«Jetzt geht es darum, nachhaltige Lösungen zu finden» Sozialpolitik Mit sozialpolitischen Massnahmen wäre es möglich, auch jene abzusichern,
die während der Pandemie durch die Maschen gefallen sind, sagt Aline Masé von Caritas. INTERVIEW ANINA RITSCHER
Aline Masé, wie zahlreiche Studien bestätigen, hat die soziale Ungleichheit während der Pandemie zugenommen. Haushalte mit kleinen Einkommen hatten die höchsten Einbussen. Wie haben Sie das bei der Caritas wahrgenommen? Aline Masé: Wer vor der Pandemie nicht genug Geld hatte, geriet während der Pandemie erst recht in eine Notsituation. Wer sich gerade über Wasser halten konnte und keine Reserven hatte, für den oder die reichte es nun nicht mehr. Zudem kamen Leute zu uns, die zuvor nicht gekommen waren. Nicht ganz klar ist uns, ob diese Gruppe vorher schon in einer schwierigen Situation war, aber einfach keine Hilfe in Anspruch genommen hat. Zum Beispiel Selbständigerwerbende. Das ist eine Gruppe, die wir in der Beratung vorher nicht gesehen haben.
Da geht es ja um einen Erwerbsausfall, der sich auf Corona zurückführen lässt. Hat die Pandemie auch Lücken im System offengelegt, die schon vorher da waren? Ja, etwa, dass Selbständige keinen Anspruch auf Arbeitslosengeld haben. Sie sind während Corona in den Fokus geraten. Auch Probleme der Sozialhilfe wurden offensichtlicher. Etwa, dass man nicht mehr als 4000 Franken «Vermögen» haben darf, um Anspruch zu haben. Zudem gibt es Menschen, die ein Einkommen haben, das knapp über der Armutsgrenze liegt, und die daher kein Anrecht auf Sozialhilfe haben. Für sie ist jede unerwartete Rechnung und jeder Einkommensausfall zu viel. Hinzu kommt die Arbeit, die unter der Hand gemacht wird: Putzkräfte, Tagesmütter, unbezahlte Care-Arbeit etwa. Nichts davon ist abgesichert. All das wurde während Corona sichtbarer.
«Arbeitnehmende ohne anerkannte Qualifikationen geraten schon seit Jahren unter Druck.»
Der Bundesrat versprach zu Beginn der ALINE MASÉ Pandemie, allen in Not Geratenen zu helfen – hat er sein Versprechen gehalten? Ich war positiv überrascht. Bund und Kantone haben Selbständige und Arbeitnehmende von Anfang an mit Erwerbsausfallentschädigung und Kurzarbeit unterstützt. Lücken, die festgestellt wurden, haben beide geschlossen.
Erwarten Sie, dass die Politik nun etwas gegen diese Missstände unternehmen wird? Die Pandemie hat gezeigt: Mit sozialpolitischen Massnahmen können Leute besser abgesichert werden, es können alle erreicht werden und zwar schnell – wenn Politiker*innen das wollen. Jetzt wird es aber darum gehen, nachhaltige Lösungen für diese Probleme zu finden. Momentan sehe ich keine Ansätze dafür. Man hat eine Pflästerli-Politik gemacht und will jetzt schnell zurück zum Zustand, wie er vorher war.
Gab es auch Lücken, die nicht geschlossen wurden? Menschen, die nicht bei der Sozialversicherung gemeldet sind, haben gar nichts bekommen. Das sind vor allem Sans-Papiers. Und dann gab es jene, die Hilfe erhalten haben, für die das Geld aber nicht zum Leben gereicht hat. Menschen ohne Schweizerpass, die eigentlich Anspruch auf Unterstützung hätten, haben diesen zudem oft nicht geltend gemacht – aus Angst, ihre Aufenthaltsbewilligung zu verlieren.
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FOTO: ZVG
Einige haben also Unterstützung bekommen und konnten ihren Lebensunterhalt trotzdem nicht bezahlen. Warum? Die Kurzarbeitsentschädigung entspricht – wie auch das Arbeitslosengeld – in der Regel 80 Prozent des Einkommens. Bei tiefen Einkommen reicht das nicht, vor allem, wenn keine Reserven vorhanden sind. Auch die Erwerbsausfallentschädigungen für Selbständige waren aufgrund der Berechnungsart häufig zu tief. Einige Politiker*innen waren überrascht, wie viele Menschen wirklich wenig Geld haben. Das gab uns zu denken.
Welche Folgen der Pandemie kommen noch auf uns zu? Die Kurzarbeit hat eine Entlassungswelle verhindert, aber es ist noch abzuwarten, wie viele Entlassungen nur verzögert wurden. Zudem geraten Arbeitnehmer*innen ohne Berufsabschluss oder mit nicht anerkannten Qualifikationen seit Jahren unter Druck. Etwa durch die Digitalisierung, die den Arbeitsmarkt umkrempelt. Oder den Trend hin zu instabilen Arbeitsverhältnissen wie befristeten Verträgen und Arbeit auf Abruf im Stundenlohn. Diese Prozesse hat die Pandemie beschleunigt. Aline Masé, 36, ist promovierte Historikerin und Leiterin der Fachstelle Sozialpolitik bei der Caritas.
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