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Strassenmagazin Nr. 479 10. bis 23. Juli 2020

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Literatur

Sunil Mann Ariane von Graffenried Marco de las Heras Lorenz Langenegger Ralf Schlatter Martina Caluori Anaïs Meier Louisa Merten


Kultur Kultur

Solidaritätsgeste Solidaritätsgeste

STRASSENSTRASSENCHOR CHOR

CAFÉ CAFÉ SURPRISE SURPRISE

Lebensfreude Lebensfreude Entlastung Entlastung Sozialwerke Sozialwerke

BEGLEITUNG BEGLEITUNG UND UND BERATUNG BERATUNG

Unterstützung Unterstützung

Job Job

STRASSENSTRASSENMAGAZIN MAGAZIN Information Information

SURPRISE WIRKT SURPRISE WIRKT

ZugehörigkeitsZugehörigkeitsgefühl gefühl EntwicklungsEntwicklungsmöglichkeiten möglichkeiten

STRASSENSTRASSENFUSSBALL FUSSBALL

Erlebnis Erlebnis

Expertenrolle Expertenrolle

SOZIALE SOZIALE STADTRUNDSTADTRUNDGÄNGE GÄNGE PerspektivenPerspektivenwechsel wechsel

Surprise unterstützt seit 1998 sozial benachteiligte Menschen in der Schweiz. Unser Angebot wirkt in doppelter Hinsicht – auf den armutsbetroffenen Menschen und auf die Gesellschaft. Wir arbeiten nicht gewinnorientiert, uns ohne staatliche sind aufHinsicht Spenden Fördergelder angewiesen. Spenden auch Sie. Surprise unterstützt seit 1998 sozial benachteiligte Menschenfinanzieren in der Schweiz. Unser Angebot Gelder wirkt inund doppelter – und auf den armutsbetroffenen Menschen surprise.ngo/spenden | Spendenkonto: PC gewinnorientiert, 12-551455-3 | IBAN CH11 0900 0000 1455 3Gelder und sind auf Spenden und Fördergelder angewiesen. Spenden auch Sie. und auf die Gesellschaft. Wir arbeiten nicht finanzieren uns ohne1255 staatliche surprise.ngo/spenden | Spendenkonto: PC 12-551455-3 | IBAN CH11 0900 0000 1255 1455 3

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TITELBILD: DARIO FORLIN

Editorial

Sichtbar Seit Jahren schenken uns namhafte Autorinnen und Autoren Texte für unsere beiden Sommer-Literaturnummern. Seien es exklusiv verfasste oder schon einmal publizierte Geschichten, es steckt immer viel Arbeit drin. Die Autorinnen und Autoren haben geschrieben, klar. Sie haben aber auch mit ihren Verlagen telefoniert, um eine Abdruckerlaubnis zu bekommen, ihre Korrektorin kontaktiert, um Schreibweisen für den Zweitabdruck in unserem Heft nochmals zu überdenken, oder einzelne Textstellen überarbeitet. Dieser Prozess zeigt, wie sorgfältig man sich mit Sprache beschäftigen kann. Beschäftigen muss. Und wie viel eine Formulierung oder ein Wort damit zu tun haben, ob man bereit ist, sich zu hinterfragen. Immer wieder, auch als Gesellschaft. Vielleicht wundern Sie sich nun, wenn Sie auf Seite 7 das Adjektiv «Schwarz» grossgeschrieben finden. Die Schreibweise kommt aus der Rassismusforschung und findet vermehrt im anti-diskriminatorischen

Sprachgebrauch Eingang. Sie will deutlich machen, dass es sich bei der Bezeichnung von Menschen als «Schwarz» oder «weiss» nicht um eine Beschreibung der Hautfarbe, sondern um konstruierte historische, politische und soziale Zuordnungen handelt. Für das grossgeschriebene Adjektiv bekäme Ihr Kind in der Schule dennoch ziemlich sicher einen Fehler angemerkt. Aber auch diese Ebene von Sprache soll ihren Platz haben. Gerade eine Literaturausgabe darf deutlich machen, dass das Nachdenken über Schreibweisen, Form­u­ lierungen und Wörter eine politische Dimension hat. Sprache macht Dinge sichtbar. «Sichtbar» – so heisst denn auch der heimliche Titel dieser Ausgabe. Wir danken ganz herzlich: Sunil Mann, Ariane von Graffenried, Lorenz Langenegger, Ralf Schlatter, Louisa Merten, Martina Caluori, Anaïs Meier, Marco de las Heras. DIANA FREI

Redaktorin

Illustrationen

4 Sunil Mann Camper

16 Ralf Schlatter

7 Ariane von Graffenried

17 Martina Caluori

Laure 10 Marco De Las Heras

Antipasti 12 Lorenz Langenegger Dario Forlin arbeitet seit dem Studium an der HKB in Bern als freischaffender Illustrator. Er zeichnet u. a. für das Magazin Reportagen und veröffentlicht unregelmässig Hefte mit seinen Zeichnungen.

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Der Geist

Das Plädoyer Visibel 20 Anaïs Meier

Die Ehre der Schildkröten 24 Louisa Merten

Nachts kam der Briefträger

26 Rätsel 28 SurPlus Positive Firmen 29 Wir alle sind Surprise Impressum Surprise abonnieren 30 Internationales Verkäuferinnen-Porträt

«Ich will meiner Tochter eine bessere Zukunft bieten»

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Camper TEXT  SUNIL MANN

No vor wenige Sekunde hett’s gäg d Windschutzschibe brätschet, dass si d Musig usem Radio chuum meh hei ghört, aber dr Räge laht hie so schnäll na wiener aafaht, die dunkle Wolche si über­ raschend schnäll witerzoge. Zwar chömene no ganzi Sturzbäch uf dr Schtrass entgäge, aber über de Bärggipfle tuet’s scho wieder uf. Jetz ghört me d France Gall wieder singe, Evidemment, d Bär­ ble hett äxtra e Playlist uf ihrem iPhone zämegschtellt, wo zu ihrer Reis passt. Uf diräktem Wäg zur Gränze, zwöi Wuche lang quer dür Frankriich u när uf Spanie, Nordküschte. «Gönnetnech das», hett ds Noemi gseit und’s garantiert guet gmeint. «Nach all dene Jahr wieder mal chly Zyt allei zäme ver­ bringe, jetz wonech kene meh ufe Sack geit, kene meh dehei ume­ hocket und nume uf ds Znacht wartet.» Es hett grinset, ds Noemi, u d Bärble hett us luter Höflechkeit mitglachet. Drü Chind u am letschte hei si grad gholfe zügle a däm sunnige Samschtig im Mai, es hett e Wohning gfunde, änt­ lech, ds Züri duss, grad bim Unispital. «Aber nume wägem Pesche u well dä d Monä kennt u die sech grad vo ihrem Lover trennt hett», hett ds Noemi erklärt. Ohni Vitamin B giengi wohnigstechnisch nüt i dere Stadt. «E Marokkaner», hetts no nachegschobe, aber d Bärble hett nid so rächt gwüsst, was si jetz mit derä Information söll aafange. Uf jede Fall si si de am Abe zrügg hei, nacheme Znacht ire Pizzeria bim Limmatplatz. Die sigi momentan grad sehr in, hett ds Noemi erklärt, aber d Bärble hett gfunde, die Pizza sigi also 4

gradso guet wie die dehei bim Don Corleone u vo däm ganze Trüffelöl ischere schnäll chly gschmuech worde. Aber gseit hett si natürlech nüt, si hett nid welle provinziell derhärcho. Zäme Zyt verbringe, tänkt d Bärble, das tönt eigetlech no guet. D Strass isch nass vom Räge, dr Asphalt fasch schwarz. Si luegt zu de Felswänd ueche, wo uf beide Site schteil id Höchi schiesse, äs ängs Tal, d Dörfer si id Häng ine bout, dr Fluss sprudlet wyt unde dür d Schlucht. Si hei Andorra u die spanischi Gränze scho voreme Wyli hinder sech glah u fahre jetz dür d Pyrenäe Richtig Pamplona. Zäme Zyt umbringe, das würd besser passe, geitere düre Chopf u si muess derby grinse. Dr Küre merkt’s natürlech u schnoubet nume abfällig. Süsch merkt dä Pflock nüt, aber wenn’s um ihn geit, scho nume we si über ihn nachetänkt, denn ischer uf ds Mal uf wundersami Wiis ganz e Gschpürige. Eigetlech hett si sech gfröit gha uf die Reis, äntlech wieder z zwöite, nume är und si, hett ghoffet, si finde de wieder zäme, ir­ gendwie. Das was isch gsy, hinder sech lah, ändgültig, u nöi aafaa. Si hei lang planet, si die verschiedene Möglechkeite düre­ gange, hei Sehenswürdikeite gägenand abgwoge, das muess me gseh ha, das schänkemer üs, dert hett’s zvill Lüt, da gsehsch meh, wett eifach e Postcharte choufsch. Si när es Wohnmobil ga ussue­ che, e richtige Camper, wome sogar chönnt über Schtock u Schtei fahre, Häng deruf u düre Schlamm, weme das ums Verrecke wett. D Bärble hett’s schön iigrichtet u alles zämegschtellt, wo me so Surprise 479/20


bruucht, Pfanne, Gleser, Gschirr, Bschteck, Chuchimässer, Brättli und es Salatsieb, e Halter für Gwürz, e Halter für d Wyfläschene, weichi Hudle, wome cha zwüsche ds Züg schtopfe, dass es bim Fahre nid umerütscht u anenandschlaht u derby öppe no kabutt geit. Derwyle hett dr Küre güebt fahre, mit some grosse Outo ischer nid gwöhnt gsi, vor allem ds Parkiere hett em Müeh gmacht. Vermuetlech si die ganze Vorbereitige Tschuld gsi, dä Iifer u d Vorfröid, dass si’s nid gmerkt hei. Ersch, wo si scho es paar Täg underwäx gsi sy, isch ar Bärble es Liechtli ufgange, ersch denn hett si gmerkt, dass si sech nüme z säge hei. Wo alles exakt so isch gsi, wie si hei welle u dr Chare – im wahrschte Sinn vom Wort – gloffen isch, hett si die Lääri bemerkt, wo wie ne dritti Person schwigend zwüsche ihne ir Fahrerkabine hocket u mit jedem Kilometer meh Platz iinimmt. Aber natürlech tüe si scho sit Tage, wie nüt wär. Näme sech zäme, well uf das hei si sech doch gfröit, zäme Zyt verbringe, wenn d Chind usem Huus sy, sech nöi kennelehre, ohni dass im­ mer immer öpper derby isch und schtört, sech nöi verliebe vilech, wär weiss. Die jahrelangi Üebig chunnt ne jetzt z guet, mit de Chind, vor allem wo si no sy chly gsi isches mängisch eifach nid andersch gange. «Chaschmer schnäll dr ... Ah merci.» «No öppe füf Minute, de si de d Würscht ...» – «Dr Salat isch scho parat.» «Da vorne de rächts, wenn ...» – «Die Chilche müessemer nid unbedingt gseh.» «Wosch du nomal es ...» – «I ha d Zähn scho putzt.» Si tuusche Belanglosikeite us, kenne sech nach all dene Jahr so guet, dass Halbgschpräch länge, u trotzdäm chunnt’s dr Bär­ ble so vor, wie wenn öpper da wäri, wo se duurend würd under­ bräche. D Chind hei alles zerschtört, wo jemals zwüsche üs isch Surprise 479/20

gsi, tänkt si u lueget usem Fänschter, üsi Beziehig isch wiene Rhebarberechueche ohni Belag. Alles wäggfrässe, wo guet dran isch gsi, übrigblibe isch nume e Chlumpe schwäre, chläbrige Teig. D Dame im Navi mäldet sech mit schtränger Schtimm u befiehlt, bim nächschte Chreisverchehr die zwöiti Usfahrt z näh. Si wie­ derholt’s no drü Mal, wie wenn dr Küre schwär vo Begriff wär oder sone unfolgsame Goof, u när fahre sie mit vierzg dür dä Schiort. Nüt schöns, d Hotel alli wüeschti Chlötz mit bruuner Fassade, schnäll uechezoge, ohni Sinn für Ästhetik, es hett äuwä pressiert mit em Gäld verdiene. Schono deprimierend, sone Win­ tersportort im Summer, ohni Schnee gseht alles kahl u sinnlos us, d Schtrasse mönscheläär, überall zuenegi Gschäft u d Fänsch­ terläde si verriglet, e Geischterschtadt. Es hälls Pling isch z ghöre, wi vome Glöggli, u d Bärble luegt verwunderet ume, was ächt das chönnt gsi sy. «Dis Handy isch äuwä mit em Navi verbunde», brummlet dr Küre u zeigt ufe chlyn Bildschirm, wo dank eme Suugnapf ar Windschutzschibe chläbt. D Schtrassecharte isch druf z gseh und es winzigs Wohnmobil, wo ihri Position markiert. Am obere Rand isch e Mäldig ufploppet. «Jedefalls zeigt’s aa, dass du grad es Mail hesch übercho. Vom Chilcheverein, öppis wägeme Sunntigs­ brunch. Meh gsehni hie nid.» Är grinset, u d Bärble holt ihres Handy us dr Handtäsche, wo uf dr Ablag ligt, u trückt ratlos druf ume zum Usefinde, weli Funktion genau si mit däm Navi ver­ bindet. «Bluetooth? Isches äch das?» Dr Küre zuckt mit de Schultere. «Schalt’s mal us, gsehsch ja de, öb’s funktioniert.» Si schiebt dr virtuell Chnopf gäg linggs, so dass me nüt meh Grüens gseht, u luegt de e Momänt lang sorgevoll uf d Aazeig. «Also ig ha das emel nid iigschalte, das bruuchi doch nie.» 5


