, ist die bibliotheksinterne Jugendarbeit der GGG Stadtbibliothek Basel. Durch das schweizweit einzigartige Projekt haben Jugendliche nun in vier Filialen einen Aufenthaltsort, den sie mitgestalten können ohne dabei den Betrieb und andere Besucher*innen zu stören. Dafür sorgen seit 2012 zwei Mitarbeiter*innen der Jugendarbeit Basel. Ihre Aufgaben sind mit dem Beschrieb «Hausaufgaben und Bewerbungen begleiten, Ideen umsetzen, spielen, reden» offen gefasst. Partizipative Leseförderungsprojekte wie ein Comic-Workshop oder Kunstwerke aus alten Büchern zu basteln, schliessen den Bogen wieder zum Bibliotheksangebot. Diese Projekte liegen Sibylle Rudin am Herzen: «Wir haben eine einmalige Chance, junge Menschen ein Stück ihres Weges zu begleiten und zu unterstützen. Gerade für Jugendlichen mit Migrationshintergrund ist unser Angebot sehr wertvoll und erfüllt neben pädagogischen auch sozialintegrative Aspekte.» Sie hofft, die Jugendlichen würden sich einst als Erwachsene gerne an den Ort zurückerinnern und mit den eigenen Kindern wiederkommen. 24

Oodis Architektur entspricht dem zentralen Stellenwert, der Bibliotheken in Finnland zukommt.

Die Bibliothek Oodi in Helsinki Oodi (deutsch: Ode) versteht sich als Beitrag an eine gleichberechtigte Gesellschaft. Hier finden sich 3D-Drucker, Tonstudio, Nähmaschinen und Arbeitsräume. Mitarbeiter vermitteln neuste Technologien und Fähigkeiten, die für die gesellschaftliche Teilhabe vonnöten sind.

Surprise 491/21


FOTOS: KUVIO

Kleinkunstwerk im Taschenformat Buch Ursus Wehrlis Tagebuch «Heute habe ich beinahe was erlebt» liest sich wie die Niederschrift der Denkkapriolen seiner Bühnenfigur. Ursus Wehrli ist seit über 33 Jahren Teil des Kabarett-Duos Ursus & Nadeschkin, als schlaksige, linkisch-gelenkige Gestalt neben der kanariengelb-frechen Nadeschkin, jedes Programm ein Feuerwerk an absurd-komischen, mal überbordend lauten, mal poetisch leisen Ein- und Ausfällen. Doch was macht Ursus, wenn der Vorhang fällt? Hat seine Bühnengestalt ein Leben danach? Offensichtlich ja. Das jedenfalls legt das Tagebuch «Heute habe ich beinahe was erlebt» des Autors Ursus Wehrli nahe, ein über Jahre entstandenes Sammelsurium von «vermutlich fiktiven Ereignissen» (Quelle: Wikipedia), die sich wie die Niederschrift der Denkkapriolen seiner Bühnenfigur lesen. Genau so absurd, fantasievoll, versponnen, poetisch, philosophisch – und süchtig machend. Man kann gar nicht mit dem Lesen aufhören, blättert sich von Einfall zu Einfall, möchte sich und andere am liebsten auf das Nächste und Übernächste hinweisen. Und so blättert man sich durch diese mit leichter Hand mit Tiefgang gewürzten Schreibfarbtupfer zwischen Notiz, Gedicht und Kürzestprosa. Ursus erzählt von Pedalofahrten mit der amerikanischen Aussenministerin, von einem Fussballspiel mit Karajan oder einem Gesprächsabend mit seiner Katze bei Wein und Kaminfeuer. Er ist Teilnehmer beim Reimverein «Dichtungsring», an einer Kundgebung für unschlüssige Demonstrant*innen oder einer Selbsthilfegruppe für unbekannte Weltstars. Er übt wegen Schlechtwetter Waldlauf in der Tiefgarage, begleitet einen Maulwurf unter Tage oder macht eine praktische und umweltfreundliche Erfindung, die nur einen Nachteil hat: Sie funktioniert nicht. Dazwischen gestreut finden sich Sentenzen wie «Die Lösung: Von nun an tue ich einfach so, als ob es mir gutginge.» und «Heute hatte ich kein Glück. Gegen Abend kam auch noch Pech dazu.» oder «… ich ging Richtung Horizont. Der ist immer eine Reise wert.» Und klopft der Tod an die Tür, heisst es freundlich und bestimmt: Wir brauchen nichts. Und weil Ursus Wehrli zudem auch ein wunderbarer Grafiker ist, ist dieses Tagebuch auf eine verspielte, kunstvoll-schlichte Weise gestaltet: liniert, handgeschrieben, mit «vermutlich fiktiven» Flecken und Kritzeleien. Ein Kleinkunstwerk im Taschenformat. Fazit: Unbedingt lesen. Lieblingsstelle: «Heute wurde ich beim Warten auf den Bus von der Muse geküsst, dabei CHRISTOPHER ZIMMER kenne ich sie gar nicht.»

