Strassenmagazin Nr. 462 1. bis 14. November 2019
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Sexualität
Einmal im Monat
Sie ist gelähmt, er ist Sexualbegleiter. Wenn er sie besucht, schläft er mit ihr – gegen Bezahlung. Seite 10
GESCHICHTEN GESCHICHTENVOM VOMFALLEN FALLEN UND UNDAUFSTEHEN AUFSTEHEN
CULTURE5.10. – 6.12. SCAPES FILM · FOKUS · KUNST · LITERATUR
MUSIK · TANZ · Menschen, THEATER «Standort «Standort Strasse» Strasse» erzählt erzählt mitmit den den Lebensgeschichten Lebensgeschichten von von zwanzig zwanzig Menschen, wie wie ununCULTURESCAPES.CH terschiedlich terschiedlich diedie Gründe Gründe fürfür den den sozialen sozialen Abstieg Abstieg sind sind – und – und wie wie gross gross diedie SchwierigSchwierigkeiten, keiten, wieder wieder aufauf diedie Beine Beine zuzu kommen. kommen. Porträts Porträts aus aus früheren früheren Ausgaben Ausgaben des des Surprise Surprise Strassenmagazins Strassenmagazins ergänzen ergänzen diedie Texte. Texte. Der Der Blick Blick aufauf Vergangenheit Vergangenheit und und Gegenwart Gegenwart zeigt zeigt selbstbewusste selbstbewusste Menschen, Menschen, diedie es es geschafft geschafft haben, haben, trotz trotz sozialer sozialer und und wirtschaftliwirtschaftlicher cher Not Not neue neue Wege Wege zuzu gehen gehen und und einein Leben Leben abseits abseits staatlicher staatlicher Hilfe Hilfe aufzubauen. aufzubauen. Surprise Surprise hathat siesie mitmit einer einer Bandbreite Bandbreite anan Angeboten Angeboten dabei dabei unterstützt: unterstützt: Der Der Verkauf Verkauf des des Strassenmagazins Strassenmagazins gehört gehört ebenso ebenso dazu dazu wie wie derder Strassenfussball, Strassenfussball, derder Strassenchor, Strassenchor, diedie Sozialen Sozialen Stadtrundgänge Stadtrundgänge und und eine eine umfassende umfassende Beratung Beratung und und Begleitung. Begleitung.
2019
Marta Górnicka «Hymne an die Liebe» © Magda Hueckel
Paweł Pawlikowski «Cold War» 2018 © Filmcoopi Zürich AG
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POLEN
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Kultur Kultur
Solidaritätsgeste Solidaritätsgeste
STRASSENSTRASSENCHOR CHOR
CAFÉ CAFÉ SURPRISE SURPRISE
Lebensfreude Lebensfreude Entlastung Entlastung Sozialwerke Sozialwerke
BEGLEITUNG BEGLEITUNG UND UND BERATUNG BERATUNG
Unterstützung Unterstützung
Job Job
STRASSENSTRASSENMAGAZIN MAGAZIN Information Information
SURPRISE WIRKT SURPRISE WIRKT
ZugehörigkeitsZugehörigkeitsgefühl gefühl EntwicklungsEntwicklungsmöglichkeiten möglichkeiten
STRASSENSTRASSENFUSSBALL FUSSBALL
Expertenrolle Expertenrolle
SOZIALE SOZIALE STADTRUNDSTADTRUNDGÄNGE GÄNGE PerspektivenPerspektivenwechsel wechsel
Surprise unterstützt seit 1998 sozial benachteiligte Menschen in der Schweiz. Unser Angebot wirkt in doppelter Hinsicht – auf den armutsbetroffenen Menschen und auf die Gesellschaft. Wir arbeiten nicht gewinnorientiert, uns ohne staatliche sind aufHinsicht Spenden Fördergelder angewiesen. Spenden auch Sie. Surprise unterstützt seit 1998 sozial benachteiligte Menschenfinanzieren in der Schweiz. Unser Angebot Gelder wirkt inund doppelter – und auf den armutsbetroffenen Menschen surprise.ngo/spenden | Spendenkonto: PC gewinnorientiert, 12-551455-3 | IBAN CH11 0900 0000 1455 3Gelder und sind auf Spenden und Fördergelder angewiesen. Spenden auch Sie. und auf die Gesellschaft. Wir arbeiten nicht finanzieren uns ohne1255 staatliche surprise.ngo/spenden | Spendenkonto: PC 12-551455-3 | IBAN CH11 0900 0000 1255 1455 3
Erlebnis Erlebnis
TITELBILD: FABIAN MELBER
Editorial
Falsche Scham Wir alle kennen dieses Gefühl, wenn uns etwas peinlich ist. Wenn wir rot werden, uns in Grund und Boden schämen. Schrecklich. Dabei hat die Scham auch etwas Gutes. Sie beschwichtigt, signalisiert dem Gegenüber: «Ich hab’s kapiert und es ist mir peinlich, alles wieder gut?» Oft lachen wir dann. Doch manchmal ist die Scham auch grausam und klingt wie eine Anklage. «Wie peinlich!», heisst dann: «Schäm dich! Wie kannst du nur!» Christine soll sich schämen, denn sie will Sex. Und das sei peinlich. «Sowas brauchst du doch nicht», das höre sie oft, erzählt sie in unserer Titelgeschichte. «Und schon gar nicht eine wie du.» Christine sitzt im Rollstuhl und trägt Windeln. Lange habe sie gebraucht, um sich nicht mehr für ihren Wunsch nach körperlicher Nähe zu rechtfertigen. Um endlich diese Scham, die gar nicht ihre eigene war, zu überwinden und laut zu sagen: «Ich will Sex.» Inzwischen teilt Christine ihr Verlangen mit einem Sexualbegleiter, der für Geld mit ihr schläft.
4 Aufgelesen 6 Vor Gericht
Zum Ersten, zum Zweiten ... Ausgeschafft?
7 Moumouni
... die Fremde in der Nacht
8 Die Sozialzahl
Der Sozialstaat wirkt (begrenzt)
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Das Beisammensein der beiden berührt – auch weil sie uns dabei zuschauen lassen. Peinlich ist es ihnen nicht. Aber vielleicht uns? Ist es uns peinlich, hinzuschauen? Sind am Ende wir es, die unsere eigene Scham auf sie übertragen? Scham, von aussen aufgezwungen, wirkt wie eine Bestrafung. Wer immer wieder schief angeguckt wird, senkt irgendwann den Blick und zieht sich zurück. Scham kann furchtbar ausgrenzen. Deshalb ist Christines «Ich will Sex» auch ein Ausdruck dessen, sich nicht ausgrenzen zu lassen, sich einen Platz in dieser Welt zu erhalten. Einen, der ihr selbst gehört – weil sie ist, wie sie ist. «Ich bin nicht hier, um so zu sein, wie die anderen mich gerne hätten», sagt Christine. Recht hat sie, finde ich. Doch lesen und schauen Sie selbst.
KL AUS PETRUS
Redaktor
10 Sexualbegleitung
22 Culturescapes
28 SurPlus Positive Firmen
18 Syrien
24 Kino
29 Wir alle sind Surprise Impressum Surprise abonnieren
Nähe auf Zeit
Kindersoldaten
«Big Village»
«Mit Schulden verlierst du deine Freiheit»
25 Die Schweiz schreibt
Gegen Sexismus im Literaturbetrieb
30 Surprise-Porträt
«Das nahm ich so nicht hin»
26 Veranstaltungen 27 Tour de Suisse Pörtner in Herisau
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Aufgelesen
News aus den 100 Strassenzeitungen und -magazinen in 35 Ländern, die zum internationalen Netzwerk der Strassenzeitungen INSP gehören.
Verrottete Kunst Als dem Künstler Alex Stewart bewusst wurde, dass auch Kunst umweltschädlich sein kann, zog er daraus die Konsequenzen. «Ich habe mir den Kopf zerbrochen, wie ich es besser machen kann. Acrylfarbe ist aus Kunststoff, selbst Leinwände sind in Kunststoff verpackt.» So machte sich Stewart daran, seine eigenen umweltfreundlichen Farben herzustellen. Er arbeitet mit Altholz und pflanzlichen Materialien und bezieht gerade das in seine Kunst ein, was die Natur ihm bietet. Für die Ewigkeit sind Stewarts Kunstwerke ganz bewusst nicht gedacht, sie unterliegen, wie alles Natürliche, der Vergänglichkeit. Die meisten seiner Werke zerfallen nach einem halben Jahr oder werden mit Moos zugedeckt. Stewart hat sich damit abgefunden. «Inzwischen schaue ich mit Freude dabei zu, wie meine Kunst allmählich verrottet.» MEGAPHONE, VANCOUVER
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FOTOS: SEBASTIAN SELLHORST
FOTOS: ALEX STEWART
Draussen auf der Strasse Wohin lädt man Gäste ein, wenn man keine eigene Wohnung hat? Die Kommunikationsdesignerin Yoana Todorova stellte unlängst in der Dortmunder Innenstadt ein Wohnzimmer auf und lud zusammen mit Wohungslosen Passantinnen und Passanten zu Gesprächen «auf Augenhöhe» ein. Sie möge die Idee, für einmal die Verhältnisse umzukehren, sagt Todorova. «Wohnungslose laden in ihr Wohnzimmer ein. Die Gäste dürfen Fragen stellen, man lernt sich kennen.» Daraus entstanden spannende Begegnungen, mal ernsthaft, mal lustig und immer offen. Kein Wunder: Zwar hatte das Wohnzimmer draussen auf der Strasse einen Teppich, Sessel, ja sogar Zimmerpflanzen – aber keine Wände. BODO, BOCHUM/DORTMUND
Zu viel Hunger bei zu viel Nahrung Weltweit leiden 21 Millionen Menschen an schwerem Hunger. Diese Zahl ist nun das dritte Jahr in Folge gestiegen. Zwei Milliarden Leute – das ist ein Viertel der Menschheit – haben keine Ernährungssicherheit und müssen regelmässig Mahlzeiten auslassen. Es ist ein Skandal, dass trotz ausreichend vorhandener Nahrung so viele Menschen hungern und daran sterben. Gleichzeitig erhöhen sich nämlich die weltweiten Ernten und Nahrungsvorräte deutlich. Derzeit lagern 853 Millionen Tonnen Weizen, Reis und Mais in den Weltgetreidespeichern. Vor zehn Jahren waren es noch 520 Millionen. HINZ & KUNZT, HAMBURG
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ILLUSTRATION: PRISKA WENGER
Fesseln für Freigänger Strafgefangene in Niedersachsen sollen künftig, wenn sie Ausgang haben, mit einer elektronischen Fussfessel überwacht werden. Auf diese Weise können sie per GPS in Echtzeit überwacht werden. Zudem will die zuständige Justizministerin den Häftlingen weniger Freigang ermöglichen, und zwar nicht wie bisher einmal im Monat, sondern nur noch einmal pro Vierteljahr. Sie begründete ihren Entscheid damit, dass es nicht bloss um die Resozialisierung der Sicherungsverwahrten gehe. Vielmehr müsse auch die Sicherheit der Allgemeinheit gewährleistet werden. ASPHALT, HANNOVER
Armut in Metropolen Armut ist ein Problem von Grossstädten. Besonders im Ruhrgebiet verschärft sich die Lage. Während in vielen ostdeutschen Städten die Armutsquote sinkt, verzeichnen gemäss einer Studie alle 13 Grossstädte im Ruhrgebiet im Zehnjahresvergleich einen zum Teil deutlichen Anstieg. So ist in Gelsenkirchen jeder vierte Bewohner auf Sozialleistungen angewiesen, in Dortmund ist es jede fünfte Bewohnerin. BODO, BOCHUM/DORTMUND
Sorge ums Klima Dreiviertel der Jungen machen sich Sorgen wegen des Klimawandels, so eine Studie zur Fridaysfor-Future-Bewegung. Bei den 14bis 24-Jährigen stimmen 74 Prozent der Aussage zu: «Der Klimawandel macht mir grosse Angst.» Bei den Befragten aller Altersgruppen sind es 6 von 10, wobei sich Frauen offenbar stärker sorgen als Männer. Umgekehrt finden mehr als 25 Prozent aus der Gesamtbevölkerung, dass der Klimawandel überbewertet werde; bei den Jungen sind es sogar nur 18 Prozent. HINZ & KUNZT, HAMBURG
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Vor Gericht
