Surprise 504/21

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Das Gespenst im Duschkopf TEXT  SIMON DECKERT

Der Tag, an dem das Gespenst im Duschkopf zum ersten Mal zu ihm sprach, war ein Samstag. Lins war mit seinen Eltern und seiner grossen Schwester Ina bei ihrem Lieblingsitaliener gewesen und hatte es zum ersten Mal geschafft, die Pizza dort bis zum letzten Brösel allein aufzuessen. Als sie nach Hause kamen, hatte er furchtbares Bauchweh, aber sein Vater war im Restaurant so stolz auf ihn gewesen, dass Lins sich nichts anmerken liess. Er schloss sich im Badezimmer ein und setzte sich aufs Klo. Nichts passierte. Fast kamen ihm die Tränen, so weh tat ihm der Bauch und so wütend war er auf seine Schwester, die dauernd geträllert hatte, die ganze Pizza würde er nie im Leben schaffen. In diesem Moment hörte er in seinem Kopf eine Stimme, genau so, wie wenn man etwas denkt – aber die Worte kamen nicht von ihm; es war, als würde jemand anderes mit seinen Gedanken denken. Lins war so überrascht, dass er vergass zu erschrecken. Erst, als er sich im leeren Badezimmer umsah, bekam er ein bisschen Angst. Doch als die Stimme weitersprach, fiel sein Blick auf den Duschkopf, und plötzlich war er so sicher, dass sie damit zusammengehörte, dass er sich nicht mehr fürchtete. «Geh in dein Zimmer», sagte die Stimme, «mach das Fenster auf und atme dreimal tief durch. Dann legst du dich auf den Rücken ins Bett, streckst die Beine zur Decke und strampelst wie beim Fahrradfahren.» Lins stand auf, ging in sein Zimmer und tat, was die Stimme ihm geraten hatte. Als er ein bisschen gestrampelt hatte, musste er furzen; 20

erst ganz klein, dann zweimal lang und ganz laut. Er liess die Beine aufs Bett fallen und bekam einen Lachanfall, dass sein Vater ins Zimmer kam und fragte, ob sie ihm im Restaurant wohl Apfelwein serviert hätten statt Apfelsaft. Von diesem Tag an ging Lins oft ins Badezimmer, wenn er nicht weiter wusste. Die Stimme sprach zu ihm, wenn er beim Duschkopf sass, und Lins hatte schnell begriffen, dass sie einem Gespenst gehören musste, das dort drin wohnte. Es hatte sehr gute Ratschläge; etwa, wenn er mit Ina gestritten hatte oder seinen Eltern eine schlechte Schularbeit zeigen musste, oder wenn er Angst hatte und nicht wusste, wovor. Einmal lag Lins in der Badewanne und das Gespenst sagte ihm, dass direkt hinter ihm auf dem Wannenrand eine Spinne sässe. Lins, der sich vor Spinnen schrecklich fürchtete, rutschte ganz ruhig auf die andere Seite der Wanne und drehte sich um. Tatsächlich sass der dicke, schwarze Achtbeiner genau dort, wo eben noch sein Kopf gelegen hatte. Nach diesem Vorfall entschied Lins, seinen Eltern von dem Gespenst zu erzählen. Er wartete bis zu einem Abend, an dem Ina bei einer Freundin übernachtete. Sein Vater lachte zuerst und hörte dann auf zu lachen. Seine Mutter sah ihn mit grossen Augen an. Lins merkte, dass sie ihn nicht richtig verstanden, auch wenn er noch nicht ahnte, was das für Folgen haben würde. «Die Stimme ist ein bisschen unheimlich», versuchte er seine Eltern zu beruhigen. «Aber sehr freundlich.» Surprise 504/21


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