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Es hett grad nomal plinget, u ufem Navibildschirm isch e Whatsapp-Nachricht uftoucht. «I cha di eifach nid vergässe, Barbara», schteit da. «Scho nume dr Gedanke a diner schöne Brüscht ...» Dert bricht dr Text ab, dr Räschte wär uf dr Bärble ihrem Handy z läse, wo si jetz aber grad ihri Finger so fescht drumumchlammeret, dass d Chnödli wiiss uflüchte. D Temperatur ir Kabine gheit innert Sekundebruchteil undere Gfrierpunkt. D Bärble hett uf ds Mal es trochnigs Muul, wie wenn si e Hampfele Sagmähl id Schnurre hätt übercho, u dr Küre luegt eifach gradus uf d Schtrass. Ohni es Wort z wächsle fahre si witer, dr Goldman singt Nous ne nous parlerons pas, u das passt grad wie d Fuuscht uf ds Oug. E Schtund schpeter fahrt dr Küre näbeuse. Si hei ds änge Tal hinder sech glah, d Gägend isch hie ländlech, schier ändlosi Weize­ fälder, chly Wald u ab u zue e Purehof. Sitere Ewikeit si sy dür kes Dorf meh gfahre, ds letschte isch äuwä Aínsa gsi, d Bärble cha sech a ds Ortsschild erinnere, wo si bim Verbyfahre hett gseh. Schtumm schteit dr Küre uf u geit, ohni d Bärble aazluege, dür die nidrigi Verbindigstür zwüsche de beide Sitze hindere, vermuetlech muess är ga bisle. D Bärble süüfzt tief u fragt sech, warum dä Tschumpel sech immer wieder muess mälde. Si hett ihm doch dütsch u dütlech gseit, dass es verby sig, dass si nüt meh mit ihm well z tue ha. Si schtigt us, zum chly d Scheiche z schtrecke, u spaziert uf dä Purehof zue, wo es guets Schtück vor Schtrass ewäg schteit, zmitts ime abgärntete Fäld. Raps äuwä, tänkt d Bärble. Ds Ge­ böide isch zimlech am Vergheie, eigetlech scho meh e Ruine, im Dach hett’s riesegi Löcher u vorem Schtall schteit e roschtige Renault, wo vilech mal grüen isch gsi, d Pneu alli flach. Efeu wachst i dicke Schträng über das, wo vor Fassade übrig blibe isch, blindi Fänschter, wo me häreluegt, d Schibene verbroche, ke ein­ zigi isch meh ganz. Dür d Wänd gseht me teilwiis uf ds Fäld uf dr andere Site vom Huus. Zimlech malerisch, findet d Bärble, aber es geit o öppis Un­ heimlechs vo däm Ort us, e tragischi Gschicht vilech, vor langer Zyt passiert u wo nie öpper hett verzellt. Es tschuderetse, u wo si sech umdräit, gseht si dr Küre wieder ufem Fahrersitz hocke. Är schiint öppis z sueche, bückt sech u taschtet äuwä ufem Bode ume, klappet d Sunnebländi ache, suecht ds Armaturebrätt ab u luegt ids ufklappbare Fach vorem Biifahrersitz. Är schüttlet dr Grind, isch verruckt, das gseht sinem vo Wytem aa. Als hättne dr Blitz troffe, luegter uf ds Mal zu ihre übere, u d Bärble schtreckt langsam dr Arm id Höchi u laht dr Outoschlüssel zwüsche Tuume u Zeigfinger bambele. Si schtarre sech es paar Sekunde lang aa, u dr Küre schtigt schlussäntlech us, holt d Hand­ täsche, woner usem offene Fänschter eifach uf d Schtrass use gheit hett, u wartet mit gnietiger Miene, bis d Bärble äntlech chunnt. Im Camper isches still wie ime Grab, wo si witerfahre, nume d Vanessa Paradis singt, u ab und zue ghört me es Pling, we d Bärble wieder es Mail überchunnt.

SUNIL MANN wurde als Sohn indischer Einwanderer im Berner Oberland geboren und lebt in Aarau. Er ist Autor von Kriminalromanen, Kinderbüchern, Hörspielen und Kolumnen. 2019 erschien sein erster Jugendroman «Totsch», im Frühling 2020 «Der Schwur», ein Thriller.

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FOTO: EKE MIEDANER

«Mängisch füehre die Grät es Eigeläbe.» «Schiint fasch. Irgendeinisch regiere die d Wält u mir merke’s nid emal.» «Das tüe si doch scho lang.» Bärble versicheret sech, dass das Bluetooth würklech usg­ schaltet isch u versorgt denn ds Handy wieder ir Handtäsche. D France Gall isch ir Zwüschezyt vom Johnny Hallyday abglöst worde, no zwöi Schtück vo däm, när chunnt de dr Jean-Jacques Goldman, das weiss si no. «Du, was meinsch?», faht dr Küre plötzlech wieder aa, u d Bärble fahrt zäme, well si nid erwartet hett, dass er so gly wieder öppis seit. Si Schtimm tönt ruuch, aber si chunnt nid druuf, wa­ rum ihre Maa uf ds Mal so verlägen isch. «Was meinsch?», seiter nomal. «Weimer hüt usnahmswiis mal im Hotel übernachte?» «Wie chunnsch jetz uf die Idee?» D Bärble isch erschtuunt, si hett dr Iidruck gha, dr Küre hangi so a sim Camper, dass ne ke zäh Ross ines Hotel hätte bracht. «Ha nume tänkt», machter u grinset nervös. «Was hesch tänkt?» Uf ds Mal schmöckt si, us welem Egge dr Wind wäiht. «Du und ig, das wär doch no romantisch. U dert gäb’s sicher es feins Zmorge mit warme Gipfeli, Baguette, früsch presstem Orangschesaft u Prosecco, vilech sogar e Wellnessberiich, das gfallt dir doch no.» Si luegt zum Fänschter use u lächlet. Vielech chunnt gliich no alls guet. «We de meinsch ...» «Oder nid?» «Du muesch wüsse.» «Aber wärsch derby?» «Ja, sicher. Süsch müessti ja allei im Camper ufem Parkplatz vorem Hotel übernachte.» Är lachet u leitere d Hand ufe Oberschänkel, u si weiss haar­ genau, was das bedütet. Si leit ihri Hand uf sini u trückt se liecht, u plötzlech chunnt ar Bärble alles ganz eifach vor. Scho wieder isch es Pling z ghöre, u d Bärble holt gnärvt ds Handy wieder füre. «Jetz hani doch vori ...» «Ha ja gseit, Eigeläbe.» «Aber huere Siech nomal!» «Das isch halt eifach ...» Dr Küre verschtummt zmitts im Satz.


Laure TEXT  ARIANE VON GRAFFENRIED

Die Frau im Hintergrund auf Édouard Manets Bild «Olympia», eines der wenigen Schwarzen Modelle in der europäischen Malerei

Dunkel die Farbe der Wand, dunkel deine Haut, Laure, du stehst im Hintergrund,

Vielleicht bist du Pianistin im 9ème und schreibst Gedichte

ums Haar einen Turban, rosa Gewand, in der Hand ein Bouquet.

zwischen den Schichten als Elefantendresseur in den Folies Bergère.

Eine Katze schnurrt durchs Atelier. Hinter der Staffelei siehst du den Maler,

O Laure, ça fait des heures que tu poses là, les siècles passent hinter Olympia.

der versinkt in Wahrheiten von Licht und Schatten, im Skript der Kontraste auf seiner Palette, in den Farbflächen einer Welt als Bordell ohne Tiefe: Das Pariser Leben, die Poesie der Wirklichkeit, wie er sie sieht, während du dir die Beine in den Leib stehst.

Dunkel die Farbe der Wand, dunkel deine Haut. Laure, du stehst im Hintergrund und siehst, wie ein Maler versinkt, in Wahrheiten von Licht und Schatten. Sein Name ist Manet, er malt eine Kurtisane mit Katze. Sie streckt den Körper,

O Laure, ça fait des heures que tu poses là, les siècles passent hinter Olympia.

weiss und nackt, auf dem Diwan und blickt spöttisch, wie eine Königin, direkt in die Augen der Republik.

Längst wärst du reif für ein déjeuner im café an der rue de Richelieu

Du schaust vertraut, reichst ihr das blühende Präsent eines Kunden

mit Baudelaire, Zola und der Aktrice Duval, der «Vénus Noire» aus den «Fleurs du Mal».

und hörst schon den Hohn unter Zylindern im Salon, die Klientel im Frack,

Bourgeois, Bohemien und Knecht, Leute ohne Namen, Halbweltdamen.

die mit Schirm und Stock die Olympierin bedroht. Du siehst, das Bild wird gut,

Tür an Tür in der capitale, Kolonialherrschaft, Leben in Komplizenschaft.

ein Meisterwerk. Und du weisst, ohne dich wäre es das nicht.

Vielleicht wäschst du die Strümpfe von Dumas, vielleicht die Unterhosen von Napoléon trois

FOTO: ALEXANDER JAQUEMET

oder die Hemden deines Malers, dem du drei Mal Modell stehst: Wie du als nounou mit blassen Kindern der Hautevolee spazieren gehst oder eine Perle trägst im schwarzen Ohr, wie das Mädchen von Vermeer.

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Der Text ist erstmals erschienen in Fitzgerald & Rimini: «50 Hertz», CD mit Gedichtband, Verlag Der gesunde Menschenversand 2019. ARIANE VON GRAFFENRIED ist Autorin und promovierte Theaterwissenschaftlerin. Sie ist Mitglied der Autor*innengruppe Bern ist überall und tritt als Spoken-Word-Performerin mit dem Musiker und Klangkünstler Robert Aeberhard im Duo «Fitzgerald & Rimini» auf. Für ihre Texte wurde sie mehrfach ausgezeichnet.

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Antipasti TEXT  MARCO DE LAS HERAS

Reime für Mutter Mutter: Wo sind meine Verse, die sich reimen? Sohn: Sie hängen zum Trocknen auf der Wäscheleine. Mutter: Warum hängen sie denn dort? Sohn: Der Dreck musste aus ihnen fort. Mutter: Ich wusste nichts von ihrem Schmutz. Sohn: Weil ich schwieg, zu deinem Schutz.