Zum Ersten, zum Zweiten … ausgeschafft? Kaum zwanzig Minuten dauerte der Prozess am Zürcher Obergericht. Der Staatsanwalt argumentierte mit dem Volkswillen: Ausländer, die unrechtmässig Sozialleistungen beziehen, müssen das Land verlassen. In Artikel 5 der Bundesverfassung steht aber auch, dass staatliches Handeln immer verhältnismässig sein soll. In diesem Sinne hält der Anwalt des Beschuldigten entgegen: Der Deliktsbetrag sei zu gering, um einen Landesverweis zu rechtfertigen. Vor allem in die Dominikanische Republik. Denn dann könnte der Beschuldigte sein Kind kaum noch sehen. Ihm ist das Erscheinen erlassen worden. Er könnte ohnehin wenig beitragen, da es um die Frage geht: Ab wann liegt beim Sozialhilfemissbrauch ein schwerer Fall vor? Denn nur dann greift der neue Ausschaffungsautomatismus. Also, was gilt nun? Die 300 Franken, die das Strafgesetzbuch als «geringfügiges Vermögensdelikt» definiert? Oder der Vorschlag der Schweizerischen Staatsanwälte-Konferenz: 3000 Franken? Stimmt, was ein Rechtsgutachten sagt? Dass nämlich auch 30 000 Franken ein leichter Fall sein können – je nach Begleitumständen: Deliktdauer, Beweggründe, kriminelle Energie. Beim Beschuldigten geht es 5334.55 Franken. Er war auf dem RAV gemeldet, erhielt Arbeitslosengeld. Seine finanzielle Lage war prekär. Er befürchtete, seine ExFrau würde ihm das Besuchsrecht bei der Tochter verweigern, sollte er die Alimente nicht bezahlen. Also verschwieg er dem Amt, dass er wieder Arbeit auf dem Bau ge-
funden hatte. Erst nach zwei Monaten meldete er die neue Stelle. Das Amt erstattete Anzeige, und die Sache landete beim Bezirksgericht Winter thur. Dieses beurteilte die Tat als leichten Fall, also kein Landesverweis. Aber nur halbherzig. Zum Deliktsbetrag steht im Urteil: nicht enorm hoch, aber auch nicht marginal. Das Verschulden: nicht erheblich, aber innerhalb des leichten Spektrums doch schwer. Der Weiterzug war absehbar. Der Staatsanwalt will ein Präjudiz für künftige Fälle, fertig Wischiwaschi. Wo bleibt die nach dem Abstimmungsresultat beschworene «pfefferscharfe» Umsetzung des Volkswillens? Für den Souverän ist es meist einfach, über neue Verfassungsartikel zu bestimmen: ja oder nein. Schwerer hat es schon der Gesetzgeber, also das Parlament, wenn es konkretisieren muss, was denn genau der Verfassungsauftrag sein soll. Aber erst die Justiz muss sich in der Praxis mit Details, Unklarheiten und Widersprüchen herumschlagen. Man betreibe hier «Rechtsfortbildung», wie der Gerichtspräsident am Ende des Prozesses verkündet. Es ist die anerkannte demokratische Verantwortung der Gerichte, die Auslegung von Gesetzen und damit die Gesetze selbst weiterzuentwickeln. Dies sei der erste Fall, so der Gerichtspräsident, in dem sich ein kantonales Obergericht zur Frage des Landesverweises bei Sozialhilfemissbrauch äussern wird. Zehn Tage später, ein zweiseitiger Wisch: Auch das Obergericht sieht einen leichten Fall und spricht keinen Landesverweis aus. Es erhöht nur die Busse von 2000 auf 3000 Franken. Das ist dem Staatsanwalt zu lasch: Er will weiter vor Bundesgericht ziehen. Y VONNE KUNZ ist Gerichtsreporterin
in Zürich. Surprise 462/19
ILLUSTRATION: RAHEL NICOLE EISENRING
Ich entscheide mich, die Flasche selbst ordnungsgerecht zu entsorgen, schliesslich hatte ich irgendwo mal gelesen, dass es «unfair» sei, seinen Müll falsch zu entsorgen – eine Kampagne der Stadt Zürich. Also mache ich mich nochmals auf den Weg und laufe zum Glascontainer, ein bisschen stolz, dass ich diese doch sehr schweizerische Entscheidung getroffen habe, und das erst noch nach dem Ausgang. Staatsbürgerschaft, ich komme! Die Swissness schon fast im Blut. Auf halber Strecke fällt mir jedoch ein: Oh nein, es ist ja nach 22 Uhr! Ich bleibe mitten auf der Strasse stehen und werde nicht überfahren. Ausser von meinem eigenen Gedanken: Ich darf die Flasche auf keinen Fall entsorgen! Es ist nach 22 Uhr! Ruhezeiten, Nachtru-he! Ein waschechtes Dilemma: Folge ich der einen Regel, breche ich die andere. Ich bin mir sicher, es ist auch verboten, die Flasche einfach neben den Glascontainer zu stellen.
Moumouni …
… die Fremde in der Nacht Wer in der Schweiz wohnt, muss sich integrieren. Das hört aber scheinbar nie auf. Während so mancher Mensch in dritter Generation immer noch auf das Recht zu wählen wartet oder spart, habe ich nach acht Jahren Lebensmittelpunkt hier immer noch ab und an mal wieder Tiefpunkte des mich Integriertfühlens. Im Folgenden eine Geschichte einer inländischen Ausländerin. Es ist eine laue Nacht in Zürich, ich laufe gut gelaunt nach dem Ausgang nach Hause. Vor der Haustür merke ich, dass ich noch eine Glasflasche in der Hand halte, die letzten Schlückchen habe ich mir für den Weg aufgespart. Nun ist sie leer, ich überlege, was damit tun. Mit hochnehmen? Ich denke mir: Üüh, das ist jetzt nicht so geil, die mit hochzunehmen, unser Glasmüll ist schon am Überlaufen, ist langsam auch ein bisschen Surprise 462/19
eklig – aber das muss ja keiner wissen. Niemand muss wissen, was hinter meiner Tür abläuft, hinter meiner Tür mache ich, was ich will, ich trenne Müll ja schon wie wild, wie lang ich ihn aufbewahre, ist allein mein Problem, immerhin habe ich erst eine Aufenthaltsbewilligung B, vielleicht strenge ich mich bei C noch etwas mehr an. So beschliesse ich, die Flasche nicht mit hochzunehmen. Ich stehe einen Augenblick ratlos herum und schaue umher. Ich könnte sie neben der Haustür stehen lassen. Ich schiele kurz auf den Balkon meiner Nachbarn im Erdgeschoss, ich könnte ihnen die Flasche auf das Balkongeländer stellen, die entsorgen sie sicher auf korrekte Art, das wäre über Umwege sogar ein Punkt! Ich gebe zu, all das kurz gedacht zu haben, aber: Ich habe es nicht gemacht.
Jedenfalls habe ich mich dann entschieden, die Flasche ganz leise in den Container zu werfen. Ich schlich mich also an und streckte meinen Arm in die Containeröffnung rein, damit die Flasche möglichst leise und nicht allzu tief fällt. Doch der Container macht: KLOOOONGGK KRRL! Ich zucke zusammen und renne weg. Ich glaube zu hören, wie sich Fenster öffnen, ein Landsmann, dem Dialekt nach ein assimilierter Bayer, ruft mir nach: «A Rueh is, sonst schepperts!» Die echten indigenen Schweizer schauen stumm und missbilligend aus ihren Fenstern, ich ducke mich und robbe die letzten Meter zu meiner Haustür, man weiss nie. Verschreckt und ausser Atem halte ich im Treppenhaus inne. Dieses Land macht mich zur Ganxterin, denke ich, zünde eine Zigarette an, blase den Rauch an das geschlossene Fenster und drücke sie dann auf der sauberen Treppe aus, wo sie bis morgen liegen bleibt. FATIMA MOUMOUNI ist Glascontainerganxterin, liebt es draussen zu recyclen und findet es unfair, dass man nach 22 Uhr keine Flaschen mehr entsorgen darf.
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INFOGRAFIK: BODARA ; QUELLE: BUNDESAMT FÜR SOZIALVERSICHERUNGEN (2019): STATISTISCHER SOZIALBERICHT SCHWEIZ 2019, NEUCHÂTEL
Die Sozialzahl
Angesichts dieser Erfolge muss zu denken geben, dass unter Berücksichtigung aller materieller Hilfe durch den Sozialstaat die Armutsquote nicht auf 0 Prozent sinkt. Im Gegenteil: Die Armutsquote steigt seit einigen Jahren wieder kontinuierlich an. 2013 lag sie noch bei 5,9 Prozent.
Der Sozialstaat wirkt (begrenzt) Stellen wir uns eine Schweiz ohne Sozialstaat vor. Es gäbe keine AHV, keine Gelder aus der Arbeitslosenkasse, keine IV-Rente, keine Stipendien, keine Sozialhilfe. Nur Einkommen aus Erwerbsarbeit, Vermietung und Vermögen. In dieser Schweiz wäre 2017 rund ein Drittel der Schweizer Bevölkerung armutsbetroffen gewesen. Diese Armutsquote sinkt, wenn wir die Leistungen für Rentnerhaushalte als «erworbene» Einkommen betrachten. Unter Berücksichtigung der Alters- und Hinterbliebenenleistungen sinkt die Armutsquote auf 16,9 Prozent. Beziehen wir zudem alle anderen Sozialtransfers in die Kalkulation ein, reduziert sich die Armutsquote noch einmal deutlich. Sie beträgt dann noch 8,2 Prozent. Sozialtransfers kommen vielen zu Gute. Vier von fünf Haushalten beziehen in der einen oder anderen Form materielle Unterstützungsleistungen vom Sozialstaat. Lässt man die Rentnerhaushalte ausser Betracht, sind es immer noch fast zwei Drittel aller Erwerbshaushalte, die Gelder aus nationalen Sozialversicherungen oder aus kantonalen und kommunalen Sozialtransfers beziehen. Gerade mal 18 Prozent aller Haushalte werden in keiner Weise vom Sozialstaat alimentiert. Der Sozialstaat deckt damit die wirtschaftlichen Folgen sozialer Risiken wie Arbeitslosigkeit, Krankheit, Unfall und Invalidität ab. Er verhindert mit Sozialtransfers den Fall in die Armut, etwa mit der Verbilligung der Krankenkassenprämien oder Mietzinszulagen. Und er erlaubt mit der Altersrente vielen Pensionierten, in Würde alt zu werden.
Ganz offenbar beziehen nicht alle Haushalte Sozialleistungen vom Staat, die dies tun könnten. Die Nichtbezugsquote ist erstaunlich hoch. Dabei ist nicht nur an die Sozialhilfe zu denken, auf die alle jene aus Angst vor Stigmatisierung verzichten, die knapp an der Armutsgrenze leben. Die Problematik des Nichtbezugs zeigt sich auch bei anderen Sozialtransfers wie der Prämienverbilligung. Selbst Sozialversicherungsleistungen wie zum Beispiel die Ergänzungsleistungen zur AHV und zur Invalidenversicherung werden nicht von allen bezugsberechtigten Haushalten in Anspruch genommen. Die Komplexität des Sozialstaates und ein begrenztes Wissen über die Unterstützungsleistungen tragen massgeblich zu diesem «Verzicht» bei. Hier müsste eine offensive Sozialpolitik ansetzen. Zum Anrecht auf Sozialleistungen kann ergänzend auch eine Pflicht des Sozialstaates postuliert werden, auf dieses Anrecht hinzuweisen. So bestünde die Möglichkeit, Haushalte auf der Basis der Steuererklärung auf die Bezugsberechtigung von Sozialtransfers aufmerksam zu machen. Oder man könnte allen Haushalten gut informierte Soziallotsen zur Verfügung zu stellen, die einem durch das sozialstaatliche Labyrinth begleiten und unterstützen, wenn Sozialleistungen beantragt werden.
PROF. DR. CARLO KNÖPFEL ist Dozent am Institut Sozialplanung, Organisationaler Wandel und Stadtentwicklung der Hochschule für Soziale Arbeit der Fachhochschule Nordwestschweiz.
