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Zypern

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Aufgelesen

Aufgelesen

Fremde Freunde

Grenzen Seit 47 Jahren ist Zypern geteilt, und eine Lösung des Konflikts ist nicht in Sicht. Zu tief ist das gegenseitige Misstrauen der Menschen. Nirgendwo ist das besser spürbar als im einzigen Dorf auf der Insel, wo griechische und türkische Zyprer*innen gemeinsam leben.

TEXT UND FOTOS KLAUS PETRUS

Seit bald 50 Jahren das Symbol für den «eingefrorenen Konflikt» auf Zypern: der verlassene Flughafen in Nikosia. Wenn die Nacht hereinbricht in Pyla, einem kleinen Dorf im Südosten von Zypern, sieht Mustafa Kemal Atatürk ziemlich alt aus. Grelle Scheinwerfer beleuchten die Büste des Gründers der Republik Türkei von unten, und Schatten bilden sich auf seiner Stirn, unter den stechenden Augen, an den Wangen, dem breiten Kinn. Links von ihm zuckt an einer Stange müde der Halbmond auf der türkischen Fahne. Wer nach Pyla fährt – türkisch Pile –, muss hier vorbei, Büste und Flagge sind direkt an der Strasse vor der türkisch-zyprischen Schule. Dahinter befindet sich ein Sportplatz und, keine hundertfünfzig Meter von Atatürk entfernt, die griechisch-zyprische Schule. Auf dem Rasen zum Eingang der Schule steht eine orthodoxe Kirche in Miniatur, daneben eine Fahnenstange, die vermutlich auf den Zentimeter exakt so hoch ist wie die türkische. Daran hängt die blau-weisse griechische Flagge. Die zyprische Fahne, weiss mit der kupferfarbenen Silhouette der Insel über zwei gekreuzten Olivenzweigen, sucht man hier vergebens.

Seit 47 Jahren ist Zypern geteilt. Damals, am 20. Juli 1974, besetzten türkische Streitkräfte den Norden der Insel, nachdem griechische Putschisten den Anschluss Zyperns an Griechenland erzwingen wollten. Dem Konflikt ging ein jahrzehntelanges Machtgerangel zwischen Griechenland, der Türkei und Gross- britannien voraus. Um einen Streit zwischen griechischen und türkischen Zyprer*innen zu verhindern, wurde 1964 die Friedensmission UN Peacekeeping Force in Cyprus (UNFICYP) geschaf- fen. Nach dem Krieg 1974 richtete sie eine Pufferzone ein, eine entmilitarisierte Waffenstillstandslinie, die den Norden der Insel vom Süden trennen sollte und schon kurz darauf entvöl- kert wurde.

Verstoss gegen Menschenrechte

Bis auf vier Orte, darunter Pyla. Das Dorf ist eines der ältesten auf Zypern, es liegt südöstlich im Distrikt Larnaka nahe der britischen Exklave Dhekelia am Mittelmeer. Und es ist der einzige «gemischte» Ort auf der Insel: 1200 griechische und 500 türkische Zyprer*innen leben hier Tür an Tür. Nicht wenige sehen im Dorf ein lebendiges Beispiel für ein künftiges, vereintes Zypern. Man lädt sich gegenseitig zu Hochzeiten ein, man geht an die Begräbnisse, und einmal im Jahr feiern Pylas Einwohner*innen gemeinsam auf dem Dorfplatz ein Fest.

«Und doch, es ist eher ein Nebeneinander als ein Miteinander», sagt Simos Mytides, der griechisch-zyprische Bürgermeister von Pyla, Ende fünfzig, stattlich und besonnen. «Wir haben alles doppelt hier: zwei Schulen, zwei Bürgermeister, zwei Fussballclubs, zwei Kaffeehäuser, eine Kirche und eine Moschee. Sie finden das übertrieben? Ich meine, das ist gut so.» Mytides wirkt müde von dem Amt, das er seit fünfzehn Jahren bekleidet. An eine Lösung des Konflikts glaubt er nicht mehr. «Wir hatten unsere Chancen und haben sie alle vertan. Unsere Politiker*innen werden immer einen Grund finden, um Zyperns Vereinigung hinauszuzögern.»