FOTO: ZVG

Im finnischen Gesetz ist festgehalten, dass Bibliotheken allen ermöglichen müssen, Teil der Gesellschaft zu sein.

Surprise 491/21

Ursus Wehrli: Heute habe ich beinahe was erlebt. Ein Tagebuch, Kein & Aber 2020 CHF 20.00

25


Zürich «ZÜRICH 1980. Bewegter Alltag: Fotografien von Gertrud Vogler & Poetische Provokationen», Ausstellung, bis So, 7. März, Mi bis So 14 bis 18 Uhr, ZAZ Zentrum Architektur Zürich, Höschgasse 3. zaz-bellerive.ch

Die Zürcherin Gertrud Vogler (1936 – 2018) begann Mitte der 1970er-Jahre zu fotografieren. Ihr Augenmerk galt von Anfang an Menschen in alltäglichen Situationen oder aber sozialen Bewegungen. Als Auftragsfotografin arbeitete sie zunächst für die Annabelle und Vorwärts, später übernahm sie die Bildredaktion der WOZ. Bekannt wurde sie etwa mit ihren Aufnahmen vom Platzspitz. Vogler hat in besetzten Gebäuden fotografiert und hielt die alltäglichen Veränderungen des öffentlichen Raums durch Werbetafeln, Baustellen oder Neubauprojekte fest. Die Bilder der 80er-Bewegung zeigen weniger den Ausnahmezustand mit Tränengas und Strassenschlachten, sondern die Momente der Ruhe vor und nach dem Sturm. Dazu Flugblätter, Transparente und Wandsprayereien. Diese Fotos führen zur zweiten Ausstellung «Poetische Provokationen». Sie schaut sich die Sprache der Bewegung genauer an, die eine Gegenöffentlichkeit schaffen wollte. DIF

On Tour «PlaySchubert – Die Winterreise im 21. Jahrhundert» Kunst- und Musikprojekt; Südpol Luzern, Fr, 15. bis Do, 28. Januar; Kunsthalle Wil / Hof zu Wil, Fr, 29. Januar bis So, 7. Februar; Postremise Chur, Do, 25. Februar bis Sa, 6. März; Royal Baden, So, 7. März bis So, 21. März; Humbug /  PadelHalle Basel, Fr, 9. April bis So, 18. April; Talhof / GBS St. Gallen, Fr, 30. April bis Mi, 12. Mai; eigene Kopfhörer und Smartphone mitbringen; für Menschen ohne gibt’s ein kleines Kontingent an Mp3-Playern. playschubert.ch «Fremd bin ich eingezogen, fremd zieh’ ich wieder aus.» Da ist eine Ich-Figur, die vergeblich nach Ruhe sucht. Eingepfercht in Grossstadtgassen und einer engen Wohnung, verschliesst sie sich ihren eigenen Gefühlen und stürzt sich in mentale Isolation. Musiker Valentin Baumgartner bringt mit seiner Urbanmusic-Band Extrafish und der Sängerin und Projektleiterin Mona Somm Schuberts «Winter-

26

reise» musikalisch und inhaltlich ins 21. Jahrhundert. Das Publikum reist mit, visuell, mittels Multikanal-Videoinstallationen der Videound Performance-Künstlerin Caroline Schenk. Der Neuzeit-Wanderer wühlt sich durch die Welt, während sich die Umwelt in ein kafkaeskes Bühnenbild verwandelt. Fremd in der Welt und fremd dem eigenen Leben gegenüber – die Videos spüren mit zeitgenössischen Performancestrategien den Motiven und grossen Themen der Romantik nach: der Sehnsucht und inneren Kälte des Winterreisenden. DIF

Bern «SUPER – Die zweite Schöpfung», Ausstellung, bis So, 11. Juli, Di bis So 10 bis 17 Uhr, Museum für Kommunikation, Helvetiastrasse 16. mfk.ch Biotechnologie, Künstliche Intelligenz und Digitalisierung ermöglichen Selbstoptimierungen und Neuerfindungen in einer neuen Dimension. Einer Dimension, die viele grundsätzliche ethische Fragen stellt. Das fängt bei der Genmanipulation sozusagen erst an – da haben wir eine ausgelagerte

Gebärmutter, die einem die Last abnimmt und die Mann-Frau-Rollen gerechter verteilt, dafür sonst etwas unheimlich ist. Da ist der Apfel, der schneller wächst, oder das künstlich entwickelte Lamm, das uns vielleicht zurufen möchte: Dürft ihr das? Und da sind Schnelllese-Methoden, die an sich recht attraktiv sind. Nur: Wenn sich alle selbst optimieren, wo bleiben dann die Menschen abseits der Norm? Wo bleibt das Imperfekte in der perfekten Gesellschaft? Ist es ein Wert, eine Bereicherung – oder stört es nur noch? «SUPER – Die zweite Schöpfung» kombiniert die Mittel von Theater und Ausstellung: Schauspieler*innen (echte, normale Menschen) sind Teil des Geschehens. DIF

