Surprise 479/20

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Nachts kam der Briefträger TEXT  LOUISA MERTEN

Die Nachbarn sind in den Ferien, ich habe sie schon seit zwei Wochen nicht mehr gesehen, ihre Pflanzen haben auch schon so lange kein Wasser ... wo die Katze ist, frage ich mich manchmal. Lebt die noch? Mindestens zwei Wochen sind sie weg, vielleicht auch länger, es fühlt sich an wie zwei Jahre, wenn man Schlaftabletten nimmt und dann doch jede Nacht ... warum ... ich weiss nicht, vielleicht ... nein, nein das würde jetzt zu tief, zu weit ... Der Briefkasten der Nachbarn sollte überquellen, aber da kommt jede Nacht, wenn ich trotz zwei Schlaftabletten nicht einschlafen kann, der Brief­ träger, der ihnen die Post klaut ... heute kommt er früh, es ist erst eins und schon steht er da, über den Briefkasten gebeugt. Ich spreche nicht von dem freundlichen Mann in der gelben Jacke, der jeden Morgen pfeifend Zeitungen in die Kästen stopft und darin vielleicht den Sinn seines Lebens sieht oder aber ein­ fach mit so wenig glücklich ist, dass ich, wenn ich er wäre, in Glück baden könnte, einmal täglich, jede Nacht. Ich bin schon nicht psychisch ... also zumindest nicht anderweitig. Ich kann nicht einschlafen, weil es eben viele Dinge gibt, über die ich mir Gedanken machen muss, Worte zum Beispiel, die ih­ ren ersten Atemzug tun, und dann saugen sie sich fest in meinem Schädel, so wie hässliche, fette, braune, dicke, schleimige ... Blut­

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egel ... oder wie Kinder, die zur Welt kommen ... Katzenbabys! ... Lebenserwartung ist ein schlechtes Wort. Die Erwartung, wie lange man gelebt hat, aber nicht wie. Eines der schlechtesten Wörter, die ich kenne. Es verschwimmt komplett mit der Umge­ bung, mit dem Dunkel der Nacht, dem Dunkel in meinem Kopf. Ein grosser, dicker, lauernder Fisch. Etwas Dunkles flattert am Fenster vorbei ... schon wieder weg ... manche Dinge gehen schnell vorüber ... eine Fledermaus. Oder ein Vogel? Ich hatte mal einen Vogel in meinen Händen, eine junge Amsel, damals, als Kind ... ein fragiles Knochengestell, umhüllt mit warmen Federn, darin lässt sich etwas grosses Freies fühlen, das ausbrechen will und gleichzeitig beinahe zerbricht. Vielleicht sind der Briefträger und der Mann mit der Strumpf­ maske, der gerade am Briefkasten nestelt, ja ein und derselbe ... vielleicht handelt es sich ja um dieselbe Person? Mein Vorgänger mochte vielleicht Katzen. Er war Philoso­ phiestudent, oder Hobby-Philosoph, oder ein richtiger, oder eine Leseratte, oder jemand, der Bücher sammelt, sie sich anschaut, die Buchrücken, aber nie eines aufschlägt. Als er mir den Schlüs­ sel in die Hand drückte und mir viel Glück wünschte, stellte ich mir vor, er sei Philosoph, es hat ganz gut gepasst. Vielleicht war er aber auch Zügelmann, ich habe ihn nicht mehr fragen können,

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