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Trauma
3.8.2014 – der Tag, an dem die Islamisten in Sindschar einmarschierten und den Völkermord an den Jesid*innen verübten, ist bis heute in den Flüchtlingslagern allgegewärtig.
Ein zweites Leben
Tausende jesidische Frauen und Mädchen wurden 2014 von Islamisten verschleppt. Einige lokale Therapeut*innen versuchen in den Lagern im Nordirak das Leben derer neu zu gestalten, die entkommen konnten.
TEXT UND FOTOS KLAUS PETRUS
Mossul
IRAK
Und manchmal ist es bloss ein leises Geräusch. Wenn die Zeltplane im Wind auf und ab weht, zum Beispiel. Dann schleichen sich Bilder von Fahnen in ihren Kopf, von schwarzen, flatternden Fahnen, und dieses Flattern wird immer schneller, lauter und härter, als wären es Schläge auf den Rücken oder in ein Gesicht, jemand schreit, keucht, erst ein Mädchen, dann Männer, die sich auf sie setzen, einer nach dem anderen, und eigentlich ist es dunkel vor ihren Augen und doch kann sie alles sehen, und bis dieses Flattern der Fahnen in ihrem Kopf endlich aufhört, geht es manchmal ein paar Minuten oder aber die halbe Nacht.
So erzählt es Ala N. ihrem Therapeuten Bewar Safar Ali, und sie sagt auch: «Die Männer sprachen die ganze Zeit von Regeln, und wer sie nicht befolgte, wurde bestraft. Beim ersten Mal gab es fünf Peitschenhiebe, beim zweiten Mal zehn, und wer eine Regel dreimal brach, dem wurde ins Schienbein geschossen. Ich vergass einmal, mir den Schleier umzubinden, da wurde ich bloss ermahnt. Ein andermal ass ich mit der linken Hand, da kam ein Mann, stellte mich vor allen anderen an eine Mauer und trat mir ein paar Mal in den Bauch. Ich schämte mich so sehr.»
Das war im Herbst 2014, und Ala, die Jesidin, gerade einmal acht Jahre alt. Damals brach die «Schwarze Macht», wie die Männer des sogenannten Islamischen Staates (Daesh ¹) genannt wurden, über ihr Tal herein. Nachdem sie die irakische Grossstadt Mossul eroberten, zog Daesh am 3. August 2014 nordwärts nach Sindschar, wo eine halbe Million Jesiden lebten – in den Augen der Islamisten Ungläubige und Teufelsanbeter*innen. Wie Schafe trieben sie die Menschen auf dem grossen Marktplatz zusammen, sie trennten Familien, verschleppten Frauen, massakrierten Männer – 10 000 waren es an der Zahl. Andere konnten in die umliegenden Berge fliehen, wo sie dann von Daesh eingekesselt wurden.
Auch Ala geriet an diesem Tag in die Hände der Islamisten. «Schon am nächsten Morgen wurde ich in ein Dorf zu einem Mann gebracht, für den ich putzen und kochen musste», erzählt Ala. Wieso er mit ihr unzufrieden war, sie schlug und demütigte, das begriff das kleine Mädchen nicht. Bald darauf wurde sie an jemand anderen verkauft, über den Ala bis heute nicht redet, auch nicht mit Bewar Safar Ali. Dort blieb sie mit zwei anderen Mädchen, bis ihnen, zufällig, die Flucht über die Berge gelang und sie von US-Einheiten in Sicherheit gebracht wurden.
