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Swingen mit Robbie Exklusiv-Interview zum neuen Album Outsider Art: Jetzt sind die Aussenseiter mittendrin

Stimmen im Kopf – wie sich ein Schizophrener manchmal selbst abhanden kommt

Nr. 313 | 15. bis 28. November 2013 | CHF 6.– inkl. MwSt. Die Hälfte des Verkaufspreises geht an die Verkaufenden. Bitte kaufen Sie nur bei Verkaufenden mit offiziellem Verkaufspass.


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Datum, Unterschrift

Anzahl Taschen

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*gemäss Basic 2008-2. Seite bitteMACH heraustrennen und schicken oder faxen an: Verein Surprise, Administration, Spalentorweg 20, Postfach, 4003 Basel, F +41 61 564 90 99, info@vereinsurprise.ch

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Titelbild: Universal Music/John Wright

Editorial Bühne oder Gosse

Wer der leichten Musse nicht grundsätzlich abgeneigt ist, findet in Robbie Williams einen grandiosen Entertainer. Seine Songs lassen sich mitsingen, er sieht gut aus, hat ein loses Mundwerk und kontert seine Eitelkeit mit Selbstironie – nachzulesen ab Seite 16. Kommt schon, Leute, wir wollen miteinander Spass haben, heisst das Motto des bald 40-jährigen Engländers. Das macht ihn zum vielleicht letzten Popstar alter Schule, und es unterscheidet ihn von den jüngeren Berufskollegen. Britney Spears, Rihanna, Miley Cyrus und Justin Bieber vermitteln keinen Spass, sondern wirken verkrampft bis verzweifelt in ihrem Strampeln um Aufmerksamkeit.

BILD: DOMINIK PLÜSS

«Let Me Entertain You» heisst einer von Robbie Williams’ Hits: Lasst euch von mir unterhalten. Und viele Frauen (und auch Männer) lassen sich noch so gern darauf ein. Auch in der Surprise-Redaktion: Als uns Hanspeter Künzler ein Exklusiv-Interview zum neuen Album lieferte, gab es für einmal keine Diskussionen übers Coversujet, sondern eine klare Ansage: Robbie.

RETO ASCHWANDEN REDAKTOR

Längerfristig tut das Leben im Scheinwerferlicht nicht gut: Robbie Williams hat Alkohol- und Drogenentzüge hinter sich, Britney Spears lebt unter der Vormundschaft ihres Vaters, bei Miley Cyrus warten Fans und Presse auf den Zusammenbruch. Popstars greifen nach den Sternen und fallen tief. Umgekehrt ist es bei vielen Künstlern der Outsider Art, Leuten wie Johann Rudolf Nick, der gerne die Mona Lisa malt. Diese Künstler, über die meine Redaktionskollegin Diana Frei ab Seite 10 berichtet, leben wegen sozialen, psychischen oder Suchtproblemen oft am Rande der Gesellschaft. Die Kunst erlaubt ihnen Ausbrüche aus dem Alltag und ermöglicht Höhenflüge. So treffen sich die Extreme: hier Aussenseiter, die durch die Kunst einen Ausdruck für den Tumult in ihrem Innern finden, dort umjubelte Stars, die im öffentlichen Trubel sich selbst verlieren. Johann Rudolf Nick und Robbie Williams leben an entgegengesetzten Polen der Gesellschaft und haben trotzdem Gemeinsamkeiten. Beide ringen sie mit ihren Dämonen, beide schaffen sie Kunst, die anderen Menschen Freude bereitet. Es sind kleine Dinge, die den Unterschied machen, ob jemand auf der Bühne landet oder in der Gosse. Und wenn sich im Innern die Leere breitmacht, fühlen sich manchmal Menschen in der Villa auch nicht besser als jene in der Sozialwohnung. Wie schrieb Oscar Wilde, ein Urahn der heutigen Popstars, der als homosexueller Dandy ins Gefängnis kam: «Wir liegen alle in der Gosse, aber einige von uns betrachten die Sterne.» Lassen Sie sich unterhalten. Reto Aschwanden

Surprise ist auf Spenden angewiesen. Auch auf Ihre! Herzlichen Dank. PC-Konto 12-551455-3 Ihre Meinung! Wir sind gespannt auf Ihre Kritik, Ihr Lob oder Ihre Anmerkungen. Schreiben Sie uns! Auf leserbriefe@vereinsurprise.ch oder an Verein Surprise, Redaktion, Spalentorweg 20, Postfach, 4003 Basel. Es werden nur Leserbriefe abgedruckt, die mit vollem Namen unterzeichnet sind. Die Redaktion trifft eine Auswahl und behält sich vor, Briefe zu kürzen. Oder diskutieren Sie mit uns auf www.facebook.com/vereinsurprise SURPRISE 313/13

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10 Outsider Art Windschief und ausdrucksstark Art Brut entspringt der Faszination für das Andersartige, für die Kunst, die jenseits sozialer Normen entsteht. Es sind Werke von Sonderlingen, von Aussenseitern, von psychisch Kranken. Heute ist die Outsider Art definitiv im Museum angekommen. Ein Besuch in der Liestaler Werkstatt artSoph zeigt aber: Nach wie vor werden die Werke von Menschen gemacht, die mit der Kunst ihr Leben zu bewältigen versuchen.

BILD: LUCIAN HUNZIKER/WERK: JOHANN RUDOLF NICK

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Inhalt Editorial Let Me Entertain You Basteln für eine bessere Welt Zwölf hoch drei Aufgelesen Obdachlosenfreie Zonen Zugerichtet Meineid aus Liebe Mit scharf Wo-Wo-Wonige Starverkäufer Negasi Garahlassie Porträt Kunst im Exil Schizophrenie Wenn die Stimmen flüstern Wörter von Pörtner Papierpunks im Digitalzeitalter Tanz Choreografie-Nachwuchs Kultur Jules Vernes Liebesroman Ausgehtipps Gospeln für Surprise Verkäuferporträt Obdachlos in Washington Projekt SurPlus Eine Chance für alle! In eigener Sache Impressum INSP

16 Pop «Ich werde immer singen» BILD: UNIVERSAL MUSIC/JOHN WRIGHT

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Ausverkaufte Konzerte und gleich zwei Alben in einem Jahr: Robbie Williams zählt noch immer zu den erfolgreichsten Popstars der Gegenwart. Nun singt er mit Lily Allen und Rufus Wainwright, im Interview erinnert er sich, wie sein Gehirn zum Emmentaler wurde, erzählt von Vaterfreuden, Ehrgeiz und seiner Ähnlichkeit mit einem Pferd. Robbie Williams will noch immer der Grösste sein, und mit dem Album «Swings Both Ways» schwingt er einmal mehr obenauf.

19 Wohnungsnot Hausboot statt WG-Zimmer

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BILD: FRANZISKA KOHLER

Wer wenig oder mittelprächtig verdient, hat immer mehr Mühe, eine bezahlbare Wohnung zu finden. Im Vergleich zu London wirkt die Situation in der Schweiz aber nach wie vor erträglich. In der englischen Hauptstadt leben selbst Menschen aus dem Mittelstand in Wohnmobilen oder auf Hausbooten. Der Blick an die Themse zeigt, wie ein entfesselter Immobilienmarkt eine Stadt für Normalsterbliche unbewohnbar macht.

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ILLUSTRATION: SIMON DREYFUS | WOMM

1. Rückseite (nach der Lektüre) mit einem dünnen Karton bekleben, Bastelvorlagen ausschneiden und zusammenkleben.

2. Ein paar Schritte zurück machen und sich das Ganze in Ruhe ansehen. Nun ist philosophischethisches Nachdenken gefragt: Was ist gerecht?

3. Abstimmen.

Basteln für eine bessere Welt Welt 1:12 in 3D Am 24. November sollen wir über ein abstraktes Zahlenverhältnis abstimmen: 1 zu 12. Was ist gerecht? Schwierige Frage. Entscheidungshilfe bietet unsere 3D-Visualisierung: Mit Sparschwein, Safe und Geldspeicher im Grössenverhältnis 1:12:120 (letzteres in etwa der Verdienst der Top Shots in Grossunternehmen) sieht der Stimmbürger auf einen Blick, worüber wir abstimmen. SURPRISE 313/13

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Aufgelesen News aus den 90 Strassenmagazinen, die zum internationalen Netzwerk der Strassenzeitungen INSP gehören.

Leben retten verboten Kiel. «Gäste lässt man nicht im Hühnerstall wohnen.» In diesen Zeiten, in denen ertrinkenden Bootsflüchtlingen Hass entgegenschlägt, klingt er wie ein Rufer in der Wüste: Stefan Schmidt, Flüchtlingsbeauftragter von Schleswig-Holstein, fordert «eine neue Willkommenskultur» für Menschen, die aus ihrer Heimat geflohen sind. Der Mann weiss, wovon er spricht: 2004 rettete er als Kapitän eines deutschen Hilfsschiffs 37 in Seenot geratenen Afrikanern das Leben – und landete dafür im Gefängnis.

Brot für Srebrenica Dortmund. Legal hingegen ist das Engagement des deutschen Journalisten Dirk Planert. Nach einem Besuch in Srebrenica, dem Ort, wo im Jugoslawienkrieg 8000 Jungen und Männer kaltblütig umgebracht wurden, mutierte er vom Berichterstatter zum Helfer. Planert war erschüttert: «Einmal im Jahr ist Srebrenica voller Menschen: Wenn man der Toten gedenkt. Nur die Lebenden hat man vergessen.» Dank seiner Hilfe gibt es nun wieder eine Bäckerei im Ort. Sie beschäftigt sechs Leute, und nach Ladenschluss wird Brot gratis an Bedürftige verteilt.

Obdachlos sein verboten Stuttgart. Illegal wiederum ist es, in Ungarn obdachlos zu sein. Rund 50 000 im ganzen Land sind es trotzdem. Das Verfassungsgericht hatte zwar das Verbot der rechtskonservativen Regierung aufgehoben, diese installierte darauf aber einfach ein Recht für Kommunen, «obdachlosenfreie Zonen» einzurichten. Ein sozialer Stadtrundgang macht nun auf die Probleme aufmerksam. Und zeigt auf, dass auch in der Schweiz erprobte Massnahmen angewandt werden: bauliche Veränderungen, die verhindern, dass man sich überhaupt irgendwo hinlegen kann.

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Zugerichtet Motiv: Liebe!? Der Fall war so was von klar. Ein Lastwagenchauffeur, gemäss Vorstrafenregister ein eher ruppiger Typ, war schuldig der schweren Verkehrsregelverletzung und Sachbeschädigung. Und bereits schuldig gesprochen. Nicht einmal, sondern dreimal. Bezirks-, Ober- und schliesslich auch das Bundesgericht sahen es als klar erwiesen an, dass er es war, der 2008 im Stossverkehr in einem Tunnel mitten in der Stadt Zürich seinen Töff abstellte, weil er Zoff hatte mit einer anderen Verkehrsteilnehmerin. Das bestätigte nicht nur die betroffene Automobilistin, der er den Rückspiegel zertrümmerte. Genau so hatten es auch vier weitere Zeugen gesehen, drei davon Polizisten. Man braucht keine Strafrechtsprofessorin zu sein, um zweifelsfrei festzustellen: In dieser Sache ist nichts, aber auch wirklich gar nichts mehr zu holen. Dennoch beschäftigte der Fall erneut das Bezirksgericht. Nach dem letztinstanzlichen Verdikt hatte sich nämlich eine Verwaltungsangestellte um die 40 aus dem Zürcher Oberland bei der Polizei gemeldet, um sich selbst anzuzeigen. Sie sei es gewesen, damals im Tunnel. Und sie könne es nicht mit ihrem Gewissen vereinbaren, dass nun ein Unschuldiger büssen müsse. Wobei das mit dem zerdepperten Rückspiegel allerdings eine Lüge sei. Dieser auf den ersten Blick edle und mutige Schritt zur Wahrheit brachte ihr dann tatsächlich eine Anzeige ein. Aber nicht etwa, weil der diensthabende Beamte ihr Glauben schenkte, sondern gerade eben nicht. Die Anklage lautete schliesslich auf «falsches Zeugnis». Der, der da angeblich zu Unrecht bestraft worden und alsbald nicht nur seinen Fahr-

ausweis, sondern auch seinen Job los war, ist der Lebensgefährte der Frau. Diese nun plötzlich nicht nur wahrheits-, sondern auch ihren Mann ganz fest liebende Partnerin hatte bei der ersten Einvernahme vor über fünf Jahren noch ausgeschlossen, die Fahrerin zu sein. Sie habe zur Tatzeit gearbeitet, ein Zeitblatt bestätigte ihre Aussage. Konfrontiert mit dem Beweisstück, das damals ihre Unschuld bestätigte und heute das Gegenteil nahe legt, sagt sie: «Die Polizei muss sich in der Zeit geirrt haben.» Auf die Frage, was sie davon halte, dass das Bundesgericht eine Frau als Täterin absolut ausschloss, empört sie sich: «Unglaublich, dass ein solcher Justizskandal in der Schweiz möglich ist!» «A fool for love» würde der englische Volksmund da kopfschüttelnd sagen, «eine Idiotin aus Liebe» also. Gerichte aber lassen sich nur in Extremfällen über die Klassifizierung der Liebe als Tatmotiv aus. Und es ist wohl richtig, dieses hehre Gefühl von den Niederungen der menschlichen Niedertracht fernzuhalten. Denn allzu oft muss es herhalten, um weniger noble Beweggründe zu übertünchen. Rache zum Beispiel, oder Hass. Ganz oft geht es auch einfach nur ums liebe Geld. Davon sei im vorliegenden Fall auszugehen, zeigt sich der Gerichtspräsident überzeugt und verhängt, wie passend, eine Geldstrafe. Bedingt, bezahlen muss sie die Strafe also nicht. Aber die Gerichtsgebühren und bald auch die Lebenskosten für ihren arbeitslosen Freund. Und vielleicht sogar mit ihrem eigenen Job, denn bei Verwaltungsangestellten sind Vorstrafen ungern gesehen. Manchmal haben die Engländer eben doch recht. YVONNE KUNZ (YVONNE.KUNZ@GMAIL.COM) ILLUSTRATION: PRISKA WENGER (PRISKAWENGER@GMX.CH) SURPRISE 313/13


Wohnungsnot Hört auf mit Aufwertungen Der Wohnraum in den Städten wird immer knapper. Was es braucht, ist ein Zusammenrücken, damit es Platz hat für Menschen, die mit kleinen Einkommen letztlich hohe Steuererträge bringen.

