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Schule
Schule Als Heilpädagogin ist Sybille Stauffer auf Traumata spezialisiert. Die Schulen, sagt sie, seien zu wenig auf traumatisierte Kinder vorbereitet.
INTERVIEW LEA STUBER FOTOS ANNETTE BOUTELLIER
Sybille Stauffer, Sie nehmen an, dass es in Brügg, wo Sie arbeiten, in jeder Klasse mindestens ein Kind mit einer Traumafolgestörung gibt. Ist die Schule Brügg eine typische Schweizer Schule?
Sybille Stauffer: Ein Stück weit sicher. Hier in Brügg, in der Agglomeration von Biel, besuchen viele Kinder mit Migrationshintergrund die Schule. Und damit tragen überdurchschnittlich viele eine Kriegsgeschichte in ihrem Rucksack. Aber: Ich habe schon in verschiedenen Schulen gearbeitet und auch anderes erlebt. Etwa in Seedorf im Berner Seeland. Dort, auf dem Land, hatten wenige Kinder einen Migrationshintergrund. Das heisst nicht, dass es keine Kinder mit Traumafolgestörungen gab, nur andere und weniger. Auch Schweizer Kinder erleben schlimme Dinge. Wie viele Kinder traumatisiert sind, dazu gibt es in der Schweiz keine Zahlen. In Deutschland gehen Fachpersonen von einem bis zwei Kindern pro Schulklasse aus.
Was ist das Spezielle, wenn ein Kind mit einer Kriegsgeschichte in seinem Rucksack in die Schule kommt?
Das Spezielle ist nicht die Kriegsgeschichte, das Spezielle ist die Traumatisierung. Sie ist etwas ganz anderes, als wenn ein Kind etwa mit einem ADHS verhaltensauffällig ist. Dieses Kind kann man mit einer Verhaltenstherapie unterstützen, damit es sich besser steuern oder konzentrieren kann.
Eine Verhaltenstherapie würde einem traumatisierten Kind nicht helfen?
Nicht als wichtigstes Mittel. Sicher muss es auch lernen, sich adäquat zu verhalten. Ein Bub etwa, der wegen seiner Traumatisierung aggressiv ist, muss lernen, dass er niemanden schlagen oder anspucken darf. Der grosse Unterschied ist: Bei einem Kind, das traumatisiert ist, übernimmt in dem Moment, wo es getriggert wird oder in eine Stresssituation kommt, sein «Urhirn» die Macht. Man kann es nicht mehr über den Frontalkortex ansprechen.
Wie erklären Sie den Kindern diese neurobiologischen Vorgänge?
Dazu brauche ich das Traumaköfferli und diesen Thron (zeigt ihn). Wenn das Verstandeshirn auf ihm sitzt, läuft alles gut. Die Amygdala ist unser Warnsystem im Gehirn. Wenn sie eine Gefahr kommen sieht, schlägt sie Alarm. Dann kommt die Echse auf den Thron und regiert. Und dann wird es schwierig. Die Echse kann nur drei Befehle geben: fliehen, kämpfen, einfrieren.
Was sagen die Kinder dazu?
Die Sechstklässler*innen zum Beispiel merken: «Ah, bei mir sitzt manchmal wirklich die Echse auf dem Thron.» Dann überlegen wir: Was braucht es, damit sie gar nicht auf den Thron kommt? Traumaerziehung kann für alle Kinder hilfreich sein. Für diejenigen ohne Trauma, weil sie ein grösseres Verständnis haben für Kinder, die anders ticken oder sich speziell verhalten. Und für traumatisierte Kinder deswegen, weil sie sich selber besser verstehen und merken, dass sie nichts dafür können. So können sie sich von ihrer Scham lösen.
Warum ist bei einem Trauma die Scham ein so grosses Thema?
Sehr oft lösen die eigenen Reaktionen auf das Trauma Scham aus. Etwa wenn ein Kind vor Angst regelmässig in die Hosen pinkelt und das nicht steuern kann. Wenn ein Kind aus irgendeinem Grund weiche Nahrungsmittel wie Joghurt nicht essen kann. Oder wenn eines in einem Moment schreit, wenn andere Kinder finden: «He, spinnst du?» Wir Menschen wollen uns so fest wie möglich anpassen. Verhält man sich nicht passend, ist das mit Scham behaftet. Und manchmal schämt man sich auch, weil man denkt, man trage an dem schrecklichen Erlebnis Schuld.
