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Tour de Suisse
Pörtner in Zürich Wiedikon
Surprise-Standort: Bahnhof Einwohner*innen: 428 737 Sozialhilfequote in Prozent: 4,8 Anteil ausländische Bevölkerung in Prozent: 32,3 Reiterbahnhof: Wiedikon hat den einzigen Bahnhof der
Schweiz, bei dem das Empfangsgebäude brückenähnlich quer über den Gleisanlagen liegt.
Der Bahnhof Wiedikon ist ein sehr schöner Bahnhof. Weniger aufgeregt und umtriebig als etwa der Stadelhofen, dafür grosszügiger, rundherum ist viel Platz. Die Eingangshalle wird von gemalten Werbungen geziert, die wie das ganze Interieur bestimmt unter Denkmalschutz stehen. Das beworbene Kaufhaus existiert noch, zumindest das Stammhaus, die einst zahlreichen Filialen sind Geschichte. Hier herrscht Übersicht, zur Auswahl stehen der Bahnsteig 1 und der Bahnsteig 2, wobei es auch noch ein Gleis 3 gibt, das mit einer blauen Tafel markiert ist.
Die Gleise und Perrons liegen unter Strassenniveau und erstrecken sich bis fast zur Kalkbreite, verlaufen diskret neben einem Autobahnzubringer, vorbei an einer 24-Stunden-Tankstelle. Es gibt einen Bahnhofskiosk, und wenn schon kein Bahnhofsbuffet, so doch ein Café mit Aussenplätzen. Das Restaurant Bahnhof Wiedikon, auch «Bahnhöfli» genannt, liegt auf der andern Strassenseite. Im oberen Stock des Bahnhofsgebäudes gibt es, den Fenstern nach zu schliessen, weitere Räumlichkeiten, ursprünglich wohl die Dienstwohnung des Bahnhofsvorstandes. Die sonst in moderne Bahnhöfe eingebaute Ladenpassage fehlt, wird aber kaum vermisst.
Vor dem Seiteneingang reihen sich Fahrräder, die teils mit kleinen Transparenten bestückt sind. Etwa für eine Abstimmung über sichere Velowege. «Es ist Elternzeit», verkündet ein anderes, und das stimmt. Kinderwagen werden von jungen, bärtigen Männern mit Mützen vorbeigeschoben, Frauen begleiten Schulkinder.
Postautos fahren ins Säuliamt und auf den Mutschellen. Hier trifft das Trendquartier auf die ländlichen Gebiete, in die wohl einige der hippen jungen Menschen ziehen werden, die Wiedikon bevölkern. Wenn sie eine Familie gründen und Kinder haben, die wie sie selber in einer ländlichen Einfamilienhaus- oder MinergieSiedlungsidylle aufwachsen sollen. Bleiben wird die andere Bevölkerungsgruppe, deren Männer Bärte und Kopfbedeckungen tragen und die im Familienverband unterwegs sind. Sie wohnen schon lange in diesem Quartier und lassen sich von Trends nicht beeindrucken.
Die städtischen Busse fahren ins profane Binz Center oder ins geheimnisvolle Dunkelhölzli. Die Taxis fahren vorerst nirgendwo hin. An der Tramhaltestelle wirbt ein Plakat dafür, die Pensionierung gut zu planen. Wiedikon, zumindest Teile davon, ist für Pensionierte noch erschwinglich. Sie bilden zusammen mit den strebsamen Berufsleuten, den Hipstern und Familien das Publikum auf diesem Bahnhofsvorplatz.
In umliegenden Take-aways erstandene Speisen werden verzehrt, dazu im Stehen ein Buch gelesen oder sich auf den Stuhl des Cafés gesetzt, das Velo mitten auf den Platz gelegt. Der Tischnachbar schnorrt den Aschenbecher, das Date kommt und wird vom bereits Wartenden informiert, dass er schlechte Laune hat. Sie holt Kaffee für den jungen Mann, dessen Laune darob sichtlich aufhellt. Derjenige, der den Aschenbecher hat, zündet sich einen Stumpen an. Vermutlich ist er mit dem Postauto angereist.
STEPHAN PÖRTNER
Der Zürcher Schriftsteller Stephan Pörtner besucht Surprise-Verkaufsorte und erzählt, wie es dort so ist.