Bröselnder Familienteig des Zwetschgenkuchens. Hartes Gabelknacken auf den Tellern als hätten wir das Deckenmuster überwunden. Braunrunder Kaffeetassenabdruck wie ein Guckloch zum Gesprächsverlauf der Beine. Die von ganz anderem erzählen. Nichts wohin umgefallenes Salz angereichter Zucker hausgeschlagene Sahne weist, in der Hoffnung, dass die Sauerzwetschgen schweigen, bis die Kopfhöhe den Strich am Türrahmen übersteigt.

Einen T(Raum) ausschreiten: Auf dem Sandplatz das Leben wieder in Erwägung gezogen. Mit der Markierungsmaschine das Feld gezeichnet, beobachtet wie der Rasen wächst.

hinter dem zappelnden Tornetz sitze ich den engmaschigen Verlust ab: Nach Jahren auf der Ersatzbank habe ich endlich den Traum aus der spastischen Hand gelöst. Im Mittelfeld entscheiden sich Spiele, im Zweikampf, unter der Verwirrung von Übersteigern. Ich fühle die Schuld eines Fehlpasses und die Kraft, die seine Wiedergutmachung benötigte. Schmecke das Isolat, wenn ich den Ball über die Zeit lupfe. Und trotzdem empfinde ich Freude oder träume zuzeiten von dem Jubel eines Tores in der Nachspielzeit, mit der Stimme meiner Mutter im Ohr – ja – manchmal wird meine Erinnerung durch’s Zwischenbein getunnelt. Stollenabdrücke auf meinem Wadenbein lassen mich wieder den unerträglichen Wärmestau der Stutzen verstehen und retten mich vor Fallrückziehern. In der zweiten Halbzeit erhöhte ich den Ballbesitz, ohne den Ball auch nur einmal zu berühren.

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Auf der zweiten Hautschicht des Wassers drückt dein Gesicht durch die Klarsichtfolie schlafend siehst du mir entgegen; mit Lidern, lautlos, Bläschen Tautropfen auf den Wangenknochen dass ich mir nicht denken kann hineinzutappen mit den Fingern kleine Wellen zu schlagen, so glatt ist dein Gesicht, so falten-, makellos so zart und friedlich siehst du drein dass ich mir nicht denken kann dich aufzuwecken.

(Klassentreffen) die Klasse das Treffen der Scheitel der Punkt ohne Stimme die Lage & hinter dem Grund (dort sitzen wir rund) Sind wieder die Käuer das Nie in der Lage im Tau & im Ziehen (unsre Kräfte das Fliehen) Mit dem Flimmern in Kammern so simpel das Past ist der Kaffee im Satz (wir sitzen am Platz)

Zyklop Minuten fielen ins Zwischenauge. Wirbel um Wirbel hat Mutter mein Namensskelett nachgefahren.

FOTO: ZVG

Den Darm ausgerollt und das Persermuster des Teppichs entschlüsselt: Die Kindheit war immer schon ein warmer Lötkolben auf dem kleinen Finger.

Rücke die Blende stocke das Gehen unsre Rollen im Tausch (ein Versehen)

MARCO DE LAS HERAS wurde in Nürnberg geboren und studierte Literarisches Schreiben in Biel/Bienne. Nach zahlreichen Veröffentlichungen von Kurzprosa erschien vor Kurzem sein erster Roman «Das Prinzip des Fallens» im Self-Publishing. Derzeit arbeitet er als Lehrer für Sprachen in Wien.

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Shirana Shahbazi, [Diver-02-2011], 2011, Silbergelatineprint auf Aluminium, 90 × 70 cm, Kunsthaus Zürich, Vereinigung Zürcher Kunstfreunde, Gruppe Junge Kunst, 2015 © Shirana Shahbazi

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Der Geist TEXT  LORENZ LANGENEGGER

Julian betritt die Siedlung, in der Bela mit seiner Familie wohnt. Er greift sich in den Nacken. Seit heute Morgen wird er das Gefühl nicht los, dass ihm etwas im Nacken sitzt. Er bleibt stehen und dreht den Kopf. Tatsächlich, da ist nicht nichts. Da sind nicht nur die Strasse und auf der anderen Seite die Häuser. Und obwohl Julian noch nie so etwas gesehen hat und auch nicht beschreiben kann, was er sieht, erkennt er auf den ersten Blick, was es ist, das ihm im Nacken sitzt. Hinter Julian steht ein Geist. Das ist sein erster Gedanke: Ja, ganz eindeutig, ein Geist. Sein zweiter Gedanke: Das kann nicht sein. Es ist Mittwoch, kurz vor zwei Uhr nachmittags. Er ist auf dem Weg zu Bela. Links ist die Wiese, auf der sie im Sommer Fussball spielen, rechts die Müllcontainer, hinter ihm die Strasse. Die kalte Wintersonne scheint flach zwischen den Häusern hindurch. Aber dass es Tag ist und die Sonne scheint, ist nicht das Problem. Egal ob Tag, Nacht oder Geisterstunde. Das Problem ist, dass Julian mit zwölf Jahren definitiv zu alt ist, um an Geister zu glauben. Er weiss, dass es keine Geister gibt. Und das sagt er dem Geist auch, leise, aber deutlich. «Mir egal», antwortet der Geist. Julian schliesst die Augen und dreht sich dreimal im Kreis. «Es gibt keine Gespenster. Es gibt keinen Osterhasen. Es gibt keinen Samichlaus.» «Mir egal, damit habe ich nichts zu tun», hört er den Geist antworten, noch bevor er die Augen wieder öffnet. «Was bist du denn, wenn du kein Gespenst bist?» «Das hast du doch auf den ersten Blick erkannt. Ich bin ein ganz normaler Geist.» Julian schüttelt den Kopf: «Das gibt es nicht. Es gibt keine normalen Geister.» Der Geist macht ein komisches Geräusch. Es klingt nicht wie von einem Menschen, trotzdem erkennt Julian es als Seufzer. Als ob der Geist in einer fremden Sprache seufzen würde. «Und warum bist du ein Geist und kein Gespenst?» will Julian wissen. «Ein Gespenst ist das, was sich die Menschen ausdenken. Geister haben nichts mit Menschen zu tun. Uns gibt es auch, wenn ihr nicht denkt, also immer, uns gibt es schon immer.» Julian denkt nach: «Und was ist mit der Geisterbahn? Die ist auch von Menschen gemacht.» Der Geist nickt anerkennend: «Richtig. Deshalb müsste es auch Gespensterbahn heissen. Geisterbahn ist falsch.» Julian dreht sich um. Es ist mühsam, dass der Geist immer schräg hinter ihm steht. Er will ihn von vorne sehen. Aber kaum hat er sich umgedreht, steht der Geist wieder hinter ihm. «Hast du auch einen Namen?», fragt er. «Klar habe ich einen Namen.» «Und der ist?» «Birke.» «Wie der Baum?» «Nein. Wie Birke», sagt der Geist. «Wie der Baum.» 12

«Nein. Birke wie Birke.» «Sag ich doch. Birke der Baum.» Wieder macht der Geist dieses Geräusch. Es tut weh in den Ohren. Das Seufzen ist so tief und voller Verzweiflung, dass der Geist Julian auf der Stelle leid tut. Er will nett sein und hält ihm die Hand hin. «Ich bin Julian.» Der Geist nimmt seine Hand, und da erst erschrickt Julian. Er zieht die Hand zurück und läuft davon, so schnell er kann. Es ist eine schreckliche Angst, die nach ihm greift. Sie umklammert sein Herz und drückt zu. Ganz anders, als wenn er die Abkürzung durch den Park nimmt, obwohl es schon dunkel ist, auch nicht wie bei der Matheprüfung, wenn er die Aufgaben nicht versteht, am ehesten vielleicht wie damals, als er eine Stunde vor der verschlossenen Wohnungstür wartete, ohne zu wissen, wo seine Mutter blieb. Zwölf Jahre hin oder her und zu alt für Geister, so etwas wie diese Hand hat er noch nie gehalten. Er hat den Durchgang zum Hof schon fast erreicht, als er neben seinem Ohr die leise Stimme des Geistes hört, der ihn fragt: «Wo läufst du hin?» Julian ist mindestens fünfzig Meter gelaufen, so schnell er kann, und im Laufen ist er der Schnellste der Klasse, trotzdem ist der Geist neben ihm, kaum steht er wieder still. Julian spürt es. Er traut sich nicht, den Kopf zu drehen. Vielleicht verschwindet der Geist, wenn er ihn nicht anschaut. Das ist kindisch, schimpft er mit sich. Ein Zwölfjähriger denkt nicht so. Das Haus, die Wiese, der Baum und die Müllcontainer, sie sind auch da, wenn er nicht hinschaut. Nur kleine Kinder, der Bruder von Bela zum Beispiel, der glaubt, dass es nur das gibt, was er sieht. Wenn sie Verstecken spielen, hält er sich die Hände vors Gesicht und glaubt, dass sie ihn nicht sehen können. Julian versucht nicht zu weinen. Er spürt einen dicken Kloss im Hals, der sich nicht schlucken lässt. Die Angst treibt ihm die Tränen in die Augen. Damals vor der Tür hat er auch angefangen zu weinen, obwohl er es nicht wollte. «Du hast Angst. Das ist normal», sagt der Geist. Er ist also noch da. Julian wird wütend. Er dreht den Kopf jetzt doch. «Was willst du von mir?» Birke schaut ihn erstaunt an. «Wie kommst du darauf, dass ich etwas von dir will?» «Du tauchst plötzlich hier auf, und dann sagst du, dass du nichts von mir willst?» «Ich bin ein Geist, wie soll ich sonst auftauchen, wenn nicht plötzlich?» «Dann kannst du auch plötzlich wieder verschwinden.» Birke schüttelt den Kopf. «Das geht nicht.» «Und warum nicht?» «Weil du etwas von mir willst.» Julian muss laut lachen. Er lacht nicht, weil es lustig ist, sondern weil er Angst hat. Surprise 479/20


Julian hat die Angst inzwischen so weit unter Kontrolle, dass er davongehen kann. Langsam, Schritt für Schritt geht er auf das Haus zu, in dem Bela mit seinen Eltern und seinem kleinen Bruder wohnt. Er versucht, das Gefühl zu ignorieren, dass Birke an seiner Seite bleibt. Erst als er vor Belas Haustür steht, kann er nicht anders. Er schaut sich um, und da ist er, der Geist, an der gleichen Stelle wie vorher, eine Handbreit neben und einen Fuss hinter seiner rechten Schulter. Jetzt platzt Julian der Kragen. «Du kannst nicht mitkommen! Bela ist mein Freund. Und was werden seine Eltern sagen, wenn ich einen dahergelaufenen Geist mitbringe?» «Dann sind wir uns also einig, dass es mich gibt? Das ist ein Anfang.» Julian fühlt sich ertappt, «Nein!», ruft er. «Warum gehst du dann nicht einfach hinein zu deinem Freund, wenn es mich nicht gibt?» Julian drückt trotzig auf den Klingelknopf und wartet. «Warum machst du dir Sorgen, was seine Eltern sagen könnten?» «Sei still!» Es knackt durch das Lochgitter der Gegensprechanlage, dann summt der Türöffner. Julian schlüpft hinein und drückt die Tür hinter sich gleich wieder ins Schloss. Er lehnt mit dem Rücken gegen das Glas und atmet tief durch. Er wirft einen Blick über die Schulter. Da steht Birke, auf der anderen Seite der Scheibe, und schaut ihn dumm an. Ihm braucht kein Geist frech zu kommen. Soll er schauen, wo er bleibt. Kaum aber macht Julian einen Schritt auf die Treppe zu, spürt er Birke wieder neben sich. Und was ein weiterer Beweis ist, dass es den Geist nicht geben kann, weil es niemanden gibt, der durch geschlossene Glastüren gehen kann, ist gleichzeitig das Gegenteil, Julian schluckt, ein Beweis, dass Birke ein Geist ist.

LORENZ LANGENEGGER lebt in Zürich und Wien. Autor zahlreicher Theaterstücke, Dreh­bücher und Romane, zuletzt «Jahr ohne Winter», Roman, Jung und Jung, Salzburg 2019.