Ab Seite 19 in unserem Heft berichten wir über den Wohnungsmarkt in London, wo die Not so gross ist, dass immer mehr Menschen in ihren Autos oder auf Hausbooten leben. In der britischen Finanzmetropole sind die Mieten derart in die Höhe geschossen, dass sie die Möglichkeiten von Menschen mit kleinen bis mittleren Einkommen längst übersteigen und sogar Grossfirmen Mühe haben, Wohnungen für ihre Angestellten zu finden. Die Lage an der Themse ist noch schlimmer als an Limmat und Rhein, doch das ist ein schwacher Trost. Denn auch in Schweizer Städten ist die Lage dramatisch. In Basel-Stadt betrug die Leerwohnungsquote im August dieses Jahres 0,3 Prozent. In der Stadt Zürich lag sie bei 0,11 Prozent – in den Kreisen 3 bis 5, wo besonders viele Menschen mit schmalem Budget leben, gar zwischen 0,03 und 0,07 Prozent. 0,03 Prozent bedeutet: Drei von 10 000 Wohnungen sind verfügbar. Das Problem ist erkannt, und es werden auch Massnahmen ergriffen. In Zürich wird derzeit die Bau- und Zonenordnung BZO revidiert. Viel ändern wird sich freilich nicht. Drei bewohnte Stockwerke sollen die Regel bleiben, dafür wird die Zahl der sogenannten Kernzonen, in denen ein dörflicher Charakter erhalten werden soll, erhöht. Immerhin: Genossenschaftliche und gemeinnützige Projekte dürfen künftig ein bisschen höher gebaut und intensiver genutzt werden. In Basel-Stadt wird in diesen Tagen über den Claraturm, einen geplanten Neubau bei der Messe, abgestimmt. Es geht um ein Hochhaus, dem eine Häuserzeile aus dem 19. Jahrhundert weichen müsste. Gewiss ist der Entscheid für oder wider Claraturm von städtebaulicher Bedeutung – und die Revision der BZO in Zürich sowieso. Der Wichtigkeit des Themas Wohnen in der Stadt werden aber beide Geschäfte nicht gerecht. Statt über einzelne Neubauten und die Schutzwürdigkeit von Kernzonen zu diskutieren, bräuchte es den Mut zu grossen Würfen.

Nominieren Sie Ihren Starverkäufer! Schreiben Sie uns mit einer kurzen Begründung, welche/n Verkäufer/in Sie an dieser Stelle sehen möchten: Verein Surprise, Redaktion, Spalentorweg 20, Postfach, 4003 Basel, F +41 (0)61 564 90 99, redaktion@vereinsurprise.ch

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Wenn wir in unseren Städten weiterhin allen Gesellschaftsschichten Wohnraum bieten wollen, dann ist ein fundamentales Umdenken nötig. Wir brauchen Platz, und den gibt es nur in der Vertikalen. Das heisst, die Häuser müssen höher werden – und zwar nicht nur ein paar Prestigeobjekte für die Reichen, sondern weit herum. Eine Stadt ist kein Dorf. Wenn unsere urbanen Zentren wachsen sollen, dann müssen wir zusammenrücken, anders geht es nicht. Das würde auch bedeuten, dass die grassierenden Aufwertungen kritisch unter die Lupe genommen werden. Es heisst, durch Aufwertungen würden gute Steuerzahler in eine Stadt gelockt. Doch hinter dieser Argumentation steckt ein Denkfehler: In Quartieren mit einem tiefen Durchschnittseinkommen wohnen viele Menschen auf engem Raum. In den Siedlungen der Reichen beansprucht jeder Haushalt viel Platz. Das hat zur Folge, dass die Steuereinnahmen pro Hektare in Armenvierteln höher liegen als in Villenquartieren, wie die Stadt Luzern in einer Studie herausgefunden hat. Gute Steuerzahler, das sind Menschen, die mit wenig Wohnraum auskommen, denn in der Summe liefern sie mehr an den Fiskus als ein paar wenige Reiche. Hören wir also auf damit, unsere Städte aufzuwerten, um für Wohlhabende attraktiv zu wirken. Ermöglichen wir stattdessen bezahlbare Wohnungen für Menschen, die sich ihr Budget einteilen müssen – denn sie beleben und finanzieren unsere Städte. ■

BILD: ZVG

VON RETO ASCHWANDEN

Starverkäufer Negasi Garahlassie Nanni Reinhart aus Winterthur schreibt: «Ich kaufe das Strassenmagazin bei Herrn Negasi Garahlassie, jeweils am Markttag in Winterthur. Stets freundlich und nett, gefällt mir seine Art ausgezeichnet, denn er bringt gute Stimmung, auch bei Sudelwetter.»

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Porträt Grenzen übermalen Nihad Gule ist Künstler und Zeuge eines Krieges, der ihn in die Flucht geschlagen hat. Zusammen mit seiner Familie lebt er derzeit in Beirut. Um die Hoffnung nicht zu verlieren, hat er sie auf eine Leinwand gemalt. VON ANDREA KELLER (TEXT) UND LUKAS RÜEGGER (BILD)

Malerei. «Ich wollte mich ausdrücken, in einer Sprache, die jeder verstehen konnte. Ich wollte und will keine Grenzen errichten. Grenzen gibt es schon zu viele, ich will sie übermalen, überwinden.» Der Maler mag keine Beengung, nicht im Denken, auch nicht im Format: «Am liebsten sind mir grosse Bilder.» Wenn das möglich wäre, sagt er und lacht, wäre der Himmel seine Leinwand. Draussen vor den Fenstern mischt sich Schwarz ins Grau, es wird Abend in Beirut, es wird Nacht. Die Ehefrau hat heissen Tee gebracht und selbstgebackene Kekse. Die beiden lernten sich vor Jahren in Damaskus kennen, über ihren Bruder, der Musiker ist. Nihad Gule war nicht der einzige Künstler im Umfeld seiner Frau. Als sie ihn dann aber zum ersten Mal malen sah, anmutig, achtsam, hat sie das berührt. Nun lebt sie inmitten der Bilder, die auch die einzige finanzielle Einnahmequelle für die Familie darstellen. Doch der Krieg drückt unerbittlich auf die Preise, in der Krise schwindet zudem das Interesse für Kunst. Nihad Gule malt trotzdem, malt auch in Beirut, in der kleinen Wohnung, die ihm und seiner Familie zur Verfügung steht. Da die Mittel knapp geworden sind, muss er sich manchmal zwischen neuer Farbe und Esswaren entscheiden. Dann wird eben Brot statt Rot gekauft. Ganz einfach. Etwas Unterstützung erhalten sie derzeit von Verwandten: Die älteren Geschwister leben in Deutschland. Auch die Eltern sind nachge-

Diese Geschichte beginnt mittendrin – in Beirut, in Sin el Fil, einem Quartier im Osten der libanesischen Hauptstadt. Nihad Gule sitzt in einem kleinen Zimmer und raucht. Die Wände sind voller Bilder. Sie sind die bunten Begleiter des Künstlers, Zeugen einer Lebensgeschichte, deren neuestes Kapitel der Krieg in Syrien aufgeschlagen hat. Nihad Gule und seine Familie sind im April 2013 aus Damaskus geflüchtet. Sie hätten gerne ausgeharrt, in ihrem Haus, aber diese Bomben, die Geräusche der Angriffe aus der Ferne, die sind schliesslich zu nahe gerückt. «Diese latente Bedrohung», erzählt der Exil-Syrer, «hat einem kleinen Jungen aus der Nachbarschaft die Sprache verschlagen.» Kein Wort habe er mehr gesagt, von einem Tag auf den anderen, und kein Arzt konnte helfen. Auch Nihad Gule hat einen Jungen. Der ist vier und sitzt auf dem Boden, zeichnet eine Figur auf einen Zigarettenkarton – ein Mensch, vielleicht, mit wilden Haaren, es könnten auch Tentakel sein. Der Maler verweist mit einem Kopfnicken auf seinen Sohn und sagt: «Der kleine Mann erzählt mir schöne Dinge, spannende Dinge. Es wäre schrecklich für mich, würde er nicht mehr reden. Ich konnte ihm die Lage nicht länger zumuten, auch meiner Tochter nicht, meiner Frau. Also packten wir das Wichtigste ins Auto und fuhren in den Libanon.» Beirut war naheliegend, wortwörtlich, aber der Krieg bläht die Stadt auf. Sie platzt aus alManchmal muss sich Nihad Gule zwischen neuer Farbe und len Nähten, und syrische Flüchtlinge sind hier Esswaren entscheiden. Dann wird eben Brot statt Rot gekauft. wenig willkommen. Es gibt einfach zu viele von ihnen. Auf der Strasse werde man mit syrischem Autokennzeichen ausgehupt und angefeindet, erzählt der Mazogen. Der Künstler hat nun für sich und seine eigene Familie einen Anler im Exil, kürzlich habe ihn eine Nachbarin beschimpft. «Sie wurde trag gestellt. Ob sie in Deutschland tatsächlich Asyl erhalten, steht in erst freundlich, als sie erfahren hat, wer ich bin. Dann wollte sie sogar, den Sternen. dass wir uns auf Facebook befreunden.» Die Sterne. Hier in Beirut vernebelt oft Smog den Blick. Könnte Gule In seiner Heimat wurde Nihad Gule als aufstrebender Künstler geden Himmel tatsächlich bemalen, so hinge er in satten Farben über unfeiert. Er gewann einen renommierten syrischen Kunstpreis, wurde seren Köpfen. Die Farben sind ihm wichtig, auch wenn er derzeit sparinterviewt, machte bei zahlreichen Ausstellungen mit und verkaufte sam damit umgehen muss. Sie erinnern ihn an den Ort seiner Kindheit, auch nach Übersee. «Einmal hat mir ein Amerikaner 25 000 Dollar für ans syrische Afrin, nur 150 Kilometer entfernt von der türkischen Grenein Bild geboten», sagt er nicht ohne Stolz. Ein solch hoher Verkaufsze. Afrin bedeutet auf Kurdisch «gesegnete Schöpfung». Und diese preis war die Ausnahme, aber die Kunst ermöglichte ihm und seiner FaSchöpfung hat er in Gedanken mitgenommen, als er von seinem Vater milie in den letzten Jahren ein gutes Leben – kein luxuriöses, aber ein aus der Heimat vertrieben wurde damals, wegen der Kunst. gutes. Das war ihm wichtig. Auch wegen seines Vaters. Mit der Flucht aus Syrien in den Libanon wiederholt sich der unfrei«Als ich meinem Vater mit 15 gesagt habe, dass ich Künstler werden willige Aufbruch ins Neue. Dem Vater kann der Künstler seine Haltung möchte, ging er in mein Zimmer und hat all meine Werke zerstört. Jeverzeihen. Die Sache mit dem Krieg hingegen ist eine andere: «Im Modes einzelne.» Damit könne er später doch keine Familie ernähren, hament ist Syrien ein internationales Schlachtfeld, auf dem verschiedene be er getobt und geschrien, und als der Sohn keine Einsicht zeigte, hat Nationen und Interessengruppen ihre Kämpfe austragen. Diese Kämpfe er ihn aus dem Haus gejagt. Dabei war sein Berufswunsch absehbar: haben mit mir und meiner Familie nichts zu tun – aber sie haben uns «Als Kind habe ich Feigen aufgebrochen und mit dem Saft die Gesichter das Leben genommen, das wir hatten.» Seine dreijährige Tochter habe der Dorfbewohner auf die Strasse gezeichnet.» In der Schule wurde er kürzlich zu ihm gesagt, dass ihr Haus in Damaskus bestimmt weine, so dann vom Lehrer oft nach vorne gebeten, um auf die Wandtafel zu leer wie es sei. Und ihm selbst fehlt der Staub im Atelier. «Es hat da imzeichnen. mer eine feine Schicht gehabt, auf den Regalen. Die habe ich sehr geEigentlich hat Nihad Gule die Schulzeit nicht in guter Erinnerung. Da mocht.» erlebte er zum ersten Mal Ausgrenzung und Spott: Als Kurde, der am Das letzte Bild, das Nihad Gule in seinem Atelier in Damaskus gemalt Anfang noch kein Arabisch verstand, machten ihm die Mitschüler das hat, heisst «Die Vertriebenen». Sein erstes Werk, das in der Wohnung in Leben zur Hölle. In dieser Hölle entflammte dann aber das Feuer für die Beirut entstand, trägt den Titel «Die Hoffnung». ■ SURPRISE 313/13

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SURPRISE 313/13 BILD: COURTESY MUSテ右 VISIONNAIRE/JOSEF WITTLICH


Outsider Art Ungekünsteltes Lebenswerk Art Brut und Outsider Art sind hip, sogar die diesjährige Biennale in Venedig widmet sich der Kunst der Aussenseiter. Es sind Werke, die an den Rändern der Gesellschaft entstehen. Oft dienen sie als Strategie, mit Verlust, Sucht und dem Leben an sich zurechtzukommen.