Stefanie Grob und die Musikerin und Schauspielerin Sybille Aeberli finden: Ein Moment, um zu fragen, was uns das Stimmrecht gebracht hat. Sie beleuchten Historisches aus konsequent weiblicher Sicht, finden groteske Unterschiede zwischen His- und Her-Storys, korrigieren die gängige Geschichtsschreibung. Und wenn sie schon dabei sind, schreiben sie auch grad noch die Biologiebücher um. DIF

BILD(1): SCHWEIZERISCHES SOZIALARCHIV, BILD(2): HEINI FÜMM

Veranstaltungen

Zürich «Stimmt!», Theater, Do, 21. Januar, 19 Uhr, So, 24. Januar, 17 Uhr, Mo, 25. Januar, 19 Uhr, Mi, 27. / Do, 28. Januar, je 19 Uhr und Sa, 30. Januar, 17 Uhr; sogar theater, Josefstrasse 106. sogar.ch Wir sind im Jubiläumsjahr des Frauenstimmrechts (50 Jahre, nöd nüüt!). Die Spoken-Word-Literatin ANZEIGE CANDELA

SERGI

NATHALIE

RAMÓN

PAULA

PEÑA

LÓPEZ

POZA

BAREA

USERO

«Eine Feel-Good-Komödie, engagiert und feministisch.» SCREEN INTERNATIONAL

Der neue Film von

Icíar Bollaín

(«Yuli»)

LA BODA DE ROSA ROSAS HOCHZEIT

AB 14. JANUAR IM KINO

*Boda_Rosa_InsD_90x118_surprise.indd 1

01.12.20 13:44

Surprise 491/21


die Zeiten, da Autotypen Übernamen hatten, sind vorbei. Die Beziehung zum Auto ist nicht mehr so emotional, wie es die Autowerbung immer noch suggeriert, ausser bei jungen Männern, die hin und wieder durch Lärmemissionen und Geschwindigkeitsübertretungen von sich reden machen.

Tour de Suisse

Pörtner in Oberwil, BL Surprise-Standort: Coop Mühlematt Einwohner*innen: 11   266 Sozialhilfequote in Prozent: 3,0 Anteil ausländische Bevölkerung in Prozent: 23,6 Wähler*innenstärkste Partei in Prozent (2019): FDP 22,6

Die Tramfahrt beginnt mit einer Durchsage. Verschiedene Linien sind blockiert, es kommt zu «situativen Umleitungen». Wegen eines Unfalls. «Ui, jesses Gott!», reagiert ein Passagier, obwohl unsere Linie nicht betroffen ist. Ein Bub vermutet, dass ein Auto ins Tram gefahren ist, und schildert detailliert den möglichen Unfallhergang. Die Tramhaltestelle heisst Hüslimatt, liegt aber in einem Industriegebiet mit grossen Schachtelbauten, in denen Autogaragen, Motorradhändler, Betten-, Gewerbe- und Teppichhäuser sowie Freikirchen untergebracht sind. Die fadengerade Langmattstrasse erinnert an Einfallstrassen in amerikanischen Kleinstädten, irgendwo weit draussen auf dem Land. Die Polizei fährt mit einem Kleinbus vorbei, auf dem Geräte montiert sind, deren Zweck nicht gleich ersichtlich ist. Sieht ähnlich aus wie ein Google-Maps-Auto. Surprise 491/21

Was machen eigentlich Autohändler unter der Woche oder überhaupt den ganzen Tag? Die Kundenfrequenz ist tief, an einem Dienstagnachmittag werden kaum Autos verkauft. Trotzdem sind die Autohäuser offen. Irgendwo in einem kleinen Glaskabäuschen inmitten der auf Hochglanz polierten, wohlriechenden Kraftfahrzeuge sitzt eine Person und ist, wenn man hereinkommt, sehr beschäftigt. An dieser Strasse kann man zwischen verschiedenen Marken aussuchen, hier steht das schicke Gebäude der Luxusmarke, hier das nüchterne der ehemaligen Qualitätsmarke, von der wohl nur Aficionados ein Modell der letzten zwanzig Jahre nennen könnten. Weiter hinten die Marke aus dem Nachbarland, die vor allem die Neuauflage eines Kleinwagens anbietet, der im Volksmund einen liebevoll-verächtlichen Übernamen hatte. Das wird diesem Modell kaum passieren,