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Der Andere Literaturklub

FOTO: RUTH ERDT

«Was soll ich von dir wollen?» Birke schaut ihn mit ernstem Gesicht an. Er verzieht keine Miene. «Das weiss ich nicht, das musst du selbst herausfinden.» Julian will hier weg. Er will zu seinem Freund Bela. Er will nichts von diesem Geist. «Bela wartet schon seit zehn Minuten auf mich.» «Ist das lange?», fragt Birke. «Zehn Minuten sind zehn Minuten.» Der Geist zuckt mit den Schultern. «Ich weiss leider nicht, was eine Minute ist.» «Zähl bis sechzig, dann weisst du es.» «Zeit kann ich mir nicht vorstellen. Eine Sekunde, eine Minute, ein Jahr, ein Jahrhundert, alles das gleiche.» Julian zählt langsam bis drei. «Das ist überhaupt nicht das gleiche.» «Für mich schon.» «Wie alt bist du?» «Damit fängt das Problem an. Geister haben kein Alter.» Julian schöpft Hoffnung. «Weil es euch nicht gibt!» ruft er triumphierend, aber Birke lässt sich davon nicht beeindrucken. «Du bist vor der Existenzangst davongerannt. Das ist die schlimmste Angst, die es gibt.» Julian versteht den Geist nicht. «Was soll das sein? Existenzangst?» Birke erklärt es ihm: «Du weisst, dass es dich gibt. Und du glaubst zu wissen, dass es mich nicht gibt. Und jetzt gibt es mich doch. Also kannst du nicht mehr sicher sein, ob es dich wirklich gibt.» Julian spricht die Sätze von Birke im Kopf nach, um sie zu verstehen. Er kommt zum Schluss, dass Birke, indem er über die Angst redet, von der Zeit ablenken will, weil er sich damit nicht auskennt. «Ich bin zwölf Jahre alt. Ich lebe jetzt. Es gibt gestern, heute und morgen. Eine Sekunde ist zack vorbei, ein Jahrhundert ist eine halbe Ewigkeit. Wenn du die Zeit nicht kennst, lebst du nicht, also gibt es dich auch nicht.» So wie ihn Birke anschaut, rechnet Julian schon mit dem nächsten Seufzer. Birke aber schüttelt nur den Kopf. «Wir müssen noch viel klären zusammen.» «Wir müssen gar nichts!»

KOR IRQ

Asien und Lateinamerika literaturklub.ch 13




Das Plädoyer TEXT  RALF SCHLATTER

«Sie haben ganz richtig gehört, hochverehrte Frau Richterin, ich verteidige mich gerne selbst. Weil erstens halte ich wenig von Verteidigern, vielleicht mal abgesehen von Ricardo Rodriguez und weiland Charly In-Albon, aber auch nur darum, weil ich mich dann immer wieder fragen kann, was das genau sein soll, ein rustikaler Verteidiger, aber wie gesagt, am liebsten gar keiner, und zweitens frage ich Sie, verehrte Frau Richterin: Braucht Liebe einen Anwalt? Nun gut, das kam so. In Liebesdingen bin ich, um es einmal vorsichtig auszudrücken, eine nicht gerade mit Glück gesegnete Person. Mit anderen Worten, mit Frauen hatte ich ein Scheisspech. Ich erspare Ihnen gerne einen umfassenden Rückblick, obwohl, lange würde es ja nicht dauern, das kann man an einer Hand abzählen, ach was, an einem Finger, also einem halben, um genau zu sein, denn das mit Sabine war ja vorbei, kaum hatte es angefangen, aber bitte, was kann ich dafür, dass Frau Obermüller just im quasi entscheidenden Moment mit einer kleinen Blaumeise im Maul ins Schlafzimmer gelaufen kommt, und Sabine entpuppt sich als Ornithologin ersten Grades, und erlauben Sie mir den Kalauer, Frau Richterin, das mit dem Vögeln war natürlich gelaufen. Ja, das Pech klebt mir wahrlich an den Schuhen. Und kommen Sie mir jetzt bitte nicht mit der Kindheit. Ja, meine Eltern trennten sich, als ich sieben war, ja, mein Vater war ein Taugenichts, nein, meine Mutter hat es nicht geschafft, mir meine Schuldgefühle zu nehmen, ja, sie hat mich stattdessen mit Liebe und Zucker überhäuft, nein, die meisten meiner Zähne sind nicht mehr original, ja, glauben Sie mir, ich kenne, wie sagt man, den Kanon, den Sermon, die Pappenheimer. Also. Nun zum eigentlichen Kern dieser ganzen Veranstaltung. Warum meine Katze Frau Obermüller heisst, das ist eine längere Geschichte, die erzähle ich Ihnen gerne mal bei einem Bier, so unter uns, ganz ungezwungen, nach meinem Freispruch. Frau Obermüller also, für ihre reifen elf Jahre immer noch gut im Schuss, und wäre sie ein Mensch, sie wäre so eine dieser fitten Mittfünfzigerinnen mit eigener Modeboutique und frechem Kurzhaarschnitt, allwöchentlicher Nordic-Walking-Gruppe und engen Jeans mit so Strass-Steinchen dran, wenn Sie verstehen, was ich meine. Und Dixieland. Am liebsten hört sie Dixieland. Frau Obermüller also. Kommt eines Abends nach Hause, wie immer, frisst ihre Portion Trockenfutter, und auf einmal liegt so ein Duft in der Küche, und ich frage mich, woher dieser Duft kommt, ich schaue zum Fenster hinaus, aber von dort kommt er nicht, ich gehe wie ein Depp mit der Nase schnüffelnd durch die ganze Wohnung, wo kommt dieser verfluchte Duft her, Frau Obermüller geht an mir vorüber in Richtung ihres Körbchens und die Duftnote schwillt an, und tatsächlich: Es ist Frau Obermüller, die duftet. Aber nicht nach Katzenminze oder frischer Luft. Nein, nach Eau de Toilette. Zuerst war ich irgendwie spontan gerührt.

Hat sich meine Katze parfümiert, damit mal wieder der Duft einer Frau durch die Wohnung geht? Wie macht Al Pacino doch gleich, in «Scent of a Woman»? Hu-aah! Nun ja. Als Nächstes dann die Frage: Wo hat sie sich diesen Duft geholt. Und übrigens: Es war ein guter Duft. Ein verführerischer Duft. Keiner dieser billigen. Woher also. Tja, und so kam ich auf die Idee mit der Catcam. Also die Kamera, die man der Katze um den Hals hängt. Und die dann Bilder überträgt, auf mein Handy. Also hab ich die bestellt und Frau Obermüller um den Hals gehängt. Und dann die ganze Nacht vor dem Handy verbracht. Alle zwei Minuten ein Bild. Ich sage Ihnen, dagegen ist jeder «Tatort» ein Kirchenlied. Na ja, wobei die Bilder jetzt nicht der Hammer waren, also rein inhaltlich. Technisch natürlich einwandfrei. Aber ja, was eine Katze halt so sieht. Wobei die Katze ja sieht, in der Nacht. Ich sah vor allem schwarze Umrisse. Organischer Natur. Also Wiesen, Baumstämme, Büsche. Ich muss dann kurz eingenickt sein. Als ich wieder auf den Bildschirm schaue – Ach, Frau Richterin, ich erröte noch immer, wenn ich daran denke, ich habe mir das wirklich nicht ausgesucht, ich bin nicht so einer, das können Sie mir glauben, was kann ich dafür, wo es meine Katze hinzieht. Als ich also auf den Bildschirm schaue, sehe ich wieder Umrisse. Organischer Natur. Aber heller. Und wie soll ich sagen, weiblicher. Schenkel. Bauch. Brüste. Meine Güte. Und dann natürlich wieder warten. Die längsten zwei Minuten meines Lebens. Das nächste Bild: Ein Unterkinn. Das nächste Bild: Unterkinn, unverändert. Das nächste Bild auch. Frau Obermüller schläft auf ihrem Bauch! Auf ihrem nackten Bauch! Frau Richterin. Wie wir alle hier bin auch ich nur ein Mensch. Das heisst, nur ein Mann. Ein heterosexueller, alleinstehender Mann. Eine Stunde später kam Frau Obermüller nach Hause. Duftend. Aufgrund der Bilder war die Frau nicht zu lokalisieren, glauben Sie mir, ich bin stundenlang mit meinem Handy in gebückter Haltung durchs Quartier geschlichen. Also in der kommenden Nacht wieder auf dem Sofa. Morgens um zwei wieder Schenkel, Bauch, Brüste. Und dann plötzlich ein Gesicht. Ansatzweise. Und na ja, nicht sehr vorteilhaft. Wie man halt aussieht, wenn man liegend den Kopf hebt und die Katze auf seinem Bauch ansieht. Unterkinn, Halsfalten, Nasenlöcher. Aber der Mund! Und die Augen! Ach je. In der dritten Nacht, das ist jetzt ein wenig wie im Märchen, da passiert’s doch auch immer beim dritten Mal, in der dritten Nacht also, wieder meine gute Frau Obermüller auf dem Bauch der Unbekannten. Dann wieder der Kopf, leicht angehoben. Zwei Minuten später: Das Gesicht, von vorn, ganz nah an der Kamera. Wunderschön. Und lächelnd. Irgendwie vielsagend. Und wieder zwei Minuten später: ein Zettelchen im Bild. Darauf geschrieben: Monika. Meine Güte. Also ich kann es mir nur so erklären: Wenn Frau Obermüller, auf welchem Weg auch immer,

Ich bin nicht so einer, das können Sie mir glauben, was kann ich dafür, wo es meine Katze hinzieht.

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FOTO(1): CHRISTOPH HOIGNÉ, FOTO(2): MICHEL GILGEN

zu Monika ins Zimmer schlüpfte, hat sie auch geduftet. Aber eben nach mir. Nach meinem Aftershave. «Denim», falls Sie das interessiert. Für Männer, denen alles – nun ja. Und nun seien Sie ehrlich, Frau Richterin. Frau Obermüller als duftender Gobetween. Das ist doch ein schönes Bild, das müssen Sie doch einfach neidlos und strafmildernd anerkennen, das ist doch romantisch, ich bitte Sie, das geht doch ans Herz. Nun also, von da an Nacht für Nacht das gleiche Spiel. Frau Obermüller bei Monika, ich quasi live dabei, zuhause auf dem Sofa. Und was die Frau da mit mir angestellt hat, in diesem Zweiminutentakt, mir fehlen die Worte. Klar, mit dem Vornamen als Anhaltspunkt hätte ich sie ja vielleicht finden können, aber ganz ehrlich, das Spiel hat mir gefallen, meine Güte, wir sind erwachsen, Frau Obermüller erst recht, was soll schon dabei sein, das Leben ist zurzeit ja wahrlich langweilig genug. In der dreizehnten Nacht, nochmal so eine Zahlenmagie, eigentlich sollte ich für diese ganze Geschichte die Filmrechte verkaufen, in der dreizehnten Nacht kam Frau Obermüller dann mit einer zweiten Cat-cam um den Hals nach Hause, und jetzt schlug quasi meine Stunde. Und ach, es hätte immer so weitergehen mögen, aber eben, das Pech klebt an meinen Schuhen. In der neununddreissigsten Nacht bleibt Frau Obermüller mit ihren Halsbändern an einem Strauch hängen, jemand findet sie, hat nichts Besseres zu tun, als sie zum nächsten Polizeiposten zu bringen, dort haben sie nichts Besseres zu tun, als die Catcams zu knacken, nur weil sie zu viel «CSI Miami» schauen, und jetzt sitze ich hier wegen, wie heisst es nochmal, Anstiftung zu Unzucht mit Tieren, was zum Teufel, Frau Richterin, das Tier hat nicht mitgemacht, das Tier hat fotografiert, und nicht einmal vorsätzlich, sondern automatisch, und wenn das Unzucht war, was es da gesehen hat, dann möchte ich gerne von Ihnen wissen, was Zucht ist, und überhaupt, wobei schauen wir bitteschön den Tieren zu, genüsslich und leicht frivol grinsend, in jedem zweiten Tierfilm? So. Nennen Sie meine Verteidigung rustikal, nennen Sie sie, wie Sie wollen, aber ich bitte Sie inständig, lassen Sie Güte walten, lassen Sie die Liebe gewinnen und drücken Sie um Himmels willen ein Auge zu.»