Beim sozialen Umfeld ansetzen
Inzwischen ist die 16-Jährige in einem Camp im Norden Iraks. Ihre Mutter hat sie nie wiedergesehen, vom Vater weiss sie, dass er erschossen wurde – im Kampf gegen Daesh. Ihre beiden Brüder? Die Freund*innen aus dem Dorf? Sie weiss es nicht. Bis heute leben in den riesigen Flüchtlingslagern im Nordirak rund um die mehrheitlich
¹ «Daesh» wird vermehrt als Abkürzung für den sogenannten Islamischen Staat verwendet, weil es das von vielen Muslimen zurückgewiesene «islamisch» sowie den Verweis auf einen angeblich legitimen Staat verschwinden lässt. Es heisst das Gleiche, klingt jedoch neutraler. Auf Arabisch hat es zudem eine – erwünschte – pejorative Note.
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Ala N. wurde von Islamisten gefangengenommen (Bild 1), die am 3. August 2014 nach Sindschar einmarschierten und Städte und Dörfer verwüsteten (5). Heute lebt Ana N. in einem Flüchtlungslager im Norden Iraks (3) und wird von Bewar Safar Ali (4) therapeutisch begleitet (2).
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kurdische Stadt Duhok an die 300 000 Jesid*innen. An eine Rückkehr denken die wenigsten. Obschon inzwischen von Daesh befreit, liegen weite Teile des Sindschar-Tals in Trümmern. Der Wiederaufbau stockt, die irakische Regierung in Bagdad streitet sich mit der autonomen Region Kurdistan um die Hoheit. Hinzu kommen Angst und Misstrauen. Arabische Nachbarn der Jesid*innen schlossen sich damals Daesh an, aus Freund wurde Feind. Auch wenn die Terroristen weg sind, in den Köpfen der Mehrheit der arabischen Muslime sei Daesh geblieben, denken viele Jesid*innen. Sie fühlen sich bis heute im Stich gelassen – von der irakischen Regierung wie auch der internationalen Gemeinschaft. Dieses Gefühl ist tief verankert. Und nirgends so gegenwärtig wie in Lalish, dem Tempeltal und religiösen Zentrum oberhalb der Stadt Shekhan im Nordosten der Provinz Ninive. Schon vor Jahren hatte der inzwischen verstorbene Baba Sheikh Xurto Hecî Îsmaîl, das geistliche Oberhaupt der Jesid*innen, verkündet, die von Daesh vergewaltigten oder zwangsverheiraten Mädchen und Frauen hätten von ihren Familien nichts zu befürchten. Ein ungewöhnliches Verdikt, hatte man doch Frauen, die von nicht-jesidischen Männern berührt wurden, bisher verstossen. Stattdessen ordnete der Baba Sheikh für die Opfer von Daesh in Lalish eine Zeremonie an, durch die sie erneut in die Gemeinschaft aufgenommen wurden.
Zwar ist das Flüchtlingslager, wo Ala heute lebt, gut ausgestattet; es mangelte schon in der Zeit kurz nach dem Völkermord an den Jesiden nicht an Hilfsorganisationen, die in den Camps für die Grundversorgung verantwortlich sind – für sanitäre Anlagen etwa oder wetterfeste Zelte. «Doch ein Dach, fliessend Wasser und Essen sind nicht genug, um die Schrecken und das Grauen aus dem Kopf zu vertreiben», sagt Bewar Safar Ali. Der 38-Jährige Therapeut, selber Jesidi, arbeitet bei «Lotus Flower». Die Organisation aus Therapeut*innen sowie Sozialarbeiter*innen zählt nur wenige Mitarbeitende; aber alle stammen aus der Region, die meisten sind selber Jesid*innen, sie reden die Sprache der Menschen, mit denen sie therapeutisch arbeiten, kennen deren Kultur und Religion und wissen oft aus eigener Erfahrung, was dies bedeutet: Krieg und Vertreibung.
