Surprise 504/21

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Fisch im Eis TEXT  RENATA BURCKHARDT

Er hiess Roro oder Rorro mit zwei R. Roro oder Rorro, es war egal. Niemand von uns konnte sich erinnern, wie er zu seinem Namen gekommen war. Sowieso trug er seinen Namen erhaben, ohne Kommentar. Er sprach nie und blieb uns allen fremd. Ein Wesen, das zwar offensichtlich ein Herz besass, einen Kreislauf, ein Wesen, das sich bewegte, atmete und ass – das aber nicht kommunizierte, jedenfalls nicht in einer für uns verständlichen Form. Denn Roro oder Rorro war ein Fisch. Schlimmer noch: Er war ein Goldfisch, anspruchslos, langweilig und mit schlichtem Gemüt. Und das war gut so. Denn von uns erhielt er keine Aufmerksamkeit. Nur ab und an kippten wir eine Büchse Fischfutter in sein Glas. So auch, als wir das Haus verliessen, um in die Berge zu fahren – zwei Wochen Schneeurlaub – da kippten wir noch ein paar Flocken mehr hinterher, sodass das Futter auf der Wasseroberfläche einen Haufen bildete und schliesslich als Klumpen ins Wasser absackte. Roro wird’s schon machen, dachten wir, der kann alleine zwei Wochen. Ja, wir waren nicht liebevoll mit dem Fisch, so austauschbar, wie er war. Aber Roro sollte uns in Erinnerung bleiben. Der Winter war unfassbar kalt, die Skipisten morgens steinhart; nicht zu stürzen war fast unmöglich, wir schlugen uns die Knie wund, bald humpelte jede von uns auf ihre Weise. Nachmittags wurden die Pisten etwas weicher, wir schwenkten unsere Körper auf den Brettern hin und her, was uns kurzweilig verdrängen liess, dass unsere Familie zerrüttet war. Es blieb eiskalt. Schliesslich kehrten wir etwas gebräunt und in abgewetzten Daunenjacken in

die Stadt zurück, zurück in den Alltag, die Schule wartete. Wir kamen spätabends zuhause an, von der Reise und Kälte müde und allesamt schlecht gelaunt; die eine hatte der anderen mit einer Skispitze auf den Kopf gegeben, die Platz­ wunde war beachtlich, eine andere hatte aus dem Fenster geglotzt und in einem fort gemurmelt «ich könnte kotzen, ich könnte kotzen, ich könnte kotzen», und die Mutter hatte am Steuer leise vor sich hin geweint. Es war eindeutig, die Ferien waren vorüber. Im Garten war es stockdunkel und das Haus erwartete uns düster und schwer, wir schlotterten, als wir vor dessen Türe standen, alle fanden wir uns keine geliebten Gegenüber, alle wollten wir nur noch ins Bett, jede unter ihre Decke und der Welt kurz Adieu sagen, mehr nicht. Als wir endlich ins Haus traten, der Schlüssel hatte sich kaum im Schloss drehen lassen, schlug uns eine Luft wie aus einem riesigen Gefrierraum entgegen, die Kälte auf den Pisten war dagegen eine warme Sommerbrise gewesen. Mutter knipste das Licht im Hausflur an. Etwas stimmte nicht. Und da sahen wir es: Das Innere unseres Hauses war explodiert. Im Bad, in der Küche, in allen Zimmern, im Keller, im Garten: Alle Wasserrohre waren geplatzt, an den Hähnen wuchsen Eiszapfen, in den Spülbecken Gletscher, in der Badewanne lag eine dicke Eisschicht. Und als hätten sie einen unfassbar schmerzhaften Kampf hinter sich, krümmten sich alle Heizkörper in unseren Zimmern von den Wänden weg, sie hatten sich aus den Wänden herausgerissen und den ganzen Verputz mitgenommen, es war ein qualvoller Anblick. Wir wanderten von Zimmer


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