Visibel TEXT  MARTINA CALUORI

Das Leben schleppt sich dahin. Reihenhäuser. Sichtbar anders. Die Zikaden singen. Jedes Echo verschluckt. Ich koche ein Ei. Zu feige für die Einsamkeit. Kneifen. Paul bellt nicht mehr. Ich denke an eine schwarze Kuh. Eine Flöte. Kein Lastwagenfahrer. Die Zeit ist eingewebt.

MARTINA CALUORI ist in Chur aufgewachsen und lebt seit ihrem Studium der Publizistik- und Filmwissenschaften als Texterin und Autorin in Zürich und Chur. Ihr Lyrik-Debüt «Frag den Moment» erschien im Frühling 2019.

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Frei nach dem Jahrhundertroman von A L F R E D D Ö B L I N

WELKET BUNGUÉ JELL A HAASE ALBRECHT SCHUCH

Der Text ist Ende April im Magazin der «NZZ am Sonntag» erstmals erschienen.

JOACHIM KRÓL

RALF SCHLATTER lebt als Autor und Kabarettist in Zürich. Im September erscheint sein neuer Roman «Muttertag» im Limbus Verlag. Auf Radio SRF 1 erzählt er «Morgengeschichten». Kabarett mit Anna-Katharina Rickert im Duo «schön&gut». Mehrere Preise, darunter der Schweizer Kleinkunstpreis 2017.

Neu interpretiert von BURHAN QURBANI

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Die Ehre der Schildkröten TEXT  ANAÏS MEIER

Berner Mittelländischer Anzeiger, Spezial: 50 Jahre Frauenstimmrecht in der Schweiz (Dezember 2020) Im Jahr 2021 wird die Schweiz 50 Jahre Stimm- und Wahlrecht für Frauen feiern. Dabei sollte nicht vergessen gehen, dass es Gebiete und Gemeinden gibt, die damals nicht mit dem Rest des Landes mitzogen. Der populärste Fall war Appenzell Innerrhoden: Die Männer des Kantons lehnten das Frauenstimmrecht 1990 in einer demokratischen Versammlung per Handaufheben ab. In unserer Serie zu 50 Jahren Frauenstimmrecht porträtiere ich Wylen im Emmental, eines der wenigen Schweizer Dörfer, die bis heute auf ein Stimm- und Wahlrecht für Frauen verzichten.

auto Richtung Sumiswald besteigt. Es ist eine Enge, wie sie Aussenstehende manchmal spüren, wenn sie kleine Dörfer, in sich geschlossene Gemeinschaften besuchen. Eine Enge, die man noch viel stärker spürt, wenn man selbst in einem kleinen Ort aufgewachsen ist und immer das Bedürfnis hatte, dieser Enge zu entfliehen. Wie eng die Enge hier sein muss, in einem Dorf der «Vier Widerständischen», werde ich herauszufinden versuchen. Die «Vier Widerständischen» ist der selbstgewählte Name der vier letzten Gemeinden Europas, in denen das Wahlrecht für Frauen bis zum heutigen Tag nicht eingeführt wurde. Sie befinden sich alle in der Schweiz.

Sarah Farni, Betreiberin von Sarah’s Landfrauenblog, achtundzwanzig Jahre alt. Amanda «Mandy» Bühler, Betreiberin des Skilifts in Wylen i.E., gebürtige Philippina, ca. sechzig Jahre, eine von drei Ausländerinnen im Dorf. Bevor sie die Tür aufschliesst, gibt Mandy Bühler eine kleine Menge WD-40 ins Schloss. Es sei jedes Jahr dasselbe, sagt sie, das Schloss werde rostig, nachdem es monatelang nicht benutzt wurde. In dem kleinen hölzernen Kassenhaus ist es staubig, es riecht nach Bergen und Wintersport. Das ist Mandy Bühlers Reich. Sie ist sozusagen die Königin des hiesigen Wintersports. Mandy Bühler eröffnet die Saison jeweils im Dezember und beschliesst sie Ende März des nächsten Jahres. Im Dorf gibt es einen Skilift und ein Wintersportgeschäft, welches von ihrem Sohn, Ramon Bühler, betrieben wird. Dass Mandy Bühler seit über dreissig Jahren den Skilift bedient, hat damit zu tun, dass sie als Einzige im Dorf anständig Englisch spricht. Sie sei für das internationale Wylen zuständig, sagt sie und lacht. Auf die Frage, ob es ihr hier gefällt, wischt sie nachdenklich den Staub von der Kasse und meint, ihr gefalle es hier, sie möge die indigenen Schweizer. Ihre Mutter stamme von der Insel Palawan und habe deshalb sehr wahrscheinlich auch indigenes Blut. Das erkläre vieles. Dann zeigt sie die Fotos, die über ihrem Arbeitsplatz hängen: Enkelkinder, Hochzeit, Schildkröte. Kein Bild der Philippinen. Eine Postkarte der Schaukäserei Affoltern i.E. Ein Schaukäser mit rotem Gesicht, der lachend im Lab rührt, und dazu der Spruch: «Chli stinke muess es». Lachend erklärt sie, ihr stinke es manchmal halt auch. Auf die Frage, was denn genau, schweigt sie. Dann meint sie, dass sie seit dem Tod ihres Mannes viel an Freiheit gewonnen habe. Aber dass sie einmal jährlich bei ihrem Sohn eine Unterschrift holen müsse, die ihr erlaube zu arbeiten, das finde sie schon eine Zumutung. Auf den Philippinen sei das jedenfalls nicht so. Es ist eng hier in Mandys Skihäuschen. Eine Enge, die man auch unten im Dorf spürt. Man spürt sie, wenn man im Bären ein Bier trinkt, wenn man die stillgelegte Kartonfabrik betrachtet, eine Enge, die einen noch immer begleitet, wenn man das Post20

Beim Abwasch des Mittagessens hört Sarah Farni in der Ferne die Dorfmusik, die durch den Ort zieht. Über dem Lavabo befindet sich ein kleines Fenster, durch das sie direkt auf den Dorfplatz sieht. Sarah Farni hängt die Schürze an die Wand und ruft ihre Töchter Mia und Fabienne, sechs und vier Jahre alt. Mittlerweile ist es laut geworden draussen, man hört Bauern, die ihre Schildkröten antreiben, und ein allgemeines Stimmengewirr. Farni hat sich bereit erklärt, mir am nächsten Tag ein Interview zu gewähren. Aber heute, am Tag des Wintergangs, herrsche im Dorf Ausnahmezustand. Sarah Farni und ihre Töchter schreiten nun mit dem Rest der Dorfgemeinschaft einher, Sarah grüsst und küsst das halbe Dorf, sodass Aussenstehende niemals vermuten würden, dass sich wegen dieser jungen Wylenerin tatsächlich ein kleiner Dorfskandal entwickelt hat. Sarah Farni, geborene Mosimann, kennt Wylen seit ihrer Kindheit, sie wuchs im benachbarten Sumiswald auf. Nach Wylen ging man zur Chrotteschou, einer Viehschau nur für Emmentaler Schildkröten, man ging zur Chilbi und später ging man auch ins Pub. Dort lernte sie Farni Bruno kennen, oder Brünu, wie man hier sagt, neun Jahre älter als sie, passionierter Hornusser und angestammter Wylener, seit man denken kann. Zu seinem dreissigsten Geburtstag übergibt ihm der Vater sowohl Heimet als auch «Hanni», die rund achtzigjährige Schildkröte. Ein halbes Jahr später folgt die Hochzeit, dann die Kinder. Als Fabienne zwei Jahre alt ist, stellt Sarah ihr erstes Rezept ins Internet. Der Rest ist Geschichte. Sarah’s Landfrauenblog wurde innert kürzester Zeit zur beliebtesten Rezeptwebseite der Schweiz, bisherige Grossplayer wie etwa swissmilk.ch oder Betty Bossi hat sie längst abgehängt. Farnis Erfolg kommt nicht von ungefähr. Bereits ihre Mutter war erfolgreich berufstätig: Susanne Mosimann war dreissig Jahre lang Hauswirtschaftslehrerin in Sumiswald und Mitautorin des legendären «TipTopf», DEM Standardwerk, was Schweizer Alltagsküche betrifft, von vielen Leuten mit der Bibel verglichen. Ihrer Mutter habe sie alles zu verdanken, betont Farni denn auch wiederholt auf ihrer Webseite. Surprise 479/20


An der Spitze des Umzuges gehen die Oberhäupter der Bauernfamilien mit ihren festlich geschmückten Schildkröten. Es folgt die Dorfmusik, dann der Rest der Dorfgemeinschaft, die meisten von ihnen in Trachten. Es gibt in Wylen niemanden, der nicht am Wintergang, dem traditionellen Spaziergang der Schildkröten zum Zeughaus, teilnimmt. Im Keller des Zeughauses verbringen die Tiere des Dorfes gemeinsam ihren Winterschlaf. Der Umzug dauert meist den ganzen Tag. Je länger er dauert, desto länger wird der Winter dauern, sagt man. Im Emmental hat man pro Bauernhof eine Schildkröte, mehr Tiere sind nur zur Aufzucht erlaubt. Ab einer gewissen Grösse muss man das Tier, das bis zu hundert Jahre alt werden kann, abgeben. Viele Familien haben seit Generationen dieselbe Schildkröte. Die dorfälteste männliche Schildkröte wird der «Muni» genannt. Der Muni trägt zum Wintergang eine Fahne mit dem Dorfwappen auf dem Panzer und geniesst besondere Vorteile. Alle Bewohner des Dorfes sind verpflichtet, den Muni zu bewirten und zu beherbergen, wenn der es will. Es gibt immer wieder Munis, die erhebliche Teile der Ernte eines anderen Bauern wegfressen. Der betroffene Bauer erhält dafür keine Entschädigung. Der Wintergang der Schildkröten wurde im Emmental erstmals 1731 vom reformierten Pfarrer Gottlob Burren beschrieben: «Eyn jeder Bauer hir hat seyn eygener Schyldchroth. Die Thire seyen seyt Jahren bereyts hir.» Woher die Schildkröten ins Emmental gekommen sind, war bereits damals umstritten. Eine Version sagt, «Eyn Kauffmann aus dem fernen Affrika» habe sie gebracht. Eine andere lautet, Hannibal höchstpersönlich habe bei seiner Alpenüberquerung Riesenschildkröten bei sich gehabt. Die Tiere hätten ihm gleichzeitig als Lastträger und Notvorrat für sein hungriges Heer gedient. Ein Mythos, der offensichtlich unwahr ist, überquerte Hannibal die Alpen doch viel weiter südlich, an der heutigen französisch-italienischen Grenze. Den Wylenern gefällt die Geschichte mit Hannibal und seinen Schildkröten aber ausserordentlich gut. Sie nutzen diese Legende oft, um eine Verbindung mit Asterix und Obelix zu schaffen. Zusammen mit Hannibal gelten die beiden Comicfiguren als, wie es hier heisst, «historische» Vorbilder des Dorfes. Wylen i.E. hat mit 0,05 Prozent der Bevölkerung einen eher tiefen Anteil an Menschen, die über eine Matura oder Tertiärausbildung verfügen. Mit einer Einwohnerzahl von 1989 Personen im Jahr 2016 ist Wylen i.E. gleichzeitig die bevölkerungsstärkste der vier «Widerständischen Gemeinden».