Für Safar Ali ist diese Nähe zu den Betroffenen eine unabdingbare Voraussetzung seiner Arbeit. «Viele Traumata haben Ursachen, über die zu reden aufgrund sozialer oder kultureller Normen fast unmöglich ist. Vergewaltigungen zum Beispiel. Deshalb sollten wir den gesamten Menschen in den Blick nehmen: nicht nur seine Psyche, sondern auch sein soziales Umfeld.» Bevor Safar Ali und sein Team mit Betroffenen Therapiesitzungen abhalten, gehen sie zu ihnen in die Zelte; sie machen Hausbesuche, reden mit Familie, Freunden und Bekannten. Auch bauen sie soziale Räume auf wie eine Bäckerei oder einen Fitnessraum, wo die Betroffenen zusätzlich mit anderen Leuten in Kontakt kommen und sich austauschen können. Safar Ali möche so sicherstellen, dass eine traumatisierte Person für eine Einzeltherapie nicht zu früh aus ihrem gewohnten Umfeld herausgenommen und zusätzlich als Opfer stigmatisiert wird. Letztlich besteht das Ziel dieser Treffen darin, einen verlässlichen und den Umständen entsprechend «normalen« sozialen Rahmen zu schaffen, innerhalb dessen sich die Geflüchteten einigermassen sicher fühlen können.
Dieser Zugang, so Safar Ali, unterscheide sich von traditionellen Auffassungen von Traumaarbeit, die eher das Individuum ins Zentrum stellen und weniger die Gemeinschaft und ausserdem mehr auf das Innenleben fokussieren als auf das soziale Umfeld. Dagegen verfolgt Safar Ali, der nicht nur Therapeut ist, sondern auch eine Ausbildung zum Sozialarbeiter absolvierte, mit seinem Team einen «bi-fokalen Ansatz»: Sowohl das Umfeld einer Person soll berücksichtigt werden als auch deren Psyche; die strikte Trennung zwischen Innen- und Aussenleben mag Safar Ali so nicht einleuchten. Der Unterschied zu herkömmlichen Therapieformen sieht er demnach vor allem in der Herangehensweise. Für ihn sind Psychotherapie und Sozialarbeit keine gesonderten Felder; vielmehr sind sie eng aufeinander bezogen und sollten im Grunde immer zusammen gedacht werden. Gerade bei schwer traumatisierten Personen müsse man bei der sozialen Einbettung ansetzen, so Safar Ali. Erst brauche es im Aussen Stabilität und Sicherheit, anschliessend könne man sich innerpsychischen Problemen widmen (siehe Interview, S. 12).
Schweigen und Scham
Auch zu Ala musste Safar Ali in kleinen Schritten Vertrauen aufbauen. Da sie keine Familie mehr hat, war sie anfänglich in einer Gruppe fast gleichaltriger Mädchen, die Ähnliches durchlebt haben wie sie. Für Ala war dies eine wichtige Erfahrung, sie hatte damals begonnen, überhaupt über ihre Erlebnisse zu reden.
Für Safar Ali keine Überraschung: «Wir erleben es immer wieder, dass sozial erzwungenes Schweigen und Tabuisieren eher in Gruppen von Menschen aufgehoben werden können, die ähnliche Erfahrungen gemacht haben.» Was nichts daran ändere, dass am Ende jeder, der ein schweres Trauma mit sich trägt, alleine bleibe. Schweigen, Scham und Entfremdung seien im Grunde alles normale Reaktionen auf das Unfassbare, das Mädchen wie Ala N. erleben mussten. «Der Kern des Traumas besteht in der Schwierigkeit, das Erlebte für sich selbst fassbar zu
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machen, es neu zu sortieren», sagt Safar Ali. Was früher war – alles Leben vor dem Trauma –, sei plötzlich nicht mehr da, und was jetzt ist, fühle sich sinnlos an. Darin sieht er seine wichtigste Aufgabe, wenn er – meist in einem zweiten oder erst dritten Schritt – mit Einzeltherapien beginnt: das Erlebte in eine Geschichte einbetten, die wieder Sinn macht.
