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Die Sozialzahl

Die Bringschuld des Staates

Der Nichtbezug von bedarfsabhängigen Sozialleistungen wird auch in der Schweiz langsam zum sozialpolitischen Thema. Eine neue Studie der Berner Fachhochschule illustriert auf der Basis von Steuerdaten für den Kanton Basel-Stadt das Ausmass. 19 Prozent der Haushalte verzichten auf Prämienverbilligungen zur Krankenversicherung, obwohl sie von ihrer wirtschaftlichen Lage her Anspruch auf diese Sozialleistung erheben könnten. Weiter verzichten 23 Prozent der Haushalte mit Kindern auf Familienmietzinsbeiträge, auch wenn sie ein Anrecht darauf haben. Besonders hoch ist die Nichtbezugsquote bei den Rentner*innen. 29 Prozent der Haushalte beziehen keine Ergänzungsleistungen zur AHV, obschon sie dies aufgrund ihres Renteneinkommens und des noch vorhandenen Vermögens könnten.

Die Gründe für diesen Nichtbezug von Sozialleistungen sind vielfältiger Art. Sie reichen von der Angst vor Stigmatisierung bis zum Wunsch nach Unabhängigkeit, von der Furcht, ausgewiesen zu werden, bis zu einer geringen Bedarfslücke, für die es sich nicht lohnt, den Aufwand der Antrags stellung auf sich zu nehmen. Immer wieder zeigt sich aber auch, dass fehlendes Wissen, administrative Hürden, mangelnde Sprachkenntnisse und eine akute Überforderung Gründe für den Nichtbezug sozialstaatlicher Bedarfsleistungen sind.

Damit stellt sich die Frage, ob der Steuer- und Sozialstaat nicht eine Bringschuld hat. Beklagt werden muss ein eigentümlich asymmetrisches Verhalten des Staates gegenüber seinen Bürger*innen. So wird jeder steuerliche Abzug gestrichen, der nicht belegt werden kann. Fehlende Auskünfte über zusätzliche Einkommen oder falsche Angaben zur Wohnsituation können zu markanten Kürzungen bei der Sozialhilfe führen. Das ist grundsätzlich nicht zu beanstanden. Doch warum macht der gleiche Steuer- und Sozialstaat dann nicht auch darauf aufmerksam, wenn steuerliche Abzüge nicht geltend gemacht und Sozialleistungen aufgrund der Steuererklärung beantragt werden könnten? Haben die Bürger*innen hier eine Holschuld oder der Staat eine Bringschuld? Anders gefragt: Nehmen wir in Kauf, dass auf der einen Seite Gutbetuchte mit Hilfe von Treuhandfirmen und Anwaltskanzleien jede Lücke im Steuerrecht ausnutzen, während auf der andern Seite für Menschen in prekären Lebenslagen und ohne Wissen über das Funktionieren des Sozialstaates Sozialleistungen verloren gehen, auf die sie ein Anrecht hätten?

Schon im 2. Artikel der Bundesverfassung wird als Zweck der Schweizerischen Eidgenossenschaft die Förderung der gemeinsamen Wohlfahrt genannt. Würde dazu nicht auch gehören, dass der Steuer- und Sozialstaat seine Bürger*innen darauf aufmerksam macht, dass sie Anspruch auf bedarfsabhängige Sozialleistungen haben, wenn sich dies aus der Steuererklärung ergibt? Damit soll keineswegs einer «Zwangsbeglückung durch den Staat» das Wort geredet werden. Die Haushalte bleiben frei, auf den Bezug von sozialstaatlichen Bedarfsleistungen auch zu verzichten. Sie machen das dann aber in voller Kenntnis des Sachverhalts.

PROF. DR. CARLO KNÖPFEL ist Dozent am Institut Sozialplanung, Organisationaler Wandel und Stadtentwicklung der Hochschule für Soziale Arbeit der Fachhochschule Nordwestschweiz.

Nichtbezugsquote von ausgewählten Sozialleistungen im Kanton Basel-Stadt

19% 23% 29%

Prämienverbilligung zur Krankenversicherung Familienmietzinsbeiträge Ergänzungsleistungen zur AHV

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