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Interview
«Das Private ist immer noch politisch»
Feminismus Patriarchale Strukturen sind tief in unserer Gesellschaft verwurzelt. Doch sie werden zunehmend herausgefordert, ebenso die damit verbundene Gewalt, sagt die Soziologin Carolin Wiedemann.
INTERVIEW GIULIA BERNARDI
In ihrem neuen Buch «Zart und frei. Vom Sturz des Patriarchats» schreibt Carolin Wiedemann über den gegenwärtigen Antifeminismus, die Gewalt patriarchaler Herrschaft und wie diese überwunden werden kann. Dabei spricht sie über neue Beziehungsformen und setzt sich für ein zärtlicheres Miteinander ein. Sie schreibt unter anderem für den Spiegel und das Missy Magazine und arbeitet als wissenschaftliche Mitarbeiterin am Berliner Institut für empirische Integrations- und Migrationsforschung der Humboldt Universität.
Carolin Wiedemann, warum gibt es so viel Widerstand gegen den Versuch, eine gleichberechtigtere Gesellschaft zu schaffen?
Diese Widerständler*innen treten für die binäre Geschlechterordnung ein. Einerseits geht es darum, die eigenen Privilegien zu erhalten, die von der queer-feministischen Bewegung hinterfragt werden. Andererseits spielen dabei auch Ängste eine Rolle. Schliesslich wird durch die genannten Entwicklungen jene Geschlechterordnung herausgefordert, die wir von klein auf als «natürlich» anzunehmen gelernt haben, die uns beigebracht hat, wie wir in unserer Gesellschaft zu leben haben, die unsere Beziehungen und Identitäten definiert. Diese Ängste können durch gesellschaftliche Krisen verstärkt werden: Sie lösen das Bedürfnis aus, sich an ein vermeintlich Bewährtes zu klammern. Ich denke da etwa an die Klimakrise, die eine Verknappung von Lebensraum und Ressourcen zur Folge hat.
Der antifeministische Widerstand wird in konservativliberalen Medien wie der Neuen Zürcher Zeitung oder der FAZ spürbar, wenn es etwa um die Etablierung einer geschlechtergerechten Sprache geht. Feminismus wird als autoritäre und elitäre Bewegung dargestellt.
Antifeministische Diskurse kommen oft aus dem liberalen Lager und greifen dabei auf ein rechtes Narrativ zurück, etwa indem sie unterstellen, dass Feminismus ein autoritäres Unterfangen sei, das Menschen etwas aufzwingen würde. Mit dieser Unterstellung wird allerdings verschleiert, dass jene binäre und patriarchal geprägte
Hintergründe im Podcast:
Simon Berginz im Gespräch mit Giulia Bernardi über die Hintergründe des Interviews. surprise.ngo/talk
Ordnung, an der Antifeminist*innen festhalten, gewaltvoll und ausschliessend ist und keineswegs Chancengleichheit für alle verspricht.
Inwiefern gewaltvoll?
Mit der Ausbreitung des Neoliberalismus etablierte sich auch die Behauptung, dass durch die zweite Welle des Feminismus der 1960er- und 1970er-Jahre alle Menschen formal die gleichen Rechte haben. Folglich werden strukturelle Formen der Diskriminierung verkannt: Wenn Frauen beispielsweise bei ihrem Partner bleiben, die keinen Finger im Haushalt rühren oder gar gewaltsam sind, dann sind die Frauen selbst schuld. Daran knüpft die heutige feministische Bewegung an. Sie möchte verdeutlichen, dass das Private noch immer politisch und patriarchal geprägt ist: wie wir in unseren Beziehungen und in der Erziehung zu Frauen gemacht und abgewertet werden.
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Félix Vallotton, Hochalpen, Gletscher und ve rschneite Berggipfel, 1919, Kunsthaus Zürich, Gottfried Keller-Stiftung, Bundesamt für Kultur, Bern, 1978 a t N ur bild im Wandel 9 .10 .2021 – 6 . 2. 2022 Kunsthaus Zürich
Geschenk der Künstlerin, 2021, © Francesca Gabbiani Francesca Gabbiani, Mutation V (c), 2020, Kunsthaus Zürich, Grafische Sammlung,
Unterstützt von Swiss Re Tarbaca Indigo Foundation kunsthaus.ch
Wie zeigt sich diese Abwertung?