VON DIANA FREI (TEXT) UND LUCIAN HUNZIKER (BILDER)

Bekannt geworden ist zum Beispiel Emery Blagdon mit seiner «Healing Machine», einer weitläufigen, überfrachteten Installation, die Energien aus der Erde sammeln und damit Krebs heilen sollte. Oder George Widener mit Asperger-Syndrom und einer Sonderbegabung für Zahlen. Seine Vorliebe für Daten und Statistiken ist in seinen Werken ständig präsent. Ein eigentliches Aushängeschild der Art Brut ist bis heute der Schweizer Adolf Wölfli, dessen Zeichnungen und Schriften in den 1920er-Jahren publiziert wurden; es war das erste Mal, dass ein Patient einer Nervenheilanstalt als Künstler ernst genommen wurde. Kunst als Ventil und Methode, sich die Welt und das eigene, nicht immer einfache Leben zu erklären, es zu bewältigen.

In Zürich sind die Outsider mittendrin. Noch stecken sie in Kisten, Kartons, Röhren, ab November sind sie aber mitten in der Altstadt am Predigerplatz zu sehen. Hier wird – vorerst temporär für die nächsten Jahre – das Musée Visionnaire eröffnet, das Art Brut und Outsider Art zeigt. «Man kann sehr klar sagen, dass Outsider Art zur Zeit grosse Beachtung findet», sagt der Kunsthistoriker und Kurator Rémi Jaccard. «Ein deutliches Zeichen ist die Biennale in Venedig dieses Jahr, wo viele Outsider Artists gezeigt werden.» Aber auch der Hamburger Bahnhof – wie das Museum für Gegenwart in Berlin heisst – hat eine grosse Ausstellungsreihe gemacht. Und in der Schweiz widmen sich gleich drei Arche Noah aus Muscheln Institutionen der Art Brut: die Collection de l’Art Brut in Lausanne, das Die Wände im Musée Visionnaire sind noch leer und sehr weiss, die Kunstmuseum Thurgau in der Kartause Ittingen und das Museum im Werke stehen sortiert in Schachteln und verraten erst wenig von ihrer oft Lagerhaus in St. Gallen. farbenfrohen Präsenz. Ein Muschelbild des Algeriers Paul Amar ist zu erJetzt eröffnet Rémi Jaccard zusammen mit Rea Furrer zudem das Muspähen, eine Arche Noah, einige der Tierpaare mitten im Liebesakt, alles sée Visionnaire. Rea Furrer ist die Tochter der Sammlerin Susi Brunner, glitzernd und glänzend, zusammengebaut aus Krustentieren. Amar ist die auf Outsider Art, Art Brut und Naive Kunst spezialisiert ist. Jaccard ein alter Mann ohne Berührungsängste, er hatte manchen Job, und einer wiederum hat sich schon früher als Fachmann für die Kunst am Rand davon war Chauffeur, er kutschierte hauptsächlich Prostituierte durch des Elitären bewiesen: Dissertiert hat er über Urban Art, also Graffiti die Strassen. «Art Brut ist oft sehr lebensbejahend», sagt Rea Furrer, und andere Formen der Stadtverschönerung. Jetzt wird er mit dem Mu«auch wenn manchmal Kritisches, Unschönes drinsteckt: Man erkennt es sée Visionnaire zur Rechten die Zentralbibliothek als Nachbarin haben, nur nicht gleich als solches.» So hat Amar auch Figuren der antikoloniadie Hochburg des akademischen Wissens, den Hort der gesellschaftlistischen Jugendrevolte in seine Glitzerwelt integriert. Gregory Blacklichen Elite. Zur Linken das Café Zähringer, selbstverwaltetes Kollektiv und Refugium der Alternativszene. Hier mittendrin ist ein guter Ort für die Aussenseiter. «Man braucht nicht unbedingt Bildung, um etwas Bleibendes «Spannend an der Art Brut finde ich das Zuschaffen zu können. Das finde ich eine schöne und wichtige sammenspiel zwischen einem etablierten, teilNachricht.» weise elitären Betrieb und dem Autodidaktischen», sagt Jaccard. «Unsere erste Ausstellung stock steckt noch in der Kartonrolle, und Rea Furrer zögert etwas, einheisst ‹All you need is Passion›. Einerseits ist damit die Leidenschaft der zelne Künstler herauszupicken. Willkürliche Beispiele und SchubladisieKunstschaffenden, Sammler und des Publikums gemeint und anderrungen scheinen ihr zu widerstreben, genauso wie die Frage, ob Artseits, dass man nicht unbedingt Bildung braucht, um etwas Bleibendes Brut-Künstler in der Regel psychiatrische Probleme hätten. «Ich finde es schaffen zu können. Das finde ich eine schöne und wichtige Nachheikel, darauf zu fokussieren, und es stimmt auch nicht. Art-Brut-Künstricht.» ler haben einfach die geistige Freiheit, einen ganz eigenen, sehr unbeStreng genommen ist Art Brut der Begriff, den Jean Dubuffet 1945 deeinflussten, rohen künstlerischen Stil zu entwickeln. Manchmal sind die finiert und ausschliesslich auf seine eigene Sammlung angewendet hat. Kunstschaffenden sozial ausgegrenzt, bewegen sich gesellschaftlich freiSchon vorher hatte die Avantgarde nach Einflüssen zu suchen begonwillig oder unfreiwillig am Rande, sind von ihren Visionen besessen, und nen, die noch unbekannt waren, die eigenständig waren und die anders es gibt einige, die eine psychiatrische Geschichte haben», sagt sie. funktionierten als das, was landläufig als normal bezeichnet wurde. Gregory Blackstock malt enzyklopädische Zusammenstellungen: Man interessierte sich nicht nur für Kunst aus Afrika und Ozeanien, sonverschiedene Pudelrassen, Rottweiler, Vögel, Akkordeone, Hausdächer. dern auch für Werke, die nicht von Berufskünstlern stammten, sondern Seine Bilder sehen aus wie Ausrisse eines Lexikons oder didaktische von gesellschaftlichen Aussenseitern. Mit der Zeit zählte dazu alles, was Kinderbücher. Blackstock ist Autist mit Inselbegabung. Er bringt die ausserhalb von dem passiert, was gelehrt wird und was als akademisch Variationen von Tieren und Gegenständen fast fotografisch genau aus richtiger Weg gilt: das Wahre, Ungekünstelte. 1972 übersetzte der Kunstdem Gedächtnis zu Blatt. Josef Wittlich wiederum konnte wegen körwissenschaftler Roger Cardinal den Begriff Art Brut in Outsider Art. SURPRISE 313/13

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Nick hat 25 Mal die Mona Lisa neu erschaffen. Er malt seit eineinhalb Jahren: «Vorher wusste ich gar nicht, dass ich das kann.»

perlicher Gebresten nicht in die Armee und malte oft knallbunte Soldaten, daneben Frauen und Hoheiten in schreienden Farben, in windschiefen, ausdrucksstarken und gekonnt komponierten Bildern.

Trotz, eigentlich nur um der «bösen» Mutter eins auszuwischen, die ihr verbot, nach Zürich an die Schauspielschule zu gehen. Am Anfang standen die Träume und Hoffnungen eines Teenagers und ein Vater, den sie «abgöttisch liebte» und der starb, als sie 22 war. Später war da nur noch der Alkohol, die Klinik und ein geschützter Arbeitsplatz. Wenn sich Edith mit jemandem verbunden fühlt, dann auf eine absolute Art, und umso grösser ist das Loch, wenn er nicht mehr da ist. 24 Jahre war sie mit ihrem Freund zusammen, bis er starb. Hier in der

Gegen den Verlust anmalen Schauplatzwechsel in die Kunstwerkstatt artSoph in Liestal BL. Sonja Heusser, 43, mag Texturen, Strukturen: Glasfaser, Stecknadeln, Tapeten, Spachtelmasse, Jute und dazu die Farbe Gold. «Mich interessiert, wie Materialien reagieren, welchen Effekt die Farbe auf welchem Untergrund hat.» Vieles «Als die Frauen mit diesem Bild rausgegangen sind, hat es mir übermalt sie wieder, ihre Bilder sind Farb- und so leidgetan», sagt Edith. Also hat sie es ein zweites Mal gemalt. Materialexperimente. Seit bald zwei Jahren kommt sie in die Kunstwerkstatt artSoph, nach Kunstwerkstatt hat sie für ihn kurz vorher noch ein Bild gemalt: Eine 20 Jahren Heroin. Die Räumlichkeiten sind hoch und hell, ein ehemaliNachtlandschaft, tiefblauer Himmel, schwarze Berge ragen hinein, dages Getränkelager, heute wird hier gemalt, gegipst, fotografiert: Kunst rüber ein heller, runder Mond. Zwei Frauen, die in der artSoph vorbeigemacht, in irgendeiner Form. kamen, wollten es unbedingt kaufen. Schmeichelhaft eigentlich, aber: Während des Gesprächs streicht Sonja, die in Wirklichkeit anders «In dem Moment, als sie mit diesem Bild rausgegangen sind, hat es mir heisst, über die Tischplatte mit ihren Unebenheiten, immer wieder, über so leidgetan», sagt Edith Hoffmann. Ein Verlust, schon wieder. Also hat die Risse, über die Farbe, als ob sie das Material spüren wollte, und vielsie das Bild ein zweites Mal gemalt, etwas grösser diesmal. leicht spürt sie auch sich selber wieder besser als noch vor Kurzem. Die Fahrigkeit, wie man sie von Drogensüchtigen kennt, scheint einer mun25 Mal die Mona Lisa teren Umtriebigkeit gewichen zu sein, Sonja sagt: «Ich möchte versuchen, Die Leute, die in die Kunstwerkstatt artSoph kommen, haben und in der Arbeitswelt wieder ein bisschen Fuss zu fassen, vielleicht kann ich hatten Suchtprobleme oder psychische Erkrankungen. artSoph gehört irgendwo ein Praktikum machen oder ehrenamtlich arbeiten.» Sie findet, zum Verein für Sozialpsychiatrie Baselland und ist Teil des Sophie-Blodas könne schliesslich noch nicht alles gewesen sein im Leben. cher-Hauses in Frenkendorf BL, des ehemaligen Obdachlosenhauses. Edith Hoffmann, 55, sitzt am Kaffeetisch. Ihr Notizbuch liegt vor ihr, Hansruedi Bitterlin – angegrauter Millimeterhaarschnitt, Künstlerschal der Kugelschreiber steckt drin. Manchmal schreibt sie. Oft sind es Kurzund Ohrring – hat die Kunstwerkstatt 2005 aufgebaut. Selber war er 20 geschichten, auch einen Roman hat sie einmal begonnen. Als sie jung Jahre lang Töpfer, bevor er sich zum Sozialpädagogen ausbilden liess. war, brach sie ein halbes Jahr vor der Matur das Gymi ab, aus Wut, aus

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Alle gehen ihren eigenen Projekten nach: Johann Nick und Edith Hoffmann.

Unten: Blick in die Kunstwerkstatt artSoph in Liestal.

Hier arbeitet er genau gleich wie alle anderen «Es ist eine Knacknuss, wie man mit der Tatsache umgeht, dass an eigenen Projekten. Seine Backsteinskulptuman zugleich Kunst macht und eine soziale Institution ist.» ren, Gestalten wie aus einer Mauer heraus gewachsen, stehen in der Kantine und scheinen formal reduzierte Horizonte in vielen Variationen. Es war das, was er den Raum zu überwachen. Bitterlin überwacht seine Klienten dagegen von seinem Zimmer aus jahrelang gesehen hatte. nicht: «Es gibt bei uns keine Betreuungshierarchie, jeder kann tun und «Ich will anregen, dass wir auch ab und zu aus dem geschützten lassen, was er will.» Deshalb spricht Bitterlin von den Klienten als Raum hinaustreten», sagt Bitterlin beim Kaffee nach dem Mittagessen unKünstlern und von der Werkstatt als Künstlergemeinschaft. ter dem Blick seiner Skulpturen. «Dass wir wieder einmal ausstellen.» Die erste Ausstellung der artSoph als Künstlergemeinschaft fand 2006 statt. Dämonen als Lebenspartner Die Leute seien gekommen, sagt Bitterlin, sie seien begeistert gewesen, Johann Rudolf Nick, 58, hat 25 Mona Lisas gemalt. Als ganze Schulhätten ihren Cervelat gegessen und die artSoph eine tolle Institution geklasse hängen sie über der Kantinenküche, keck und sehr bunt schauen funden, aber etliche hätten sich die Werke nicht ernsthaft angeschaut. sie aus der Wäsche und sehen dabei eher teeniemässig als erhaben aus. Das ist die Krux, die «Jöö-Reputation», wie Bitterlin sagt: «Es ist eine Der, der das der weltbekannten Ikone angetan hat, grinst zufrieden, etKnacknuss, wie man mit der Tatsache umgeht, dass man zugleich Kunst was schüchtern und stolz zugleich. Nick malt seit eineinhalb Jahren: macht und eine soziale Institution ist. Die Frage ist, wie man auftritt. Als «Vorher wusste ich gar nicht, dass ich das kann.» Der gelernte Buchsoziale Institution? Oder unter einem anderen Namen? Einem Deckdrucker bekam Probleme mit dem Alkohol, nachdem er mit 37 nach drei mantel?» Diesen Brückenschlag zwischen Künstlern und Publikum hat Rückenoperationen zum IV-Fall wurde. Das Malen scheint ihm gut von er noch nicht ganz hingekriegt. Trotzdem haben die Leute von artSoph der Hand zu gehen, er sitzt vor seinen Leinwänden, nimmt eine nach damals gemerkt, dass es möglich ist, Bilder zu verkaufen. Aber auch das der anderen hervor, einmal Salma Hayek, einmal Klaus Kinski, dann sei ein zweischneidiges Schwert, findet Bitterlin: «Es gibt die Tendenz, Kollegen von der artSoph, Marilyn Monroe und sagt: «Die guten Bilder dass das Publikum nach dem noch Schrägeren, Ausgefalleneren sucht. habe ich halt zuhause», aber dass er hier nur die zweite Wahl zeigen Es liegt nahe, dass man da auf die Aussenseiterkunst stösst. Ich fände kann, scheint ihm nichts auszumachen, so eitel ist er nicht. es aber schlimm, wenn das Interesse an der Outsider Art nur ein Hype Nicht alle Menschen, die hier arbeiten, sind zugänglich. Bitterlin wäre und man die Künstler dann wieder fallenlassen würde.» sagt: «Zum Teil sind die Gedanken zu hoch und komplex, das ist nicht ■ immer zu verstehen. Gerade bei Leuten, die unter Psychosen leiden.» Einer hat über Jahre hinweg Dämonen gemalt. «Die waren fast LebensMusée Visionnaire, Predigerplatz 10, Zürich. Eröffnung Do, 21. November, 18 Uhr. partner für ihn, sie waren sein Gegenstand der geistigen Auseinanderwww.museevisionnaire.ch setzung.» Jemand anders war lange Zeit in der Klinik und malte danach www.artsoph.ch SURPRISE 313/13

