Surprise 526/22

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FOTO: ANNETTE BOUTELLIER

Surprise-Porträt

«Ich wollte ein freies Leben» «Ich lebe seit bald fünfzehn Jahren in der Schweiz. An mein Leben davor mag ich gar nicht mehr denken. Gleich nach der Schule musste ich in Eritrea in den Militärdienst eintreten. Nach vierzehn Jahren im ‹National Service› und ohne Aussicht auf Entlassung hielt ich es nicht mehr aus. Ich wollte ein freies Leben. Im Januar 2007 flüchtete ich ins Ausland und stellte neun Monate später in der Schweiz einen Asylantrag. Nachdem dieser angenommen wurde und ich die Aufenthaltsbewilligung B bekommen hatte, konnten meine Frau und unsere vier Kinder, die ich in Eritrea zurücklassen musste, Gott sei Dank zwei Jahre später im Familiennachzug nachkommen. Seither ist viel passiert: Meine Frau und ich haben unser fünftes Kind bekommen, sind inzwischen aber geschieden. Mit einer anderen Frau habe ich ein siebenjähriges Mädchen und einen fünfjährigen Jungen. Meine Kinder aus erster Ehe haben bis auf den Jüngsten eine Lehre gemacht und sind am Arbeiten. Die älteste Tochter ist sogar schon verheiratet und hat selbst zwei Kinder. Surprise gehört seit mehr als dreizehn Jahren zu meinem Leben. Am Anfang, als meine Familie noch nicht hier war, war der Kontakt zu den Leuten beim Verkaufen und im Surprise-Büro Bern enorm wichtig. Gefragt zu werden, wie es einem geht oder wo man war, wenn man ein paar Tage nicht an seinem Verkaufsplatz auftauchte, tut bis heute gut. Viele Jahre habe ich bei der Migros in Bümpliz und in Bremgarten verkauft, mittlerweile bin ich in Hinterkappelen vor dem schönen und modernen Migros-Neubau. Normalerweise verkaufe ich Surprise am Freitag und Samstag jeweils vormittags, mehr Zeit habe ich nicht. Aufhören möchte ich nicht, der Heftverkauf war nämlich immer schon ein wichtiger Zusatzverdienst für mich. Ich habe neun Jahre im Einkaufscenter Shoppyland Schönbühl in der Reinigung gearbeitet. Dann hatte ich die Gelegenheit, einen Laden zu übernehmen. Die Idee, ein eigenes Geschäft zu haben, gefiel mir sehr. Nun führe ich seit bald drei Jahren meinen ‹Universal-Shop› in Bümpliz. Ich verkaufe vor allem Waren, die Leute aus Eritrea, Äthiopien und anderen afrikanischen Ländern brauchen – wie zum Beispiel 30

Ande Weldemariam, 49, verkauft Surprise in Hinterkappelen bei Bern und hat einen eigenen Shop in Bern-Bümpliz.

Teffmehl für die Zubereitung des Sauerteig-Fladenbrots ‹Injera› oder verschiedene Kaffeebohnen, die man für die in Eritrea und Äthiopien typische Kaffeezeremonie braucht. Auch traditionelle Kleider und Accessoires für die Haare und Haarpflegeprodukte habe ich im Angebot. Die Waren beziehe ich meistens aus Äthiopien, weil es schwierig ist, sie in Eritrea zu bestellen. Dennoch gibt es Wege: Das eritreische ‹Asmara›-Bier zum Beispiel kann ich über einen anderen Shop-Besitzer in der Schweiz beziehen. Die Arbeit in meinem eigenen Laden gefällt mir, ich schätze meine Selbständigkeit sehr. Aber manchmal wird es mir auch zu viel. Der Shop ist ausser sonntags jeden Tag von elf bis neunzehn Uhr offen. Da ich mir noch keine Angestellten leisten kann, mache ich alles selbst. Neben dem Verkauf der Waren sind Hygiene und Warenkontrolle sehr wichtig. Alles muss sauber und in Ordnung sein. Sonst kostet es, wenn die Lebensmittelkontrolle kommt. Im Moment überlege ich mir, einen Teil des Ladens zu vermieten. So könnte ich zwischendurch ein paar Tage freimachen und mich erholen. Ich würde gern einmal mit den Kindern eine Woche Ferien in Italien machen, zuerst nach Milano fahren, dann ans Meer. Alles in allem aber geht es mir sehr gut. Ich habe in der Schweiz gefunden, wonach ich suchte: Freiheit.» Aufgezeichnet von ISABEL MOSIMANN

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