Armutsquoten vor und nach Sozialtransfers 2017
31,1 % 16,9 % 8,2 % Armutsquote vor allen Sozialtransfers
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Armutsquote nach Berücksichtigung der Alters- und Hinterbliebenenleistungen
Armutsquote nach allen Sozialtransfers
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SOZIALE STADTRUNDGÄNGE
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«Ich will Sex» Sozialbegleitung Christine lebt im Rollstuhl, Thomas
kommt einmal im Monat zu Besuch. Der Sexualbegleiter schläft mit Christine – gegen Bezahlung. TEXT CAROLIN GISSIBL FOTOS FABIAN MELBER
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Es ist 5.30 Uhr, als der Pfleger ein schwarzes Spitzenhöschen über ihre Windeln zieht. Nachdem er Christine angezogen und in den Rollstuhl gesetzt hat, steuert sie zum Esstisch. Darauf: das Porträt eines Mannes. Seine grauen Haare fallen über die hohe Stirn, wellen sich auf ein schwarzes Tanktop, Grübchen lugen unter dem Dreitagebart hervor. Vor dem Bilderrahmen: ein Tischkalender. Christine nimmt einen Kugelschreiber, streicht an diesem Morgen eine «1» durch. Nun sind es nicht mehr Tage, die sie zählt, sondern Stunden: noch zehn, bis er kommt. Sie macht sich auf den Weg zur Arbeit. An der Türklinke baumelt eine Nachricht für ihre Betreuerin: «Bitte Bett beziehen.» Christine kam vor 52 Jahren als Frühchen zur Welt, im sechsten Schwangerschaftsmonat. Diagnose: spastische Tetraplegie. Ihre Beine und ein Arm sind gelähmt. Christines rechte Hand kann greifen und leichte Dinge wie Besteck oder einen Stift halten. In ihrer Kindheit muss Christine begreifen, dass sie nie herumtoben wird, wie ihre Schwestern und die anderen Kinder es tun. Sie muss begreifen, dass der Rollstuhl ein ständiger Begleiter sein wird. Und sie muss begreifen, dass sie ihr Leben lang auf andere Menschen angewiesen ist. Doch Christine leidet nicht unter ihrer Behinderung. Sie leidet darunter, häufig nicht ernst genommen zu werden. «Die Leute denken oft, du bist nicht helle, nur weil du im Rollstuhl sitzt», erzählt sie. Worunter sie auch leidet und was sie nie begreifen wird: sich für Dinge rechtfertigen zu müssen, die für Menschen ohne körperliche Einschränkung normal sind. Wie der Wunsch, Sex zu haben. «Behinderte brauchen sowas nicht», den Satz höre sie oft, «und schon gar nicht, wenn sie Windeln tragen.» Es sind Sätze von Menschen, die ihr nahestehen. Sätze, die jedes Mal wehtun, wie ein Stich ins Herz. Warum muss sie sich für ihre Bedürfnisse rechtfertigen? Nur weil sie im Rollstuhl sitzt? Haben nicht alle Menschen ein Recht auf Sex? Schlimme Erfahrungen Mit 33 Jahren heiratet Christine. Wie ihre beiden Partner zuvor ist ihr Mann physisch gesund. Für ihn bedeutet dies das Recht, sich Christine zu nehmen, wann er will – und was er von ihr will. Eine schmerzhafte Zeit, unter der sie immer noch leidet. Dreizehn Jahre hält sie die Demütigungen aus. Dann reicht sie die Scheidung ein. In einer eigenen Wohnung beginnt Christine ein neues Leben. Auf Couch, Tischen und an den Wänden sind Accessoires vom FC Schalke 04: Embleme, Mannschaftsposter, Trinkgläser, Decken. Sogar ihr Elektrorollstuhl ist blau-weiss, in den Farben ihres Vereins. Im Wohnzimmer hängt ein Schild: «Ich bin nicht auf der Welt, um so zu sein, wie andere mich gerne hätten.» Christine fühlt sich wohl in ihrem Zuhause. Einen Lebensgefährten möchte sie aber nicht mehr. Zu schmerzhaft und schlimm waren ihre Erfahrungen. Doch das Verlangen bleibt. «Ich bin immer mauliger geworden und habe die Betreuer zusammengeschissen ohne irgendeinen mir erfindlichen Grund.» Als Christine sich selbst kaum mehr erträgt, überwindet sie sich und vertraut sich den BetreuSurprise 462/19
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ern an. An den Wortlaut erinnert sie sich genau: «Ich will keinen, der mit mir ‹Mensch ärgere Dich nicht› spielt. Ich will Sex. Sonst platze ich.» Der Tag, der Christines Leben veränderte, war im Februar 2017. Betreuerin Tina klopft an die Tür. Sie habe eine «Überraschung»: ein Mann aus dem Internet. Er hilft alten und behinderten Menschen, Hemmungen vor Berührungen zu verlieren. Er streichelt, massiert und zeigt, wie sie sich selbstbefriedigen können. Er schläft mit ihnen – gegen Bezahlung. Christine ist skeptisch. Würde sie sich «dreckig» fühlen, einen Fremden für Sex zu bezahlen? Ihre Mutter ist entsetzt, als sie davon erfährt: «Um Gottes willen! Was, wenn er sich an dir vergeht und dich ausraubt?», habe sie gesagt. Doch Christines Sehnsucht nach Zärtlichkeit ist grösser als die Skepsis. Sie ist neugierig und klickt mit ihrer Betreuerin auf die Facebookseite: Thomas Aeffner. «Ich bin Berührungskünstler», steht dort geschrieben. Auf den Fotos meditiert er im Schneidersitz auf einer Wiese, steht oberkörperfrei unter einem Wasserfall, sitzt nackt auf einem Motorrad. Auf einem anderen Bild hält er ein Zertifikat in der Hand: «Herr Aeffner hat die Methoden der erfolgreichen Sexualbegleitung erlernt. Er hat darüber hinaus behinderte Menschen mit unterschiedlichen Einschränkungen bei ihrer sexuellen Selbsterfüllung unterstützt und dabei deren Selbstbestimmung und Würde gefordert.» Die Bescheinigung stammt vom Institut für Selbst-Bestimmung Behinderter (ISBB) mit Sitz in der niedersächsischen Gemeinde Trebel, einer von zwei Einrichtungen in Deutschland, die Sexualbegleiter schult. Die andere ist die Beratungsstelle für Prostituierte Kassandra e.V. in Nürnberg. In der Schweiz werden Sexualbegleiter und Sexualbegleiterinnen von der Initiative Sexualbegleitung,
Thomas nimmt mich ernst. Bei ihm fühle ich mich wie ein vollwertiger Mensch. Nicht wie eine Behinderte. CHRISTINE
kurz «InSeBe», ausgebildet. All diese Institute wollen selbstbestimmte Sexualität bei Menschen mit Einschränkungen fördern: Sex von Behinderten und alten Menschen soll kein Tabu mehr sein. Betreuerin Tina schreibt eine E-Mail: «Ich sitze gerade neben meiner Klientin [...]. Sie sitzt im Rollstuhl, hat Spastik und trägt Vorlagen, da sie ohne Unterstützung nicht zur Toilette gehen kann. Sie wünscht sich eine erotische Begegnung.» Christine kann sich nicht viel unter einem Treffen vorstellen, hat Angst, ausgeliefert zu sein, nackt dazuliegen und sich unwohl zu fühlen, während der Sexualbegleiter angezogen ist. 12
Thomas Aeffner antwortet: «Wegen der Art der Begegnung braucht sie sich keine Sorgen zu machen. Genauso wie Sie das beschrieben haben, stelle ich mir das auch vor: eine gleichberechtigte Begegnung mit Sinnlichkeit, so wie es in der Situation dann passend ist und in beiderseitigem Einverständnis sich richtig anfühlt. Auf gar keinen Fall wird irgendetwas geschehen, das sie nicht möchte.» Über mehrere Wochen hinweg schreiben sie E-Mails, telefonieren und verhandeln den Preis. «Darf ich Sie duzen?», fragt Christine, als sie über ihre sexuellen Vorlieben sprechen. «Nein», lautet die Antwort. Solange sie sich nicht kennen und nicht wissen, ob sie sich sympathisch finden, herrscht Distanz. Grenzen werden vereinbart: Keine Partnerschaft. Keine Liebe. Reine Dienstleistung. Lieber Thomas als Schalke Dann ist es so weit: 20. April 2017. Ein blauer Kleinbus mit einem Peace-Symbol auf der Motorhaube parkt im Hof. «Ich wäre fast gestorben, so aufgeregt war ich», erinnert sich Christine. Auch ihre Betreuerin ist aufgeregt. Zu dritt sitzen sie am Esstisch, trinken Sekt. Christine muss sich überwinden und erzählt, dass sie Vorlagen trägt. «Warum soll ich mich davor ekeln?», fragte Thomas. «Das ist ein Teil von dir. Das bist du!» Er legte seine Hand auf ihre. Tränen fliessen über ihre Wangen. Dann bittet Christine ihre Betreuerin zu gehen. Wenn sie sich heute an diese Stunden zurückerinnert, kneift sie ihre blauen Augen zusammen und strahlt über das ganze Gesicht: «Dieser Mensch kann zaubern! Ich dachte, wenn jemand sowas macht, merkt man, dass es ein Job ist. Aber bei ihm ist alles so echt, so selbstverständlich. Ich war erschrocken, wozu ich körperlich fähig bin.» Auch ihre Betreuerin merkt eine Veränderung. «Christine ist seitdem viel fröhlicher, aufgeschlossener und wirkt in allem begeisterungsfähiger. Beide sind so vertraut, als würden sie sich seit zehn Jahren kennen.» Christines Budget entscheidet, wie oft Thomas kommt: Einmal im Monat fährt er die 260 Kilometer von Schwalmtal nach Minden und bleibt zwei Stunden. Christine bezahlt ihm einen Stundenlohn plus die Fahrtkosten. Geld, das sie sich von ihrem Gehalt und der Rente zusammenspart, die ihr als Schwerbehinderte zusteht. Seither hat sie kein Spiel ihrer Schalker mehr besucht. Das Geld für das Stadion investiert sie lieber in die Treffen mit Thomas. Wenn Christine in Thomasʼ Armen liegt, fühle sie sich, als würde sie fliegen. Die Welt um sie herum wird leicht, Schmerzen und Demütigungen rücken in weite Ferne. «Bei ihm fühle ich mich wie ein vollwertiger Mensch. Nicht wie eine Behinderte.» Sie geniesse jeden Moment, wenn er sie in den Arm nimmt – oder auf den Arm. «Dann darf ich wirklich ich selber sein. Da ist kein Rollstuhl, da sind keine Pfleger, da ist kein Betreuer. Das bin nur ich, als Frau, als Mensch», sagt Christine. «Manchmal denke ich mir: Zum Glück sitze ich im Rollstuhl, sonst hätte ich Thomas und all das nie kennenlernen dürfen.» Bisher gibt es nur in den Niederlanden ein Modell, bei dem Kommunen Sexualassistenz für Pflegebedürftige bezuschussen, wenn sie mit einem Attest nachweisen könSurprise 462/19
Wenn sie sich heute an ihre erste Begegnung mit Thomas zurĂźckerinnert, kneift Christine ihre blauen Augen zusammen und strahlt.
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Dieser Mensch, sagt Christine ßber Thomas, kann zaubern. Bei ihm sei alles so echt, so selbstverständlich.