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Schizophrenie Gespaltene Welt Christian hört Stimmen im Kopf, die er nicht verdrängen kann. Seit sechs Jahren bestimmt die Schizophrenie sein Leben. Er leidet unter seiner Krankheit, aber manchmal findet er sich selbst auch einfach nur super. Ein Besuch in den beiden Hälften seiner Psyche. VON LIVIO MARC STÖCKLI (TEXT) UND PATRIC SANDRI (ILLUSTRATION)

Freundin Mirjam. «Die Medikamente …», sagt er nur. Er hasst sie, sie machen ihn dick. Sie halten ihn aber auch bei Verstand, sagt Mirjam. Er sträubte sich anfänglich, als er zum ersten Mal beim Psychologen war. «Ich dachte: Was soll das? Ich bin normal.» Und Christian, der den Fuss vorsichtig auf den Schotter setzt, lacht, als er sich erinnert. Es sei doch schon absurd. Er hasse Marihuana für das, was es mit ihm gemacht habe. Er hasse mittlerweile vieles aus seiner Vergangenheit. Christian ist nun 23, aber er spricht von Vergangenheit, als liege diese Hunderte von Jahren zurück.

Es war im Februar 2007, als ich Christian in der Dämmerung auf einer Mauer sitzen sah. Er wirkte abwesend, wie er mir die Hand gab, «Hallo, alles klar?» sagte. Seine Augen waren von einer schwarzen, randlosen Sonnenbrille verdeckt. Er nahm sie während der folgenden Viertelstunde nicht ab. Sein Bein hüpfte auf und ab. Christian war nervös, es war ihm alles zu laut, zu grell. Wegrennen wollte er, dahin, wo es still sei. Weit weg. Aber für Christian gab es einen solchen Ort schon damals nur selten. Immerwährender Lärm In seinem Kopf verdoppelt sich die Welt. Die Stimmen um ihn werAnfang Juli verbrachte Christian zwei Nächte in einer Klinik, nachden zu Stimmen in ihm, nur tausendfach stärker. Einzelne davon treten dem er selber gemerkt hatte, dass es wieder schlimmer wurde mit den hervor, flüstern unermüdlich im Innern seines Kopfes. Christian ist schiStimmen, den Augen, dem ewigen Lärm. «Es war früher Nachmittag, zophren. Die meisten Menschen können die Ohren zuhalten, wenn sie nach dem Essen. Ich rauchte im Garten, und unsere Katze schlief auf nichts hören wollen von der Welt. Christians Ohren aber sind in seinem dem Rasen neben dem Grill. Die schläft immer da. Ich wurde plötzlich Kopf. Den Lärm verdrängen kann er nicht. wieder unruhig, die Sonne schien am falschen Ort zu stehen. Einfach Inzwischen sind sechs Jahre vergangen. Der Waldweg zieht sich am falschen Ort. Die Tage davor hatte ich mich schon nicht besonders durch die Hügel des Baselbiets. Die Sonne schimmert durch die Blätter. grossartig gefühlt, redete mir aber ein, es sei sonst etwas. Hinter der Unten im Tal biegt ein Postauto um die Ecke, weiter oben springt ein Reh Hauswand stand jemand, davon war ich plötzlich überzeugt. Ich dachdavon und auf dem schmalen Schotterweg geht Christian vor sich hin, te nur noch: Ich kann dich gleich sehen. Die Katze schaute mich nun dispricht mit sanfter Stimme, die laut wird, wenn er sich nervt. Geröll, das rekt an. Die Nachbarn hatten das Radio sehr laut aufgedreht, und jedes über eine Strasse rollt. Das passiert, wenn er über die Momente nachAuto, das vorbeizog, dröhnte. Ich ging ins Haus, aber die Geräusche denkt, als es wieder losging in seinem Kopf. schlugen an die Fenster. Gleich schaut ein Gesicht herein, dachte ich. Christian sass gerade im Bus auf dem Weg nach Hause. Mit einigen Die Fensterscheibe pulsierte. Jemand schlug mit der flachen Hand auf Freunden hatte er zuvor noch hinter der Schule gesessen und einige einen Briefkasten, immer wieder. Der Hall wollte nicht mehr aufhören.» Joints geraucht. Aber dann, im Bus, als er durch das Fenster schaute, sah er die Welt plötzlich nicht mehr. Er kapierDie meisten Menschen können die Ohren zuhalten, wenn sie te nicht, was da draussen vor sich ging – die Landschaft zersetzte sich vor seinen Augen. nichts hören wollen. Christians Ohren aber sind in seinem Kopf. Die Scheiben sperrten ihn ein und zugleich Drei Stunden lang, an jenem heissen Tag im Juni, sass Christian auf aus. Die Leute im Bus schwiegen und flüsterten dennoch, als sei alles einem Stuhl in der Küche seiner Wohnung. Drei Stunden lang schaute er vereinbart. Das Rollen des Fahrzeugs habe er sehr laut und genau geaus dem Fenster und wartete auf dieses Gesicht, das ihn durch die Mauhört, meint Christian, jeden Stein, den die Räder streiften. Ihm wurde er zu beobachten schien. In seinem Kopf hörte er die Männerstimme, die schlecht, er bekam Kopfschmerzen. ihm sagte, es gebe Menschen, die ihn beobachteten, die ihn belauschZwei Stationen weiter sei er ausgestiegen und habe sich auf einer ten. Diese Menschen kämen in der Nacht, neuerdings auch am Tag. Wiese übergeben. Für einen Moment war ihm dann wieder wohl, der Mirjam fand ihn am Küchentisch, starr vor Konzentration. Sie ging Kopf leichter. Er ging nach Hause und dachte, es sei alles Unfug. «Nur zum Schrank und holte Christians Tasche. Um fünf Uhr war er bereits in schlechtes Gras.» Christian erinnert sich genau daran, dies einige Male Liestal, in der Klinik. 60 Stunden später erhielt er zum Abschied eine gesagt zu haben. «Zweimal laut», betont er, während er hier durch den Depotspritze. Dapotum oder Risperdal. Er weiss das nicht mehr genau. Wald geht. «Zweimal laut. Etliche Male leise, im Kopf.» Er atmet schwer. Die Konfrontation mit seiner Krankheit fällt ihm nicht Christian will es selbst nicht merken, aber wenn er sich bewegt, leicht. Er erlebt alles wieder und wieder. Die Blitze und Explosionen, zeichnet er eigenartige Muster mit dem Fuss. Den Steinen weicht er aus. unglaublich hell. Das Flüstern, der Lärm. Die Fahrzeuge, die ihm scheinSeine Arme hängen lose von den Schultern. Ein starker Mann, der in eibar sechs, sieben Strassen lang folgen. Menschen, die ihn von allen Seiner Art Kraftlosigkeit gefangen scheint. Die dunkle Mütze sitzt fest auf ten mit Blicken durchbohren – Augen, die nur auf ihn gerichtet sind. seinem Kopf – ein Helm. Die braunen Haare darunter, das gelbe Shirt, Und die Stimmen, die ihm all dies sagen. schwarze Schuhe. Christian hat zugenommen, das sagt auch seine

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Die Ängste und der innere Druck seien weg in diesem Moment. «Die Depotspritze hält», sagt er. Aber er fürchtet jeden Moment der Ruhe, denn nie währt er lange. Er hat Angst, dass sein Kopf in den stillen Momenten wieder zu schreien beginnt. Gewohnheit kehrt nie ein. Seit einem Jahr werden die Intervalle der Schübe kürzer. Er muss nun öfters zum Arzt. Seinem Beruf als Koch kann er nur mit Unterbrüchen nachgehen. Sehnsucht nach dem besseren Ich Zwei Wochen nach dem Treffen im Wald klingelt früh am Morgen mein Telefon. Mirjam spricht mit gereizter Stimme. Christian sei weg. Sie hat sich noch immer nicht daran gewöhnt, «wenn es losgeht». Es war wieder eine jener Nächte, in denen die Stimmen Christian an Orte führen – warum, weiss er nachher nie. Er hatte von einem Bahnhof erzählt, wo er sich an einem Nachmittag wiedergefunden habe, ahnungslos, wie er dahin gekommen sei. Oder mit dem Fahrrad im Winter, an einem kalten Novembermorgen: Plötzlich sei er vor einer Ruine im Wald gestanden. «Ich fror, hatte nur einen Pullover an, meine Schuhe waren durchnässt, das Fahrrad verdreckt», hatte er damals gesagt und gelächelt. Ein manisches Lächeln. Von Entzücken keine Spur, nur Manie. Es sind diese Momente, in welchen sich die Kehrseite von Christians Krankheit zeigt, eine heimliche Begeisterung für die Absurdität des eigenen Geistes. Die Seite, vor der sich die Ärzte fürchten. Schizophrene sind oft angetan von den Charakteren, die durch die Krankheit entstehen. Es sind Figuren von scheinbar grosser Intelligenz, von Gerissenheit oder Scharfsinn. Figuren, die die Welt um sich herum durchschaut haben. Helden. Träumer. Wird diese Begeisterung zu gross, setzt der Erkrankte die Medikamente ab und fällt zurück in die Manie. Eine Sehnsucht nach dem anderen Ich. Dem besseren Ich. SURPRISE 313/13

In einem Vorortblock, hinter einem kleinen Balkon mit Fenstern, die auf die Hügel gerichtet sind, sitzt Christian im Wohnzimmer. Auf dem Tischchen vor ihm steht eine Tasse Tee. Mirjam telefoniert mit seinen Eltern. Es ist seit Jahren dieselbe Prozedur. Später wird sie ins Auto steigen, Christian wird sich neben sie setzen und eine Viertelstunde später in Liestal die Klinik betreten, für wie lange, weiss sie nie. Auch Christian weiss das nie. Er erinnert sich selten überhaupt daran, dort angekommen zu sein. Er habe sich gerade ein neues Fahrzeug gekauft, sagt Christian und geht zum Fenster. «Da unten, das silberne. Ein Mazda, mein drittes Fahrzeug.» Die braunen Haare hat er nach hinten gekämmt, er trägt ein blaues Hemd, an dem zwei Knöpfe fehlen. Einige Momente lang steht er still und schaut nach unten auf die Strasse, lächelt wie ein Kind. Sein Auftreten ist nun das eines Autohändlers mit dicker goldener Uhr. Er wirkt selbstsicher. Auf der Strasse gehen einige Senioren vorbei, am Strassenrand hat jemand einen Bürostuhl abgestellt und dort, 30 Meter weiter, steht ein weisser Renault. Sonst nichts. Mirjam, die hinter ihm in der Tür steht, bemerkt er nicht. Er sieht nicht, wie sie das Telefon umklammert, wie sie sich mit der einen Hand am Türrahmen festhält. Er bemerkt nicht, wie nahe sie den Tränen ist, wie sie diese aber verdrängt und seine Tasche packt, die im Schrank steht, bereit, gepackt zu werden. Wie vor Wochen. Der gleiche Griff, die gleiche Schwermut. Und während die beiden nach Liestal fahren, wird Christian guter Dinge sein. Er wird schwadronieren, über die Sorgen eines reichen Menschen. Er wird nach Liestal fahren, während seine drei Autos in einer Garage stehen bleiben, die es nicht gibt. Die es in Christians Kopf gibt, in einer Realität, die nur die seine ist. ■ Dieser Artikel erschien zuerst in der Tageswoche.

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SURPRISE 313/13 BILD: UNIVERSAL MUSIC/JOHN WRIGHT


Pop «Ich spiele Robbie Williams bis zum Ende» Der Schalk sitzt ihm im Gesicht, sein Charme ist legendär, tanzen kann er wie ein Herrgöttchen und seine Stimme ist auch nicht übel. Selten haben die Mitglieder von Manufakturbands ihren frühen Erfolg in ihre reiferen Tage hinüberretten können. Robbie Williams, als Mitglied der Boy-Band-Pioniere Take That einst weit herum verlacht, hat sich zu einem der erfolgreichsten Entertainer der Gegenwart gemausert. 70 Millionen Tonträger hat er abgesetzt. Und nach einem scheinbaren Karriereknick – selbst das gern als Flop dargestellte Album «Rudebox» schaffte es in zehn Ländern in die Top 3 – ist er heute fleissiger denn je. Mit «Swings Both Ways» erscheint nach «Take the Crown» das zweite Album in zwölf Monaten.