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Im Birsfelder Museum, Schulstrasse 29, 4127 Birsfelden (Tram 3 „Schulstrasse“, Bus 81 „Kirchmatt“) Nur bis 26.7.2020 | DI/MI/DO 16-19, SO 11-14

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Als mir Sarah Farni heute Morgen die Tür öffnet, sieht sie frisch und gepflegt aus. Die meisten Wylener sind gestern nach dem Wintergang direkt in den Bären gegangen, Farni aber hat vor einer Stunde bereits wieder einen neuen Videoblog hochgeladen, in dem sie Tipps gibt, wie man einen verkaterten Ehemann mit einer Pouletsuppe wieder hochpäppeln kann. Sarah Farni, eine Frau, wie man sie sich in einer Gemeinde wie Wylen i.E. nur wünschen kann, möchte man meinen. Doch das Gegenteil ist der Fall: Farni musste wegen ihrem Erfolg viel Kritik einstecken. Das Dorf, das trotz seiner seltsamen und frauenverachtenden Gesetze nie gross beachtet worden war, erhielt im Zusammenhang mit Farni plötzlich Aufmerksamkeit. Mit dieser Aufmerksamkeit erreichte Wylen nun auch Kritik von aussen: Vielen Schweizerinnen und Schweizern war nicht bewusst, welche Sitten und Gesetze in manchen Dörfern noch walten. Wylen spaltete auf sich in jene, die stolz darauf waren, dass eine Wylenerin zur Schweizer Cervelatprominenz gehörte, und jene, die in einer selbstbewussten, erfolgreichen, zwar den traditionellen Rollenbildern entsprechenden jungen Frau eine Bedrohung sahen. In der Folge erhielten ihre Videoblogs plötzlich negative Kommentare, Leute beklagten sich, die Rezepte hätten ihnen nicht geschmeckt. Diese Kritikerinnen stellten sich allerdings als Fake-Profile heraus; Farni hatte versucht, persönlich mit diesen Leuten Kontakt aufzunehmen, um ihre Rezepte verbessern zu können. Die Frage, die mir natürlich unter den Nägeln brennt, ist, wie es Farni mit sich vereinbaren kann, erfolgreich im Beruf zu sein und gleichzeitig in einem Dorf zu wohnen, in dem die Unterschrift des Mannes verlangt wird, wenn eine Frau berufstätig sein will. Sarah Farni verweist auf ihren allerersten Videoblog, in dem sie dies bereits ausführlich erklärt habe: Kochen sei ihr Hobby und das Betreiben ihres Blogs ein kleines Nebeneinkommen für die Familie, die ansonsten einzig von der Milchwirtschaft lebe und die, sage ihr Mann, stecke in der Krise. Auf die Frage, ob ihr Nebeneinkommen wirklich so klein sei, antwortet sie nicht. Dann lobt sie ihren Mann, wie verständnisvoll und fortschrittlich dieser sei, dass er sie «ihr Hobby» so passioniert ausleben lasse. Sie bedankt sich ausserdem bei ihren Followerinnen, junge Mütter wie sie seien das, die ihr diesen Traum erst möglich machten. Auf mich wirkt Farni wie eine knallharte Geschäftsfrau. Ich möchte von ihr wissen, wie es sich angefühlt hat, als sie damals mit einundzwanzig Jahren Bruno Farni heiratete und ihr Stimmund Wahlrecht abgeben musste. Sie meint, sie sei sowieso nie abstimmen gegangen und habe auch nicht vorgehabt, dies in Zukunft zu tun. Ausserdem sei sie ja nur auf Gemeindeebene nicht stimm- und wahlberechtigt. Aber wie gesagt, sie interessiere sich sowieso nicht für Politik. Es ist Farni anzusehen, dass ihr dieses Thema unangenehm ist. Wird ihr die Enge im Dorf vielleicht manchmal doch zu viel?

Berner Mittelländischer Anzeiger, Spezial: 50 Jahre Frauenstimmrecht in der Schweiz (März 2021)

Der im Dezember letzten Jahres publizierte Artikel über Wylen i.E. führte zu einer Art Shitstorm auf dem Miststock, weshalb ich das Dorf kürzlich erneut besuchte. Folgendes ist passiert: Sarah 21


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Farni fühlte sich dazu veranlasst, innerhalb ihres Blogs zu meinem Artikel Stellung zu nehmen und positionierte sich klar aufseiten der Gemeinde. Sie betonte, wie stolz sie darauf sei, Wylenerin zu sein und dass das ganze Ungemach, welches über das Dorf kam, nicht durch ihren Blog, sondern vielmehr durch eine negative Darstellung in den Medien, also dieser Zeitung, hervorgerufen worden sei. Insbesondere die Aussage Mandy Bühlers, dass sie auf den Philippinen zum Nachgehen einer Arbeit keine Unterschrift ihres Sohnes benötigen würde, sorgte für Furore. Die Wylener stürzten sich auf Mandy, der sie mangelnde Loyalität, ja Verrat am Dorf vorwarfen. Bühler wird seither mit anonymen Anrufen terrorisiert, ihr Briefkasten wurde mit Kuhdung vollgestopft, ausserdem erhielt sie rassistische und sexistische Nachrichten, die hier aus Rücksicht auf die Geschädigte nicht zitiert werden. Mandy Bühler hat bislang keine Anzeige erstattet. Sie hoffe, dass sich alles als Missverständnis herausstellen und sich der Zorn wieder legen werde. Als sie damals vor vierzig Jahren im Dorf angekommen sei, sei es anfangs auch nicht einfach gewesen. Aber sie sei geblieben. Ihr Sohn sei ein echter Wylener, und auch sie fühle sich hier zuhause. Sarah Farni hingegen führte die Geschehnisse um Mandy Bühler in ihrem Blog als Beispiel für eine misslungene Integration an: «Ich kenne Mandy und ich mag sie. Aber dann wird sie interviewt und die sogenannte Journalistin versteht sie falsch, weil Mandy nicht gut Deutsch kann und die Journalistin schreibt dann, Mandy fühle sich hier unterdrückt.» Mit der «sogenannten Journalistin» meinte sie offensichtlich mich. Mir sei es zu verdanken, dass es nun eine Gemeindeversammlung zum «Fall Mandy» geben werde. Die Männer des Dorfes würden im März über Bühlers Zukunft im Ort abstimmen. Farni verwies in ihrem Blog auf die Fortschrittlichkeit der Gemeinde, da sie selbst als Rednerin zu «diesem Thema» an die Gemeindeversammlung eingeladen worden sei. Für mich war klar, dass ich mich langsam auf gefährlichem Terrain bewegte. Zwar sind die Zeiten der blutigen «Emmentaler Chrottenkämpfe» längst vorbei, aber ich fühlte mich nicht mehr sicher. Gleichzeitig konnte ich unmöglich darauf verzichten, mir diese Gemeindeversammlung anzuschauen und Farnis Rede im Gemeindehaus zu hören. Dies war meine Chance, Wylen i.E. und seine Frauen verstehen zu lernen.

Ich war froh, dass ich nicht erkannt wurde. Die heftigen Reaktionen auf den letzten Artikel hatten mich gezwungen, mein Haar blond zu färben und kurz zu schneiden. Um mich besser unter das ländliche Volk mischen zu können, hatte ich mir zusätzlich Mèches in Aubergine hineinmachen lassen. Im Gemeindesaal stand ich mit den Frauen des Dorfes am linken Rand, während die Männer in der Mitte auf Stühlen sassen. Die Decke war niedrig und mit kunstvollen Malereien versehen, an den Wänden hingen majestätisch die Panzer verstorbener Munis. Sarah Farni stand in einem rosafarbenen Blazer und einem Schweizerkreuz-Bandana um den Hals auf der Kanzel. Man sah ihr die Nervosität an. Farni lobte das Dorf und dessen Werte und sprach erneut die angeblich mangelhaften Deutschkenntnisse Mandy Bühlers an. Sie meinte, so gern sie, wie alle hier, Mandy habe, da sehe man, wie es dem Dorf gehen würde, hätte man mehr Ausländer zu integrieren. Es bedeute viele Missverständnisse und eben viel Arbeit vonseiten der Gemeinschaft. Der App­laus zu Farnis Rede war verhalten. Im Anschluss wurden alle Frauen gebeten, den Saal zu verlassen. Diese verliessen schnell den Dorfplatz und gingen nach Hause. Danach war das Dorf leer. Hätten die Schildkröten nicht noch geschlafen, das Dorf wäre einzig von ihnen bevölkert gewesen. Später kam die Nachricht über den Ausgang der Abstimmung. Ohne Vorankündigung war ebenfalls über Sarah Farni abgestimmt worden. Ihr und Mandy Bühler war es ab sofort untersagt, einem Beruf nachzugehen, Mandy Bühler darf ausserdem keinen Kontakt mehr mit den Medien haben. Ich war und bin noch immer sprachlos. Und frage mich, wie Sarah Farni die Nachricht aufnehmen wird. Aber vor allem denke ich immer wieder an Mandy Bühler, wie sie einsam über ihrem Kreuzworträtsel sass. Ich verstehe die Frauen von Wylen i.E. noch immer nicht.

FOTO: ZVG

Mir wurde gesagt, dies sei ein Thema, das alle etwas angehe. Darüber abstimmen durften nur die Männer.

Der Text erschien erstmals im September 2019 in der Fabrikzeitung und ist Teil des Kurzgeschichtenbands «Über Berge, Menschen und insbesondere Berg­schnecken». ANAÏS MEIER studierte Literarisches Schreiben in Biel/Bienne. Sie schreibt die monatliche Kolumne «Aus dem Réduit» für die Fabrikzeitung, Zürich. Im August 2020 erscheint der Kurzgeschichtenband «Über Berge, Menschen und insbesondere Berg­ schnecken» bei mikrotext, im Herbst 2021 der Roman «Mit einem Fuss draussen» bei Voland & Quist.

Ich machte mich also an besagtem Sonntag im März auf den Weg zum Gemeindehaus. Am Tag, da darüber abgestimmt wurde, wie man mit Mandy Bühler vorgehen wolle, sass diese wie immer in ihrem Skilifthäuschen. Der Schnee lag spärlich, rund um ihr Häuschen war der Boden grün. Mandy Bühler sass an ihrer Kasse, löste ein Kreuzworträtsel und wartete. Im Gemeindesaal herrschte Gedränge. Mir wurde gesagt, dies sei ein Thema, das alle etwas angehe. Darüber abstimmen durften aber natürlich nur die Männer. Surprise 479/20

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Nachts kam der Briefträger TEXT  LOUISA MERTEN

Die Nachbarn sind in den Ferien, ich habe sie schon seit zwei Wochen nicht mehr gesehen, ihre Pflanzen haben auch schon so lange kein Wasser ... wo die Katze ist, frage ich mich manchmal. Lebt die noch? Mindestens zwei Wochen sind sie weg, vielleicht auch länger, es fühlt sich an wie zwei Jahre, wenn man Schlaftabletten nimmt und dann doch jede Nacht ... warum ... ich weiss nicht, vielleicht ... nein, nein das würde jetzt zu tief, zu weit ... Der Briefkasten der Nachbarn sollte überquellen, aber da kommt jede Nacht, wenn ich trotz zwei Schlaftabletten nicht einschlafen kann, der Brief­ träger, der ihnen die Post klaut ... heute kommt er früh, es ist erst eins und schon steht er da, über den Briefkasten gebeugt. Ich spreche nicht von dem freundlichen Mann in der gelben Jacke, der jeden Morgen pfeifend Zeitungen in die Kästen stopft und darin vielleicht den Sinn seines Lebens sieht oder aber ein­ fach mit so wenig glücklich ist, dass ich, wenn ich er wäre, in Glück baden könnte, einmal täglich, jede Nacht. Ich bin schon nicht psychisch ... also zumindest nicht anderweitig. Ich kann nicht einschlafen, weil es eben viele Dinge gibt, über die ich mir Gedanken machen muss, Worte zum Beispiel, die ih­ ren ersten Atemzug tun, und dann saugen sie sich fest in meinem Schädel, so wie hässliche, fette, braune, dicke, schleimige ... Blut­