Auch Betten und Küchen scheinen an Dienstagnachmittagen wenig nachgefragt zu werden. Trotzdem öffnen Gewerbetreibende ihre Läden. Sie müssen mit einer positiven Grundeinstellung ausgestattet sein, um an Tagen wie diesen keine Zweifel an ihrem Geschäftsmodell aufkommen zu lassen. Ein junger Mann mit Sporttasche hat den Gang drauf, den Leute draufhaben, wenn sie ins Training gehen. Tatsächlich befindet sich unweit der Freikirche ein Fitness­ center, von beidem gibt es mehrere an dieser Strasse. Auf hundert Metern Länge finden sich drei verschiedene religiöse Gemeinschaften, auch das erinnert an Amerika. Eine Querstrasse weiter hinten, hinter der Autowaschanlage und dem Lieferanteneingang des Einkaufszentrums Mühlematt, findet sich tatsächlich eine Matte oder ein Feld, eine ländliche Grünfläche mit Wanderwegen und schmucken Familiengärten. Sanft flattern die auf der Rückseite des Baucenters angebrachten Werbefahnen im Wind, vor einem Wasserturm oder zumindest etwas, das wie einer aussieht und das Amerikagefühl ein weiteres Mal verstärkt. Nur die freundlich grüssenden Spaziergänger*innen erinnern daran, wo man sich wirklich befindet.

STEPHAN PÖRTNER  Der Zürcher Schriftsteller Stephan Pörtner besucht Surprise-Verkaufsorte und erzählt, wie es dort so ist.

27


IND 0.– S AB 50 ABEI! SIE D

Die 25 positiven Firmen Unsere Vision ist eine solidarische und vielfältige Gesellschaft. Und wir suchen Mitstreiterinnen, um dies gemeinsam zu verwirklichen. Übernehmen Sie als Firma soziale Verantwortung. Unsere positiven Firmen haben dies bereits getan, indem sie Surprise mindestens 500 Franken gespendet haben. Mit diesem Betrag unterstützen Sie Menschen in prekären Lebenssituationen dabei auf ihrem Weg in die Eigenständigkeit. Die Spielregeln: 25 Firmen oder Institutionen werden in jeder Ausgabe des Surprise Strassenmagazins sowie auf unserer Webseite aufgelistet. Kommt ein neuer Spender hinzu, fällt jenes Unternehmen heraus, das am längsten dabei ist. 01 Sublevaris GmbH, Brigitte Sacchi, Birsfelden 02 sinnovec GmbH, Strategie & Energie, Zürich 03 Barth Real AG, Zürich 04 Simplution Software GmbH 05 Ueli Mosimann, ehemals Abt. Ausbildung Coop 06 Fontarocca Natursteine, Liestal 07 Christine Meier, raum-landschaft, Zürich 08 www.deinlohn.ch 09 TopPharm Apotheke Paradeplatz 10 Arbeitssicherheit Zehnder, Zürich 11

Paul + Peter Fritz AG, Zürich

12 SHI, Haus der Homöopathie, Zug 13 Madlen Blösch, Geld & so, Basel 14 onlineKarma, Online-Marketing mit Wirkung 15 Gemeinnützige Frauen Aarau 16 Shinsen AG, Japanese Food Culture, Zürich 17 Halde 14, Baden 18 Markus Böhmer, Bildhauer, Birsfelden/Basel

SURPLUS – DAS NOTWENDIGE EXTRA Das Programm

Wie viele Surprise-Hefte müssten Sie verkaufen, um davon in Würde leben zu können? Hätten Sie die Kraft?

Wussten Sie, dass einige unserer Verkaufenden fast ausschliesslich vom Heftverkauf leben und keine Sozialleistungen vom Staat beziehen? Das fordert sehr viel Kraft, Selbstvertrauen sowie konstantes Engagement. Und es verdient besondere Förderung. Mit dem Begleitprogramm SurPlus bieten wir ausgewählten Verkaufenden zusätzliche Unterstützung. Sie sind mit Krankentaggeld und Ferien sozial abgesichert und erhalten ein Nahverkehrsabonnement. Bei Problemen im Alltag begleiten wir sie intensiv.

Eine von vielen Geschichten Josiane Graner, Juristin, wurde in ihrem Leben von schweren Schicksalsschlägen getroffen. Sie kämpft und steht immer wieder auf. Ein Geschäftsprojekt, das sich zum Flop entwickelte, führte sie 2010 zu Surprise. Ihr Geschäftspartner hatte sich ins Ausland abgesetzt und sie mit dem Schuldenberg allein gelassen. Um ihren Lebensunterhalt aus eigener Kraft zu bestreiten, verkauft Josiane Graner in Basel das Strassenmagazin. Zudem ist sie für den Aboversand zuständig. Dank des SurPlus-Programms erhält sie ein ÖVAbonnement und Ferientaggeld. Diese Zusatzunterstützung verschafft der langjährigen Surprise-Verkäuferin etwas mehr Flexibilität im knappen Budget.