INTERVIEW VON HANSPETER KÜNZLER

Vor dem Erscheinen Ihrer letzten Platte «Take the Crown» erklärten Sie, dass Sie damit noch einmal den ganz grossen Erfolg kosten möchten. Das ist Ihnen gelungen. Worum geht es Ihnen jetzt noch? Jetzt, wo das Musikgeschäft implodiert und kaum mehr als die Industrie wiederzuerkennen ist, die es vor zwölf Jahren noch war, bin ich unglaublich dankbar, dass ich noch ein Live-Publikum habe. Ich kann nur hoffen, dass dieses Publikum meine neuen Songs hören will, egal ob ich 39, 59 oder 69 Jahre alt bin. Und ich hoffe, dass es mir gelingt,

Herr Williams – seit Ihrem letzten Album ist kaum ein Jahr verstrichen. Wie erklären Sie diesen Kreativitätsschub? Im Jahr 2008 trat ich in den Ruhestand. Das erzählte ich allerdings nicht herum. Die Folge davon war, dass ich in eine tiefe Lethargie versank. Ich paffte nur noch Gras, jagte UFOs, mampfte Chips und schaute Reality-TV-Shows. Mein Gehirn verwandelte sich in einen Emmentaler. Es wurde immer schwieriger, sich aus dem Sofa zu erheben. Ich hörte auf, als Person zu existieren. Ich hatte ja all dieses Geld, ich musste nicht mehr arbei«Ich weiss sehr wohl, dass ich ein unglaublicher Glückspilz ten. Da stellt man sich eines Tages die Frage: bin, mit so wenig so viel erreicht zu haben. Und trotzdem will Wer bin ich eigentlich? Ich kam zum Schluss, ich mehr.» dass ich nicht der Typ bin, der Gras raucht und UFOs jagt. Es dauerte eine Weile, bis ich mich immer wieder eine neue Farbe hineinzubringen, sodass es auch für vom Sofa aufrappeln konnte. Danach habe ich mir selber das Verspremich selber nicht langweilig wird. Immer wieder spüre ich Erbarmen chen gegeben, dass ich mich nie wieder so aufs Sofa legen werde. Vier mit den armen Würstchen, die 18 Monate lang die gleiche Musical-Rolle Jahre lang ist es mir nun gelungen, das Versprechen zu halten. geben müssen. Und dann fällt mir ein: Verdammt noch mal, ich spiele Robbie Williams bis zum fucking Ende! «Swings Both Ways» ist ein frecher Titel – die Redewendung bedeutet im Englischen bisexuell. Bald werden Sie 40 Jahre alt. Welche Gefühle löst das aus? Und Sie können sich gern bei mir bedanken dafür, dass ich Ihnen daVor allem Zufriedenheit – was immer das heissen mag. Ich bin vermit Stoff für viele faule Sprüche liefere! Irgendwie sollte der Titel zeiheiratet, habe eine kleine Tochter, und ich bin nicht mehr so leichtsingen, dass dies nicht einfach ein Pop-Album im üblichen Stil ist. Darum nig wie früher. Ich erkenne, dass ein Sinn in den Dingen steckt, die ich musste das Wort Swing drin vorkommen. Dann kam mir eben «Swings tue. Früher glaubte ich, die Belohnung liege im Tun selber, in den Autos Both Ways» in den Sinn. Rundum kicherten sie: Robbie, das kannst du und den Kleidern und den Frauen und dem Haus. Aber um all das geht nicht machen! Ich sagte: Aber klar kann ich! es letztlich doch nicht. Es geht um etwas anderes. Mit meiner kleinen Tochter bin ich nun endlich gezwungen, mich mit dem Planeten ausSie singen auf dem Album allerhand Duette, zum Beispiel mit Lily einanderzusetzen. Ich war lange genug ein Eremit. Jetzt muss ich das Allen, Michael Bublé und Olly Murs. Wie haben Sie Ihre GesangsHaus verlassen mit ihr. Ich muss mich unter gewöhnlichen Menschen partner ausgewählt? bewegen, mich dem gewöhnlichen Alltag stellen. Ich muss neue BeUnd mit Rufus Wainwright – er swingt allerdings nur auf eine Seite! kanntschaft schliessen mit dem Menschsein. Und ich bin darob ein besNun, heutzutage singen ja alle auf den Alben von allen anderen mit. Ich serer Mensch geworden. bin ein Fan von all den Gästen auf dem Album. Wunderbar, wie sie mir alle ihre Talente geliehen haben. SURPRISE 313/13

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Sie sind die ganze Zeit auf Tournee, haben ein neues Album aufgenommen – wie haben Sie da noch Zeit für die Familie? Ich bin ein sehr aktiver Vater. Windeln wechseln – ein Vergnügen! Meine Familie begleitet mich überall hin, auch jetzt sind sie mit dabei in London. Heute Morgen bin ich um halb sechs aufgestanden, wir haben gefrühstückt, ich habe meiner Tochter das neue Album vorgespielt, dann sind wir zusammen in die Musikspielgruppe gegangen. Jetzt hat so was (er deutet aufs Mikrofon) einen Sinn. Es ist wichtig, dass man alles, was man macht, gut macht. Es dreht sich nicht mehr alles um mein Ego. Werden Sie mit dem neuen Album wiederum auf Tournee gehen? Noch steht nichts fest. Heutzutage muss ja alles mit einem grossen offiziellen Tamtam daherkommen. Keine Ahnung wieso. Also, die kurze und bündige Antwort lautet: Ja! Auch wenn ich dafür nachher Saures kriege von meiner Managerin.

eigene geistige Gesundheit und für mein Selbstverständnis musste ich weg von ihm. Keiner von uns vergass je, dass die Trennung nicht für immer war. Jetzt war die Zeit reif für eine Reunion. Wie kommen Sie heute vom «High» eines Konzerts herunter? Ich esse. Nein, keine feinen Restaurants. Backstage-Buffet, Mini-Bar im Hotel. Im Ernst – es war nicht leicht, als die letzte Tournee zu Ende war. Zwei Wochen lang gingen wir uns eher aus dem Weg, meine Frau und ich. Wir waren gereizt, wussten nicht wohin mit der Zeit. Der letzte Sommer war eine grossartige Erfahrung. Ich erkannte, dass das Publikum mich immer noch richtig lieb hat. Normalerweise bin ich gegen das Ende einer Tournee hin schlapp, ich freue mich aufs – ha! – Sofa. Diesmal nicht. Im Gegenteil. Plötzlich kam mir der Gedanke: Verdammt, jetzt bist du auch noch süchtig nach Konzerten! Nun, es gibt schlimmere Dinge, von denen man abhängig sein kann.

Wie glauben Sie würden Sie reagieren, wenn es mit dem Erfolg Sie hoffen, mit 69 immer noch ein Publikum zu haben, das sich doch einmal bergab ginge? auf Ihre neuen Songs freut. Zudem wollen Sie nicht auf dem Sofa Mein Vater war Komödiant, Sänger und Entertainer. Als Knirps habe verkommen. Dennoch – es gibt weniger beschwerliche Wege, ich die Wochenenden bei ihm verbracht. Oft hatte er nicht mehr als diese Ziele zu erreichen, als ausgedehnte Tourneen. Was treibt zwanzig Pence in der Tasche, die für das ganze Weekend reichen mussSie an, sich immer noch so zu schlauchen? ten. Er war glücklich und zufrieden. Mehr würde auch ich nicht brauFurcht. Verunsicherung. Ehrgeiz. Allgemeine Über-Sensibilität. chen, und ich würde diesen grossartigen Job noch immer machen wolDummheit. Und einfach die Tatsache, dass ich ein Mensch bin. Manlen. Zufälligerweise muss ich es nicht – ich bekomme eine Menge Geld chester United sagt nach dem Titelgewinn auch nicht: OK, jetzt nehmen wir den Fuss vom Gas. Wenn man mal ein gewisses Niveau erreicht hat – ich nehme an, das «Ich kann meine Rolle als Pop-Star, als Schamane auf der gilt auch in Ihrem Metier –, nimmt man ungern Bühne nur spielen, wenn das Publikum mitspielt.» einen Rückschritt in Kauf. Bloss weil ich älter bin, bin ich nicht weniger ehrgeizig. Ich will dafür. Und das weiss ich sehr zu schätzen. Letztlich aber bin ich wie ein mehr Tonträger verkaufen als die anderen. Ich will mehr erreichen als Pferd auf der Wiese. Manchmal galoppiert es los, einfach, weil es zum die anderen. Ich weiss sehr wohl, dass ich ein unglaublicher Glückspilz Pferdsein gehört. So bin ich auch. Ich werde immer singen. Selbst wenn bin, mit so wenig so viel erreicht zu haben. Und trotzdem will ich mehr. sie mir alle den Rücken kehren und zur Tür hinaus gehen. Ich werde ihEs gehört doch zum menschlichen Wesen, dass es einen treibt, seine Ernen nachsingen. Singen. Etwas anderes kann ich nicht. Es steckt in meifolge zu wiederholen oder noch zu übertreffen. nen Knochen. ■ Haben Sie immer noch den Ehrgeiz, die USA zu knacken? Dort hält sich Ihr Erfolg ja noch in Grenzen. Ich hatte nie den Traum, die USA zu erobern. Ich kann meine Rolle als Pop-Star, als Schamane auf der Bühne, nur dann spielen, wenn das Publikum mitspielt. Das hat mir auch die letzte Tournee wieder gezeigt. Dublin – ich gehe auf die Bühne, spiele den ganz Grossen, und das Rundum unbeschwert «Swings Both Ways» Publikum schreit: YES! Ich, innerlich: Fucking YES! In Manchester dasist nicht einfach Folge zwei von «Swing selbe. Und dann komme ich nach London: Schaut mich an, ich bin wunWhen You’re Winning», jenem Album, auf derbar! Und aus dem Publikum kommt nur ein leicht gelangweiltes laudem sich Robbie vor zwölf Jahren zum erses Applauslüftchen zurück. Verdammt noch mal, die Show funktioniert ten Mal sehr respektvoll des Erbes von Nat nur, wenn ihr mitspielt, Leute! Also, damals ging ich in die Staaten, King Cole und Konsorten annahm. Bei rund spielte den Grossen, und die Reaktion war ein klares: No, no, no. Meine der Hälfte der Songs handelt es sich um Reaktion: Fuck you! Ich hatte damals auch einfach weder den Ehrgeiz Neukompositionen aus der Feder von Robbie noch die Energie, einen ganzen Kontinent umzustimmen. Ich beschloss, Williams und Guy Chambers, dem Mann, mich auf das zu konzentrieren, was ich hatte. Ausserdem war ich mit dem er einst seine ersten Erfolge einschrecklich faul. spielte. Dabei reicht das stilistische Spektrum von bläsergetriebenem Southern-Rock über eine swingende HomSo vieles hat sich in Ihrem Leben verändert, zum Positiven, sagen mage an die Schwulenhymne «I Will Survive», betitelt «Swing SupreSie. Warum kehren Sie ausgerechnet jetzt wieder zum Ausgangsme», bis zur (fast) stilechten Swing-Nummer «Swings Both Ways», wo punkt zurück und arbeiten mit Guy Chambers, mit dem Sie Ihre Robbie laut augenzwinkernd mit Rufus Wainwright duettiert. Dazu ersten Soloalben eingespielt haben? kommen swingende, croonende Evergreens wie «Dream a Little Es war immer der Plan, dass wir wieder zusammenkommen. DaDream» (mit Lily Allen) und «Minnie the Moocher». Es ist ein rundmals, als der Erfolg kam, fühlte ich mich eingeengt durch Guy. Es war um unbeschwertes, unprätentiöses Fun-Album, das in der glorios überhaupt nicht seine Schuld, er konnte nichts dafür. Es lag an mir. Ich überzeichneten Musical-Nummer «No One Likes a Fat Pop Star» kulkonnte nicht damit umgehen, dass Guy alles Lob einheimste dafür, die miniert, die mit der typischen Robbie-Zeile beginnt: «I come from a ganzen Hits von Robbie Williams kreiert zu haben. Um ehrlich zu sein, land of kebabs and curries, second helpings, no worries». (hpk) es machte mich fertig, dass rundum alles zu glauben schien, das Album sei ganz das Werk von Guy und hätte nichts mit mir zu tun. Für meine Robbie Williams: Swings Both Ways (Universal)

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BILD: REUTERS/LUKE MACGREGOR

Wohnungsnot Daheim auf der Themse Die Wohnungssuche in Schweizer St채dten ist schwierig? In London haben viele schon kapituliert und leben in Wohnmobilen und auf Hausbooten. Die englische Hauptstadt erlebt die Folgen einer Politik, die Genossenschafts- und Sozialwohnungen dem Profit opfert.