In Deutschland erlebt jede vierte Frau mindestens einmal in ihrem Leben körperliche oder sexualisierte Gewalt durch ihren aktuellen oder früheren Partner – und das sind nur die offiziellen Zahlen. In der Schweiz sieht es ähnlich aus.
Oft richten Präventionskampagnen gegen sexualisierte Gewalt das Augenmerk auf Frauen* (d.h. Frauen sowie andere sexuelle und Gender-Minderheiten): etwa darauf, wie sie sich verhalten sollten, um Gewalt vor- zubeugen. Die Kampagne «Don’t Be That Guy» der schottischen Polizei macht das Gegenteil. Sie ruft Männer dazu auf, das eigene Handeln zu reflektieren. Wie beobachten Sie die Entwicklung, dass Männlichkeit stärker hinterfragt wird?
Das macht Hoffnung – und es ist gleichzeitig auch schlicht notwendig, um weiterzukommen. Es ist vor allem an den Männern, die Dinge weiter aufzurütteln: Die eigene Sozialisation als Mann kritisch zu beleuchten und zu fragen, was das Mann-Sein so gewaltvoll macht, etwa welche Bedürfnisse in der Erziehung zum Mann unterdrückt und dann wiederum in abwertender Weise auf Frauen projiziert werden. Diese Auseinandersetzung verbreitet sich. Feministisch orientierte junge Männer besuchen Workshops, um ihren Habitus zu hinterfragen, darüber nachzudenken, wie laut und wie oft sie ihre Stimmen im Meeting erheben, wie breitbeinig sie in der U-Bahn oder in der Konferenz sitzen. Und wie sehr ihr Blick auf Frauen diese zum Objekt macht und was sie daran ändern können.
Eine weitere Abwertung erfahren Frauen im Bereich der unbezahlten Sorgearbeit, wovon sie in der Schweiz über 60 Prozent verrichten. Warum ist Sorgearbeit binär organisiert und weiblich konnotiert?
Mit der Entstehung der bürgerlichen Gesellschaft im 19. Jahrhundert etablierte sich auch die binäre Geschlechterordnung. Sie teilte Menschen in zwei Gruppen ein, die vermeintlich von Natur aus unterschiedlich sind: Männer und Frauen. Noch heute werden ihnen bestimmte Eigenschaften zugeschrieben. Diejenigen, die als Männer sozialisiert werden, gelten als leistungsorientiert, rational und sind folglich für den öffentlichen und politischen Raum geeignet. Jene, die als Frauen gelten, werden als empathisch und fürsorglich betrachtet und dazu prädestiniert, sich um den Haushalt, die Erziehung der Kinder und den Ehemann zu kümmern, bevor er sich am nächsten Tag wieder der Arbeit in der Fabrik widmet. Schon an diesen Zuschreibungen zeigt sich, wie sehr die binäre, patriarchale Ord- nung mit der Entstehung einer kapitalistischen Gesellschaft einhergeht, die eine Aufteilung in Produktion und Reproduktion vorsieht.
«Streit darüber, wer wie oft die Küche putzt, ist kein privater Konflikt, sondern eine Ausein- andersetzung, die auf- zeigt, wer für wen sorgt.»
CAROLIN WIEDEMANN ist 1983 in München geboren und hat Journalismus und Soziologie in Hamburg und Paris studiert.
Sorgearbeit wird also weiblich konnotiert, damit sie abgewertet und folglich kostenlos verrichtet wird?