Wie fühlt sich ein traumatisiertes Kind, bevor es zum ersten Mal zur Schule geht?
Das ist sehr unterschiedlich. Bei einem traumatisierten Kind ist die Amygdala sehr sensibel, sie reagiert auf die kleinste Gefahr. Das bedeutet, dass das Kind permanent im Überlebensmodus ist. Es ist immer parat, um für seine Sicherheit sorgen zu können. Diese Kinder können nicht zur Ruhe kommen, sie können oft nicht gut schlafen. Sich auf neue Situationen wie eine neue Schule einzulassen, wird ganz, ganz schwierig.
Was hilft ihnen?
Es ist wichtig, dass man sie an der neuen Schule gut aufnimmt. Dass man sie nicht einfach in die Pause schickt und sie kennen noch niemanden. Sondern dass sie ein Gspänli an ihrer Seite haben. Oder dass wir schauen, ob jemand dieselbe Sprache spricht. Sie vorzubereiten auf das, was kommt, ist auch wichtig. «Jetzt passiert das, morgen ist es so.» Damit sie sich an etwas festhalten können. Grundsätzlich hilft Zeit und liebevolle Begleitung. Nicht nur tragfähige Beziehungen zu anderen Kindern. Auch zu Lehrkräften, denen sie erzählen können, was sie beschäftigt. Das würde aber viele Ressourcen brauchen. Die haben wir in der Schule nicht immer.
Wie können Eltern ihr Kind unterstützen?
Wenn es auch den Eltern schlecht geht, wird es für sie schwierig, die Probleme aufzufangen. Auch wenn sie es wollen. Darum ist es wichtig, die Eltern möglichst gut zu begleiten.
Wenn Eltern selber ein Trauma erlebt haben, kann es sich auf die Kinder übertragen?
Ja, ein unverarbeitetes Trauma gibt man weiter, das kann man im Erbgut nachweisen. Das macht es natürlich schwierig. Man denkt, das Kind ist in der Schweiz geboren, es hatte immer ein gutes Leben. Warum macht es jetzt das und das? Es kann gut sein, dass es etwas mit sich trägt, das die Eltern erlebt haben.
Neben Krieg, Flucht und Vererbung: Was sind weitere Ursachen von Traumata?
Es gibt viele Ursachen. Sicher jegliche Form von Missbrauch, physische und psychische Gewalt, auch sexualisierte Gewalt. Dann werden manche traumatisiert, wenn ein Einbrecher in der Wohnung steht oder wenn sie einen Verkehrsunfall erleben oder auch «nur» beobachten. Wenn ein Elternteil stirbt oder – bei kleinen Kindern – wenn ein Haustier stirbt. Es muss einem nicht einmal etwas Körperliches passieren. Aber der Schreck! Das Trauma ist eine ausweglose Situation, in der einem niemand hilft, in der man sich selber nicht helfen kann. Wenn der Körper einfriert, ist dies sein letztes Notszenario, um das Überleben zu sichern. Das führt in jedem Fall zu einer schweren seelischen Verletzung, die wieder heilen muss. Auch Armut kann eine Ursache für seelische Verletzungen sein.
Inwiefern?
Vielleicht ist sie nicht direkt die Ursache eines Traumas, doch Armut kann ähnliche Symptome hervorrufen. Armut ist ja auch stark mit Scham behaftet. Hilfe bekommen zum Beispiel kann ein schwieriges Thema sein. Soziale Teilhabe ist schwierig. Das kann ein Gefühl von Ausweglosigkeit, von Ohnmacht auslösen – ähnlich wie bei einem Trauma. Einfach schleichender.
Als Traumapädagogin beraten Sie Lehrpersonen. Woran können diese ein Trauma erkennen?
Dissoziationen deuten sicher auf ein Trauma hin, wenn sich eine Person also unbewusst in andere Gefühlszustände oder in ein anderes Identitätsbewusstsein versetzt. Wer dissoziiert, spürt nichts. Diese Kinder ziehen sich oft zu warm oder zu kalt an, weil sie nicht merken, was ihr Körper braucht. Andere verletzen sich selber, um sich wieder zu spüren. Weitere Anzeichen sind Schlaflosigkeit und Albträume. Oder Übererregtheit, immer unter Strom zu stehen. Auch Aggressionen oder Konzentrationsschwierigkeiten können darauf hindeuten.