Die ganze Geschichte lesen Sie unter: surprise.ngo/surplus

19 AnyWeb AG, Zürich 20 Kaiser Software GmbH, Bern 21 SPEConsult GmbH, Jona 22 Düco Wahlen AG, PVC + ALU-Sockelleisten 23 Yolanda Schneider, Logo!pädin, Liebefeld 24 Maya-Recordings, Oberstammheim 25 Beat Vogel, Fundraising-Datenbanken, Zürich Möchten Sie bei den positiven Firmen aufgelistet werden? Mit einer Spende ab 500 Franken sind Sie dabei. Spendenkonto: PC 12-551455-3 IBAN CH11 0900 0000 1255 1455 3 Surprise, 4051 Basel Zahlungszweck: Positive Firma und Ihr gewünschter Namenseintrag Sie erhalten von uns eine Bestätigung. Kontakt: Nicole Huwyler Team Marketing, Fundraising & Kommunikation T +41 61 564 90 50 I marketing@surprise.ngo

Unterstützen Sie das SurPlus-Programm mit einer nachhaltigen Spende Derzeit unterstützt Surprise 15 Verkaufende des Strassenmagazins mit dem SurPlus-Programm. Ihre Geschichten stellen wir Ihnen hier abwechselnd vor. Mit einer Spende von 6000 Franken ermöglichen Sie einer Person, ein Jahr lang am SurPlusProgramm teilzunehmen.

Unterstützungsmöglichkeiten: · 1 Jahr: 6000 Franken · ½ Jahr: 3000 Franken · ¼ Jahr: 1500 Franken · 1 Monat: 500 Franken · oder mit einem Beitrag Ihrer Wahl.

Spendenkonto: PC 12-551455-3 IBAN CH11 0900 0000 1255 1455 3 | Vermerk: SurPlus Oder Einzahlungsschein bestellen: T +41 61 564 90 90 info@surprise.ngo | surprise.ngo/spenden Herzlichen Dank!


Wir alle sind Surprise Film «Im Spiegel»

#486, 488: Flucht, Asyl und Sexarbeit

«Ziehe den Hut» Mich hat der Film «Im Spiegel» berührt. Er zeigt, dass es jeden treffen kann. Sogar die Menschen, welche noch vor dem Rutsch in die Armut nie gedacht hätten, dass ihnen das passieren würde. Diese Menschen in Armut ohne Dach über dem Kopf haben Würde, Demut, Werte und die Begabung, sich mit Nächstenliebe zufrieden zu geben. Ich ziehe den Hut vor ihnen. Viele könnten vom Staat Geld beziehen, wollen es aber nicht. Auch die Coiffeuse ist ein sehr mitfühlender Mensch.

«Schwer zu verdauen, doch menschlich»

G. WIEDERKEHR, Oberwil

#477, 482, 485, 487: Serie zur IV

«Menschenverachtend»

Was die Redaktion des Surprise mit der Behandlung des Themas IV zustande gebracht hat – insbesondere das Interview von Andres Eberhard mit Herrn Ritler –, ist eine ausgezeichnete journalistische Leistung von grosser gesellschaftlicher und politischer Bedeutung. Ich gratuliere der Surprise-Crew zu diesem Coup, der manche gestandene und gut dotierte Redaktions-Crew von Print-, Audio-, TV- und Internet-Medien alt aussehen lässt.

D IV isch eifach en erbarmigslosi, narzisstischi Institution, dere s Wohl vo de Mensche und s Schicksal, das hinder dene Erkrankige steckt sch...egal isch. I eusem Fall het d IV en Familie zerstört und eusi wirtschaftlichi Exischtenz grad dezue. Wenn ich chönnt, würd ich d IV verklage wege seelischer Grausamkeit, Verleumdig, Beleidigung und mehrere Verstöss gege d Menscherecht. Was Mensche während de IV Abklärige müend erdulde, isch menscheverachtend!

G. WIEDERKEHR, Oberwil

J. FREIS, auf Facebook

Impressum Herausgeber Surprise, Münzgasse 16 CH-4051 Basel Geschäftsstelle Basel T +41 61 564 90 90 Mo–Fr 9–12 Uhr info@surprise.ngo, surprise.ngo Regionalstelle Zürich Kanzleistrasse 107, 8004 Zürich T  +41 44 242 72 11 M+41 79 636 46 12 Regionalstelle Bern Scheibenstrasse 41, 3014 Bern T  +41 31 332 53 93 M+41 79 389 78 02 Soziale Stadtrundgänge Basel: T +41 61 564 90 40 rundgangbs@surprise.ngo Bern: T +41 31 558 53 91 rundgangbe@surprise.ngo Zürich: T +41 44 242 72 14 rundgangzh@surprise.ngo Anzeigenverkauf Stefan Hostettler, 1to1 Media T  +41 61 564 90 90 M+41 76 325 10 60 anzeigen@surprise.ngo Redaktion
 Verantwortlich für diese Ausgabe: Klaus Petrus (kp) Diana Frei (dif), Sara Winter Sayilir (win) Reporter: Andres Eberhard (eba), Simon Jäggi (sim) T +41 61 564 90 70 F +41 61 564 90 99
 redaktion@strassenmagazin.ch leserbriefe@strassenmagazin.ch