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nen, dass sie nicht in der Lage sind, sich zu befriedigen. Als «bezahlte Prostitution» bezeichnen Kritiker das Konzept. Auch Christine ist keine Befürworterin: «Ist das nicht schräg, zu bestimmen, ob jemand anderes einmal die Woche, einmal im Monat, im Quartal oder im Halbjahr Sex haben darf?» Ausserdem wäre die Zweisamkeit zeitlich beschränkt. «Das wäre wie Sex auf Rezept», sagt Christine. «Aber Sexualität ist keine Krankheit. Sexualität ist Gesundheit.» 10.30 Uhr, noch fünf Stunden. In der Behindertenwerkstatt übertönt Musik im Radio das Hämmern und Hantieren der 21 Mitarbeiter. Christine schraubt Schliessbleche für Zimmertüren zusammen, setzt Schraube für Schraube und ist dabei in Gedanken versunken: Das Bett müsste inzwischen bezogen sein, das Couvert mit dem Geld liegt in der Schublade bereit, das Deo hat sie mitgenommen. Kurz vor Dienstende wird sie eine Kollegin bitten, es ihr aufzutragen, ihren Zopf zu öffnen und die graue «Löwenmähne», wie Thomas sie nennt, zu kämmen. Sie blickt auf die Uhr. Die Zeit kriecht. In der Pause sendet sie eine SMS: «Schreibst du mir bitte, wenn du losfährst?» Die Antwort interessiert sie nicht wirklich. Sie möchte nur eine Nachricht von Thomas auf dem Handy haben – der einzige Kontakt, den sie im Monat haben. Kein: «Hallo, wie geht’s dir? Ich möchte mit dir reden.» Christine darf nicht mehr als zwei Stunden Zweisamkeit von Thomas verlangen. «Manchmal ist es nicht einfach, aber wenn ich mich an diese Absprachen nicht halte, dann mache ich es kaputt.» Trotzdem wünscht sie sich hin und wieder ein Unwetter, bevor er fährt – sodass er einmal eine Nacht bei ihr verbringen kann. «Auf einmal war ich Sexarbeiter» 12.30 Uhr, am Rückspiegel des blauen Bulli schwingt ein Traumfänger. Knapp drei Stunden fährt Thomas zu Christine. Der 66-Jährige war Kunstmaler und später Tantra-Masseur. Bei der Tantramassage wird Lust geweckt, es ist sinnlich, aber ohne Geschlechtsverkehr. Dennoch gelten Tantra-Masseure in Deutschland als Prostituierte. «Spasshaft sage ich, dass unsere Bundesregierung mich in die Prostitution gezwungen hat, weil diese plötzlich festgelegt hat, dass Tantra-Massagen Prostitution sind. Auf einmal musste ich mich auf dem Ordnungsamt melden, als Sexarbeiter.» Dieser Schritt habe ihm den Weg, Sexualbegleiter zu werden, erleichtert. «Lustvoll Sex zu haben ist wichtig für ein glückliches Leben. Das will ich auch Menschen ermöglichen, die dazu alleine nicht in der Lage sind», sagt Thomas. «Ich gehe in jede Begegnung mit Herzblut rein und lasse mich ganz auf die Person ein. Jede Berührung mache ich ganz aufmerksam, ganz achtsam. Eigentlich berühre ich über die Haut die Seele.» Sexualbegleitung bezeichnet er als seine «Berufung». «Das ist ein Sinn meines Lebens, für andere Menschen das Leben positiv zu verändern und einen Beitrag zu leisten, die Welt ein bisschen besser zu machen.» 15.30 Uhr: In Flipflops, Cargohose und schwarzem Hemd steigt Thomas aus dem Wagen und holt einen Koffer aus dem Laderaum: Kondome, Lecktücher, Massageöl, Gleitgel, Bluetooth-Lautsprecher für Musik, StraussenfeSurprise 462/19
der, Dildos, Kerzen, die das grelle Neonröhrenlicht in den Pflegezimmern ersetzen, Spiegel, um Körperstellen zu zeigen, die sonst nicht gesehen werden können, Bondage-Seile, die Spastikern helfen zu entspannen. Zu manchen Kunden kommt er als «Unterstützer», zeigt Wege zur Selbstbefriedigung, weckt Lust am eigenen Körper – egal ob Frau oder Mann. Für eine Klientin hat er eine Halterung für Vibratoren gebastelt, mit der sie trotz körperlicher Einschränkung ihre Vagina erreichen kann.
Lustvoller Sex ist wichtig für ein glückliches Leben. Das will ich auch Menschen ermöglichen, die dazu alleine nicht in der Lage sind. THOMAS
Der Sexualbegleiter hat geduscht, sich rasiert, Eau de Toi lette auf sein Hemd gesprüht. Er wird es bis zum nächsten Treffen bei Christine lassen. Jeden Abend schläft sie damit ein. Thomas hat sich von seiner Partnerin verabschiedet. «Für sie ist es sicherlich nicht leicht, aber sie kann es trennen. Sie liebt mich so, wie ich bin, und unterstützt die Art, wie ich meinem Leben eine Bedeutung gebe.» Auch seine erwachsenen Kinder hätten kein Problem mit seinem Beruf. «Sie sind in einem Künstlerhaushalt aufgewachsen und gewöhnt, dass ihr Vater ‹anders› ist. Sie möchten nur keine Details erfahren.» Es ist 15.40 Uhr, Christine sitzt im Rückraum des Fahrdienstes, der sie täglich von der Arbeit abholt, und ärgert sich über jede rote Ampel. Nun sind es nicht mehr Stunden, die sie zählt, sondern Minuten. Jeder Halt bedeutet weniger Zeit mit Thomas. Er sieht das gelassener: «Es läuft keine Stoppuhr. Manchmal reden wir noch lange – das rechne ich natürlich nicht ab.» Der Wagen hält im Hof. Thomas steht mit offenen Armen vor der Tür. Als Christine das sieht, kneift sie wieder ihre Augen zusammen und strahlt über das ganze Gesicht. «Ich kann nicht springen, aber ich würd’ so gerne!», ruft sie und streckt eine Hand nach ihm aus. Die Rampe senkt sich wie in Zeitlupe. Beide fallen sich in die Arme. Ein Kuss auf den Mund. Gemeinsam warten sie auf den verglasten Aufzug, der zu ihrer Wohnung führt. Einmal habe die Tür geklemmt. «Na, funktioniert heute dein Vorhaben nicht?», war die flapsige Bemerkung von einem Bekannten, der vorbeilief. Solche Bemerkungen muss Christine hin und wieder ertragen. Aber das sei ihr mittlerweile egal. «Ich geniesse die Zeit, und wenn jemand meint, das ist verrucht – der braucht es ja nicht tun. Ich tue es und bin glücklich, dass es sowas gibt.» 15
ÂŤUnd dann darf ich mich selber sein. Da ist kein Rollstuhl, da sind keine Pfleger, da ist kein Betreuer. Das bin nur ich, als Frau, als MenschÂť, sagt Christine.
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In der Wohnung legt Thomas Uhr, Ringe und Armbänder ab und hievt Christine aus dem Rollstuhl. Sie wirkt befreit und umschlingt seinen Nacken, als wolle sie ihn nie wieder loslassen. «In die Scheisskiste gehe ich erst wieder rein, wenn du weg bist.» Arm in Arm sitzen sie auf der Couch, lachen, dass er schon wieder voller Hundehaare ist. Sie zupft die Haare von seinem Hemd, erzählt dabei von ihrer Arbeit, sie machen Witze, wie es weitergehe, wenn er älter wird. «Dann komme ich eben mit Rollator.» Für Thomas ist es kein Problem, dass Fotos von ihm über Christines Bett hängen oder sie die Tage bis zum nächsten Treffen zählt. «Man verliebt sich, wo immer die Liebe hinfällt», sagt er. «Das ist nichts, was man steuern kann. Christine darf das geniessen, solange es nicht in Besitzdenken oder Ansprüche ausartet.» Für ihn wird es dann ein Problem, wenn eine Klientin oder ein Klient die Gefühle nicht mehr in den Griff bekommt: «Dann muss ich gegensteuern, die Verhältnisse wieder klarstellen: Ich erbringe eine bezahlte Dienstleistung. Wenn das nicht auszuhalten ist, muss ich die Besuche notfalls einstellen.» Bisher sei das bei noch nie vorgekommen. Thomas lässt sich sein Honorar jedes Mal bar in die Hand geben, um immer wieder zu verdeutlichen: Es ist seine Arbeit. Christine bezeichnet Thomas als ihren «Partner auf Zeit». «Das, was ich mit Thomas habe, habe ich zwar nur ein paar Stunden. Aber das habe ich mir in meiner Ehe und Partnerschaften immer gewünscht: Thomas spielt mir nichts vor, er lügt mich nicht an.» 16.00 Uhr, Thomas packt Christine und trägt sie ins Schlafzimmer. Er hält ihren Kopf, während er sie vorsichtig auf die Matratze bettet. Dann knöpft er sein Hemd und die Hose auf. Er streift Christine das Oberteil über den Busen, befreit sie aus der engen Hose. Der Sexualbegleiter setzt sich nackt auf das Bettende und wickelt die Thromboseverbände von ihren Waden. Sie haben eingeschnitten, Striemen hinterlassen. Er pustet über die geröteten Stellen. Streicht darüber, minutenlang. Die Härchen an Christines Armen und Beinen stellen sich auf. Thomas beginnt ihre verkrümmten Zehen zu kraulen. «Ich mag diese Füsse.» Er kitzelt sie. Christine lacht nicht, sondern schliesst die Augen. Die Zeit verliert an Bedeutung. Bis zum Dienstende.
Hautnahe Reportage Die Autorin Carolin Gißibl und der Fotograf Fabian Melber fragten mehrmals nach, ob sie das Zimmer verlassen sollten. Doch Christine und Thomas wollten, dass sie bleiben «Was wir hier tun, ist etwas ganz Normales und Schönes».
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Vom Soldaten wieder zum Kind Syrien In einem Rehabilitationszentrum bei Qamishli
werden ehemalige Kindersoldaten der Islamisten für ein normales Leben nach dem Krieg trainiert. Geht das? TEXT JOANIE DE RIJKE FOTOS SEBASTIAN BACKHAUS Qamishli SYRIEN
Sechzig Jungen zwischen elf und achtzehn Jahren teilen im Rehabilitationszentrum Hori einen strikt durchgetakteten Alltag. 18
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Hassan ist dreizehn Jahre alt. Vor zwei Jahren wurde er von den kurdisch angeführten Demokratischen Kräften Syriens (SDF) im Kampf gegen Daesch gefangen genommen. Daesch ist die arabische Abkürzung für den sogenannten Islamischen Staat IS. Der damals elfjährige Hassan hatte eine entsetzliche Geschichte: Sein Vater und sein Onkel waren beide bei Daesch. Grausame Männer, die mindestens fünfzig Menschen geköpft hatten. Hassan wurde von seinem Vater und seinem Onkel mit der Aufgabe betraut, nach den Hinrichtungen aufzuräumen, die Köpfe beiseite zu schaffen. Die SDF beschlossen, den Jungen im Hori-Zentrum unterzubringen, einem neu eingerichteten Rehabilitationszentrum für Daesch-Kindersoldaten. «Seit fast zwei Jahren ist er nun bei uns», sagt Musab Mohammad, Co-Direktor des Zentrums. «Und es geht ihm ziemlich gut, wenn Sie überlegen, was er erlebt hat. Er wurde zu drei Jahren Gefängnis verurteilt. Hier verfolgt er ein spezielles Programm, wir gehen unter anderem mit ihm draussen im Dorf spazieren. Sehr alltägliche Dinge.» Die Gefängnisse in der Umgebung sind voll von dschihadistischen Kämpfern, die Anzahl an aktiven Daesch-Unterstützern in der Region war hoch. Die neue Regierung, politisch dominiert durch die Kurden von der Partei der Demokratischen Union, deren bewaffneter Arm, die YPG, beim Sieg über Daesch die Hauptrolle gespielt hatte, suchte nach konstruktiven Lösungen. So entstand 2017 das Hori-Zentrum. Die mit Regierungsgeldern und privaten Spenden finanzierte Einrichtung beherbergt derzeit sechzig Jungen zwischen elf und achtzehn Jahren. «Einige waren Helfer, die Gelegenheitsarbeiten verrichteten und für die Extremisten einkauften. Andere wurden von ihren Eltern gezwungen, sich Daesch anzuschliessen. Weitere wurden gefasst, als sie einen Surprise 462/19
Sprengstoffgürtel trugen», sagt Mohammad. «Die Jungs sagen uns nicht ausdrücklich, dass sie Menschen getötet haben, aber wir wissen, dass einige von ihnen bestimmte Dinge getan haben.» Er betont: «Wir reden nicht darüber, was sie genau verbrochen haben. Dies ist keine Haftanstalt. Hori ist ein Trainingszentrum, auch wenn die Kinder nicht einfach gehen können und zum Teil gegen ihren Willen hier festgehalten werden.» Spuren des Krieges Die Einrichtung befindet sich am Rande von Tal Maarouf, einem Weiler im Nordosten Syriens, nahe der Stadt Qamishli. Eines der zerschmetterten, mit Mosaiken verzierten Minarette der alten Moschee ist ein stiller Zeuge der Zeit, als Daesch das Dorf beherrschte. Das war 2014. Das HoriZentrum liegt im Schatten der teilweise zerstörten Moschee, umgeben von hohen Mauern, von wo aus die bewaffneten Wachen die Umgebung im Auge behalten. Innerhalb des Zentrums tragen die Mitarbeiter zivil. Viele der Jungen waren verletzt, als sie im Zentrum aufgenommen wurden, oft durch Schussverletzungen. Im HoriZentrum sollen sie nicht noch einmal mit Waffengewalt und Uniformen konfrontiert werden. Es ist halb neun Uhr morgens, die Jungs bereiten sich heute auf den Unterricht vor. Einige hantieren mit Eimern und Bürsten, um den rechteckigen Weg zu schrubben, der das einzige Stück Rasen in der Anstalt umfasst. Vor den Klassenzimmern spielen sie mit Murmeln, der beliebteste Zeitvertreib. Auffällig sind die Gesichtszüge der Jungen: Viele haben versteinerte Minen, die eher an Erwachsene als an Kinder erinnern. Ihre Gesichter sind bis auf wenige Ausnahmen nicht mehr jugendlich. Hassan, der bisher nach Hinrichtungen aufräumen musste, kniet am Boden. Rote Trainingsweste, blaue Jogginghose, Turn-
schuhe, kurzrasiertes Haar. Die Jungs tragen alle die gleiche Art von Freizeitkleidung. Bei der Ankunft werden sie gefragt, ob sie ihre traditionelle Kleidung gegen eine westliche Variante tauschen möchten. Die Bärte, sofern überhaupt welche gewachsen waren, und langen Haare müssen geschnitten werden. Die Anstalt betreibt ihren eigenen Barbiersalon. Hassan ist einer der wenigen, der mit seinen runden Wangen noch ein Kindergesicht hat. Hassan verbringt seine freie Zeit mit Murmeln. Er sitzt zwischen den anderen Jungs, schaut kaum hoch und konzentriert sich auf das Spiel. Er will nicht mit uns reden, sagte er dem Direktor. «Ich möchte vergessen, möchte in die Zukunft zu schauen.» «Wir versuchen, ihre radikalen Ideen in normale Gedanken umzuwandeln», sagt Direktor Mohammad. «Das ist nicht einfach, weil sie noch jung zu Daesch kamen. Ihre Ideen sind tief verwurzelt. Laut Daesch sind wir der Teufel, die Kuffar, die Ungläubigen, die Köpfe abschneiden, töten, schlecht sind. Am Anfang hatten die Jungs Angst vor uns. Aber allmählich bekommen sie etwas Vertrauen, sie sehen, dass wir nicht gefährlich und beängstigend sind.» Auch ausländische Jugendliche sind in Hori untergebracht: Ein russischer Junge namens Iliad, einer aus Indonesien und ein französisch-tschetschenisches Kind, dessen Mutter in Paris lebt. «Jeder kann hierherkommen», sagt Mohammad. «Jugendliche zwischen elf und achtzehn Jahren werden zwei Monate nach ihrer Festnahme zu uns geschickt. Jüngere Kinder bleiben bei ihren Müttern oder einer anderen Familie. Wir hatten bereits achtzig Jungen hier, momentan sind es weniger. Die Strafen der Jungen schwanken zwischen sechs Monaten und einigen Jahren. Aber anstatt sie so lange einfach einzusperren, glauben wir, dass dieser Ansatz sinnvoller ist. Wenn sie sich gut benehmen, kann ihre Strafe reduziert werden.» 19
Gemeinsam kochen und die Schlafsäle in Ordnung halten: Verantwortung für die Gemeinschaft zu übernehmen, ist Teil des Programms.
