Indische Niere TEXT GERHARD MEISTER
Die Diagnose des Nierenspezialisten ist niederschmetternd. Meine Nieren sind kurz vor der terminalen Niereninsuffizienz. Nierendialyse. Ein Wort, von dem ich glaubte, es habe mit meinem Leben nichts zu tun. Ich kann es nicht fassen, warum ausgerechnet ich. Ich habe mässig getrunken, mich gesund ernährt, Sport, ich habe bewusst gelebt, und nun das. Vielleicht ist mir irgendwas an die Nieren gegangen, wer weiss. Aber «an die Nieren gehen» ist nur eine Redewendung. Man erkrankt nicht an einer Redewendung. Was ich erleide, ist einfach Zufall. Es ist einfach Schicksal. Und ich denke, vielleicht ist es ein Schicksal, an dem ich wachsen werde. Vielleicht erleide ich ein Schicksal, das meine spirituelle Entwicklung begünstigen wird. Und ich hoffe auf eine spirituelle Entwicklung. Und ich weiss, dass ich nur deshalb auf eine spirituelle Entwicklung hoffe, weil ich auf sonst nichts mehr hoffen kann.
Blut wäscht. Und ich habe zu nichts mehr Kraft. In meinem Körper ist keine Kraft mehr. In meinen Gedanken ist keine Kraft mehr. In meinem Gewebe sammelt sich Wasser an. Diese Apathie. Dieses Wasser in meinem Gewebe. Mein Zustand hat eine grosse Ähnlichkeit mit den Auswirkungen von Unterernährung. Und hat vielleicht das irgendwas zu bedeuten? Da liege ich in meiner Apathie und Schwäche in diesem Raum mit dieser Maschine und warte darauf, dass mir jemand hilft. Ich warte auf den Toten, der mich rettet. Ich warte auf den Autounfall, den Motorradunfall und den Toten, der mir seine junge, funktionstüchtige Niere überlässt. Ich warte auf einen Nierenspender. Ich warte und weiss, dieses Warten kann ewig dauern. Ich warte. Und ich halte dieses Warten nicht mehr aus.
Und ich weiss, ich hoffe auf eine spirituelle Entwicklung, weil ich nach einem Sinn suche für mein Leiden.
Ich will wieder ein Leben haben. Ich will ein Leben haben, das seinen Namen verdient, das ist alles, was ich will.
Nichts ist so schwer auszuhalten wie sinnloses Leiden.
Und ich denke, ich habe ein Recht auf dieses Leben, so wie jeder andere auch.
Leiden, das keinen Sinn hat und dem man trotzdem ausgeliefert ist. Und da liege ich, angeschlossen an die Maschine, die mein Blut wäscht, weil meine Nieren es nicht mehr tun. Da liege ich und verbringe Stunden in diesem Raum mit dieser Maschine, die mein
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Warum ausgerechnet ich. Nächte ohne Schlaf, weil ich mich nicht abfinden kann mit dieser Ungerechtigkeit. Und ich weiss, wenn ich will, dass mir geholfen wird, dann muss ich mir selber helfen. Ich muss mir selber helfen, das weiss ich. Und ich weiss, es gibt eine Möglichkeit, wie ich mir helfen kann. Nächtelang liege ich wach und versuche mich zu entscheiden. Dann habe ich mich entschieden. Dann kann ich wieder schlafen. Und träume von Indien. Nächte voll von indischen Träumen.
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Und ich weiss, es ist illegal, was ich vorhabe. Ich sitze im Flugzeug. Und ich denke, legal, illegal, was bedeutet das, wenn es um mein Leben geht.
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