Surprise 511/21

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Die Bahnhofstrasse ist deutlich weniger nobel als andernorts, es hat Platz für ­ ein indisches Lebensmittelgeschäft und einen Fernsehhändler, anstelle der sonst dominierenden internationalen Modeketten. In grossen blauen Buch­ staben, die aus Knetmasse gefertigt scheinen, steht das Wort JETZT auf einer Mauer, dahinter gruppieren sich lebens­ grosse Holzfiguren um eine Kugel aus Metallleisten. Die Ruhe wird nur durch das Geräusch schnell beschleunigter, tiefgelegter Sportkarossen gestört, in de­ nen junge Menschen sitzen. Wahrschein­ lich wollen sie das Jetzt oder zumindest das Hier möglichst schnell hinter sich lassen.

Tour de Suisse

Pörtner in Grenchen

Surprise-Standorte: Bahnhof Grenchen Süd Einwohner*innen: 17 915 Anteil Ausländer*innen in Prozent: 37,4 Sozialhilfequote in Prozent: 6,6 Stärkste Partei: SVP (5 Sitze von 15)

Wer in Grenchen am Bahnhof abmacht, gerät leicht in die Bredouille, gibt es doch einen Bahnhof Nord und einen Bahnhof Süd. Der Weg vom ersten zum zweiten führt durch grosszügige Park­ anlagen, vorbei an imposanten Häusern aus dem vorigen und vorvorigen Jahr­ hundert. Kaum so lange stehen bleiben wird der einstöckige Pavillon, der schon einen recht verfallenen Eindruck macht. Er steht im Schatten einer mäch­ tigen nackten Männer-Statue. Es ist die des Bundesrats Hermann Obrecht, «In Dankbarkeit gewidmet». Ob für ­heutigen Bundesrät*innen eines Tages auch so grosse Standbilder erbaut ­werden, ist fraglich. Noch fraglicher ist, ob sie unbekleidet dargestellt würden. Gerade der Kanton Solothurn hat zwei populäre Bundesräte gestellt, Willi ­Ritschard und Otto Stich, die sich nackt Surprise 511/21

vorzustellen befremdlich ist. Überhaupt hat die Dankbarkeit Mitgliedern der Landesregierung gegenüber dramatisch abgenommen, nicht erst seit der Pan­ demie. Der Platz, dem der Bundesrat seinen halben Hintern zuwendet, ist am Mittwoch ab 14.00 Uhr der Platz der ­Petanque-Freunde. Wie er den Rest der Woche heisst, ist nicht angeschrieben. In Grenchen wird viel Wert auf Kultur gelegt. Auf der kurzen Strecke gibt es ein Theater, eine Bibliothek, das Kul­ turgeschichtliche Museum, eine «Musig Bar», die allerdings verwaist wirkt, im Gegensatz zum belebteren «Feel Good Music Bistro». Zum Kino führt eine ­Passerelle, eine selten gewordene städte­ bauliche Errungenschaft. Die Kultur­ nacht wird beworben. Verwittert sind hingegen die Pingpongtische.

Mehr Zeit haben die Leute, die sich am Südbahnhof und auf dem Vorplatz des Kunsthauses aufhalten. Hier wird Dosenbier getrunken, Hunde knurren sich an und sorgen für heitere Auf­ regung. Es wird geplaudert und verweilt, die Busse kommen und gehen, die Leute bleiben. Vom Imbissstand weht Dönerduft herüber. Kinder studieren die abgebildeten Speisen und vergleichen ihre Favoriten. Sogar ein Flughafenbus hält und bringt die Leute an den Flug­ hafen Biel oder Solothurn, wer weiss. Im Imbiss läuft MTV, die Autos, die durch die Videos brausen, sind einiges schicker als jene, die draussen auf der Strasse vorbeifahren. Zwischendurch, wenn kein Zug und kein Bus fährt, ist es sonntäglich still an diesem frühen Samstagabend in der Kleinstadt. Wenig kümmert das zwei ­innig knutschende Teenager gegenüber der Mütterberatungsstelle, die sie hof­ fentlich nicht so bald aufsuchen werden.

STEPHAN PÖRTNER  Der Zürcher Schriftsteller Stephan Pörtner besucht Surprise-Verkaufsorte und erzählt, wie es dort so ist.

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