Ein grosser Teil der ehemaligen Kindersoldaten entpuppte sich bei ihrer Ankunft als Analphabeten, die aus bitterer Armut stammen. «Nicht alle von ihnen sind auf dieselbe Weise radikalisiert. Einige wurden erst frisch angeworben», erklärt Khadija Moussa. Gemeinsam mit Musab Mohammad leitet sie das Zentrum. «Die, die sich nur wegen des Geldes Daesch angeschlossen haben, lassen sich viel leichter integrieren als die Jungs, die tatsächlich einer Gehirnwäsche unterzogen wurden.» Routine gegen das Erlebte Unter den derzeit sechzig Jungen im Zentrum sind fünf sehr schwere Fälle. Sie werden getrennt von den anderen unterrichtet und von einem Psychologen begleitet. «Sie kämpfen mit den anderen Jungen, wollen den Zeitplan der Institution nicht einhalten, hören niemandem zu», sagt Moussa. «Aber nach einer Weile wird es besser. Sie sperren sich weniger und werden offener für Gespräche. Am Anfang 20
hatten viele Jungen Schwierigkeiten, mir als Frau zuzuhören. Aber sie gewöhnen sich schnell daran und finden es jetzt ganz normal. Hier trägt niemand das Kopftuch, wir laufen in Jeans herum. Wir wollen, dass sie sich daran gewöhnen.» Kurz vor neun Uhr versammeln sich die Jugendlichen im Hof. Die Lehrerin vor ihnen sagt laut auf Arabisch: «Guten Morgen!» Und setzt hinzu: «Jeder möge einen schönen Tag haben!» Die Jungs wiederholen es im Einklang. Der Lehrplan in der Schule umfasst Arabisch, Kurdisch, Religion und Psychologie. In den Klassenräumen fällt auf, wie diszipliniert die Schüler sind. Sie hören zu, unterbrechen nicht. Wenn einer eine Frage hat, steht er auf, wartet auf Erlaubnis zu sprechen und stellt seine Frage. Ihre losen Trainingshosen und Hoodies kontrastieren stark mit ihrer Disziplin. Uniformen würden hier weniger verwundern. Mit militärischen Übungen habe das aber nichts zu tun, sagt Direktor Musab Mohammad. «Wir folgen einem
strengen Tagesablauf. Routine ist nach der chaotischen Situation, aus der die Jungen kommen, äusserst wichtig.» Die Schüler haben ab ein Uhr nachmittags frei. Dann schauen sie fern, nur gewaltfreie Kanäle sind verfügbar, oder vertreiben sich die Zeit mit Computerspielen, ebenfalls gewaltlos, mit Basteln, Murmeln, Sport und Lesen. Der französisch-tschetschenische Junge ist bereit, mit uns zu reden. Assadullah ist ein kleiner, blasser Bub von dreizehn Jahren. Seine Eltern stammen aus Tschetschenien, er selbst wurde in Frankreich geboren. Die Mutter lebt immer noch mit seinen sieben Brüdern und Schwestern in Paris. Assadullah spricht fliessend Arabisch. 2015 brachte Assadullahs Vater ihn und seine beiden älteren Brüder von Paris nach Syrien. Seine Mutter blieb zuhause bei den Jüngeren. «Wir sind nach Idlib gereist», sagt der Junge. «Dann erhielt ich ein einmonatiges Training in Raqqa. Ich musste etwas über den Koran lernen, aber ich verstand es überhaupt nicht. Mein AraSurprise 462/19
Wir wurden ermutigt gegeneinander zu kämpfen, um zu zeigen, was wir wert waren. AHMAD HAMUD
Politische Situation in Nordsyrien Seit dem Einmarsch des türkischen Militärs in Nordsyrien hat sich die Lage vor Ort dramatisch verändert. Die Gegend, in der das Rehabilitationszentrum Hori liegt, befindet sich mitten im Kampfgebiet. Es ist gut möglich, dass das Zentrum bei Erscheinen dieses Heftes nicht mehr funktionsfähig und die Situation der Jungen sowie des Personals ungeklärt ist. Wir haben uns entschieden, diesen Beitrag aus der jüngsten Vergangenheit dennoch zu drucken, weil darin eindrücklich aufgezeigt wird, wie sich die Anhängerinnen und Sympathisanten der Demokratischen Kräfte Syriens SDF ausserhalb der Kampfhandlungen bemüht haben, den Kreislauf von Unterdrückung und Gewalt aufzubrechen und nachhaltige Lösungen für eine funktionierende Gesellschaft mit Rechten und Freiheiten für alle WIN anzustreben.
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bisch war zu dieser Zeit noch sehr schlecht, ich konnte dem Lehrer nicht folgen. Das spielte jedoch keine Rolle, solange ich die Koranverse aus meinem Kopf rezitieren konnte. Es war langweilig.» Assadullahs Vater starb während eines Kampfes in Manbij im Norden Syriens. Später fielen auch seine beiden älteren Brüder. Assadullah floh. «Ich hatte den Krieg noch nie hautnah erlebt. Plötzlich waren überall Flugzeuge. Sie haben uns von allen Seiten bombardiert.» Nachdem er einige Monate gewandert war, ergab sich Assadullah freiwillig der SDF. «Überall wurde geschossen, ich hatte kein Essen mehr, ich hatte Angst.» Zusammen mit zwei Freunden, mit denen er geflüchtet war, endete Asadullah vor einem Jahr im Rehabilitationszentrum. Jetzt wartet er darauf, dass er zu seiner Mutter nach Paris zurückkehren kann. «Es ist nicht schlimm hier, aber alle Jungs wollen nach Hause. Zum Glück kann ich meine Mutter einmal im Monat anrufen. Ich zähle jeden Tag, bis ich sie wieder sehe.» Keine Formel für den Umgang Während die anderen zur nächsten Stunde gehen, tritt Ahmad Hamud, 18, aus Raqqa in das Zimmer des Direktors und gibt uns die Hand. Hamud war fünfzehn, als er sich aus eigener Initiative entschied, sich Daesch anzuschliessen: «Mein Cousin hat mich überzeugt. Ich ging nicht mehr in die Schule, arbeitete in einem Laden und suchte nach etwas Neuem in meinem Leben. Wie mein Cousin erzählte, war es grossartig bei Daesch. Ich bin darauf reingefallen. Meine Eltern waren dagegen, aber das war mir egal.» Hamud musste zunächst eine einmonatige Grundausbildung zur religiösen Ideologie von Daesch absolvieren. «Das Einzige, worauf es ankam, war: Töte die Ungläubigen.» Danach erhielt Hamud vierzig Tage militärisches und religiöses Training. «Wir wurden ermutigt, gegeneinander zu kämpfen, um zu zeigen, was wir wert waren. Wenn wir nicht zugehört haben, wurden wir hart behandelt. Es gab viel Gewalt, die Ausbilder waren extrem streng, wir hatten Angst vor ihnen.» Nach seiner Ausbildung wurde Hamud nach Tabqa, nicht weit von Aleppo, geschickt. Dort musste er gegen die von der YPG angeführte Koalition kämpfen. Er wurde durch eine Bombe aus einem amerikanischen Flugzeug verletzt. Nach einigen Monaten der Genesung wurde er er-
neut verletzt. «Wir waren unterwegs, als die Kurden auf uns schossen. Ich wurde an Armen und Beinen getroffen. Jeder in unserer Gruppe wurde verletzt. Wir flohen in Panik in die Wüste. Da ich nicht gehen konnte, kroch ich vier Tage lang durch den Sand auf meinem Bauch. Bis die Kurden uns gefunden haben.» Hamud wurde zwei Tage lang verhört, verbrachte dann fünf Monate im Gefängnis in Kobane und landete schliesslich in Tal Maarouf. Das war vor fast zwei Jahren. Seine Eltern seien immer noch sehr wütend auf ihn, sagt er. Sie besuchten ihn vor etwa einem Jahr, aber sie haben ihm nicht vergeben. Der Cousin, der ihn damals überzeugt hat, ist tot. «Ich möchte etwas aus meinem Leben machen, ich hoffe, meine Fehler korrigieren zu können, wenn das überhaupt möglich ist. Ich möchte Arzt werden. Anstatt zu verwunden, möchte ich jetzt heilen.» Nach den zwei Jahren, die Hori nun in Betrieb ist, sei es noch zu früh, um festzustellen, ob das Projekt als Erfolg bezeichnet werden könne oder nicht, sagt Direktor Musab Mohammad. «Wir wissen, dass wir eine gute Beziehung zu den Jungs aufbauen. Wir versuchen nicht nur Lehrer zu sein, sondern auch Bruder, Schwester oder Freund. Seit 2017 wurden rund hundert Jungen nach Hause geschickt. Wir haben immer noch viel Kontakt mit den Ehemaligen. Sie kommen gelegentlich zu Besuch, haben einen Job gefunden.» Das sei alles Neuland, sagt Mohammad. Bisher gab es noch nie solche Kinder in Syrien. «Es gibt keine spezifische Formel für den Umgang mit diesen Jugendlichen. Wir haben keine Angst vor ihnen. Einige haben an Grausamkeiten teilgenommen, und wir werden das weder vergessen noch werden wir es dulden. Aber sie sind noch Kinder.» In Europa herrsche grosse Angst und grosser Ärger über mögliche Rückkehrer, die dann Anschläge auf ihrem Heimatboden verüben könnten. «Schaut auf uns. Was sollen wir denn sagen? Wir sind noch immer im Krieg, jeden Tag finden hier Angriffe statt. Aber wir nehmen die Herausforderung an und arbeiten mit diesen jungen Leuten, wir stecken nicht den Kopf in den Sand, wie die Politiker in Europa. Ich hoffe, dass Europa den Mut findet, dasselbe zu tun.»