Der Kapitalismus greift noch heute auf die binäre Geschlechterordnung zurück, um Frauen in den eigenen vier Wänden auszubeuten. Darum geht es im Kapitalismus: Profit zu erwirtschaften, der auf Ausbeutung basiert. Menschen lassen sich eher ausbeuten, wenn sie diskriminiert werden. Denn diese Menschen werden nicht gleichermassen rebellieren und von denen, die von ihnen profitieren, auch weiterhin als minder angesehen. Hier zeigt sich auch eine enge Verknüpfung zwischen Kapitalismus, Rassismus und Sexismus. Eine migrantische Frau ist leichter auszubeuten als ein weisser, heterosexueller und finanziell gut gestellter Mann.
Gleichzeitig wird Sorgearbeit vom Kapitalismus vereinnahmt. In den letzten Jahren hat sich ein breites Angebot auf dem Markt etabliert. Care-Arbeit wird zum Investitionsfeld.
Bei dieser Entwicklung stellt sich die Frage, wer sich diese Dienstleistungen überhaupt leisten kann. Und infolgedessen auch, welche Menschen vernachlässigt werden, wenn Care-Arbeit vollständig privatisiert werden würde.
In Ihrem Buch gehen Sie darauf ein, dass sich die Verknüpfung zwischen Kapitalismus und Patriarchat erst verstehen lässt, wenn der nationalstaatliche Rahmen mitberücksichtigt wird.
Der Nationalstaat ist auf seine Grenzen angewiesen, weil er sein eigenes Volk und die kapitalistische Produktionsweise erhalten muss. Entsprechend ist dieses System auch rassistisch und patriarchal. Der Nationalstaat braucht die bürgerliche Kleinfamilie, um die «eigenen» Arbeitskräfte zu reproduzieren.
Das angebliche Ende der bürgerlichen Kleinfamilie wurde hierzulande jüngst im Rahmen der Abstimmung zur «Ehe für alle» diskutiert. Die Gegner*innen argumentierten, dass die Abstimmung die «natürliche» Geschlechterordnung von Mann und Frau unterwandern und die Kleinfamilie erschüttern würde. Wie beobachten Sie diese Diskussion?
Die Ehe ist die patriarchale Institution schlechthin. Entsprechend kann die «Ehe für alle» nur ein Zwischenschritt sein. Alternative Beziehungsformen jenseits der romantischen Zweierbeziehung sollten gesellschaftlich und rechtlich stärker anerkannt werden. In der traditionellen Kleinfamilie übernehmen im Schnitt Frauen immer noch den Hauptteil der Hausarbeit und der Kinderbetreuung, selbst bei jenen Elternpaaren, bei denen die Frau auch ausser Haus mehr arbeitet als der Mann und für den Lohn der Familie aufkommt. In queer-feministisch orientierten Wohn- und Beziehungsformen jenseits der Kleinfamilie wird Sorgearbeit anders verhandelt und verteilt. Streit darüber, wer wie oft die Küche putzt, ist dann kein privater Konflikt, sondern eine Auseinandersetzung, die aufzeigt, wer wie für wen sorgt. Eine Aus- einandersetzung, die Muster aufbricht. Kleinfamilien dagegen funktionieren immer wieder nach dem pa triar- chalen Muster und privatisieren damit die gesellschaftli- chen Fragen und Konflikte rund um Sorge und Solidarität.
Ihr Buch trägt den Titel «Zart und frei». Warum ist «Zartheit» oder das zärtliche Miteinander wichtig?
Zart und solidarisch – so würden die Menschen miteinander umgehen, wenn sie frei wären. Zart im Sinne von achtsam, fürsorglich im zwischenmenschlichen Umgang. Solidarisch in Bezug auf alle. Zartheit und Solidarität stehen für ein Interesse aneinander und daran, dass es allen gut geht. Die Strukturen in den kapitalistischen Nationalstaaten und die Art und Weise, wie die Menschen in diesen Strukturen zu denken und zu handeln lernen, lassen dieses Interesse aber nicht zu. Zartheit und Solidarität stehen in meinen Augen für die Utopie und die Strategie zugleich.
ZVG
FOTO:
Carolin Wiedemann: «Zart und frei. Vom Sturz des Patriarchats».
Matthes & Seitz 2021.