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VON FRANZISKA KOHLER

bewohner alternative Wohnformen kultivieren, ist nicht bekannt, denn so wenig wie andere Städte will London Genaueres wissen über die Folgen der explodierenden Mietpreise – denn dann müsste man ja Konsequenzen ziehen. «Menschen, die sich selber alternative Wohnräume schaffen, sind Glücksfälle für London», sagt Michael Edwards, Stadtplaner und Professor am University College London (UCL). Der Akademiker beschäftigt sich seit 30 Jahren mit der Wohnsituation in der britischen Hauptstadt, und schon seit geraumer Zeit fragt er sich, wie lange die Menschen die enormen Preisaufschläge noch hinnehmen werden. «Es gibt viele junge Leute, die in der Not kreativ werden und das Problem auf ihre eigene Weise lösen. Dadurch schaffen sie Platz für andere und sorgen für eine gewisse Entspannung auf dem Wohnungsmarkt», sagt Edwards. Doch er warnt: «Lange wird es nicht mehr so weitergehen können.» London müsse einen Weg finden, den überhitzten Wohnungsmarkt abzukühlen. «Sonst leiden nicht nur junge Menschen und die Mittelschicht, sondern auch die Wirtschaft. Selbst für international tätige Unternehmen wird es immer schwieriger, ihre Leute zu bezahlbaren Preisen in London unterzubringen.»

George ist angespannt: Das Dach seines Autos ist undicht, ins Innere des Wohnmobils dringt Wasser ein. Er muss so schnell wie möglich das Leck finden und abdichten, denn es soll wieder regnen in London, an diesem Abend im Oktober. Und das ist ein Problem. Weil Georges Auto, ein Peugeot Boxer, nur in zweiter Linie ein Fortbewegungsmittel ist. In erster Linie ist es sein Zuhause: Der 30-Jährige lebt in seinem Wohnmobil, am Strassenrand, sozusagen. Noch vor sechs Monaten wohnte er in Stratford, einem rauen, aber billigen Stadtviertel Londons – vergleichsweise. Für sein kleines Zimmer in einer Fünfer-WG bezahlte der Journalist 120 Pfund pro Woche, umgerechnet 175 Franken. Sein Job als Redaktor bei einer kleinen Zeitung bringt netto 600 Franken wöchentlich ein. Zum Leben blieb ihm so nach Abzug der Miete, der Ausgaben für die Verpflegung und die Alimente, die er für seine vierjährige Tochter bezahlt, nicht mehr viel übrig. Und das, obwohl George ein abgeschlossenes Universitätsstudium und einige Jahre Berufserfahrung vorweisen kann. «Absurd» sei es ihm vorgekommen, so viel Geld für einige wenige Quadratmeter hinzublättern, sagt George. «Ich wollte beim schmutzigen Thatchers Erbe Spiel der ewig steigenden Mieten nicht mehr mitmachen – und beDer Durchschnittspreis für eine 50-Quadratmeter-Wohnung mit zwei schloss, meine eigenen Spielregeln zu erfinden.» Er räumte sein Zimmer Zimmern liegt in London laut der internationalen Mietpreisstudie von in Stratford, nahm ein Darlehen auf und kaufte sich den Wohnmobil. ECA International bei rund 1800 Franken. Das ist der zweithöchste Wert Hinter der Schiebetür des weissen Wagens versteckt sich ein komplett eingerichtetes Zimmer, ausgestattet mit einem ausziehbaren Bett, einer Küchenzeile mit «Die Wohnungen wären in gutem Zustand. Doch die VerwalHerd, Abwaschtrog und Ofen sowie einigen tung will sie verfallen lassen, um sie durch neue, teurere Schränken. Auf WC und Dusche muss George verzichten – «das lässt sich im Fitnesscenter Wohnungen ersetzen zu können.» erledigen» –, dafür hat er endlich etwas mehr Geld in der Tasche. Denn seine Ausgaben sind ganz Europas, nur in Moskau müssen die Mieter für ihre vier Wände verschwindend gering: Für Strom und Wasser bezahlt er nichts, die noch mehr hinblättern. Mit einem durchschnittlichen Monatsgehalt von Mietkosten fallen weg und den Van stellt er in Vierteln ohne Parkgebühr rund 4000 Franken muss der Londoner also fast die Hälfte seines Lohns ab. Legal ist dieses Wohnkonzept nicht, aber das kümmert den jungen an den Vermieter abgeben. Briten wenig. In Zürich klingen die Klagelieder ähnlich wie an der Themse: Die Wohnungen im Zentrum sind für den Durchschnittsbürger schon lange Bootslizenz statt Mietvertrag nicht mehr bezahlbar, weil sie von finanzkräftigen Investoren aufge«Ich gab früher Hunderte von Pfund für ein kleines, schlecht beheizkauft und den Meistbietenden überlassen werden. Die Mittelschicht tes Zimmer in einem schäbigen Quartier aus – lächerlich», sagt auch wird an den Stadtrand verdrängt. Doch im Vergleich zu den Londonern Marcus, während er Tee kocht. Seine Küche ist zum Wohnzimmer hin kommen die Zürcher am Ende des Monats um einiges besser weg: Sie offen, im kleinen Holzofen in einer Ecke brennt ein Feuer, es ist behagbezahlen für 50 Quadratmeter im Schnitt etwa 1300 Franken (Wohnlich warm. Nur der Blick nach draussen verrät, dass man sich hier nicht marktbericht der CSL Immobilien AG), bei einem durchschnittlichen in einem gewöhnlichen Appartement befindet: Durch die runden FensMonatslohn von 7500 Franken (jobs.ch). Das überrascht, denn beide ter geht der Blick aufs Wasser der Themse. Seit eineinhalb Jahren wohnt Städte haben in den letzten 30 Jahren eine ähnliche wirtschaftliche EntMarcus auf einem Hausboot und fährt die Kanäle Londons ab. Der 32wicklung durchgemacht. Sowohl London als auch Zürich waren bis in jährige Lastwagenchauffeur kaufte sich den grünen Kutter mit dem die Siebzigerjahre von der Industrie geprägt und wandelten sich in den Geld, das seine Grossmutter ihm vermacht hatte, und spart seither HunAchtzigern zu Finanzmetropolen: Die Banken wurden zu den neuen derte Franken pro Monat, wie er vorrechnet: «Miete bezahle ich keine, starken Akteuren, Globalisierung und Liberalisierung der Märkte setznur einmal jährlich muss ich die Lizenz für mein Boot lösen. Die kostet ten in etwa gleichzeitig ein. rund 1500 Franken, dafür bezahle ich nichts fürs Wasser. Zum Heizen «Zürich hielt jedoch an der vergleichsweise sozialen Wohnpolitik fest benütze ich den Holz- und einen Dieselofen, das ist praktisch gratis. – im Gegensatz zu London», sagt Christian Schmid, Professor für SoElektrizität beziehe ich von einem Generator und den Solarpanels auf ziologie am Architektur-Departement der ETH Zürich. «Während die meinem Dach. Bleiben die Ausgaben fürs Gas zum Kochen – in den Zürcher Regierung den sozialen Wohnungsbau weiterhin hochhielt, hat letzten eineinhalb Jahren waren das etwa 60 Franken.» London die Liberalisierung voll durchgezogen, mit all ihren KonsequenGeorge und Marcus sind zwei Vertreter einer neuen Generation von zen.» Margaret Thatcher, die ehemalige konservative Premierministerin, Stadtbewohnern in London: Viele, vor allem junge Menschen haben gelöste 1985 die von der linken Labour-Partei dominierte oberste Verwalnug von den horrenden Mietpreisen in der britischen Hauptstadt und setungsbehörde Londons, den Greater London Council (GLC), auf – der hen sich nach alternativen Wohnformen um. Anstatt die Faust im Sack GLC war unter anderem für den sozialen Wohnungsbau verantwortlich machen sie aus der Not eine Tugend. Sie besetzen Häuser, in alten Ingewesen. «Sie machte so den Weg frei für ihre eigene, neoliberale Stadtdustriequartieren meist, manchmal legal und mit Bewilligung der Hausentwicklungspolitik», so Schmid. Thatcher liess in den folgenden Jahren besitzer, manchmal illegal und in der ständigen Angst, vertrieben zu unter anderem Sozialwohnungen verkaufen, privatisieren oder abreiswerden. Oder sie kehren dem Immobilienmarkt ganz den Rücken und sen, um das private Wohneigentum zu fördern. erfinden neue Wohnformen, nach ihren eigenen Regeln. Wie viele Stadt-

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BILDER: FRANZISKA KOHLER

Vergraulen durch Vergammeln-Lassen: Comfort Opara in ihrer Sozialwohnung.

Spart Hunderte von Pfund: George lebt seit eineinhalb Jahren auf einem Hausboot.

Sommer über den schlechten Zustand des Zimmers, doch passiert ist Wie viele sogenannte «social housings» in London seither verloren seither nichts, «obwohl ich seit dem Schimmelbefall ständig friere und gegangen sind, lässt sich nicht genau beziffern. Stadtplaner Michael Ederkältet bin». wards spricht von Tausenden. In Zürich hingegen sind bis heute ein Derek Chang vermutet hinter dem passiven Verhalten der VerwalViertel der Wohnungen entweder im Besitz von Genossenschaften oder tung Kalkül. Der 73-Jährige, der an diesem Oktobernachmittag neben staatlich gefördert, ihre Zahl ist über die letzten Jahrzehnte hinweg stabil geblieben – auch wenn es immer schwieriger wird, sich eine dieser Wohnungen zu si«Selbst für international tätige Unternehmen wird es immer chern. Schmid will nicht in Abrede stellen, schwieriger, ihre Leute zu bezahlbaren Preisen in London dass sich die Lage auch hier zuspitzt. «Vor allem kleinere und ältere Wohnungen sind zwar unterzubringen.» weiterhin günstig zu haben, werden aber immer häufiger saniert oder abgerissen und neu Comfort auf dem Sofa sitzt, wohnt in derselben Siedlung und hat vor gebaut. Auch wenn es den Mietern freisteht, ihre Wohnungen danach 15 Jahren eine Mietervereinigung gegründet. «Die Wohnungen wären zu behalten: Den neuen, um ein Vielfaches höheren Mietpreis können in gutem Zustand, wenn man sie nur richtig instand hielte», erklärt er. viele gar nicht mehr bezahlen.» «Doch die Verwaltung will sie verfallen lassen, um sie mit gutem Gewissen abreissen und durch neue, teurere Wohnungen ersetzen zu Schimmel in der Sozialwohnung können.» Entsprechende Pläne sind schon weit fortgeschritten: Bis Ebendieses Szenario droht auch der Pensionärin Comfort Opara in 2015 sollen auf dem Boden, auf dem sich heute die Sozialwohnungen London: Die 70-Jährige lebt seit zwölf Jahren in einer staatlichen Sozibefinden, neue Wohnblöcke stehen. Derek bekämpfte das Bauvorhaalwohnung in Barnet, einem Bezirk im Norden der Stadt. Sie wohnt ben von Anfang an, schrieb Briefe an führende Politiker, veranstaltete gerne hier, die ehemalige Kinderbetreuerin hat sich darauf gefreut, in Proteste vor dem Stadtregierungsgebäude – ohne Erfolg. Weder er noch dieser Siedlung ihren Lebensabend zu verbringen. Doch weil eines der Comfort wissen, ob sie sich eine Wohnung in der neu gebauten Sieddrei Zimmer von Schimmel befallen und unbewohnbar geworden ist, lung noch leisten können. «Und im Gegensatz zu den jungen Leuten, fühlt sich Comfort nicht mehr wohl in ihren vier Wänden. Seit Juni die auf Booten oder in Wohnmobilen ein neues Zuhause finden, sitzen drückt von oben Wasser in den Raum, die Wände sind von einem wir fest. Wir sind zu alt, um uns noch auf solche Experimente einzugrauen Film überzogen, der Teppich aufgeweicht, ein unangenehmer lassen.» Geruch liegt in der Luft. «Zeitweise bildete sich eine Pfütze auf dem ■ Boden», erzählt Comfort. Sie informierte die Verwaltung bereits im SURPRISE 313/13

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BILD: GUIDO SÜESS

Wörter von Pörtner Zeitvertreib Wie haben die Menschen eigentlich vor der Erfindung des Handys ihre Wartezeit verbracht? Es ist ja noch nicht so lange her, trotzdem kann ich mich kaum mehr daran erinnern. Heute wird die Bewegung des Handy-Herausziehens (sofern es nicht schon in der Hand gehalten wird) synchron zum Absitzen oder Stehenbleiben ausgeführt. Fast so, als wollten die Leute damit sagen: Ich bin zwar alleine hier, aber das heisst nicht, dass ich nichts zu tun habe oder niemanden kenne. Ich bin durchaus beschäftigt und stehe in Kontakt mit anderen Menschen. Wenn der Ort, an dem gewartet wird, einigermassen angesagt ist, teilen sie vielleicht auf Twitter oder Facebook, wo sie gerade sind. Früher, als ich viel mit dem Zug gefahren bin, ist mir aufgefallen, dass die Leute, die einen Laptop vor sich haben, am Morgen stets

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mit Texten oder Tabellen zugange waren, während sie am Abend Spiele spielten oder Videos schauten. Handybildschirme auszuspionieren ist ungleich schwieriger, zumindest analog. Für Geheimdienste ist es anscheinend kein Problem. Sie alleine wissen, ob all die geschäftig wirkenden Menschen tatsächlich produktiv und kommunikativ sind oder bloss ihre eigene Existenz in allen Facetten für die Mitwelt aufbereiten, fiktive Städte, Mannschaften, Bauernhöfe und Läden managen. Ich erinnere mich, dass man früher während des Wartens die Zeitung las. Ein gutes Kaffeehaus verfügte immer über mehrere Exemplare der aktuellen Tageszeitungen. Natürlich kann man auch auf dem Handy Zeitung lesen. Das geht sogar ganz gut, da der Bildschirm ungefähr die Breite einer Zeitungsspalte hat. Doch damals sah man, ob sich jemand in das Feuilleton der NZZ oder den Sportteil des Blicks vertiefte und erfuhr so etwas über die Person. Hin und wieder sieht man Leute, die in der Öffentlichkeit ein Buch hervorholen. Das wirkt richtiggehend altmodisch, und wenn junge Leute es tun schon fast, als wollten sie ein Statement abgeben. Papierpunk oder so. Auch über den Büchermenschen erfährt man mit einem kurzen Blick viel. Welche Sprache wird gelesen? Handelt es sich bei dem dicken Schinken um Stieg Larsson oder Marcel Proust oder einen Ratgeber zum Thema Familienplanung?