Mytides spricht offen aus, was viele hier denken. Der Konflikt sei der Politik ein willkommenes Mittel, um nationalistische Propaganda zu verbreiten oder Machtansprüche zu zementieren. Zuletzt als bekannt wurde, dass sich im östlichen Mittelmeer 1,8 Billionen Kubikmeter Erdgas befinden – mit einem Marktwert von 600 Milliarden Euro. Zypern könnte davon die Hälfte kassieren, das hochverschuldete Urlaubsland – seit 2004 EU-Mitglied – würde über Nacht eine Schatzinsel werden. Allerdings

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1 Auch die UN ist in Pyla präsent; am

Dorf entlang führt eine «Pufferzone», die den Norden vom Süden trennt. 2 In den zahlreichen Kiosken und

Shops kann man bis spät in die Nacht einkaufen – oder am Spielautomaten sein Glück versuchen. 3 Überreste eines Konfliktes, der weder verebbt noch ausbricht.

erhebt auch die Türkei Ansprüche auf die Gasvorkommen, was wiederum Griechenland auf den Plan gerufen und den Konflikt aufs Neuerliche angeheizt hat (siehe Box).

Mytides hat einen weiteren Grund für seine Enttäuschung. 2015 reiste er im Auftrag seiner Gemeinde in die Hauptstadt Nikosia, in der Aktentasche ein Gesetz, darin steht geschrieben: Türk*innen aus dem Norden der Insel müssen im Süden keine Steuern bezahlen und auch keine Miete, keinen Strom, kein Wasser, keine Abfallgebühren. Das Gesetz wurde nach der Unabhängigkeit Zyperns 1960 erlassen, um türkische Zyprer*innen, immer schon arm, im Süden ein Leben zu ermöglichen. Seit 1974 leben dort aber kaum noch Zyperntürk*innen – ausser in Pyla, was Mytides ärgert. «Als das Gesetz in Kraft trat, hatte kaum jemand einen Fernseher, viele mussten sich mit Öllampen begnügen. Heute ist das anders: das Internet, die vielen Leuchter, eine Kli-

Streit um Erdgas

Seit Anfang 2020 halten sich griechische und türkische Bohrschiffe südwestlich von Zypern auf, um sich Erdgasvorkommen in Milliardenwerten zu sichern. Das Seegebiet liegt zwischen Zypern und Ägypten in der «Ausschliesslichen Wirtschaftszone Zyperns». Da die Türkei die griechische Republik Zypern aber nicht anerkennt, weist sie deren Anspruch zurück und behauptet, das Seegebiet gehöre zum türkischen Festlandsockel. Inzwischen hat Griechenland zum «Schutze der Republik Zypern» seine militärische Präsenz im Mittelmeer erhöht. Der Streit steht stellvertretend für den ewigen Konflikt um Zypern. Selbst Expert*innen wissen nicht mehr genau, wie viele Friedensgespräche es seit der Unabhängigkeit Zyperns 1960 und der Zweiteilung der Insel 1974 bereits gegeben hat. KP

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TÜRKISCHE REPUBLIK NORDZYPERN

REPUBLIK ZYPERN

Nikosia/ Lefkoşa

Pyla/ Pile

Grenzzone

Wir haben alles doppelt hier: zwei Schulen, zwei Bürgermeister, zwei Fussballclubs, zwei Kaffeehäuser, eine Kirche und eine Moschee.»

SIMOS MYTIDES

maanlage in jedem Zimmer, eine Tiefkühltruhe in der Garage, die Sprinkleranlage im Garten. Die Türken verbrauchen den Strom und wir müssen ihn bezahlen.» Während die griechischen Zyprer*innen, sie machen fast 70 Prozent von Pyla aus, pro Jahr Strom im Wert von 300000 Euro benötigen, kommen die restlichen 30 Prozent Zyperntürk*innen auf 1 Million Euro. So rechnete Mytides es dem Parlament vor, und er schloss seinen Antrag mit den Worten: «Dieses Gesetz ist ungerecht, es ist beleidigend und ein Verstoss gegen die Menschenrechte.»