Übersetzt aus dem Niederländischen von SEBASTIAN BACKHAUS. 21
«Big Village» Culturescapes Vier Mitglieder des Kollektivs AJAR reisten vor den Parlamentswahlen für
eine Sofalesung nach Warschau. Sie brachten einen Text zurück – in Auftrag gegeben vom Kulturfestival Culturescapes: Teil zwei einer vierteiligen Text-Serie zum heutigen Polen. TEXT AJAR
Die Idee, nach Polen zurückzukehren, stresste mich. Würde ich meinen Weg wieder finden in einem Land, wo ich keine Arbeit mehr hatte, keine Verpflichtungen, weniger Freundinnen und Freunde? Wie richte ich einen frischen Blick auf einen Ort, der bisher von meinen Alltagssorgen geprägt war? «Ich weiss nicht, ob das Land das überwinden kann.» Um ehrlich zu sein, beschränkte sich mein Wissen mehr oder weniger auf ein Fotobuch, das ich Jahre zuvor zusammen mit einer Freundin angeschaut hatte. «Grosser Unsinn.» Wir waren an einem Schwarz-Weiss-Bild hängengeblieben, das uns repräsentativ für das Land erschien: ein düster dreinblickendes Kind in einer flachen, leeren Landschaft. In der Bildlegende stand: «Kleines polnisches Mädchen vor seinem Haus». Von diesem Zeitpunkt an habe ich mir lauter Vorstellungen rund um ein deprimiertes und deprimierendes Land aufgebaut. «Wo ist die Modernität? Es fühlt sich an, als wäre man im Mittelalter.» Als man mir vorschlug, dahin zurückzukehren, sagte ich mir, ich müsste es tun, und sei es nur deshalb, um mich aus der engen Sichtweise herauszulocken, die ich hatte. «Manchmal höre ich mir aus Spass die Nachrichten um 18 Uhr auf dem einen Kanal und um 19 Uhr auf dem anderen an, man bekommt den Eindruck, als sei von zwei verschiedenen Ländern die Rede.» Die Aussicht auf eine Lesung in einer Warschauer Galerie war der Grund für meine Reise. Danach habe ich das Kleingedruckte gelesen: Ich sollte einen Text über die Wahlen schreiben, die bald waren, es läge eine Spannung in der Luft und es passierten Dinge, vor Ort. «Das ist ein Kulturkrieg.» Religiöser Konservatismus Meine Abreise war von verschiedenen Schuldgefühlen geprägt: dass ich mich nicht besser über die politische Situation kundig gemacht hatte – «Es ist bereichernd, wenn man nicht gleicher Meinung ist. Aber diese Polarisierung ist erschreckend»; dass ich mit dem Flugzeug reiste, am Klimastreiktag – «Das passiert genau jetzt, aber es bleibt abstrakt, weil es nur am Nordpol und in Afrika sichtbar ist»; dass ich für drei armselige Tage hingehe, viel zu kurz, um irgendwas über ein Land zu erfahren, eine Stadt, die Wahlen – «Es gibt zwei Polen. Differenzen sogar innerhalb von Familien. Wir reden über gutes Wetter, Essen, nicht über Politik.» 22
Ich listete im Kopf die Themen auf, die die Schweizer Medien aufgegriffen haben – «Von aussen betrachtet sieht es schlimmer aus. Wenn man die internationale Presse liest, scheint es um das Ende der Welt zu gehen.» Aufstieg des Populismus – «Sie meinen, man müsse sich verteidigen, Feinde müssen her, welche sie alle zwei Jahre auswechseln.» Gefühl von Anti-LGBTIQ+ – «Es gibt Magazine, die stellen LGBT-Menschen dar, als ob sie Pädophile wären.» Restriktionen für Abtreibungen – «Es ist die Minderheit, die diese Gesetze macht.» Religiöser Konservatismus – «Ich bin sehr überrascht von der Position der Kirche: Man darf ein Kind, das in vitro gezeugt wurde, nicht taufen.» Ich kam aus dem Bahnhof Warszawa Centralna und zog meinen kleinen Koffer hinter mir her. Ich fragte einen jungen Mann, der an der gleichen Bushaltestelle wartete, brauner, lockiger Pferdeschwanz, Uber-Eats-Rucksack, ob ich meine Fahrkarte im Bus bezahlen könne, mit Euros. «No … you’re in Europe, no Euro. Poland is a big village.» Big village, ich fand den Ausdruck seltsam, ohne ihn richtig zu verstehen. Er fragte mich, ob ich Französin sei, er selbst komme aus Weissrussland. «It’s a country a bit more east.» Ich fand lustig, dass er es nötig fand, das zu spezifizieren, und touristisch zuvorkommend, im Grunde. Er winkte mir schüchtern zu, als sein Bus abfuhr, und ich wechselte Big-Village-Geld. «Es gibt keine Immigranten in Polen. Es gibt hier nur Polen. Die Migration besteht aus Ukrainern. Aber das sind unsere slawischen Brüder.» Welche Fragen sollte ich stellen? Ich erwartete riesige Porträts von grauen Männern in dunklen Anzügen, ernst, fest und entschlossen dreinblickend, zur Schau gestellt an hohen, rechtwinkligen Gebäuden mit unzähligen kleinen, quadratischen Fenstern, flankiert von Säulengängen und monumentalen Statuen mit dicken Hälsen. «Mein Grossvater war Gewerkschafter bei Solidarność, mein Vater ist Lokalpolitiker, ich will mich aus der Politik heraushalten und von ausserhalb Einfluss auf das Klima nehmen.» Keine Spur von Wahlen an diesem Tag. Eine Filmcrew filmt eine Art Clown in der Stadt in bayrischem Kostüm vor der Bank Santander, der Smolensker Gedenkplatz ist ausgestorben, keine Wahlbanner in Sicht, nur Touristen, wie ich. «Die Politiker sind Surprise 462/19
FOTO: ROXANNE BORLOZ
AJAR (Association de jeunes auteure-s romandes et romands) besteht aktuell aus 23 Mitgliedern aus der französischsprachigen Schweiz. Sie schreiben ihre Texte als Kollektiv, was bedeutet, dass auch das «Ich» im vorliegenden Text AJAR meint. Gemeinsam arbeiten sie an verschiedenen Projekten, unter anderem haben sie mithilfe einer kollektiven Dropbox das Buch «Unter diesen Linden» geschrieben.
in ihrer Blase.» Durch das Busfenster sind die ersten Plakate zu sehen, die meinen Blick irritieren, auf Schilder geklebt auf einem Trottoir, breit wie eine Allee, sie zeigen kleine blutige Kreaturen mit zierlichen Armen und bereits behaarten Schädeln, gehalten von einer Hand in Latex-Handschuhen. «Die Politiker bedienen sich der Religion und des Glaubens, Überzeugungen, um eine politische Botschaft zu vermitteln.» Ich bin nicht mehr Teil dieser Stadt. «Die Gesellschaft ist gespalten, aber auch die Kirche ist gespalten.» Die Stimmen, die ich liebte, wurden zu vagen Eindrücken am Tag nach einem allzu betrunkenen Abend. «Es wurde behauptet, alles, was in Polen falsch laufe, sei die Schuld der Velofahrer, dann der Veganer, dann der LGBT-Menschen.» Ich hatte Individuen gekannt und sollte die Machtausübung beobachten. «Die Kontrolle der Justiz durch die Behörden hat mich überrascht.» Ich überlegte mir, mit wem ich reSurprise 462/19
den könnte. «Im demokratischen Sinn habe ich keine Stimme, und es kotzt mich wirklich an, dass ich nicht abstimmen kann. Es ist meine Zukunft, und den Leuten, die wählen können, ist es scheissegal.» Welche Fragen sollte ich stellen? «Wir schauen nach Westen und sagen, schaut, dort haben sie Einwanderer aufgenommen; wollt ihr, dass es so wird wie dort? Man hat sogar behauptet, ein Muslim habe Notre-Dame angezündet.» In meinen Koffer habe ich Dafalgan gepackt, mein Mittel gegen den Kater. Aus dem Französischen übersetzt von DIANA FREI «Culturescapes Polen», multidisziplinäres Kulturfestival, bis Fr, 6. Dezember; Literatur, Theater, Musik, Tanz, Film, Kunst und Kulinarik in der ganzen Schweiz. culturescapes.ch 23
«Mit Schulden verlierst du deine Freiheit» Kino In Ken Loachs neuem Spielfilm «Sorry We Missed You» kämpft eine Familie aus der Arbeiterklasse im englischen Newcastle ums Überleben. Hauptdarstellerin Debbie Honeywell weiss aus eigener Erfahrung, was ihre Figur durchmacht. TEXT DIANA FREI
Die Familie Turner steckt seit der Finanzmarktkrise 2008 in Schulden. Ricky (Kris Hitchen) und Abby (Debbie Honeywell) standen kurz davor, ein Eigenheim zu kaufen. Dann verlor er erst den Job, danach die Hypothek auf das Haus. «Der Unterschied, ob du Geld besitzt oder nicht, bestimmt die Wahlmöglichkeiten, die du im Leben hast. Mit Schulden verlierst du deine Sicherheit, deine Freiheit, deine Stabilität», sagt Hauptdarstellerin Debbie Honeywell im Interview anlässlich des Zurich Film Festivals. In der Not nimmt Ricky einen Job als Paketauslieferer an, das Ganze hört sich vielversprechend an: Er wird selbständiger Unternehmer, sozusagen. Den Lieferwagen jedenfalls muss er selbst erwerben, und er arbeitet auf eigenes Risiko. In Wirklichkeit redet sein Chef ein Phänomen schön, das sich in Grossbritannien in den letzten Jahren verbreitet hat: die sogenannten zero-hour contracts, die Nullstundenverträge. Arbeit auf Abruf. Etliche Unternehmen, wie etwa die britische McDonald’s-Kette oder verschiedene Kinobetreiber, stellen ihr Personal als Tagelöhner mit minimaler sozialer Absicherung an. Ob es etwas zu tun gibt, erfahren viele Arbeitnehmer erst bei Erscheinen – doch ohne Arbeit kein Lohn. Die Statistiken haben in Grossbritannien um die 1,4 Millionen solcher Verträge erfasst, und das Thema hat zahlreiche Parlamentsdiskussionen ausgelöst. Sie führen zur Ausbeutung der 24
Arbeiter, aber Wirtschaftsvertreter loben sie als Instrument für einen flexiblen Arbeitsmarkt. Die konservative Regierung lässt die Verträge zu. Leute, die sonst gar keinen Job hätten, werden so statistisch zu Arbeitnehmern statt Arbeitslosen. Im Paketlieferservice, für den Ricky arbeitet, wird geliefert, wenn der Kunde es wünscht. Privatleben gibt es nicht mehr. Abby arbeitet nach dem gleichen Modell von 8 bis 21 Uhr als Altenpflegerin auf Hausbesuch. Mit langen Anfahrtswegen per ÖV, weil das eigene Auto für Rickys Lieferwagen draufging. Wir sehen sie bei betagten Menschen zuhause, die nicht mehr alleine essen oder zur Toilette gehen können. Diese Abby macht ihre Arbeit mit solch grenzenloser Warmherzigkeit und Geduld, dass es schon fast an Kitsch grenzt. Auch das sei nichts anderes als die Realität, sagt Honeywell. Die Fähigkeit, liebevolle Momente zu schaffen, ist das Einzige, das einem bleibt, wenn das Leben ansonsten ein Kampf ist: «Leute aus der Arbeiterschicht können das.» «Wir hatten nichts, als ich aufwuchs» Debbie Honeywell stammt selber aus dem Arbeitermilieu im Nordosten Englands. Sie arbeitete jahrelang im Schulwesen und betreute dort Kinder, die die von Ricky und Abby sein könnten. Die Rolle in «Sorry We Missed You» ist ihr erster grösserer EinSurprise 462/19
satz als Schauspielerin. Wenn Ken Loach seine Rollen mit Laien besetzt, geht es genau darum: dass es Menschen mit eigenem Hintergrund im Arbeitermilieu sind. «Es geht um die Lebenseinstellung, die Ken wichtig ist», sagt Honeywell. «Wir hatten nichts, als ich aufwuchs. Deshalb arbeite ich auch jetzt noch mit Kindern aus diesem Milieu. Weil ich verstehe, wie es ist, wenn man kein Selbstvertrauen mehr hat.» Der Film baut auf umfangreichen Recherchen auf, die in Paul Lavertys Drehbuch Eingang fanden. Loachs Kritik richtet sich gegen die britische Regierung, die Entwicklungen befördert, die soziale Gräben aufreissen. Honeywell teilt die politische Haltung des Regisseurs und erwähnt den Bericht des UN-Sonderberichterstatters für extreme Armut und Menschenrechte. Dieser hielt nach einem Besuch in Grossbritannien und Irland dieses Jahr fest: «Die im Jahr 2010 eingeführte Sparpolitik ist trotz der tragischen sozialen Folgen weitgehend unverändert geblieben. Gemäss Prognose werden im Jahr 2021 fast 40 Prozent der Kinder in Armut aufwachsen.» «Sorry We Missed You» lebt vom Moment der Erschütterung durch die Ungerechtigkeiten, die man mit den Figuren durchlebt. Aber auch von den Momenten, in denen der soziale Kitt doch noch spürbar ist: Einmal steht Abby an einer Busstation und redet am Telefon erschöpft über eine Klientin. «Are you okay, love?», fragt sie eine fremde Frau, die ebenfalls wartet. Debbie Honeywell antwortet auf die Frage, ob eine Fremde wirklich so etwas sagen würde: «Ja, in Newcastle passiert das. Sitz an irgendeiner Busstation in Newcastle, und es wird jemand mit dir zu reden beginnen. Wir brauchen das.» Das ist neben der politischen die menschliche Message des Films.
