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Louisa Merten
Nachts kam der Briefträger
TEXT LOUISA MERTEN
Die Nachbarn sind in den Ferien, ich habe sie schon seit zwei Wochen nicht mehr gesehen, ihre Pflanzen haben auch schon so lange kein Wasser ... wo die Katze ist, frage ich mich manchmal. Lebt die noch?
Mindestens zwei Wochen sind sie weg, vielleicht auch länger, es fühlt sich an wie zwei Jahre, wenn man Schlaftabletten nimmt und dann doch jede Nacht ... warum ... ich weiss nicht, vielleicht... nein, nein das würde jetzt zu tief, zu weit ... Der Briefkasten der Nachbarn sollte überquellen, aber da kommt jede Nacht, wenn ich trotz zwei Schlaftabletten nicht einschlafen kann, der Briefträger, der ihnen die Post klaut ... heute kommt er früh, es ist erst eins und schon steht er da, über den Briefkasten gebeugt.
Ich spreche nicht von dem freundlichen Mann in der gelben Jacke, der jeden Morgen pfeifend Zeitungen in die Kästen stopft und darin vielleicht den Sinn seines Lebens sieht oder aber ein fach mit so wenig glücklich ist, dass ich, wenn ich er wäre, in Glück baden könnte, einmal täglich, jede Nacht. Ich bin schon nicht psychisch ... also zumindest nicht anderweitig.
Ich kann nicht einschlafen, weil es eben viele Dinge gibt, über die ich mir Gedanken machen muss, Worte zum Beispiel, die ihren ersten Atemzug tun, und dann saugen sie sich fest in meinem Schädel, so wie hässliche, fette, braune, dicke, schleimige ... Blutegel ... oder wie Kinder, die zur Welt kommen ... Katzenbabys! ... Lebenserwartung ist ein schlechtes Wort. Die Erwartung, wie lange man gelebt hat, aber nicht wie. Eines der schlechtesten Wörter, die ich kenne. Es verschwimmt komplett mit der Umgebung, mit dem Dunkel der Nacht, dem Dunkel in meinem Kopf. Ein grosser, dicker, lauernder Fisch.
Etwas Dunkles flattert am Fenster vorbei ... schon wieder weg ... manche Dinge gehen schnell vorüber ... eine Fledermaus. Oder ein Vogel? Ich hatte mal einen Vogel in meinen Händen, eine junge Amsel, damals, als Kind ... ein fragiles Knochengestell, umhüllt mit warmen Federn, darin lässt sich etwas grosses Freies fühlen, das ausbrechen will und gleichzeitig beinahe zerbricht.
Vielleicht sind der Briefträger und der Mann mit der Strumpfmaske, der gerade am Briefkasten nestelt, ja ein und derselbe ... vielleicht handelt es sich ja um dieselbe Person?
Mein Vorgänger mochte vielleicht Katzen. Er war Philosophiestudent, oder Hobby-Philosoph, oder ein richtiger, oder eine Leseratte, oder jemand, der Bücher sammelt, sie sich anschaut, die Buchrücken, aber nie eines aufschlägt. Als er mir den Schlüssel in die Hand drückte und mir viel Glück wünschte, stellte ich mir vor, er sei Philosoph, es hat ganz gut gepasst. Vielleicht war er aber auch Zügelmann, ich habe ihn nicht mehr fragen können,
ich wollte ihn einladen in seine Wohnung, die jetzt meine ist, Nicht damit, indem man kopfvoran gegen eine Wand rennt, das und in genau dem Moment keinem von uns beiden so richtig hab ich schon probiert, aber ich bin ja anderweitig nicht psygehörte, in dem Moment wollte ich ihn einladen, weil es ein bechisch. sonderer Moment war und es in meinem Leben nicht viele solDer Mann mit der Strumpfmaske kommt normalerweise zwicher besonderer Momente gibt, da ich äusserst selten an neue schen zwei und vier Uhr morgens, wenn ich trotz zwei und vier Orte komme, eigentlich nie, ausser dieses eine Mal, als ich die Schlaftabletten noch wach bin, nicht einschlafen kann und ihn Wohnung des Philosophen übernahm, von dem ich nicht weiss, sehen kann, wie er den Briefkasten öffnet und die Post herausob er Philosoph ist , und ihn fragen, wer er ist, aber da war er nimmt. Heute kam er früher ... Er hat einen Schlüssel, vielleicht auch schon weg. arbeitet er beim Schlüsseldienst.