Neun Casinos im Dorf

Nikosia ging auf Mytides’ Ansinnen nicht ein. Man wolle keinen Streit provozieren. Hat Pyla den Husten, so geht nämlich der Spruch, bekommt die ganze Insel einen Schnupfen. Mytides schüttelt seinen kantigen Kopf. «Nicht die Abschaffung des Gesetzes birgt Konfliktpotenzial, sondern das Gesetz selbst.» Wer sich frage, in welchen Häusern Griechen leben und wo die Türken, solle in der Nacht nach Pyla kommen. An der Strasse, wo Atatürk hell leuchtet, befinden sich ein Kiosk, ein Kleiderladen, ein Restaurant mit türkischen Spezialitäten, ein Supermarkt, ein Internetcafé, ein Nachtclub und, am Ende der Strasse, das «Caesars Palace», geöffnet 365 Tage im Jahr, 24 Stunden am Tag – eines von inzwischen neun Casinos in diesem Dorf mit nicht einmal 2000 Leuten. Die kleine Strasse gleicht einer Shopping Mall. Über den Läden hängen Leuchtreklamen, aus dem Innern schallt Musik, im Restaurant surrt die Klimaanlage. Mit den Spielsalons und Nachtclubs sei Geldwäscherei, Schmuggel, ja sogar Drogen- und Menschenhandel in sein Dorf gekommen, sagt Mytides. Was dagegen tun? Er verwirft die Hände, zündet sich eine Zigarette an. «Solange es dieses Gesetz gibt, nichts.»

1 Vom türkischen Kaffeehaus ist es keinen

Steinwurf zum «Makedonia», wo sich die griechischen Nationalisten treffen. 2 Die türkische Fahne neben einer Büste

Atatürks; manchmal wird sie gestohlen, dann ist in Pile der Teufel los.

Mytides’ Büro liegt am Dorfplatz und wird nur durch eine schmale Strasse von Pylas ältestem Warenhaus getrennt. Es gehört Eleni Paraskeva, geerbt hat sie den kleinen Supermarkt von ihrem Vater. «Gott sei Dank! Müsste ich Miete zahlen, ich könnte nicht überleben.» Schon so sei es fast unmöglich, mit den anderen mitzuhalten, klagt die 36-jährige Zyperngriechin. «Allein die Kühltruhen fürs Fleisch und Gemüse bringen mich fast um, ich zahle im Sommer 500 Euro pro Monat Strom, die türkischen Ladenbesitzer*innen dagegen keinen einzigen Cent.» Kein Wunder, sagt Paraskeva und stellt sich demonstrativ vor ein Kühlregal mit frischem Sellerie, Bohnen, Butter, Frischkäse, Joghurt und verpackten Würstchen, kein Wunder könnten die Türk*innen ihre Ware viel günstiger anbieten. Sie versteht, wenn die Leute sich über die hohen Preise bei ihr wundern. «Hätte ich nicht selbst ein Geschäft, ich würde wohl auch bei den Türk*innen einkaufen.» Die 34-jährige Mutter zweier Kinder klingt weder verbittert noch redet sie im Zorn. Doch sie weiss auch, dass solche Ungerechtigkeiten im Nu alte Klischees an die Oberfläche spülen können, Feindbilder gar. «Plötzlich sieht man in den Türk*innen nur noch raffgierige, durchtriebene Profiteure. Oder sie in uns bloss sture Nationalist*innen.» Vorurteile seien auf der Insel inzwischen wieder weit verbreitet, was Paraskeva nicht wundert. Viele griechische Zyprer*innen seien noch nie im Norden gewesen, wie umgekehrt viele Zyperntürk*innen noch nie bei ihnen im Süden. «Es ist erschreckend, wie wenig wir voneinander wissen.»

Dass aber auch Pyla keine Ausnahme macht, gibt ihr zu denken. Bis heute würden die Kinder in Pylas Schulen nur ihre jeweilige Sprache lernen und dazu ein wenig Englisch. «Wir wissen früh, wer auf der richtigen Seite steht und wer auf der anderen.» Tatsächlich beginnen viele Gespräche in Pyla damit, dass sich die

«Heute winken wir einander zu, manchmal spielen wir eine Partie Karten.»

AHMET SAKALLI

Menschen als Freunde begegnen – und sie enden mit einem Misstrauen, das auch jetzt, bald fünfzig Jahre nach dem Krieg, noch immer da ist. Ahmet Sakallı, 86 Jahre alt, ist einer, der so redet: von Freunden, die einander fremd sind. Bis zu seiner Pensionierung war er zwanzig Jahre Muhtar, wie die türkische Seite ihren Bürgermeister von Pyla nennt.