Diese Informationen fehlen beim Handy nicht nur dem wunderfitzigen Beobachter, sondern auch der lesenden Person. Wie soll man noch als Mensch mit literarischem Geschmack oder ausgefallenen Interessen wahrgenommen werden, wenn niemand sieht, womit man sich die Zeit vertreibt? Darum könnte ich mir vorstellen, dass bald Handys auf den Markt kommen, die hinten einen zweiten Bildschirm haben, damit die anderen sehen können, was man tut. Doch dann werden sich wahrscheinlich rasant falsche Rückbildschirmschoner verbreiten, sodass angezeigt wird, man lese das neue Buch von David Graeber, während man in Wirklichkeit «50 Shades of Grey» liest. Das gab es schon im analogen Zeitalter, als Harry-Potter-Bücher mit falschen Umschlägen angeboten wurden, damit man in den öffentlichen Verkehrsmitteln nicht als infantil angeschaut wurde. Wobei man sich dem Infantil-Wirken nicht ganz entziehen kann, wenn man es nicht länger als zehn Sekunden aushält, ohne am Handy rumzudrücken.

STEPHAN PÖRTNER (STPOERTNER@LYCOS.COM) ILLUSTRATION: MILENA SCHÄRER SURPRISE 313/13


Tanz Auf wackligen Leitern Wie lernt man Choreografie? Zum Beispiel mit einem Förderprogramm. Zwei Nachwuchstalente erzählen von ihren ersten Schritten vom Tanz zur Choreografie – ihre Themen liefern Einblicke in die Welt hinter dem Vorhang.

Choreografen sind in die Jahre gekommene oder erfolglose Tänzer, die sich eine neue Beschäftigung suchen mussten. Tänzer sind eiskalte, karrierebesessene Menschen mit sehr spitzen Ellbogen. Soweit die Klischees. Markéta Kuttnerová und Alessandro Schiattarella passen aber weder ins eine noch ins andere. Ihre Gedanken sind tiefgründig und menschlich, sie sind jung, sie tanzen erfolgreich – und stehen am Anfang ihrer Karriere als Choreografen. «Unser Ziel ist es, den Nachwuchs zu fördern», sagt Dominique Cardito vom Tanzbüro Basel. Der gemeinnützige Verein unterstützt zusammen mit dem Cathy Sharp Dance Ensemble bereits zum zweiten Mal junge Choreografinnen und Choreografen aus der Region mit einem Förderprogramm. Zwei Bewerber werden von der Jury ausgewählt und erhalten die Möglichkeit, mit drei Tanzschaffenden und professionellem Coaching ein Kurzstück vom Dossier bis zur Aufführung zu erarbeiten. Gemeinsam ist den beiden Auserkorenen ihr Entwicklungspotenzial, wie Cardito erklärt. Unterschiedlich sind die Werdegänge. Die 24-jährige Markéta Kuttnerová begann mit neun Jahren zu tanzen und schloss ihre Ausbildung für zeitgenössischen Tanz mit dem bevorzugten Fach Choreografie in Prag ab. Vor etwas mehr als einem Jahr zog sie in die Region Basel. «Es war Zufall», schmunzelt sie, denn sie folgte ihrem Freund, der wegen der Arbeit hierher zog. «Zuerst hatte ich Angst, dass es hier keinen Tanz gibt», gesteht die junge Frau, was sich bald als Irrtum entpuppte. Sie lernte Leute kennen, wirkte als Tänzerin oder Choreografin in einigen Tanzstücken der freien Szene mit; derzeit stehen Projekte in Prag und Basel an. Alessandro Schiattarella ist ungefähr zur gleichen Zeit wie seine Kollegin nach Basel gekommen. In der Schweiz lebt der 31-Jährige aus Neapel allerdings bereits seit 13 Jahren. Mit zwölf hat er zu tanzen begonnen; heute ist er Mitglied des Ballett-Ensembles des Theater Basel. Seine aktuelle Choreografie sei die erste ernsthafte, meint Schiattarella. Zumindest die erste, die er für andere Tänzer entwickle. «Soli habe ich schon viele gemacht. Das ist natürlich einfacher!», meint er im Hinblick auf das Personal grinsend. «Ich glaube, es gibt einen Choreografie-Instinkt», fährt der Tänzer fort. Nun will er herauszufinden, ob er ihn habe. Kommenden März verlässt er das Basler Ballett-Ensemble. Ehrgeiz gehört dazu, da sind sich die beiden Nachwuchshoffnungen einig. «Natürlich kommt es auf das Ensemble und die Institution an», sagt er. «Aber du musst immer zeigen, was du alles kannst und mindestens gleich gut sein wie die anderen. Sonst tanzt du nicht.» Genau davon handelt sein Stück «Perhaps the A is an O». Die Tänzerin und die zwei Tänzer haben es dabei mit dem «A», der Leiter, zu tun, die für Hierarchien steht. «Wir haben mit einer Recherche über Dominanz begonSURPRISE 313/13

BILD: ALESSANDRO SCHIATTARELLA

VON MICHÈLE FALLER

Kann man die Leiter loswerden? Probenszene aus «Perhaps the A is an O».

nen», erzählt Schiattarella. «Physische, intellektuelle, mittels Erfahrung, Kraft, Alter, Schönheit …» Die Frage sei: Gibt es einen Ausweg, kann man die Leiter loswerden? «Die Antwort, ob das ‹A› auch ein ‹O›, also ein Kreis sein kann, hängt vom Publikum ab», hält der junge Mann fest. Doch der Umstand, dass er im Begriff ist, eine begehrte Stelle im Stadttheater zu verlassen, um genau dieser Frage nachzugehen, lässt Spekulationen über seine Antwort zu. Nicht minder existenziell ist das Thema von «Cell», der Choreografie von Markéta Kuttnerová – doch da sie genau wie ihr Kollege nicht nur ernsthaft, sondern ebenso charmant berichtet, bekommt alles eine Spur Leichtigkeit. In «Cell» also werden Menschen mitten im Alltag plötzlich zu Gefangenen. «Man hat viele Pflichten im Leben, und die meisten Leute können nicht das tun, was sie gerne möchten», stellt Kuttnerová fest. Deshalb wolle sie in ihrem Stück den Unterschied zwischen sogenannten freien Menschen und Gefangenen aufheben. «Mein Vater hat 25 Jahre in einem Gefängnis gearbeitet und sagte, die Insassen seien freier als die Angestellten. Diese mussten viele Regeln befolgen und jene konnten studieren, arbeiten, sogar Fische halten!» So sei sie auf die Idee für «Cell» gekommen und damit auch zur Frage: Wo liegt sie, die Freiheit? ■ «Cell»/«Perhaps the A is an O», So, 1. Dezember, 18.30 Uhr, Chronos Movement Studio, Elisabethenstrasse 22, Basel; Sa, 7. Dezember, 19.30 Uhr, So, 8. Dezember, 18.30 Uhr, H95 Raum für Kultur, Horburgstrasse 95, Basel.

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BILD: ZVG

BILD: ZVG

Kultur

Nein, das ist nicht das Laserschwert des Jedi-Ritters, sondern der grüne Blitz.

Böse Natur: Problemmädchen in Bergkulisse.

Buch Romantischer Reiseführer

DVD Berg- und Talfahrt

Jules Vernes einziger Liebesroman ist ein skurril-abenteuerlicher Trip durch Schottland – auf der Jagd nach dem grünen Blitz.

In Sebastian Kutzlis neuem Film «Puppe» erleben verstörte Jugendliche Intrigen, Gewalt und Fürsorge auf der Alp. Das alles zwischen steilen Bergwänden und friedlich blökenden Schafherden.

VON CHRISTOPHER ZIMMER

Die reichlich reichen Brüder Sam und Sib Melvill sind einander so ähnlich, dass sie meist nur in Halbsätzen reden, die sie im fröhlichen Sprach-Pingpong gegenseitig vollenden, wobei sie sich aus einer riesigen Schnupftabakdose bedienen, die ständig zwischen ihren Jackentaschen hin und her wandert. Ihr ganzer Lebensinhalt ist ihr Mündel Helena Campbell. Nichts würde sie glücklicher machen, als die junge Dame unter eine standesgemässe Haube zu bringen. Doch diese knüpft ihre Bereitschaft, den von ihren Onkeln – die sie liebevoll Papa Sam und Mama Sib nennt – Auserkorenen in Betracht zu ziehen, an eine Bedingung: Erst will sie den grünen Blitz sehen, der selten aufleuchtet, wenn die Sonne am Horizont erlischt. Wer dieses Licht sieht, irrt sich gemäss einer Legende nicht in seinen Gefühlen und kann in das eigene Herz und in das des anderen blicken. So brechen sie denn im Jahr 1881 ans Meer auf, stolze Schotten Herrwie Dienerschaft. Erste Station ihrer Jagd nach dem grünen Blitz ist der Badeort Oban, wo der Heiratskandidat Aristobulus Ursiclos weilt, ein pedantischer Langweiler und eitler Schwätzer, der alle mit seinen naturwissenschaftlichen Monologen heimsucht. Zum Glück begegnet man unterwegs einem tapferen Künstler, sodass der viktorianische Liebesroman an Spannung gewinnt, mit einem Showdown in der sturmüberfluteten Basalthöhle Fingal’s Cave und einem ironischen Happy End, all das geschrieben von – man staune – Jules Verne. Durch seine Abenteuerromane reich und zu einem der Väter der ScienceFiction geworden, veröffentlichte Verne 1882 seinen einzigen Liebesroman «Le Rayon-vert» – der bis heute nachblitzt: etwa in Eric Rohmers Film-Adaption von 1986 oder 2007 als Motiv im dritten Teil von «Fluch der Karibik». Elegant und unterhaltsam geschrieben, voller skurriler Figuren und reich an Schilderungen von Land und Leuten, natürlich mit dem einen oder anderen Abenteuer, ist dieser Vernesche Sonderling ein romantischer Reiseführer entlang der schottischen Küste Ende des 19. Jahrhunderts. Man kann sich leicht davon berauschen lassen und vielleicht ein Leuchten entdecken, das wie ein grüner Blitz ins lesefreudige Auge fällt.

VON FABIENNE SCHMUKI

Jules Verne: Der grüne Blitz. Neu übersetzt von Cornelia Hasting.

«Der Bergdoktor» trifft auf «Girl, interrupted»: So in etwa lässt sich «Puppe» von Sebastian Kutzli umschreiben. Was sich äusserlich wie ein Bergfilm verkauft, beginnt als Drama und endet in einem Thriller-artigen Kampf zwischen Mensch und Natur sowie dem Guten und Bösen in der Natur des Menschen. Die Erzieherin Geena (Corinna Harfouch) nimmt Mädchen bei sich auf, die ihr vom Jugendamt zugewiesen werden. Gemeinsam mit der Lehrerin Julie versucht sie, den Mädchen eine neue Richtung in ihrem Leben zu geben. Schul-, Haus- und Hofarbeiten sind an der Tagesordnung und Hausregel Nummer eins lautet: keine Gewalt. Die stark übergewichtige Magenta, oder Maggie, nimmt es gerade mit Regel eins nicht so genau. Sie hat offenbar keine andere Sprache als eine grobe, rohe. Und am meisten bekommt das die 14-jährige Emma, ein Opfer sexueller Misshandlungen, zu spüren. Anna, das «Strassenkind», ist mit ihrer besten Freundin von zuhause ausgebüxt. Nachdem sie mit Drogen experimentierte und ihr Geld mit Anschaffen verdiente, musste sie auch den Tod ihrer besten Freundin miterleben – ja, Anna ging durch die Hölle, und in den Bergen, dem Himmel so nah, soll sie das freundlichere Gesicht der Welt kennenlernen. Oder, wie Geena ihr rät, es «wie die Sonne machen, die fängt auch jeden Tag neu an». Der deutsch-schweizerische Regisseur Sebastian Kutzli hat ein Händchen für Stimmungen und aussagekräftige Bilder. Kündigen sich Probleme in der Gruppe an, ist eine Sturmnacht im Anmarsch. Kommt der besinnliche Wanderhirte Leon mit seinen Schafen ins Spiel, beruhigt sich auch die Stimmung zwischen den Mädchen und der Erzieherin. Annas Leben in Rückblenden ist konsequent düster gehalten, ebenso wie die reduzierte Filmmusik aus der Feder von Gert Wilden Jr. Die Kombination aus Drama und «Sozialproblemfilm» hat ihren Reiz, allerdings muss das Setting hier einen etwas plumpen Plot wettmachen. Denn die Klischees werden konsequent bedient: Die Problemmädchen wie auch die Bergwelt erfüllen die ihnen zugewiesenen Rollen konsequent. So fanden schon der Bergdoktor und Angelina Jolie den Erfolg.