Wenn man der Strasse vor meinem Fenster entlanggeht, führt Und wenn ich ihn einlade? sie zu einem Inder, der nachts geschlossen hat. Nicht viele Leute Ich könnte ihn dann vielleicht fragen, woher er den Schlüssel essen da, manchmal keine, den ganzen Tag. Ich war auch schon hat, und ein bisschen Gesellschaft in den schlaftablettengefüllten lange nicht mehr ... aber vor Jahren, da war ich’s noch und dann Nächten kann nicht schaden. Ich wollte immer mal die Post der hab ich da jeweils gegessen, gut war das, sehr gut ... besonders Nachbarn lesen, sehen, ob der Briefträger in der gelben Jacke ihdas Chicken Tikka Masala, das war irrsinnig gut. Ich erinnere nen was Besseres bringt als die Rechnungen, die ich bekomme. mich an einen Arm, der nach dem Brot Sie wirken immer so glücklich, nicht so griff und dabei das Colaglas umstiess. Al les schwamm in einer dunklen kräuseln Worte drehen Runden, wie ich, wenn ich den Mann am Briefkas ten beobachte. den Lache ... wir mussten die Teller retten und die Gläser und die Blumen ... wir hatief in meinem Schädel, Vielleicht sollte ich mal so richtig durchschlafen, ins Koma fallen für zehn ben viel gelacht ... alles war irrsinnig gut, das Leben ... schleimige schwarze Jahre, dann sähe die Welt auch ganz an ders aus, also in zehn Jahren, dann so Bis in die frühen Morgenstunden steh ich manchmal am Fenster, bis der Himmel Fische, die wachsen und wieso. Lebe ich noch in zehn Jahren? Wer füttert in zehn Jahren die Katze? grau wird, aschgrau wie die Kommode, auf der eine Vase steht, die eigentlich nicht nicht aufhören damit. Und die Pflanzen ...? Eine Wolke hat den Mond freigegeben. mir gehört, die der Zügelmann oder der Weg ist er, der Mann mit der StrumpfPhilosoph vergessen hat mitzuzügeln. Die maske. Hat sich weggeduckt in die DunVase ist nicht grau, sie ist dunkelblau und kelheit. Silbernes Licht in meinem Wohnaus Glas ... würde ich nicht immer so ruhig zimmer ... jetzt kann ich sie sehen, die sein, gäbe es die Vase vielleicht heute nicht mehr. Aber viel zu tun Wäsche auf dem Sofa, auf dem ich nie sitze und jahrelang kein gibt es ja nicht, nachts, wenn ich nicht einschlafen kann, und Besuch ... ein kleiner Tisch aus Holz. Von meinem Urgrossvater... darum steh ich dann da am Fenster und die Vase fällt nie herunhat er selbst gemacht, mitsamt den verzierten Beinen, Blumen, ter. Die Vase ist leer, Blumen sind etwas für den Frühling, der die aus den Tischbeinen wachsen ... die Wände fast weiss, aber nicht wiederzukommen scheint, bei den Nachbarn auch nicht, dazu ist es zu dunkel, was daran hängt, Bilder von ... verborgen so lange sind die schon in den Frühlingsferien. im Dunkeln.
Ab und zu lese ich, im braunen Sessel, die Knie angezogen, Licht kann so viele Dinge zum Verschwinden bringen, den eine Hand auf den Seiten, die warm werden, nach einiger Zeit, die Mann mit der Strumpfmaske und die Katze, die dann schläft ... andere Hand auf den Buchrücken gelegt. Ich schlage sinn- und Halb vier schon! Wo sind die Stunden hin? Der Mann mit der sachverwandte Wörter im Duden nach ... Strumpfmaske, leben, Strumpfmaske steht wieder am Briefkasten ... worauf wartet er? lebendig, Lebenslust, Lebensabend ... Katzen, Nachwuchs, werfen, Er sucht ... aber die Post hat er ja schon abgeholt. wachsen ... Romane lese ich auch, bekannte und weniger bekannte Wenn ich Angst habe, dann dreht sich ein Tiger in meinem ...Tynset, Dalloway, Ferrante und Fallaci, Malina, von Bachmann. Bauch, läuft nur herum zunächst und dann plötzlich holt er mit Neulich habe ich unter dem Sessel eine Kopie von Catch-22 ent seinen Pranken aus und ... ich muss aufs Klo! Nur die Angst ist deckt ... damit habe ich das Sesselbein unterlegt, vor so langer das ... nur die Angst ... wenn ich es kontrolliere und mir sage, ich Zeit, dass ich das Buch vergessen habe. Ich glaube, Yossarian trug habe keine Angst, dann geht das vorbei. Dann kann ich hier ste die Pause mit Fassung, nach all den Missionen, die er fliegen henbleiben ... der Fenstergriff, wie lange hab ich ihn schon nicht musste ... ich lese, denn irgendetwas muss ich ja tun, in den Nächmehr angefasst? Kalt und metallisch ... die Nachtluft ist kalt, kälten, in denen die Schlaftabletten auf der Zunge wegschmelzen ter als erwartet, oh, Gänsehaut ... warum macht der Körper das? wie der Schneemann der Nachbarskinder, die seit Wochen in den Sich regen im Innern, atmen, pulsieren ... Frühlingsferien sind, die deren Katze keine ... und ihre Pflanzen, «Hallo?» die noch immer nicht, man weiss ja, was damit geschieht. Und er dreht sich um.
Worte drehen Runden, tief in meinem Schädel, schleimige schwarze Fische, die wachsen und nicht aufhören damit, bis mir eines Tages der Schädel platzt von so vielen ... und dann sprudeln LOUISA MERTEN wurde in Zürich geboren und in die Fische heraus, ein Schwarm ekliger schwarzer Wortfische, Sambia im südlichen Afrika eingeschult. 2018 Schwertfische, die in meinem Kopf herumgegammelt sind, geabsolvierte sie in Langenthal die Matura und begann schwommen sind, immer mehr, immer grösser wird der Druck mit kürzerer und längerer Prosa. Sie studiert im Kopf ... und totzuschlagen sind sie nicht. zurzeit Literarisches Schreiben in Biel/Bienne.