Surprise 491/21

Ständige Mitarbeit
 Rosmarie Anzenberger (Korrektorat), Simon Berginz, Monika Bettschen, Rahel Nicole Eisenring, Carlo Knöpfel, Yvonne Kunz, Isabel Mosimann, Fatima Moumouni, Stephan Pörtner, Priska Wenger, Christopher Zimmer Mitarbeitende dieser Ausgabe Sophia Bernasconi, Tamara Burri, Manuela Donati, Urs Habegger, Dina Hungerbühler, Lucille Lantheaume, Pascal Mora Wiedergabe von Artikeln und Bildern, auch auszugsweise, nur mit Geneh­ migung der Redaktion. Für unverlangte Zusendungen wird jede Haftung abgelehnt. Gestaltung und Bildredaktion Bodara GmbH, Büro für Gebrauchsgrafik Druck  AVD Goldach Papier  Holmen TRND 2.0, 70 g/m2, FSC®, ISO 14001, PEFC, EU Ecolabel, Reach Auflage  31 500 Abonnemente  CHF 189, 25 Ex./Jahr Helfen macht Freude, spenden Sie jetzt. Spendenkonto:
PC 12-551455-3 IBAN CH11 0900 0000 1255 1455 3

Schon seit Langem lese ich das Surprise. Aber ich muss sagen: In den letzten Monaten haben Sie sich selbst noch einmal übertroffen! Die Beiträge sind toll, tief und wichtig. Allein die letzten beiden Ausgaben: das Interview mit Herrn Ziegler, der klare Worte findet, die doppelseitige Infografik zu den Fluchtwegen (sie hängt bei mir an der Wand), die berührende und aufstellende Geschichte über die Familie aus Aserbaidschan sowie die Reportagen von Klaus Petrus – dieses Mal über eine Sexarbeiterin –, die sowieso zum Besten gehören: oft schwer zu verdauen, aber doch immer menschlich. Will sagen: Sie sind in meinen Augen drauf und dran, eines der besten Schweizer Magazine zu werden. J. ISELI,  Bern

Ich möchte Surprise abonnieren 25 Ausgaben zum Preis von CHF 189.– (Europa: CHF 229.–) Verpackung und Versand bieten Strassen­verkäufer*innen ein zusätzliches Einkommen Gönner-Abo für CHF 260.– Geschenkabonnement für: Vorname, Name Strasse PLZ, Ort

Rechnungsadresse: Vorname, Name Strasse PLZ, Ort Telefon E-Mail Datum, Unterschrift 491/21

Bitte heraustrennen und schicken an: Surprise, Münzgasse 16, CH-4051 Basel, info@surprise.ngo

29


FOTO: BODARA

Surprise-Porträt

«Ich bin froh, dass ich eine Maske tragen darf» «Ich heisse Marius-Sorin Lacatus und lebe seit zwei Jahren in der Schweiz. Ursprünglich komme ich aus Rumänien. Dort bin ich in einem kleinen Dorf aufge­ wachsen, die nächste grosse Stadt mit einer richtigen Schule war 50 km entfernt. Dies ist ein Grund, weshalb ich nur die Grundschule besucht habe. Den meisten Familien fehlt das Geld, um die Kosten der weiteren Schulbildung zu stemmen, geschweige denn, um die Reise- und Unterhaltskosten der Kinder beim Schul­ besuch in grösseren Ortschaften zu finanzieren. Ich war sehr traurig, als ich meine Ausbildung beenden musste. Gerne hätte ich Mathematik, Chemie oder Geografie studiert. Meiner Familie fehlte nicht nur das Geld für die Schule, mein Vater erkrankte mit nur 33 Jahren an Diabetes und später an einer chronischen Pankreatitis. Daher musste ich als ältester Sohn sehr früh für meine Familie sorgen. Ich verdiente unser Geld als Hilfsarbeiter und Tagelöhner. In Rumänien kann das Leben sehr hart sein, wenn du keine wohlhabende Familie und somit keine gute Schulbildung hast. Viele vergessen aber, dass man auch in der Schweiz mit diesen Voraussetzungen hinten anstehen muss – sozial und im Arbeitsmarkt. Als Saisonarbeiter verdiente ich knapp 3200 Franken pro Monat, obschon ich elf Stunden am Tag schuftete, inklusive samstags. Vor einiger Zeit habe ich endlich eine Stelle in einer Verpackungsfirma gefunden. Auch dort waren die Arbeits­ bedingungen hart, aber fair. Leider bekam ich bald Pro­ bleme mit den Bandscheiben und darf nun laut Arztzeugnis nicht mehr als 10kg heben. Dies ist mit dieser Stelle leider nicht kompatibel – darum muss ich schauen, wie es weitergeht. Um doch etwas Geld zu verdienen, verkaufe ich Surprise in Winterthur, Hombrechtikon und Egg. Mir gefällt, dass wir uns alle auf Augenhöhe begegnen. Ich verbringe viel Freizeit mit den Surprise-Kolleg*innen, zum Beispiel beim wöchentlichen Fussballtraining. Die Leute aus dem Team sind für mich ein wichtiger Familienersatz ­geworden. Auch auf der Strasse begegnen mir die Leute meistens mit Respekt. Als ich das erste Mal Hefte verkaufte, machte ich mir grosse Sorgen. Ich konnte nicht viel mehr als «Grüezi» sagen, trotzdem waren die Leute sehr nett, korrekt und gaben sich Mühe, mich zu verstehen. Das schätze ich sehr.