An diesem Punkt steht Ala; seit ein paar Monaten ist sie in Einzeltherapie, für sie ein grosser Schritt. «Nun wird sich zeigen, ob ich ein normales Leben führen kann.» Ein Weg dorthin führt über die «Linien des Lebens», ein therapeutisches Verfahren, das bei Traumata oft eingesetzt wird. «Die traumatisierte Person legt ein Seil auf dem Boden aus, es steht für ihre Lebenslinie. Für schlimme Ereignisse nimmt sie einen Stein und legt ihn auf das Seil, für schöne Erlebnisse und Erinnerungen platziert sie eine Blume», erklärt Safar Ali. Mit Zetteln werden die so markierten Ereignisse benannt und in eine chronologische Reihenfolge gebracht. Nicht allein das, was ein Mensch an Grauen erlebt, sei erschütternd. Sondern die Tatsache, dass dies das Leben unterbreche, es in ein Vorher und ein Nachher teile. Manchmal könne eine Lebenslinie aus Seil so wieder verbinden, was gewaltsam getrennt wurde. «Dem Leben eine neue Gestalt geben», nennt Safar Ali das.
Auch Ala hat schon in manchen Sitzungen dieses Seil auf dem Boden ausgebreitet. Anfänglich waren es vor allem Steine, die sie entlang der Linie hinlegte, hier und da waren es auch Rosen. Inzwischen werden es mehr davon. Denn da sind nicht nur diese Bilder von den schweren Händen ihres Peinigers, die sich auf ihren Körper legten, die Schüsse, Schreie, das Blut und die Angst, die sie noch immer erzittern lässt, und all die düsteren Träume. Es sind da auch Erinnerungen an die wohlige Kälte am frühen Morgen, wenn der Winter ins Sindschar-Tal einzog, an den Geruch der Ziegen, den Singsang ihrer Mutter, während sie das Essen zubereitete, an ihre Lieblingspuppe, die ein leuchtend blaues Kleidchen trug oder an das schelmische Grinsen ihres älteren Bruders, der die ganze Zeit nur nervte und der ihr doch das Allerliebste war auf dieser Welt.
Psychotherapeut Udo Rauchfleisch plädiert dafür, Sozialarbeit und Traumatherapie vermehrt zusammenzudenken.
INTERVIEW KLAUS PETRUS
Udo Rauchfleisch, der Begriff «Trauma» wird heute geradezu inflationär verwendet. Was ist das eigentlich, ein Trauma?
Udo Rauchfleisch: Trauma ist im Grunde ein alter Begriff und wird dafür benutzt, dass eine Person durch ein einzelnes Ereignis oder durch eine Kette von Ereignissen belastet wurde und sich diese Belastungen in einer Störung niederschlagen. Das kann zum Beispiel ein sexueller Übergriff in der Kindheit sein, der Depressionen auslöst. Diese Belastungsstörungen gehen mit einer Reihe spezifischer Symptome einher, und je nach Symptomen unterscheidet sich der Typus von Trauma.
Besonders oft ist von «Posttraumatischer Belastungsstörung», kurz PTBS, die Rede.
Dieser Begriff ist reserviert für besonders schwere Traumata, die etwa von sexuellen Übergriffen, von Folter, Kriegs- und Fluchterlebnissen ausgelöst werden. Zu den Symptomen gehört, dass die betroffene Person von belastenden Erinnerungen an das Trauma verfolgt wird, sie hat immer wieder Flashbacks, leidet an Schlafstörungen, ist depressiv, leicht reizbar, zeigt eine erhöhte Wachsamkeit und anderes mehr.
Alles Symptome, die nicht besonders spezifisch sind und die auch Menschen zeigen können, denen man nicht schon eine PTBS attestiert. Stimmt das?