Gegen Sexismus im Literaturbetrieb Die Schweiz schreibt Das Autorinnenkollektiv
RAUF engagiert sich für mehr Sichtbarkeit von Frauen in der Literaturszene. Im Literaturbetrieb herrscht ein Ungleichgewicht zwischen den Geschlechtern. Dieses äussert sich zum Beispiel darin, dass Bücher (oft sind sie von Männern geschrieben), mehrheitlich von Männern besprochen werden. Oder dass Frauen gerne unterstellt wird, sie hätten eine gefühlsbetontere Schreibe. Jüngere Autorinnen werden in den Medien oft sexuell anziehend inszeniert. Und auf den Listen der bedeutendsten Bücher finden sich nur wenige Frauennamen. Um darauf hinzuweisen, hat das Autorinnenkollektiv RAUF am Frauenstreiktag eine solche Liste öffentlich vorgelesen. «Die Namen der Männer haben wir geflüstert, jene der Frauen herausgeschrien. Da es nicht viele Frauennamen gab, war unsere Aktion mehrheitlich so leise, dass ein Techniker, der unseren Ansatz nicht verstanden hatte, unsere Mikrofone neu einstellen wollte. Er meinte, man könne uns kaum hören, wir hätten zu wenig Bass in der Stimme», sagt Schriftstellerin Anaïs Meier vom Kollektiv RAUF, das als flexibler Zusammenschluss von gleichgesinnten und gleichberechtigten Frauen wahrgenommen werden will und sich seit 2018 an Aktionen und Veranstaltungen für mehr Sichtbarkeit von Autorinnen engagiert. «Die meisten von uns haben im Schreiballtag schon sexistische Bemerkungen gehört: von Dozenten, Kollegen, Journalisten oder exponiert auf der Bühne», sagt Anaïs Meier. Eine Autorin habe zum Beispiel erzählt, dass ihr, nachdem sie Mutter geworden war, gesagt wurde, sie könne ja jetzt Kinderliteratur schreiben. «Einem Mann würde man so etwas wohl kaum sagen», so Meier. Ein anderes Beispiel sei die Anfrage eines befreundeten Autors gewesen, der den Auftrag hatte, eine Anthologie mit Beiträgen von Schweizer Autorinnen und Autoren zu erstellen. «Ihm war aufgefallen, dass die von ihm angefragten Autorinnen alle unter 40 sind. Wir finden, da ist etwas faul, wenn man nur als junge Autorin interessant ist.» RAUF wird am Literaturfestival Buch Basel präsent sein. Und für 2020 ist ein Symposium zum Thema Sichtbarkeit von Frauen in der Literatur geplant.
Ken Loach: «Sorry We Missed You», mit Debbie Honeywell, Kris Hitchen, Katie Proctor, Rhys Stone u. a., 100 Min., UK/FR/BE 2019. Läuft zurzeit im Kino. Surprise 462/19
ILLUSTRATION : TILL LAUER
FOTOS: JOSS BARRATT / SIXTEEN FILMS
Debbie Honeywell (Bild links in der Mitte) stammt selber aus dem Arbeitermilieu.
MONIK A BET TSCHEN
RAUF am Literaturfestival Buch Basel: Sa, 9. November, 11 Uhr, Volkshaus Basel, Rebgasse 12–14, Innenhof 25
BILD(1): JÊROME DEYA, BILD(2): KUNSTHAUS ZUG, EMILY KAME KNGWARREYE, UNTITLED, 1995, © 2019, PROLITTERIS, ZÜRICH, BILD(3): URBAN ZINTEL
Veranstaltungen
Zürich «À mon corps dérangeant», Fotoausstellung, bis 8. November, Galerie im 2. Stock, Mo bis Fr 8.00 bis 17.30 Uhr, Interkantonale Hochschule für Heilpädagogik, Schaffhauserstrasse 239. hfh.ch Sex sells – das weiss die Werbeindustrie seit Langem und sorgt mit der stetigen Reproduktion eines pervertierten Schönheitsideals dafür, dass die natürlichen Unterschiede unserer Körper uns nicht mehr begehrenswert vorkommen. Der Hochglanzstandard ist zum Ideal geworden, dem sich immer mehr Menschen sogar operativ anzunähern versuchen. Weicht der eigene Körper aufgrund von Krankheit oder Behinderung massiv von der Norm ab, wird Sexualität und Begehren sogar zu einem gesellschaftlichen Tabu. Aber, Überraschung!, handicapierte Menschen begehren, lieben und sehnen sich nach Zärtlichkeit wie alle anderen auch. Der französische Fotograf Jérôme Deya hat diesem Begehren eine Fotoarbeit gewidmet, die einfühlsam einfängt, was den Normfixierten unvorstellbar und nicht selten sogar verstörend erscheint. WIN
Zug «My Mother Country – Malerei der Aborigines», Sammlung Pierre und Joëlle Clément, und Einzel ausstellung Emily Kame Kngwarreye, bis 12. Januar 2020, Di bis Fr 12–18 Uhr, Sa und So 10–17 Uhr, Kunsthaus Zug, Dorfstrasse 27. kunsthauszug.ch
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Unter den Verkaufenden des Stras senmagazins The Big Issue Aus tralia, das wie Surprise zum Internationalen Netzwerk der Strassenzeitungen gehört, sind viele Aborigines. Wer ihre Biografien liest, erfährt, wieviel Unrecht der australische Staat dieser Bevölkerungsgruppe angetan hat. Darunter zahlreiche Geschichten, die denen von Schweizer Verdingkindern ähneln. In Australien hat man die Kinder der sogenannten Stolen Generations nicht nur ihren Eltern weggenommen, sondern bis 1989 auch noch kriminalisiert und ihnen damit lebenslang die Zukunft verbaut. Eine offizielle Entschuldigung gab es bisher nicht, eine Rehabilitierung ebenso wenig. Nun findet in der Schweiz die erste thematische Präsentation zeitgenössischer Aborigine-Malerei statt. Viele der gezeigten Werke sind in Reservaten entstanden, wo der Kunstvermittler Geoffrey Bardon in den 1970er-Jahren die systematisch entwurzelten Menschen zum Malen anregte. WIN
peu sieht er sich in einen Fall verSt. Gallen wickelt, der ihn Kopf und Kragen MoE – Museum of Emptiness, kosten kann, ein Fall, der tief in die Dauerausstellung, Welt der Politik reicht. Grün wie bis 31. Dezember, noch nie, doch abgefuckt wie imHaldenstrasse 5, Besuche, mer. Köbis Glück: King Kobra, Prinz Raumreservationen oder und König im Milieu, ist einer seiKursangebote auf Anfrage. ner Freunde. WIN museumoe.com Die Verdichtung des Lebens durch Basel immer mehr Input und VernetDeniz Yücel – Agentzungsmöglichkeiten macht uns zu terrorist, Lesung/Gespräch, schaffen. Kaum eine Sekunde bleibt 13. November, 20 Uhr, ungefüllt. Wie soll das Gehirn das Reithalle, Kaserne Basel, nur verabeiten? Vielleicht im Museum of Emptiness, dem Museum Klybeckstrasse 1b. der Leere. Dort kann man auf einer kaserne-basel.ch Bank sitzen und die weisse Wand anstarren. Und genussvoll gegen den Impuls ankämpfen, das Telefon oder eine Zeitung zur Hand zu nehmen. Irgendwann füllt sich die Wand von ganz allein mit Bildern, Gefühlen und Eindrücken aus dem eigenen Innern – und vielleicht entspannt sich das überforderte Hirn ein wenig. WIN Zürich «Pöschwies – Köbi Robert ermittelt», Lesung und Gespräch mit Autor Stephan Pörtner, Moderation Susanne Die Inhaftierung des Journalisten Gretter, Do, 7. November, Deniz Yücel im Februar 2017 löste 20.30 Uhr, Orell Füssli, im deutschsprachigen Raum eine Theaterstrasse 8. Vorverkauf bespiellose Solidaritätskampagne empfohlen: bellevue@ mit dem damaligen Türkeikorresorellfuessli.ch pondenten der Zeitung Die Welt Als Köbi nach sieben Jahren Knast aus. Nun spricht Deniz Yücel über seine Erfahrungen in der Gefanaus Pöschwies entlassen wird, ist Zürich eine andere Stadt. Die alten genschaft und das, was eine VielFreunde sind weggezogen, verstorzahl inhaftierter Kollegen (häufig ben oder haben geerbt. Einige hamit weitaus weniger Perspektive ben es weit gebracht, andere müsauf Freilassung) in der Türkei weisen untendurch. Für einen Mitterhin ertragen muss, sowie über gefangenen, Besetzer-Bestie geden Versuch, nicht zu verzweifeln nannt, gibt Köbi im besetzten und stattdessen seine Peiniger zur Koch-Areal einen Brief ab. Peu à Verzweiflung zu bringen. WIN ANZEIGE
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die aber nur auf eine Hecke hinausführen, ein Dach auf Säulen und eine halbrunde Balustrade. Rosen und Bäume, kugelförmig gestutzte Hecken.
Tour de Suisse
Pörtner in Herisau Surprise-Standort: Kasernenstrasse 18 Einwohnerinnen und Einwohner: 15 780 Sozialhilfequote in Prozent: 2,0 Durchschnittlicher Preis für 3-Zimmer-Wohnung in Franken: 1297 Platz im Ranking Lebensqualität von 162 Schweizer Städten: 107
Der Verkaufsstandort Herisau befindet sich vor der Filiale eines Grossverteilers. Einer Filiale, die neu gebaut wird und, verkaufstechnisch betrachtet, nichts anderes als eine Baustelle und damit nutzlos ist. Dem Neubau weichen muss ein vor noch nicht allzu langer Zeit als hochmodern geltendes Gebäude, schätzungsweise späte Siebziger-, frühe Achtzigerjahre. Der geschwungenen Auffahrt wie dem dazugehörigen Parkhaus wurde damals viel Platz eingeräumt. Nach dem Schaubild an der Fassade zu urteilen, wird auch die markante Betongalerie mit den skibrillenförmigen Aussparungen einem eckigen Zweckbau weichen. Das Café gegenüber der Baustelle macht von 13.30 bis 16.30 Uhr Mittagspause. Die Konkurrenz etwas weiter vorne wäre von 5.00 bis 18.30 Uhr durchgehend geöffnet, wäre sie nicht amtlich versieSurprise 462/19
gelt worden. Rätseln über die Gründe, welches Schicksal diesen Betrieb mit über hundertjähriger Tradition ereilt hat, kann man auf dem Crèmeschnittenbänklein, das wacker die Stellung vor dem Laden hält. Der Weg vom Bahnhof zur ausgefallenen Verkaufsstelle führt an einer katholischen Pfarrei mit Kirche, dem Blaukreuzhaus, der grossen evangelischen und einer Freikirche vorbei. Ein Mann in Appenzellertracht nimmt ein Stück weit denselben Weg. Zu sehen sind mehrere hohe Fabrikschornsteine. Hier herrschte einst die Industrie, und sie markiert immer noch Präsenz. Gegenüber der Baustelle befindet sich ein aparter Park mit einer Laube, die zum Verweilen mehr als einlädt, sogar an Kleiderhaken wurde gedacht. Es gibt eine Bank und dahinter zwei Fenster mit Läden,
Der Kiesweg führt vorbei an einem kopierten und mit Malerband befestigten Zettel, auf dem «Fuck you Greta» steht, zu einem länglichen Gebäude, in dessen beiden zum Park hin liegenden Schaufenstern zwei schräg stehende Bretter, ein kleiner Holzkubus und die Adresse eines Fotografen ausgestellt sind. Zu loben sind der Architekt, wahrscheinlich war es damals ein Mann, der die Laube entworfen hat, und die Arbeiter, auch hier wahrscheinlich Mäner, die sie gebaut haben. Kaum mehr wird einem Ort des Verweilens solche Aufmerksamkeit gewidmet, weder Sonne noch Regen können einen daran hindern, hier innezuhalten. Welch ein Unterschied zu den lieblos in Asphaltoasen platzierten Bänken der modernen Bahnhofs-/Einkaufszentrumshybriden, ohne die eine Schweizer Stadt keine Stadt mehr ist, bis sich ein neues Konzept durchsetzt und sie obsolet macht, wie derzeit das parkhausdominierte Einkaufszentrum. Wieviel langlebiger ist da doch der bescheidene Pavillon, der unbeleckt von Quadratmeterumsatzvorgaben und verändertem Einkaufsverhalten seinen Zweck erfüllt, seit gewiss über hundert Jahren. Wahrscheinlich gehörte er einst zum Anwesen des stattlichen Hauses ennet der Strasse, neben dem ein weiterer Minipark angesiedelt ist. Hier gibt es eine öffentliche Veloflickstation, die keine Wünsche offenlässt, neben einer Pumpe und einer Aufhängevorrichtung steht auch der zur Entfernung der Pedale notwendige 15-er Gabelschlüssel zur Verfügung, der in herkömmlichen Schlüsselsätzen oft fehlt. Was wunder, braucht es bei dieser Infrastruktur keine Parkhäuser mehr.