30

Marius-Sorin Lacatus, 30, hätte gerne Naturwissenschaften studiert; jetzt wartet er auf ein Wunder.

Leider ist der Verkauf aufgrund der Corona-Pandemie stark zurückgegangen. Gleichzeitig bin ich froh, dass ich im Moment eine Maske tragen darf. Ich schäme mich, wenn die Leute meine schlechten Zähne sehen. Daher versuche ich, mein Gesicht so wenig wie möglich zu zeigen. Früher hielt ich oft das Heft vor mein Gesicht. Mit der Maske geht das Verstecken meiner Zähne einfacher. An meiner vererbten Zahnkrankheit leide ich, seit ich denken kann. Ich habe schon fast die Hälfte meiner Zähne verloren. Mein Zahnfleisch ist oft geschwollen und die Zähne sind regelmässig entzündet – das ist sehr schmerzhaft. Wenn es so weitergeht, werde ich im Alter von 35 Jahren keine Zähne mehr haben. Eine Behandlung inklusive Operation und Zahnimplantate würde über 40 000 Franken kosten. Als ich realisierte, dass ich auch mit einem «Schweizer» Lohn wahrscheinlich niemals genug sparen kann, um mir meinen Traum von gesunden Zähnen zu ermöglichen, traf mich das hart. Bisher konnte ich für alle Lebensherausforderungen immer eine Lösung finden. Bei meinen Zähnen scheint das nicht so. Aber als Optimist hoffe ich doch, dass ich durch ‹ein Wunder› nach der Corona-Krise meinen Mund nicht mehr verstecken muss.»

Aufgezeichnet von DINA HUNGERBÜHLER

Surprise 491/21


Kultur Kultur

Solidaritätsgeste Solidaritätsgeste

STRASSENSTRASSENCHOR CHOR

CAFÉ CAFÉ SURPRISE SURPRISE

Lebensfreude Lebensfreude Entlastung Entlastung Sozialwerke Sozialwerke

BEGLEITUNG BEGLEITUNG UND UND BERATUNG BERATUNG

Unterstützung Unterstützung

Job Job

STRASSENSTRASSENMAGAZIN MAGAZIN

ZugehörigkeitsZugehörigkeitsgefühl gefühl EntwicklungsEntwicklungsmöglichkeiten möglichkeiten

STRASSENSTRASSENFUSSBALL FUSSBALL

Erlebnis Erlebnis

Expertenrolle Expertenrolle

SOZIALE SOZIALE STADTRUNDSTADTRUNDGÄNGE GÄNGE

Information Information

PerspektivenPerspektivenwechsel wechsel

SURPRISE WIRKT SURPRISE WIRKT

Surprise unterstützt seit 1998 sozial benachteiligte Menschen in der Schweiz. Unser Angebot wirkt in doppelter Hinsicht – auf den armutsbetroffenen Menschen und auf die Gesellschaft. Wir arbeiten nicht gewinnorientiert, uns ohne staatliche sind aufHinsicht Spenden Fördergelder angewiesen. Spenden auch Sie. Surprise unterstützt seit 1998 sozial benachteiligte Menschenfinanzieren in der Schweiz. Unser Angebot Gelder wirkt inund doppelter – und auf den armutsbetroffenen Menschen surprise.ngo/spenden | Spendenkonto: PC gewinnorientiert, 12-551455-3 | IBAN CH11 0900 0000 1455 3Gelder und sind auf Spenden und Fördergelder angewiesen. Spenden auch Sie. und auf die Gesellschaft. Wir arbeiten nicht finanzieren uns ohne1255 staatliche surprise.ngo/spenden | Spendenkonto: PC 12-551455-3 | IBAN CH11 0900 0000 1255 1455 3

BETEILIGTE CAFÉS BETEILIGTE CAFÉS

Café Café Surprise Surprise – – eine eine Tasse Tasse Solidarität Solidarität Zwei Zwei bezahlen, bezahlen, eine eine spendieren. spendieren.