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egel ... oder wie Kinder, die zur Welt kommen ... Katzenbabys! ... Lebenserwartung ist ein schlechtes Wort. Die Erwartung, wie lange man gelebt hat, aber nicht wie. Eines der schlechtesten Wörter, die ich kenne. Es verschwimmt komplett mit der Umge­ bung, mit dem Dunkel der Nacht, dem Dunkel in meinem Kopf. Ein grosser, dicker, lauernder Fisch. Etwas Dunkles flattert am Fenster vorbei ... schon wieder weg ... manche Dinge gehen schnell vorüber ... eine Fledermaus. Oder ein Vogel? Ich hatte mal einen Vogel in meinen Händen, eine junge Amsel, damals, als Kind ... ein fragiles Knochengestell, umhüllt mit warmen Federn, darin lässt sich etwas grosses Freies fühlen, das ausbrechen will und gleichzeitig beinahe zerbricht. Vielleicht sind der Briefträger und der Mann mit der Strumpf­ maske, der gerade am Briefkasten nestelt, ja ein und derselbe ... vielleicht handelt es sich ja um dieselbe Person? Mein Vorgänger mochte vielleicht Katzen. Er war Philoso­ phiestudent, oder Hobby-Philosoph, oder ein richtiger, oder eine Leseratte, oder jemand, der Bücher sammelt, sie sich anschaut, die Buchrücken, aber nie eines aufschlägt. Als er mir den Schlüs­ sel in die Hand drückte und mir viel Glück wünschte, stellte ich mir vor, er sei Philosoph, es hat ganz gut gepasst. Vielleicht war er aber auch Zügelmann, ich habe ihn nicht mehr fragen können,

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ich wollte ihn einladen in seine Wohnung, die jetzt meine ist, und in genau dem Moment keinem von uns beiden so richtig gehörte, in dem Moment wollte ich ihn einladen, weil es ein be­ sonderer Moment war und es in meinem Leben nicht viele sol­ cher besonderer Momente gibt, da ich äusserst selten an neue Orte komme, eigentlich nie, ausser dieses eine Mal, als ich die Wohnung des Philosophen übernahm, von dem ich nicht weiss, ob er Philosoph ist , und ihn fragen, wer er ist, aber da war er auch schon weg. Wenn man der Strasse vor meinem Fenster entlanggeht, führt sie zu einem Inder, der nachts geschlossen hat. Nicht viele Leute essen da, manchmal keine, den ganzen Tag. Ich war auch schon lange nicht mehr ... aber vor Jahren, da war ich’s noch und dann hab ich da jeweils gegessen, gut war das, sehr gut ... besonders das Chicken Tikka Masala, das war irrsinnig gut. Ich erinnere mich an einen Arm, der nach dem Brot griff und dabei das Cola­glas umstiess. Al­ les schwamm in einer dunklen kräuseln­ den Lache ... wir mussten die Teller retten und die Gläser und die Blumen ... wir ha­ ben viel gelacht ... alles war irrsinnig gut, das Leben ... Bis in die frühen Morgenstunden steh ich manchmal am Fenster, bis der Himmel grau wird, aschgrau wie die Kommode, auf der eine Vase steht, die eigentlich nicht mir gehört, die der Zügelmann oder der Philosoph vergessen hat mitzuzügeln. Die Vase ist nicht grau, sie ist dunkelblau und aus Glas ... würde ich nicht immer so ruhig sein, gäbe es die Vase vielleicht heute nicht mehr. Aber viel zu tun gibt es ja nicht, nachts, wenn ich nicht einschlafen kann, und darum steh ich dann da am Fenster und die Vase fällt nie herun­ ter. Die Vase ist leer, Blumen sind etwas für den Frühling, der nicht wiederzukommen scheint, bei den Nachbarn auch nicht, so lange sind die schon in den Frühlingsferien. Ab und zu lese ich, im braunen Sessel, die Knie angezogen, eine Hand auf den Seiten, die warm werden, nach einiger Zeit, die andere Hand auf den Buchrücken gelegt. Ich schlage sinn- und sachverwandte Wörter im Duden nach ... Strumpfmaske, leben, lebendig, Lebenslust, Lebensabend ... Katzen, Nachwuchs, werfen, wachsen ... Romane lese ich auch, bekannte und weniger bekannte ...Tynset, Dalloway, Ferrante und Fallaci, Malina, von Bachmann. Neulich habe ich unter dem Sessel eine Kopie von Catch-22 ent­ deckt ... damit habe ich das Sesselbein unterlegt, vor so langer Zeit, dass ich das Buch vergessen habe. Ich glaube, Yossarian trug die Pause mit Fassung, nach all den Missionen, die er fliegen musste ... ich lese, denn irgendetwas muss ich ja tun, in den Näch­ ten, in denen die Schlaftabletten auf der Zunge wegschmelzen wie der Schneemann der Nachbarskinder, die seit Wochen in den Frühlingsferien sind, die deren Katze keine ... und ihre Pflanzen, die noch immer nicht, man weiss ja, was damit geschieht. Worte drehen Runden, tief in meinem Schädel, schleimige schwarze Fische, die wachsen und nicht aufhören damit, bis mir eines Tages der Schädel platzt von so vielen ... und dann sprudeln die Fische heraus, ein Schwarm ekliger schwarzer Wortfische, Schwertfische, die in meinem Kopf herumgegammelt sind, ge­ schwommen sind, immer mehr, immer grösser wird der Druck im Kopf ... und totzuschlagen sind sie nicht.

Nicht damit, indem man kopfvoran gegen eine Wand rennt, das hab ich schon probiert, aber ich bin ja anderweitig nicht psy­ chisch. Der Mann mit der Strumpfmaske kommt normalerweise zwi­ schen zwei und vier Uhr morgens, wenn ich trotz zwei und vier Schlaftabletten noch wach bin, nicht einschlafen kann und ihn sehen kann, wie er den Briefkasten öffnet und die Post heraus­ nimmt. Heute kam er früher ... Er hat einen Schlüssel, vielleicht arbeitet er beim Schlüsseldienst. Und wenn ich ihn einlade? Ich könnte ihn dann vielleicht fragen, woher er den Schlüssel hat, und ein bisschen Gesellschaft in den schlaftablettengefüllten Nächten kann nicht schaden. Ich wollte immer mal die Post der Nachbarn lesen, sehen, ob der Briefträger in der gelben Jacke ih­ nen was Besseres bringt als die Rechnungen, die ich bekomme. Sie wirken immer so glücklich, nicht so wie ich, wenn ich den Mann am Briefkas­ ten beobachte. Vielleicht sollte ich mal so richtig durchschlafen, ins Koma fallen für zehn Jahre, dann sähe die Welt auch ganz an­ ders aus, also in zehn Jahren, dann so­ wieso. Lebe ich noch in zehn Jahren? Wer füttert in zehn Jahren die Katze? Und die Pflanzen ...? Eine Wolke hat den Mond freigegeben. Weg ist er, der Mann mit der Strumpf­ maske. Hat sich weggeduckt in die Dun­ kelheit. Silbernes Licht in meinem Wohn­ zimmer ... jetzt kann ich sie sehen, die Wäsche auf dem Sofa, auf dem ich nie sitze und jahrelang kein Besuch ... ein kleiner Tisch aus Holz. Von meinem Urgrossvater ... hat er selbst gemacht, mitsamt den verzierten Beinen, Blumen, die aus den Tischbeinen wachsen ... die Wände fast weiss, aber dazu ist es zu dunkel, was daran hängt, Bilder von ... verborgen im Dunkeln. Licht kann so viele Dinge zum Verschwinden bringen, den Mann mit der Strumpfmaske und die Katze, die dann schläft ... Halb vier schon! Wo sind die Stunden hin? Der Mann mit der Strumpfmaske steht wieder am Briefkasten ... worauf wartet er? Er sucht ... aber die Post hat er ja schon abgeholt. Wenn ich Angst habe, dann dreht sich ein Tiger in meinem Bauch, läuft nur herum zunächst und dann plötzlich holt er mit seinen Pranken aus und ... ich muss aufs Klo! Nur die Angst ist das ... nur die Angst ... wenn ich es kontrolliere und mir sage, ich habe keine Angst, dann geht das vorbei. Dann kann ich hier ste­ henbleiben ... der Fenstergriff, wie lange hab ich ihn schon nicht mehr angefasst? Kalt und metallisch ... die Nachtluft ist kalt, käl­ ter als erwartet, oh, Gänsehaut ... warum macht der Körper das? Sich regen im Innern, atmen, pulsieren ... «Hallo?» Und er dreht sich um.

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Worte drehen Runden, tief in meinem Schädel, schleimige schwarze Fische, die wachsen und nicht aufhören damit.

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LOUISA MERTEN wurde in Zürich geboren und in Sambia im südlichen Afrika eingeschult. 2018 absolvierte sie in Langenthal die Matura und begann mit kürzerer und längerer Prosa. Sie studiert zurzeit Literarisches Schreiben in Biel/Bienne.

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Kreuzworträtsel Wer rätselt, gewinnt: Finden Sie das Lösungswort und schicken Sie es zusammen mit Ihrer Postadresse an: Surprise Strassenmagazin, Münzgasse 16, 4051 Basel oder per E-Mail mit Betreff «Rätsel 479» an info@surprise.ngo

Zu gewinnen: Unter allen richtigen Einsendungen verlosen wir 10 Gutscheine für einen Sozialen Stadtrundgang in Bern, Basel oder Zürich. Einsendeschluss ist der 26. Juli 2020. Viel Glück!

Tipp: Das Lösungswort kommt in einem der Texte dieser Ausgabe vor. Die Gewinnerinnen und Gewinner werden unter den richtigen Einsendungen ausgelost und persönlich benachrichtigt. Über den Wettbewerb wird keine Korrespondenz geführt.

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Die 25 positiven Firmen Unsere Vision ist eine solidarische und vielfältige Gesellschaft. Und wir suchen Mitstreiterinnen, um dies gemeinsam zu verwirklichen. Übernehmen Sie als Firma soziale Verantwortung. Unsere positiven Firmen haben dies bereits getan, indem sie Surprise mindestens 500 Franken gespendet haben. Mit diesem Betrag unterstützen Sie Menschen in prekären Lebenssituationen dabei auf ihrem Weg in die Eigenständigkeit. Die Spielregeln: 25 Firmen oder Institutionen werden in jeder Ausgabe des Surprise Strassenmagazins sowie auf unserer Webseite aufgelistet. Kommt ein neuer Spender hinzu, fällt jenes Unternehmen heraus, das am längsten dabei ist.

SURPLUS – DAS NOTWENDIGE EXTRA Das Programm

Wie viele Surprise-Hefte müssten Sie verkaufen, um davon in Würde leben zu können? Hätten Sie die Kraft?

Wussten Sie, dass einige unserer Verkaufenden fast ausschliesslich vom Heftverkauf leben und keine Sozialleistungen vom Staat beziehen? Das fordert sehr viel Kraft, Selbstvertrauen sowie konstantes Engagement. Und es verdient besondere Förderung. Mit dem Begleitprogramm SurPlus bieten wir ausgewählten Verkaufenden zusätzliche Unterstützung. Sie sind mit Krankentaggeld und Ferien sozial abgesichert und erhalten ein Nahverkehrsabonnement. Bei Problemen im Alltag begleiten wir sie intensiv.

Eine von vielen Geschichten 01 Dietke Becker, Physiomovimento, Männedorf 02 Stefan Westermann Immo DL, Lützelflüh 03 Praxis PD Dr. med. Uwe Ebeling, Bern 04 Hausarztpraxis Tannenhof, Tann-Rüti 05 Gemeinnütziger Frauenverein Nidau 06 Sublevaris GmbH, Brigitte Sacchi, Birsfelden 07 Brother (Schweiz) AG, Dättwil 08 Senn Chemicals AG, Dielsdorf 09 Stoll Immobilientreuhand AG, Winterthur 10 Scherrer & Partner GmbH, Basel 11

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12 Coop Genossenschaft, Basel 13 Gemeinnützige Frauen Aarau 14 VXL, gestaltung und werbung, Binningen 15 Arbeitssicherheit Zehnder GmbH, Zürich 16 Yogaloft, Rapperswil 17 Madlen Blösch, Geld & so, Basel 18 Zubi Carosserie, Allschwil 19 Kaiser Software GmbH, Bern

Ricardo Da Costa verliess 2003 GuineaBissau, wo seine Familie immer noch lebt. Der Mechaniker arbeitete zuerst als Bauarbeiter in Portugal und Italien. 2013 kam er in die Schweiz. Wenige Tage nach seiner Ankunft wurden ihm alle Wertsachen gestohlen und er stand er ohne Papiere da. Auf der Gasse lernte er einen Strassenmagazin-Verkäufer kennen und verkauft seither auch. «Ich bin froh, bei Surprise zu sein», erzählt Ricardo. «Manchmal komme ich traurig ins Büro und gehe mit einem Lächeln auf dem Gesicht wieder raus.» SurPlus ist für ihn eine grosse Unterstützung: Das ÖV-Abo ermöglicht Mobilität beim Heftverkauf und bei Schwierigkeiten stehen ihm die Mitarbeitenden mit Rat und Tat bei.