Mit Ausnahme der Flashbacks ist dem tatsächlich so, und das macht die Diagnose mitunter schwierig. Nur gehört genau das auch zu schweren Traumata: Wer sie durchlebt, reagiert oft stark psycho-somatisch, was bedeutet, dass der Mensch in all seinen Facetten betroffen ist. Das Trauma wirkt sich auf sein gesamtes Leben aus, auf seinen Schlaf, sein Immunsystem, seine Beziehungsfähigkeit usw. Hier liegt übrigens auch die Gefahr der Stigmatisierung von Betroffenen.
Wie meinen Sie das?
Nehmen wir Flashbacks, eine erhöhte Wachsamkeit oder Schreckhaftigkeit. Für eine Person, die Folter erlebt hat oder vergewaltigt wurde, sind solche «Symptome» im Grunde ganz vernünftige und der Situation angemessene, weil überlebensnotwendige Reaktionen. Wenn der Begriff selbst nicht so problematisch wäre, würde ich sagen: Sie sind das «Normalste» auf der Welt. Die Betroffenen bekommen aber durch ihr Umfeld oder ihr Selbstverständnis das Gefühl, es wäre etwas «falsch» mit ihnen, sie
seien «nicht normal» und müssten therapiert werden. Nicht wenige schämen sich deshalb. Es ist wichtig, die Betroffenen gerade in Therapien von diesem Stigma zu entlasten.
Wie geht das?
Traumata mögen eine Reihe spezifischer Symptome aufweisen, doch werden sie individuell unterschiedlich erlebt und verarbeitet. Ein Rezept für alle gibt es also nicht. Kommt hinzu, dass sich schwere Traumata wohl nie restlos heilen lassen, es geht darum, dass die Betroffenen mit ihren Belastungen besser umgehen können. Ein Teil der Arbeit besteht darin, sorgfältig zu unterscheiden zwischen dem, was damals geschah, und dem, was heute ist. Menschen, die vor vielen Jahren erniedrigende Verhörsituationen mit anschliessender Folter über sich ergehen lassen mussten, haben teilweise noch heute Panik, wenn sie uniformierten Männern begegnen, zum Beispiel einem Verkehrspolizisten. Hier ist es für die Betroffenen, um es sehr verkürzt auszudrücken, wichtig zu erkennen, dass ihre Reaktion auf das, was ihnen damals widerfuhr, nichts Pathologisches hat. Zugleich müssen sie erfahren können, dass von der Situation im Hier und Jetzt keine reelle Gefahr ausgeht.
Mit der Pathologisierung geht oft auch einher, dass Betroffene auf eine Opferrolle reduziert werden, die sie häufig gar nicht einnehmen möchten.
Zu Beginn der Therapie finde ich es unerlässlich, die Opferrolle der Betroffenen anzuerkennen, auch im Sinne einer solidarischen Haltung. Wir dürfen nicht vergessen: Oft werden die Menschen, die schwere Traumata erleben, dafür selber verantwortlich gemacht. Denken wir bloss daran, was sich Vergewaltigungsopfer alles anhören müssen. Aber ja, ich stimme zu, es darf nicht dabei bleiben. Der einseitige Fokus auf die Opferrolle würde das Trauma bloss zu einem individuellen Schicksal machen, und das wäre unangemessen.
Wie meinen Sie das?
Gerade schwere Traumata kommen nicht aus dem Nichts. Sie ereignen sich oft in komplexen sozialen, politischen Situationen, in sich denen sich die Betroffenen befinden oder aus denen sie herausgerissen werden. Diese Umstände müssen genauso berücksichtigt werden wie das Innenleben einer Person.
Können Sie uns ein Beispiel geben?
Vergewaltigte Frauen, die sich nicht um ihren Haushalt kümmern können, traumatisierte Kinder, die nicht mehr in der Lage sind, mit anderen zu spielen, gefolterte Männer, die keine Arbeit mehr finden und so ihre Rolle als Ernährer der Familie nicht mehr ausüben können, Geflüchtete, die auch in ihrem Ankunftsland in grosser Unsicherheit leben müssen, weil ihr politischer Status noch unklar ist. Das sind Beispiele, die viel mit sozialen, kulturellen und politischen Umständen zu tun haben, in welche nicht nur die Betroffenen, sondern auch deren Traumata eingebettet sind. Sie ausser Acht zu lassen, wäre ein Fehler.