Wie lange dauert es normalerweise, bis ein Trauma entdeckt wird?
Bei manchen Kindern merkt man es relativ schnell, bei anderen dauert es länger. Vor allem bei denjenigen, die sich nicht auffällig verhalten. Einmal – nicht an dieser Schule – begleitete ich eine Schülerin wegen einer Lernschwäche. Der Lehrer meinte, sie träume. Sie sagte: «Nein, ich bin nicht da.» Es stellte sich heraus, dass sie dissoziiert. Dann erst stiessen wir auf die Geschichte, die sie mit sich trägt: Als sie ein Baby war, war ihre Mutter drogenabhängig und kam ins Gefängnis – eine sehr schwierige Geschichte. Man dachte: Sie war ein Baby, sie hat das nicht mitbekommen. Doch, sehr wohl. Sie war bereits in der 8. Klasse – und begleitet von Pflegefamilien, vom Sozialdienst, von der Erziehungsberatung. Niemand hatte an ein Trauma gedacht. Bei solchen Fällen müssen wir hinschauen.
Sehen die Lehrpersonen das auch so?
Es ist klar: Die Lehrkräfte haben natürlich eine andere Aufgabe als ich als Heilpädagogin. Und wenn ein Kind während der Stunde doof tut, weil es nicht anders kann, stört das. Manchmal fragen mich Lehrkräfte: Ist es die Aufgabe der Schule, ein Kind zu tragen, das nichts leisten kann, weil es so schlecht zwäg ist? Eigentlich nicht, eigentlich ist die Schule dann nicht das richtige Setting. Aber: Es gibt nicht viel anderes. Das nächste wäre eine Klinik. Für Kinder, die intensive Therapie brauchen, ist dies das richtige. Aber irgendwo müssen auch die anderen einen guten Platz haben.
Ist es frustrierend, dass Ihre Arbeit so schwierig ist?
Es ist sehr frustrierend. Das Thema Trauma ist zu wenig im Bewusstsein. Klar, jetzt reden alle von der Ukraine, von den Geflüchteten, die kommen. Aber es gibt ja schon viele, die hier sind. Und von ihnen haben viele schlimme Sachen erlebt.
Warum ist das Bewusstsein nicht grösser?
Weil das Wissen fehlt. Nach meinem heilpädagogischen Studium habe ich ein CAS als heilpädagogischer Lerncoach gemacht. Dort bin ich dem Thema begegnet. Zum ersten Mal! Bei der Erziehungsberatung hat man erst vor einigen Jahren angefangen, Psycholog*innen speziell für Trauma auszubilden. Und auch die Schulen müsste man ausbilden.
Bis Mitte April sind etwa 10 000 ukrainische Kinder in die Schweiz geflüchtet. Wie bereitet sich die Schule Brügg auf Kinder aus der Ukraine vor?
Wir sind es uns gewöhnt, dass es heisst: In zwei Wochen kommt ein Kind, das kein Wort Deutsch spricht. Oder: Nach den Herbstferien beginnt in der 5. Klasse ein Kind, das noch nie zur Schule ging. Zuerst kommt es zur Lehrkraft Deutsch als Zweitsprache. Danach schauen wir, in welche Klasse es passen würde. In den Klassen schauen die Lehrkräfte gut hin – dadurch, dass wir immer wieder solche Kinder bei uns haben, sind sie sensibilisiert. In einem Zeitungsartikel las ich, die Lehrkräfte wüssten ja, wie man mit diesen Kindern umgeht. Meiner Meinung nach stimmt das nicht. Sie bemühen sich, das Beste daraus zu machen. Aber sie sind nicht gefeit vor Gefühlsübertragungen und Rollenübertragungen. Man ist sich nicht bewusst, wie ansteckend Traumata sind.
Wie muss man sich eine Gefühlsübertragung vorstellen?