Weitere SurPlus-Geschichten lesen sie unter: surprise.ngo/surplus

20 Schluep & Degen, Rechtsanwälte, Bern 21 RLC Architekten AG, Winterthur 22 Stellenwerk AG, Zürich & Chur 23 Neue Schule für Gestaltung, Bern 24 SpringSteps GmbH, Bülach 25 Steuerexperte Peter von Burg, Zürich Möchten Sie bei den positiven Firmen aufgelistet werden? Mit einer Spende ab 500 Franken sind Sie dabei. Spendenkonto: PC 12-551455-3 IBAN CH11 0900 0000 1255 1455 3 Surprise, 4051 Basel Zahlungszweck: Positive Firma und Ihr gewünschter Namenseintrag Sie erhalten von uns eine Bestätigung. Kontakt: Nicole Huwyler Team Marketing, Fundraising & Kommunikation T +41 61 564 90 50 I marketing@surprise.ngo

Unterstützen Sie das SurPlus-Programm mit einer nachhaltigen Spende Derzeit unterstützt Surprise 15 Verkaufende des Strassenmagazins mit dem SurPlus-Programm. Ihre Geschichten stellen wir Ihnen hier abwechselnd vor. Mit einer Spende von 6000 Franken ermöglichen Sie einer Person, ein Jahr lang am SurPlusProgramm teilzunehmen.

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Wir alle sind Surprise In eigener Sache

#474: Mehr Hektik als sonst

Am Wochenende vom 20./21. Juni wurde am Bahnhof Zürich-Oerlikon ein Surprise-Verkäufer in seiner Freizeit brutal zusammengeschlagen. Er wurde dabei erheblich verletzt. Die betroffene Person wird von unseren Sozialarbeitenden intensiv begleitet und hat eine Strafanzeige eingereicht. Der genaue Tathergang ist nun Gegenstand polizeilicher Ermittlungen. Surprise verurteilt die Gewalttat und ist schockiert, dass die Tat obendrein gefilmt und das Video auf den sozialen Medien veröffentlicht wurde.

«Absolut normal»

#475: «Ich verurteile keine Menschen, aber gewalttätiges Verhalten»

Es ist egal, ob Frau Rahel Gall Azmat die erste Frau ist, die die Geschäftsleitung der Stiftung innehat. Wenn Sie es speziell erwähnen, erwecken Sie den Anschein, es sei speziell, dass eine Frau eine Führungsposition übernehmen kann. Unsere Gesellschaft muss aber lernen, dass eine Frau in Führungs­ position etwas Normales ist. Bitte giessen Sie nicht noch Öl ins Feuer der Ewiggestrigen. Dass eine Frau die Leitung der Stiftung übernommen hat, ist etwas absolut Normales, und absolut normale Sachen muss man nicht in einer Zeitschrift erwähnen.

Herr Diego Andenmatten verurteilt keine Menschen, aber gewalttätiges Verhalten. Das kann man aber nicht voneinander trennen. Der Mensch und seine Tat sind eine Einheit. Die Kugel löst sich nicht von allein aus der Pistole. Es braucht dazu den Zeigefinger des Menschen. Das Messer fliegt nicht von allein in den Körper des Nachbarn (der Geliebten, des Unbekannten). Es braucht dazu den Arm des Täters. Wie wäre zum Beispiel folgende Philosophie: Ich verurteile weder den Täter noch seine Tat. Ich betrachte, was geschehen ist. Das Verurteilen überlasse ich den Juristen.

JANNICE VIERKÖT TER,  Geschäftsleitung, und Team

Beide Briefe: F. HIROSHIGE, Basel

Impressum Herausgeber Surprise, Münzgasse 16 CH-4051 Basel Geschäftsstelle Basel T +41 61 564 90 90 Mo–Fr 9–12 Uhr info@surprise.ngo, surprise.ngo Regionalstelle Zürich Kanzleistrasse 107, 8004 Zürich T  +41 44 242 72 11 M+41 79 636 46 12 Regionalstelle Bern Scheibenstrasse 41, 3014 Bern T  +41 31 332 53 93 M+41 79 389 78 02 Soziale Stadtrundgänge Basel: T +41 61 564 90 40 rundgangbs@surprise.ngo Bern: T +41 31 558 53 91 rundgangbe@surprise.ngo Zürich: T +41 44 242 72 14 rundgangzh@surprise.ngo Anzeigenverkauf Stefan Hostettler, 1to1 Media T  +41 61 564 90 90 M+41 76 325 10 60 anzeigen@surprise.ngo Redaktion
 Verantwortlich für diese Ausgabe: Diana Frei (dif) Klaus Petrus (kp), Sara Winter Sayilir (win) Reporter: Andres Eberhard (eba), Simon Jäggi (sim) T +41 61 564 90 70 F +41 61 564 90 99
 redaktion@strassenmagazin.ch leserbriefe@strassenmagazin.ch

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«Betrachten, was geschehen ist»

Ständige Mitarbeit
 Rosmarie Anzenberger (Korrektorat), Simon Berginz, Monika Bettschen, Rahel Nicole Eisenring, Carlo Knöpfel, Yvonne Kunz, Isabel Mosimann, Fatima Moumouni, Stephan Pörtner, Sarah Weishaupt, Priska Wenger, Christopher Zimmer Mitarbeitende dieser Ausgabe Mauricio Bustamante, Martina Caluori, Dario Forlin, Jonas Füllner, Ariane von Graffenried, Marco de las Heras, Lorenz Langenegger, Sunil Mann, Anaïs Meier, Louisa Merten, Ralf Schlatter Wiedergabe von Artikeln und Bildern, auch auszugsweise, nur mit Geneh­ migung der Redaktion. Für unverlangte Zusendungen wird jede Haftung abgelehnt. Gestaltung und Bildredaktion Bodara GmbH, Büro für Gebrauchsgrafik Druck  AVD Goldach Papier  Holmen TRND 2.0, 70 g/m2, FSC®, ISO 14001, PEFC, EU Ecolabel, Reach Auflage  31 000 Abonnemente  CHF 189, 25 Ex./Jahr Helfen macht Freude, spenden Sie jetzt. Spendenkonto:
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FOTO: MAURICIO BUSTAMANTE

Internationales Verkäuferinnen-Porträt

«Ich will meiner Tochter eine bessere Zukunft bieten» An ihrem Verkaufsplatz unweit der U-Bahn-Station Eppendorfer Baum in Hamburg ist Alexandra eine Institution. Die Passanten nicken ihr aufmunternd zu, einige bleiben für ein kurzes Gespräch stehen. Seit drei Jahren verkauft sie das Hamburger Strassenmagazin Hinz & Kunzt, immer am selben Ort. «Ich habe eigentlich schon immer hier gestanden», erzählt die gebürtige Rumänin. Früher allerdings als Strassenmusikerin. Mit ihrem Akkordeon in den Händen versuchte sie, etwas Geld für ihre Familie zu erbetteln. «An einem Tag lief es gut, an einem anderen Tag schlecht«, erinnert sich die heute 29-Jährige. Angefangen hatte alles vor fast fünfzehn Jahren. Alexandra feierte gerade ihren 16. Geburtstag und hei­ ratete kurz darauf. In ihrer Heimat im Nordosten Rumäniens gab es schon damals weder Arbeit noch Perspektiven für sie. Also wagten die beiden Frisch­ vermählten ein Abenteuer und fuhren nach Hamburg. Allerdings zerplatzte ihr Traum von einem besseren Leben schneller, als ihnen lieb war. Alexandra lebte mit ihrem Mann in schäbigen Hostels, sie hatten kaum Geld für Essen und scheiterten schliesslich auch beim Versuch, Geld für eine kleine Wohnung in Rumänien zu sparen. Sie kehrten nach Rumänien zurück. Doch lange hielt es das junge Paar dort nicht aus. In ihrem Heimatdorf war die Armut noch immer gross. Es gab niemanden, der sie beschäftigen konnte. Auch die staatlichen Hilfen hielten sie kaum über Wasser. Ein paar Monate später versuchten Alexandra und ihr Mann es von Neuem und zogen wieder nach Hamburg. Sie pendelten einige Jahre sozusagen als Saisonarbeiter hin und her. Doch während andere Lohnarbeit als Erntehelfer fanden, versuchten sie ihr Glück als Strassenmusiker. Das wäre sicherlich noch lange so weitergegangen, hätte das Paar nicht ein Kind bekommen. Wegen ihrer inzwischen achtjährigen Tochter entschieden sie sich schliesslich ganz für ein Leben in Hamburg. «Ich will meiner Tochter Rebecca eine bessere Zukunft bieten, als ich sie hatte», sagt Alexandra. Die Tochter geht in Hamburg zur Schule. «Sie spricht viel besser Deutsch als ich», erzählt Alexandra und lächelt stolz. Seit vier Jahren lebt die Familie im Hamburger Stadteil Bergedorf. Weil das Ehepaar keinen Arbeitsvertrag besitzt und beide nur gebrochen Deutsch sprechen, war es für sie nicht leicht, eine Wohnung zu finden. Am 30

Früher pendelte Alexandra, 29, als Strassenmusikerin von Rumänien nach Hamburg, heute verkauft sie dort das Strassenmagazin Hinz & Kunzt.

Ende half ihnen ein windiger Vermieter und bot ihnen ein Zimmer an. Mit vier weiteren Familien teilen sie sich eine Fünfzimmerwohnung in einem verfallenen Altbau. Die Miete beträgt pro Monat 400 Euro pro Familie. Gleich hinter ihrem Wohnhaus führen die Bahn­ gleise in den Bahnhof. Im Treppenhaus stapelt sich der Müll. «Besser das als nichts», sagt Alexandra, die trotz allem noch von einer grossen und sauberen Wohnung träumt. «Dann hätte meine Tochter endlich ein eigenes Zimmer.» Schliesslich müsse sich Rebecca auf die Schule konzentrieren können. Immer zu dritt in einem Zimmer, das sei schwer. Alexandra hofft darauf, eines Tages eine bessere Wohnung zu finden. Durch den Verkauf des Strassen­ magazins Hinz & Kunzt hat sich für sie schon einiges zum Besseren gewendet. Sie muss nicht mehr betteln und musizieren, sondern kann viele Kontakte knüpfen, was für Alexandra wertvoll ist. Ein treuer Käufer habe ihr bereits angeboten, für ihre Wohnung zu bürgen, erzählt sie. Sie ist zuversichtlich, dass es irgendwann klappen wird und ihre Tochter endlich ihr eigenes Zimmer bekommt.

Aufgezeichnet von JONAS FÜLLNER Freundlicherweise zur Verfügung gestellt von HINZ&KUNZT  /  INSP.NGO

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SOZIALE STADTRUNDGÄNGE

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So schützen wir uns gemeinsam beim Magazinkauf! Liebe Kundinnen und Kunden Wir waren alle lange im Lockdown und können nun dank den gelockerten Massnahmen endlich wieder das Surprise Strassenmagazin verkaufen. Das macht uns sehr froh. Damit dies so bleibt, bitten wir Sie, unsere Verkaufs­regeln und die Hygieneregeln des BAG einzuhalten. Vielen lieben Dank!

Halten Sie Abstand. Merci für Ihre Solidarität und danke, dass Sie uns treu bleiben. Bis zum nächsten Mal auf der Strasse. Die Surprise-Verkäuferinnen und -Verkäufer.

Die Heft- und Geldübergabe erfolgt via Kessel.

Zahlen Sie möglichst passend in den Kessel.

Nehmen Sie das Heft bitte selber aus dem Kessel.

Wir haben Desinfektionsmittel dabei.

Bei Fragen wenden Sie sich bitte an: info@surprise.ngo


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