«Traumata werden individuell unterschiedlich verarbeitet. Ein Rezept für alle gibt es nicht.»
CLAUDE GIGER
FOTO: UDO RAUCHFLEISCH, 80, ist Psychoanalytiker und Autor zahlreicher Bücher über Aussenseiter. Er lebt in Basel.
Sie sind Psychologe. Ist das nicht eher Aufgabe der Sozialarbeit?
Bei uns herrscht ein Wissenschaftsverständnis von hochspezialisierten Disziplinen vor, die untereinander nicht sonderlich viel verbindet. Das gilt auch für die Traumatherapie und die Sozialarbeit. Dem stehe ich skeptisch gegenüber. Naheliegender ist für mich ein sozialpsychiatrischer Ansatz, der sowohl das soziale Umfeld einer Person berücksichtigt als auch ihr Innenleben. Was nicht heisst, dass ich die sozio-kulturellen Verhältnisse etwa eines Migranten, der bei mir in Therapie ist, immer bis ins Letzte kennen muss. Vieles vermittelt sich während der Therapie.
Gibt es in der Therapie eine Abfolge im Fokus auf Aussen- und Innenwelt?
Wenn es um schwersttraumatisierte Personen geht, zeigt meine Erfahrung, dass wir beim sozialen Umfeld ansetzen sollten. Wenn es draussen brennt, ergibt es wenig Sinn, die Leute auf die Couch zu legen und mit ihnen über ihre Kindheit zu reden.
Das klingt dogmatisch.
So meine ich das nicht. Natürlich gibt es Situationen, die therapeutische Kriseninterventionen verlangen. Auch gibt es Fälle, in denen die soziale, kulturelle oder politische Umwelt eine weniger grosse Rolle spielen. Doch wie gesagt, bei schweren Fällen wird die psychologische Therapie in ihren Möglichkeiten oft sehr stark eingeschränkt, wenn das soziale Umfeld in Schutt und Asche liegt oder wenn sich die betroffene Person in permanenter Unsicherheit befindet. Ich denke etwa an Geflüchtete, die in der Schweiz sehr lange auf ihr Aufnahmeverfahren warten müssen. In mehr als einem Fall sagten mir die Betroffenen, sie müssten die Therapie abbrechen, bis sie ihre soziale Lage im Griff hätten.
Aus Ihrem Ansatz könnte man weitreichende Forderungen ableiten: Um Traumata zu lindern, müssen sozialpolitische Voraussetzungen geschaffen werden. Oder im Umkehrschluss: Solange diese Voraussetzungen nicht gegeben sind, müssen wir die Risiken unverarbeiteter Traumata tragen.
Das ist eine komplexe Angelegenheit. Aber ja, grundsätzlich würde ich sagen, dass eine nachhaltige Therapie von schwersttraumatisierten Personen ein gewisses sozialpolitisches Engagement der verantwortlichen Institutionen voraussetzt. Am Beispiel der Geflüchteten wäre dies ein vereinfachtes und beschleunigtes Asylverfahren. Das mag jetzt auf Anhieb befremden, aber es gibt Leute aus meinem Fach, die nur mit sogenannt anerkannten Geflüchteten Therapien durchführen. Der Gedanke dahinter: Die permanente Ungewissheit, was mit ihnen passieren wird, kann sich in manchen Fällen retraumatisierend auswirken und macht eine nachhaltige Therapie schwierig oder gar unmöglich. Jemanden therapieren wollen, der mit der ständigen Angst vor der Ausschaffung leben muss, ist wie jemandem das Herz operieren im Bewusstsein, dass die Operation jeden Augenblick abgebrochen werden muss.