STEPHAN PÖRTNER Der Zürcher Schriftsteller Stephan Pörtner besucht Surprise-Verkaufsorte und erzählt, wie es dort so ist.
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Die 25 positiven Firmen Unsere Vision ist eine solidarische und vielfältige Gesellschaft. Und wir suchen Mitstreiterinnen, um dies gemeinsam zu verwirklichen. Übernehmen Sie als Firma soziale Verantwortung. Unsere positiven Firmen haben dies bereits getan, indem sie Surprise mindestens 500 Franken gespendet haben. Mit diesem Betrag unterstützen Sie Menschen in prekären Lebenssituationen dabei auf ihrem Weg in die Eigenständigkeit. Die Spielregeln: 25 Firmen oder Institutionen werden in jeder Ausgabe des Surprise Strassenmagazins sowie auf unserer Webseite aufgelistet. Kommt ein neuer Spender hinzu, fällt jenes Unternehmen heraus, das am längsten dabei ist. 01
Hervorragend AG, Bern
02
Beratungsgesellschaft f. die 2. Säule AG, Basel
03
Beat Vogel, Fundraising-Datenbanken, Zürich
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Echtzeit Verlag, Basel
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Waldburger Bauführungen, Brugg
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Rhi Bühne Eglisau
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Scherrer & Partner GmbH, Basel
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Philanthropische Gesellschaft Union Basel
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Mitarbeitende Forbo Siegling CH, Wallbach
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TopPharm Apotheke Paradeplatz
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Hausarztpraxis Tannenhof, Tann-Rüti
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RLC Architekten AG, Winterthur
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Gemeinnütziger Frauenverein Nidau
14
LIVEG Immobilien GmbH, Adliswil
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VXL, gestaltung und werbung, Binningen
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Arbeitssicherheit Zehnder GmbH, Zürich
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Brother (Schweiz) AG, Dättwil
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Kaiser Software GmbH, Bern
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Fischer + Partner Immobilien AG, Otelfingen
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Velo-Oase, Erwin Bestgen, Baar
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Physiopraxis M. Spring/S. Zeugin, Basel
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Maya-Recordings, Oberstammheim
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Cantienica AG, Zürich
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Madlen Blösch, Geld & so, Basel
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Schluep & Degen, Rechtsanwälte, Bern
Möchten Sie bei den positiven Firmen aufgelistet werden? Mit einer Spende ab 500 Franken sind Sie dabei. Spendenkonto: PC 12-551455-3 IBAN CH11 0900 0000 1255 1455 3 Surprise, 4051 Basel Zahlungszweck: Positive Firma und Ihr gewünschter Namenseintrag Sie erhalten von uns eine Bestätigung. Kontakt: Nicole Huwyler Team Marketing, Fundraising & Kommunikation T +41 61 564 90 50 I marketing@surprise.ngo
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Eine von vielen Geschichten Der Weg in die Armut führte für Daniel Stutz über die Sucht. Als Jugendlicher rutschte der heute 44-Jährige in die Spielsucht und später in den Konsum harter Drogen. Dank einer Therapie schaffte er vor 7 Jahren den Ausstieg. Geblieben ist dem Zürcher Surprise-Verkäufer und -Stadtführer ein Schuldenberg. «Den Weg aus der Sucht habe ich hinter mir, der Weg aus der Armut liegt noch vor mir», beschreibt Daniel seine Situation. SurPlus gibt ihm dabei Rückenwind: «Es ermöglicht mir hin und wieder Ferien. Ausserdem bedeutet es, auch einmal krank sein zu dürfen – ohne gleich Angst haben zu müssen, die Miete oder Krankenkasse nicht zahlen zu können.»
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Wir alle sind Surprise #460: Im Rausch
#459: Verstrahlt
«Weiter so» Die aktuelle Ausgabe ist eine wahrhaft positive Überraschung. Bis anhin habe ich Surprise zu oft einfach so gekauft. Einige Monate – nach der Köppel-Geschichte, die ich nicht akzeptieren konnte – dann ganz darauf verzichtet. Und nun eine Ausgabe, die mich auf die nächste freuen lässt! Super, bitte weiter so! Und ein grosses Danke, dass Ihr Surprise macht, Dank all den Verkäufer*innen, die einen super Job machen und ganz wichtig sind für das Sozialwesen. Dies als kurze Rückmeldung mit den besten Wünschen an die neue Geschäftsleiterin.
«Eindrücklich» Eindrücklich, Ihr Bericht über elektrosensible Menschen! G. BAT TAGLIA, Rorschach
#458: Mit schlechten Karten
«Aus und über die Schweiz»
Waren es früher die Wörter von Pörtner, so ist es jetzt immer die Tour de Suisse, die ich im Surprise als Erstes und mit viel Vergnügen lese. (Krimis mag ich weniger.) Alles andere kommt erst danach, ist aber meistens für mich auch sehr lesenswert und gut gemacht. Vielen Dank für die tolle Arbeit!
Schade, dass es nicht mehr so interessante Biografien von Schweizerinnen mit speziellen Lebensläufen wie dem von Anna Rhyner Kubli zu lesen gibt. Ich verstehe nicht, warum Ihr nicht mehr über die Schweiz und ihre BewohnerInnen, über Unverständnis, Ungerechtigkeiten, über die Geschichte oder auch mal Politik, über Schönes, Trauriges, Hoffnungsvolles, Persönliches und Interessantes aus und über die Schweiz schreibt.
CH. HOFSTET TER, Bern
C. GEISENDORF, Bern
M. SCHEURING, Zürich
Strassenmagazin: Tour de Suisse
«Viel Vergnügen»
Impressum Herausgeber Surprise, Münzgasse 16 CH-4051 Basel Geschäftsstelle Basel T +41 61 564 90 90 Mo–Fr 9–12 Uhr info@surprise.ngo, surprise.ngo Regionalstelle Zürich Kanzleistrasse 107, 8004 Zürich T +41 44 242 72 11 M+41 79 636 46 12 Regionalstelle Bern Scheibenstrasse 41, 3014 Bern T +41 31 332 53 93 M+41 79 389 78 02 Soziale Stadtrundgänge Basel: T +41 61 564 90 40 rundgangbs@surprise.ngo Bern: T +41 31 558 53 91 rundgangbe@surprise.ngo Zürich: T +41 44 242 72 14 rundgangzh@surprise.ngo Anzeigenverkauf Stefan Hostettler, 1to1 Media T +41 61 564 90 90 M+41 76 325 10 60 anzeigen@surprise.ngo Redaktion Verantwortlich für diese Ausgabe: Klaus Petrus (kp) Diana Frei (dif), Sara Winter Sayilir (win) Reporter: Andres Eberhard (eba), Simon Jäggi (sim) T +41 61 564 90 70 F +41 61 564 90 99 redaktion@strassenmagazin.ch leserbriefe@strassenmagazin.ch
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Ständige Mitarbeit Rosmarie Anzenberger (Korrektorat), Monika Bettschen, Rahel Nicole Eisenring, Carlo Knöpfel, Yvonne Kunz, Isabel Mosimann, Fatima Moumouni, Semhar Negash, Stephan Pörtner, Sarah Weishaupt, Priska Wenger, Christopher Zimmer Mitarbeitende dieser Ausgabe Ajar, Sebastian Backhaus, Joanie de Rijke, Carolin Gißibl, Fabian Melber Wiedergabe von Artikeln und Bildern, auch auszugsweise, nur mit Geneh migung der Redaktion. Für unverlangte Zusendungen wird jede Haftung abgelehnt. Gestaltung und Bildredaktion Bodara GmbH, Büro für Gebrauchsgrafik Druck AVD Goldach Papier Holmen TRND 2.0, 70 g/m2, FSC®, ISO 14001, PEFC, EU Ecolabel, Reach
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FOTO: KLAUS PETRUS
Surprise-Porträt
«Das nahm ich so nicht hin» «Alex Kobold ist nicht mein ursprünglicher Name, ich habe ihn zu einer Zeit angenommen, als die Zeitungen in Estland Schlechtes und Unwahrheiten über mich verbreiteten. Ich wollte damit meine Frau und meine beiden Söhne schützen. Nach der Unabhängigkeit von der Sowjetunion 1990 hatte ich in Estland angefangen, ein Kino und ein kleines Casino sowie meine eigene Kampfkunstschule zu führen. Daneben studierte ich erst Maschinenbau, später schrieb ich mich noch in Wirtschaft und Marketing ein. Eines Tages, als ich bei den Behörden die Lizenzen für meine Betriebe erneuern wollte, verlangten Beamte dafür Schmiergeld von mir. Das geht gar nicht, fand ich. Es konnte doch nicht sein, dass in diesem jungen Staat Estland alles gleich weiterlief wie vorher unter den Sowjets! Aber genau so war es – auf einmal wurde der Strom in meinem Kino abgestellt. Als ich der Sache nachging, hiess es, ich hätte Steuerschulden, ich müsse rund 100 000 Franken nachzahlen. Das nahm ich so nicht hin. Ich war ein junger Mann, wollte gegen diese Machenschaften ankämpfen und Korruptionsfälle wie meinen unbedingt aufdecken. Also schrieb ich mehrere Zeitungsartikel darüber – mit dem Resultat, dass mir deswegen eine Gefängnisstrafe von bis zu fünfzehn Jahren drohte. Zum Schutz der Familie liessen meine Frau und ich uns scheiden, danach setzte ich mich ins Ausland ab. Als Erstes reiste ich in die Schweiz. Hier begann 1999 meine seither zwanzig Jahre dauernde Odyssee durch 25 Länder in Europa, Japan, Nord- und Südamerika. Ich beantragte hier sowie in vielen anderen Ländern Asyl, doch nirgendwo wurde es mir gewährt. Estland sei ein sicheres Land, hiess es jedes Mal. Vor fünf Jahren machte ich den Test, ich wollte meine Familie besuchen und flog nach Tallinn. Am Flughafen wurde ich verhaftet, weil ich noch immer auf einer Fahndungsliste stand. Wahrscheinlich dank Journalisten im Ausland, die ich von der Gefängniszelle aus kontaktieren konnte, kam ich nach zwei Tagen wieder frei. In dieser Zeit bekam ich aber weder zu essen noch sah ich einen Anwalt. Für mich war das Beweis genug, dass ich in diesem Land noch immer nicht auf das Rechtssystem vertrauen konnte und besser weiterhin im Ausland lebe. Als ich damals meine Heimat verliess, sprach ich nur Estnisch und Russisch. Heute verständige ich mich fliessend auf Englisch, Französisch, Italienisch und Spanisch. Deutsch lerne ich nun als nächste Sprache, denn ich habe mir gesagt, wenn ich schon heimatlos bin, 30
Alex Kobold, 48, legte sich in seiner Heimat Estland mit den Behörden an und ging damit bewusst ein grosses Risiko ein.
mache ich aus der Not eine Tugend und lerne überall dort, wo ich lebe, die Sprache. Zudem habe ich in den letzten Jahren vier Bücher zu verschiedenen Themen geschrieben. Wer sich dafür interessiert, findet sie auf youthextension.wordpress.com, das ist meine Webseite, auf der ich auch blogge. Eines der Bücher trägt den Titel «Random Fluctuations – From Roulette to Stock Exchange» und zeigt, wie man mit meinen Berechnungen aufgrund von Kursschwankungen Börsengewinne erzielen kann. Ich befasse mich schon lange intensiv mit diesem Thema und habe Projekte, die ich gerne in Zusammenarbeit mit Investoren oder Geschäftspartnern umsetzen würde. Allein kann ich meine Pläne nicht realisieren, dafür fehlt mir das Geld. Um Interessierten meine Projekte online schneller und besser vorstellen zu können, versuche ich momentan Geld für eine professionelle Filmausrüstung auf die Seite zu legen. Mit dem Surprise-Verkauf vor der Markthalle in Bern wird es wohl länger dauern, bis ich mir diesen Wunsch erfüllen kann, mit einem festen Job, den ich zurzeit intensiv suche, ginge es sicher schneller.» Aufgezeichnet von ISABEL MOSIMANN Surprise 462/19
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