Ein Beispiel: Einmal wollte ich mit einem Buben und einem anderen etwas erarbeiten. Wir merkten, dass der andere nicht in unserer, sondern in einer anderen Gruppe ist. Also kam der Bub allein zu mir. Normalerweise wäre das kein Thema, aber er war davon ausgegangen, mit dem anderen Buben mitzugehen. Für ihn löste das eine Bedrohung aus. Und er konnte nichts mehr machen, war nur noch wütend. Ich sass neben ihm und konnte mich nicht mehr bewegen, war wie erstarrt. Und da merkte ich: Ah, das ist gar nicht mein Gefühl. Ich arbeite schon so lange mit Kindern, warum sollte ich jetzt hilflos sein? Das ist sein Gefühl–er weiss nicht, was machen. Mit dieser Erkenntnis konnte ich auf ihn zugehen: «Jetzt überlegen wir zusammen, wie wir die Situation lösen. Hast du eine Idee, was wir machen könnten?» Und dann kam er in eine Handlung hinein, das Problem löste sich auf. Wenn man das Wissen und die Sensibilität darum hat, kann man – zum Beispiel als Lehrerin oder Lehrer– differenzieren: Das, was ich spüre, ist nicht meine Wut, sondern die Wut des Kindes. Menschen, die traumatisiert sind, inszenieren ihr Trauma immer wieder.
SYBILLE STAUFFER
Bei Sybille Stauffer lernen die Kinder: Die rote Amygdala warnt das Verstandeshirn vor Gefahren.
Warum?
Sie suchen einen Weg hinaus, denn ein Trauma ist eine unterbrochene Handlung. Und damit es eine Lösung geben kann, möchte ein traumatisierter Mensch diese Handlung zu Ende bringen. Das passiert nicht bewusst, sondern über die Echse. So wird zum Beispiel ein Trauma von Ablehnung inszeniert als Wiederholung von Ablehnung. Wenn die Betreuer*innen auf die Inszenierung hereinfallen und mit dem Kind schimpfen – dann wird es also wieder abgelehnt. Man wird selber zur Täterin.
Kann ein Kind in der Schule retraumatisiert werden?
Das kann passieren, ja. Wenn das Kind sein Trauma inszeniert und man in die Täterrolle hineinkommt, kann es jedes Mal eine Retraumatisierung geben. Oder wenn das Kind getriggert wird–und manchmal passiert das bei Dingen, bei denen man nicht weiss, dass sie das Kind triggern. Auch wenn es dissoziiert, ist es meist in seinem Trauma. Darum sollte man es rausholen. Je länger das geht, desto schwieriger ist die Heilung. Weil es tiefer und tiefer eingeprägt wird.
In Ihrem Traumakoffer ist auch ein kleines Haus, als Symbol für einen sicheren Ort. Kann die Schule ein solcher Ort sein?
Für einen sicheren Ort braucht es Strukturen und Rituale – daran kann sich ein Kind orientieren. Und das Verständnis und der Respekt vor der Geschichte dieses Kindes müssen da sein. Das Kind muss das Gefühl haben: «Hier passiert mir nichts.» Grundsätzlich hilft den Kindern, wenn sie selbstwirksam werden können, wenn sie wieder ins Tun kommen. Dann merken sie: «Ich bin handlungsfähig.» Werken, etwas mit den Händen machen, hilft oft. Deutsch oder Mathematik hingegen können schwierig sein. Wenn die Echse auf dem Thron sitzt, ist Lernen unmöglich. In solchen Fächern erleben diese Kinder häufig, dass sie vieles nicht können. Wenn die Lehrkräfte ihnen den Stoff anpassen, stresst sie das auch. Denn sie möchten so sein wie die anderen.
Für traumatisierte Kinder ist es also ein Problem, dass die Schule so stark auf Leistung ausgerichtet ist?
In einigen Schulen ist das so, hier erlebe ich dies eher nicht. In Brügg hat die Schule viel Erfahrung damit. Die meisten Lehrkräfte nehmen alle so, wie sie sind. Der Druck kommt mehr von den Eltern und vom System als Ganzes. Aber klar, eine ideale Schule wäre für mich nicht eine nur mit Leistungsfächern, sondern eine mit Tieren, Natur und Garten. Wo die Kinder auf natürliche Art lernen und dabei gesunden können.
Expertin für Traumata
Sybille Stauffer, 53, ist schulische Heilpädagogin und Fachpädagogin für Psychotraumatologie. Die frühere Primarlehrerin arbeitet seit zweieinhalb Jahren an der Schule Brügg. Eine Lektion pro Woche be-
rät und unterstützt sie die Lehrkräfte in
Bezug auf Trauma. Zum Thema empfiehlt Stauffer die Broschüre «Seelische Verletzungen und ihre Auswirkungen auf den Schulalltag» von Marianne Herzog.