Sakallı ist eine Respektsperson geblieben. Täglich kommt er ins türkische Kaffeehaus am Dorfplatz, er setzt sich zu seinen Weggefährten, die ihre Plastikstühle alle paar Minuten verschieben, um der Sonne zu weichen, und trinkt Eistee aus der Dose. Man spricht wenig hier, man kennt sich gut. Vor zwei Jahren ist Sakallıs Frau verstorben, der alte Mann trauert bis heute. Seine vier Söhne und die eine Tochter leben im Norden oder im Ausland, jetzt schaut eine vietnamesische Haushälterin zu ihm, verständigen können die beiden sich kaum. Später zuhause erzählt Sakallı bei einer Tasse Mokka von früher, er stützt sich auf seinen Stock, zeigt auf die militärischen Orden, die er mit Klebeband an die Wand gehängt hat. Sakallı war Oberst bei der TMT, darauf ist er bis heute stolz. Die türkische Widerstandsorganisation wurde 1958 gegründet, sie wollte die Teilung der Insel und verstand sich als Antwort auf die bewaffnete Untergrundorganisation EOKA, die gegen die Briten kämpfte und mit der nationalistischen Bewegung «Enosis» den Anschluss Zyperns an Griechenland forderte. Als im März 1959 die EOKA offiziell aufgelöst wurde, beruhigte sich vorübergehend die Lage. Im August 1960 war es so weit, es wurde die unabhängige Republik Zypern ausgerufen mit Griechenland, der Türkei und Grossbritannien als Garantiemächte für den Fall eines Konflikts.

Vom Feind beschützt

Wenn Sakallı unter dem Vordach seines Hauses sitzt oder eben zwei Gebäude weiter auf der Terrasse des türkischen Kaffeehauses, so ist er keinen Steinwurf von seinen ehemaligen Erzfeinden entfernt. Im «Makedonia» schräg gegenüber, einem weiss gestrichenen Restaurant mit blauen Vorhängen, treffen sich die alten Nationalisten, alles Männer, und spielen Karten. An den Wänden hängt ein Dutzend vergilbter Porträts, es blättert der Verputz ab: alles Helden der EOKA im Kampf gegen den Feind, wie sie hier sagen. Das oft verhandelte Modell eines Zypern mit zwei administrativ getrennten Landesteilen aber offenen Grenzen werden die Stammgäste des «Makedonia» ohne den Rückhalt Griechenlands nicht befürworten, solange im Norden der Insel 35 000 türkische Soldaten stationiert sind.

Als der Krieg vorüber war, musste Sakallı mit seiner Truppe vor den griechischen Zyprern kapitulieren. Es war hier, mitten auf dem Dorfplatz von Pyla, wo sie im August 1974 ihre Waffen ablegten. Sakallı blieb unversehrt, musste sich aber noch Jahre danach vor fanatischen Zyperngriechen in Acht nehmen. Beschützt wurde er von griechischen Nationalisten im eigenen Dorf, am Ende sahen sie doch den Menschen, den Nachbarn in ihm. «Heute winken wir einander zu, von Terrasse zu Terrasse, und manchmal spielen wir zusammen eine Partie Karten.»

Und doch trägt Sakallı seit jenen Tagen ein mulmiges Gefühl mit sich, als würde das Misstrauen von damals ein ganzes Leben dauern. «Ich bin froh, ist die türkische Armee noch immer hier», sagt der alte Mann und blinzelt zum Hügel hinauf, der sich hinter dem «Makedonia» erhebt. Dort steht ein Militärposten, die türkische Fahne flattert im Wind. Sakallı weiss, das Misstrauen nagt auf beiden Seiten. Viele Jahre munkelten die griechischen Nationalisten, er sei immer noch für den türkischen Geheimdienst tätig. Der ehemalige Oberst verwirft die Hände, als wolle er das Gerücht verscheuchen wie tausend lästige Fliegen.

Doch sie werden wohl noch lange bleiben, die Mythen und Missverständnisse, denn irgendwie gibt es in Pyla immer Anlass dazu. So wurde unlängst eines Nachts die rote Fahne vor der türkischen Schule gestohlen. Die Bürgermeister Pylas setzten sich an einen Tisch, sogar ein Minister aus dem Norden reiste an, es hagelte auf beiden Seiten Vorwürfe, die UN musste vermitteln.

Viel später, als der türkische Halbmond und Stern längst wieder neben Atatürks Büste flatterte, hiess es plötzlich, man habe bloss den Verdacht auf die Griech*innen lenken wollen. In Wahrheit seien es Türk*innen gewesen. Und so begann von neuem der Aufruhr in Pyla, dem kleinen Dorf im Südosten der Insel, wo griechische und türkische Zyprer*innen Tür an Tür leben.

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