IN BASEL Bäckerei KULT Riehentorstrasse & Elsässerstrasse | BackwarenOutlet Bohemia | Flore | Haltestelle | FAZ Gundeli IN BASEL| Café-Bar Bäckerei Elisabethen KULT Riehentorstrasse & Elsässerstrasse | BackwarenOutlet Oetlinger | Quartiertreffpunkt | Quartiertreffpunkt Lola Bohemia |Buvette Café-Bar Elisabethen | FloreKleinhüningen | Haltestelle | FAZ Gundeli Les Gareçons to go| Quartiertreffpunkt | Manger & Boire | Da Sonny | Didi Offensiv | Radius 39 Lola Oetlinger Buvette Kleinhüningen | Quartiertreffpunkt Café Spalentorto| go HausBAR Markthalle | Tellplatz | Treffpunkt Les Gareçons | Manger & Boire | Da Sonny |3Didi OffensivBreite | Radius 39 IN BERN Äss-Bar | Burgunderbar | Hallers brasserie | Café Kairo | Café MARTA Café Spalentor | HausBAR Markthalle | Tellplatz 3 | Treffpunkt Breite Café MondiaL | Café Tscharni | Lehrerzimmer | LoLa Lorraineladen | Luna Llena IN BERN Äss-Bar | Burgunderbar | Hallers brasserie | Café Kairo | Café MARTA Brasserie Lorraine Dreigänger | CaféBar Berner Generationenhaus Café MondiaL | Café| Restaurant Tscharni | Lehrerzimmer | LoLa Lorraineladen | Luna Llena Rest. Löscher | Sous| Restaurant le Pont – Reitschule | Rösterei Azzurro Brasserie Lorraine Dreigänger | CaféBar| Treffpunkt Berner Generationenhaus Zentrum 44 | Café Paulus | Becanto | Phil’s| Rösterei Coffee to| go IN BIEL Äss-Bar Rest. Löscher | Sous le Pont – Reitschule Treffpunkt Azzurro Treffpunkt bleu IN| DIETIKON Mis Kaffi INtoFRAUENFELD Be You Café Zentrum 44Perron | Café Paulus Becanto | Phil’s Coffee go IN BIEL Äss-Bar IN LENZBURG Chlistadt | feines Kleines Jazzkantine zum Graben Treffpunkt Perron bleu INKafi DIETIKON Mis KaffiININLUZERN FRAUENFELD Be You Café Meyer KulturbeizChlistadt | Blend Teehaus | Bistro Quai4 Quai4-Markt, Baselstrasse & IN LENZBURG Kafi | feines Kleines IN| LUZERN Jazzkantine zum Graben Alpenquai | Rest. Quai4 Pastarazzi | Netzwerk | Sommerbad Volière& Meyer Kulturbeiz | Blend| Teehaus | Bistro Quai4Neubad | Quai4-Markt, Baselstrasse Restaurant | Arlecchino IN MÜNCHENBUCHSEE tuorina boutique Alpenquai |Brünig Rest. Quai4 | Pastarazzi | Netzwerk Neubad | Sommerbad Volière & café IN MÜNCHENSTEIN Bücher- und Musikbörse IN NIEDERDORF Märtkaffi & am Restaurant Brünig | Arlecchino IN MÜNCHENBUCHSEE tuorina boutique café Fritigmärt IN OBERRIEDEN IN OLTEN Bioland Olten Märtkaffi am IN MÜNCHENSTEIN Bücher-Strandbad und Musikbörse IN NIEDERDORF IN RAPPERSWIL Café good Strandbad IN SCHAFFHAUSEN Kammgarn-Beiz Fritigmärt IN OBERRIEDEN IN OLTEN Bioland Olten IN STEIN AM RHEIN ST. GALLEN S’Kafi IN WIL Caritas Markt RAPPERSWIL CaféRaum good 18 ININ SCHAFFHAUSEN Kammgarn-Beiz IN WINTERTHUR Bistro Dimensione ZUG Podium 41 WIL Caritas Markt STEIN AM RHEIN Raum 18 IN ST. IN GALLEN S’Kafi IN IN WINTERTHUR ZÜRICH Café Zähringer | Cevi Zürich Quartiertreff Enge Bistro Dimensione IN |ZUG Podium 41 Flussbad Unterer Letten | jenseits im Viadukt | Kafi Freud | Kumo6 IN ZÜRICH Café Zähringer | Cevi Zürich | Quartiertreff Enge Sport Bar Unterer Cafeteria Flussbad Letten | jenseits im Viadukt | Kafi Freud | Kumo6 Sport Bar Cafeteria

Weitere Informationen: surprise.ngo/cafesurprise Weitere Informationen: surprise.ngo/cafesurprise


So schützen wir uns gemeinsam beim Magazinkauf! Liebe Kund*innen Wir waren alle lange im Lockdown und können nun dank der gelockerten Massnahmen endlich wieder das Surprise Strassenmagazin verkaufen. Das macht uns sehr froh. Damit dies so bleibt, bitten wir Sie, unsere Verkaufsregeln und die Hygieneregeln des BAG einzuhalten. Vielen lieben Dank!

Halten Sie Abstand.

Zahlen Sie möglichst passend.

Merci für Ihre Solidarität und danke, dass Sie uns treu bleiben. Bis zum nächsten Mal auf der Strasse. Die Surprise Verkäufer*innen.

Wir haben Desinfektionsmittel dabei.

Bei Fragen wenden Sie sich bitte an: info@surprise.ngo


Turn static files into dynamic content formats.

Create a flipbook
Issuu converts static files into: digital portfolios, online yearbooks, online catalogs, digital photo albums and more. Sign up and create your flipbook.