Mare Verlag 2013. 39.90 CHF

Sebastian Kutzli: «Puppe», CH/D 2012, 89 Min., mit Corinna Harfouch, Anke Retzlaff, Sara Fazilat u.a. Mit freundlicher Unterstützung von Les Videos, Zürich: www.les-videos.ch

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BILD: ZVG

Die 25 positiven Firmen Diese Rubrik ruft Firmen und Institutionen auf, soziale Verantwortung zu übernehmen. Einige haben dies schon getan, indem sie dem Strassenmagazin Surprise mindestens 500 Franken gespendet haben. Damit helfen sie, Menschen in prekären Lebensumständen eine Arbeitsmöglichkeit zu geben und sie auf ihrem Weg zur Eigenständigkeit zu begleiten. Gehört Ihr Betrieb auch dazu? Die Spielregeln sind einfach: 25 Firmen werden jeweils aufgelistet, sind es mehr, fällt jener Betrieb heraus, der am längsten dabei ist.

Geschichtsbewusste One-Man-Band: Admiral James T.

Rock Freibeuter mit Manieren

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Thommen ASIC-Design, Zürich

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mcschindler.com, PR-Beratung, Redaktion, Corporate Publishing, Zürich

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Anne Hoffmann Graphic Design, Zürich

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VXL Gestaltung und Werbung AG, Binningen

Der Winterthurer Admiral James T. bedient sich bei den Grossen, beschenkt uns reich und bleibt doch arm.

05

Proitera GmbH, Basel

06

advocacy ag, communication and

VON OLIVIER JOLIAT

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BEVBE Ingenieurbüro, Bonstetten

08

Margareta Peters Gastronomie, Zürich

09

Gemeinnütziger Frauenverein, Nidau

10

Schweizer Tropeninstitut, Basel

11

VeloNummern.ch

12

Scherrer & Partner GmbH, Basel

13

Applied Acoustics GmbH, Gelterkinden

14

Buchhandlung zum Zytglogge, Bern

15

hervorragend.ch, Kaufdorf

16

Kaiser Software GmbH, Bern

17

Velo-Oase, Erwin Bestgen, Baar

18

Coop Genossenschaft, Basel

19

Cilag AG, Schaffhausen

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Arbeitssicherheit Zehnder GmbH, Ottenbach

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Novartis International AG, Basel

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Solvias AG, Basel

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Ernst Schweizer AG, Metallbau, Hedingen

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confidas Treuhand AG, Zürich

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ratatat – freies Kreativteam, Zürich

consulting, Basel

Grosse Töne spuckt David Langhard alias Admiral James T. zum Auftakt seines Albums. «Ich bin der Friede zwischen den Kriegen, der Weltenlauf, der den man begehrt», besingt er mantramässig sein Wesen und gipfelt in «I Am the Sea». Die Hymne betört, und nur zu gerne kreuzt man weiter unter seinem Kommando. Je mehr Häfen er ansteuert, desto klarer wird: Des Admirals Orientierungspunkte sind die Ikonen der Musikgeschichte. David Bowie bei «Start All Over Again», Neil Young bei «Just Like That» und die Beatles gar wörtlich in «Travel Through Time». Langhard gesteht ungeniert: «Diese Künstler haben mich geprägt und sind ein Teil von mir. Da ich in meinem eigenen Studio arbeite, bekomme ich täglich eine Überdosis Musik ab. Ich hab deshalb weder Lust noch Kraft, mich mit aktueller Musik zu befassen. So bediene ich mich automatisch am Fundus der Musikgeschichte.» In Zeiten, wo schon Sampling retro ist, kann man durchaus zitieren. Vor allem, wenn man derart charmant mit den Anleihen umgeht und daraus eigene Songperlen fabriziert. Die 16 Songs auf «8341735» eignen sich nicht nur als abendfüllendes «Finde-die-Inspiration-Quiz» für Musiknerds. Hat man sich von der Anfangshymne erholt, geht es mit dem Steigerungslauf von «Head up High» mit Schuss in die Schlussrunde. «Work for No One» wie «I’m a Gonna Be Ready» sind beschwingte Stinkefinger eines Working Class Hero. Langhard: «Klar hätte ich gerne mehr Erfolg. Wegen meinem Studio drücken noch immer 50 000 Franken Schulden, und ich weiss kaum, wie ich die nächste Platte oder das Katzenfutter finanzieren soll. Ändern will ich aber nichts, mir ist’s wohl. Irgendwie komm ich immer durch und kann machen, was ich will.» Nun zieht’s ihn erstmal raus auf die Bühnen. Anders als im Studio, wo Langhard als One-Man-Band sämtliche Instrumente selbst spielt, stehen ihm dort drei Kollegen zur Seite. Langhard: «Da keiner auf seinem angestammten Instrument spielt, weiss ich noch nicht, wie das kommt. Aber wir werden versuchen, unser Bestes zu geben. Hauptsache, ich habe glatte Menschen im Bus.» Beim Understatement dieses Künstlers heisst das übersetzt: Es wird grossartig!

Möchten Sie bei den positiven Firmen aufgelistet werden? Mit einer Spende von mindestens 500 Franken sind Sie dabei! PC-Konto: 12-551455-3, Verein Surprise, 4051 Basel Zahlungszweck: Positive Firma + Ihr gewünschter Eintrag. Wir schicken Ihnen eine Bestätigung.

Admiral James T.: «8341735» (DALA Produkte/Irascible). Live: Mi, 20. November, Kuppel, Basel; Fr, 22. November, Helsinki, Zürich; Do, 28. November, Rössli, Bern; Do, 5. Dezember, Mokka, Thun. Weitere Daten: www.admiraljamest.com SURPRISE 313/13

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BILD: ANNELIES STRBA

BILD: ZVG BILD: MUSEUM FRIEDER BURDA, BADEN-BADEN

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2013, PROLITTERIS, ZURICH

Ausgehtipps

Die Kunst der Provokation: Laibach.

Sphärisches aus dem Computer namens Nyima 364.

Bern Hitlerschnauz und Maschinenmusik

Zürich Leuchtwerke

Warum nicht mal wieder in ein Kunstmuseum? Wem diese Frage hin und wieder durch den Kopf geht, der dürfte mit einem Besuch im Museum Franz Gertsch gut beraten sein. Ganz besonders in den nächsten Monaten – und das, obwohl gerade kein einziges Bild des grossen Schweizer Künstlers dort hängt, sondern eine Auswahl der Sammlung Frieder Burda aus Baden-Baden. Die ist ein Erlebnis, auch für Kunstmuffel. Zu sehen sind Bilder, die in den meisten Fällen nicht gerade fotorealistisch sind, aber doch mit dem Realismus spielen und so auch dem Laien einen direkten Zugang zum Bild ermöglichen. Es sind meist grossformatige Werke von deutschen Künstlerinnen und Künstlern, geschaffen in den letzten zwei Jahrzehnten. Sie sind teils irritierend, teils witzig, teils zum Nachdenken anregend – und teils schlicht umwerfend schön. (fer)

Legenden und Kultfiguren stehen im Fokus des Berner Musikfestivals Saint Ghetto. Es ist eine Veranstaltung für Bescheidwisser, allerdings dürfen sich dieses Jahr auch Menschen in die Dampfzentrale trauen, die eher zugänglicher Popmusik zugetan sind – zumindest am Freitag bei den Sparks: Die Brüder Ron und Russell Mael spielen seit den späten Sechzigerjahren eingängige Popsongs mit schlauen Arrangements und allerlei kulturellen Anspielungen. In Bern spielen sie als Duo: Ron am Piano, Russell singt. Letzterer auch mit Mitte 60 noch ganz der Beau, erster wahrscheinlich noch immer mit einer Oberlippenbewachsung, die eben nicht Hitler, sondern Chaplin die Reverenz erweist. Missverständnisse gibt es auch bei Laibach, die am Donnerstag aufmarschieren. Die slowenische Band bereitete mit militärischer Maschinenmusik den Boden für Rammstein. Für die breite Masse allerdings blieben die Konzeptkünstler zu brachial und das Spiel mit totalitärer Symbolik war auch nicht hilfreich: Bis heute gibt es halbschlaue Linksaussen, die die Uniformfetischisten als Nazis schmähen. Am selben Abend ebenfalls zu erleben sind Palais Schaumburg. Die Band mit dem Zürcher Thomas Fehlmann war zu Zeiten der Neuen Deutschen Welle eine spannende Randerscheinung. In Bern gibt’s eines der raren Konzerte der in Originalbesetzung reformierten Band. Gehen Sie hin, denn es gibt viel zu hören und fast noch mehr zu reden. (ash)

«Wahlverwandtschaften», noch bis 16. Februar 14,

Saint Ghetto Festival, Do, 21. bis Sa, 23. November,

Museum Franz Gertsch, Burgdorf.

Dampfzentrale, Bern. www.dampfzentrale.ch

Spiel mit Traum und Realität: «Ohne Titel» von Johannes Hüppi.

Burgdorf Franz Gertsch ist weg

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Annelies Strbas Werke sind sinnlich und haben etwas Ätherisches, etwas Sphärisches. Obwohl viel Computerarbeit in ihnen steckt. Denn irgendwie scheint es immer seltsam, wenn aus dem Rechner Stoff zum Träumen kommt. Genau das passiert aber, wenn die international bekannte Künstlerin Fotografien digital in Malerei umwandelt und auf Leinwand drucken lässt. Eine vergleichbare Energie der Bilder schafft die Luzernerin Irene Naef, indem sie ihre grossformatigen Landschaftszeichnungen in Leuchtkästen setzt. «Die Arbeiten von Irene Naef leuchteten schon immer. Nun kann man sie auch noch dem Strom anschliessen, und sie leuchten noch mehr», schreibt Elisabeth Staffelbach, die die Werke zurzeit ausstellt. (dif) Annelies Strba /Irene Naef. Mi bis Fr 13 bis 18 Uhr, Sa 11 bis 16 Uhr, noch bis So, 24. November, Finissage 11 bis 14 Uhr, Galerie am Lindenhof, Pfalzgasse 3, Zürich.

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BILD: ZVG

BILD: ZVG

Der Bandleader bleibt unscharf im Hintergrund: Spain.

Spiritueller Gesang und bewegende Gefühle: Let’s GOspel.

Zürich/Thun Gut gealterte Kopfhängenlasser

Basel Herzlichen Dank und Let’s GOspel!

Spains erstes Album nach fast einer Dekade war letztes Jahr eines der erfreulichsten Comebacks seit Langem. Dabei gehört die Band um Charlie Hadens Sohn Josh zu einem Genre, das seinerzeit eher als Mauerblümchen gedieh. Denn in den Neunzigern schwang die Indie-Gemeinde das Haupthaar zu Grungegitarren. Slowcore, wie das deutlich leisere und langsamere Schaffen von Bands wie Codeine, Low oder eben Spain getauft wurde, hörten hingegen nur ein paar notorische Kopfhängenlasser. 20 Jahre später zeigen sich die Slowcorer deutlich besser gealtert als die Grunger. Item. Nachdem also «The Soul Of Spain» 2012 neues Material lieferte, erscheint nun mit «The Morning Becomes Eclectic Session» das erste (in einem Radiostudio) eingespielte Live-Album. Songs der letzten Platte gibt es zu hören und einige Bandklassiker, darunter das von Johnny Cash geadelte «Spiritual». (ash)

Der Basler Chor Let’s GOspel lädt auch dieses Jahr wieder zu zwei Adventskonzerten ein – und zwar zu ganz besonderen: So sind die Konzerte im Oekolampad speziell auf die Bedürfnisse von Betagten und Menschen mit Behinderung ausgerichtet. Der Zuschauerraum in der rollstuhlgängigen Kirche wird für Rollatoren und Rollstühle freigeräumt und vor dem Haus stehen diverse Parkplätze für Transportfahrzeuge zur Verfügung. Ausserdem sind auch kleine Kinder herzlich willkommen, auch wenn sie nicht die ganze Zeit stillsitzen können. Zu hören sein werden an den Adventskonzerten neben traditionellem Gospel auch moderne Lieder – etwa von Michael Jackson, Whitney Houston und Bob Marley. Die rund 40 Sängerinnen und Sänger von Let’s GOspel werden von einer Live-Band begleitet. Zu den Solisten gehören auch Yasmina Hunziker, die im vergangenen Jahr an «Voice of Germany» teilnahm, und Shania, die damals bei «Deutschland sucht den Superstar Kids» bei Dieter Bohlen im Finale stand. Der Reingewinn aus den Konzerten kommt dem Strassenmagazin Surprise zugute. Dafür wollen wir den allen Beteiligten von Let’s GOspel von Herzen danken! (mek)

Spain auf Tour: Do, 21. November, 21 Uhr, Bogen F, Zürich; Sa, 23. November, 21 Uhr, Cafe Mokka, Thun.

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Let’s GOspel, Spezialkonzerte für Betagte und Menschen mit Behinderung. Sa, 30.11. und So, 1.12., jeweils um 19.30 Uhr im Oekolampad, Basel. Für weitere Fragen: petra.vogel@swissonline.ch. Anmeldung: kreachor@gmail.com, bitte Namen, Telefonnummer, Anzahl Rollstühle und Anzahl Fahrzeuge angeben. Eintritt frei, Kollekte. www.kreacenter.ch

— www.theater-basel.ch, Tel. +41/(0)61-295 11 33 — SURPRISE 313/13

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Verkäuferporträt Eine Stimme des Wandels Reginald «Reggie» Black arbeitet bei der Strassenzeitung Street Sense in Washington. Rund ums Weisse Haus regieren Hochfinanz und Spitzenpolitiker, doch in der Stadt selber lebt jeder Fünfte in Armut. Den Kampf dagegen führt Reggie als Amateur-Journalist, Layouter und Zeitungsverkäufer.

«Ich bin eigentlich ein ganz normaler Typ. Ich mag Videospiele, sehe mir gern Filme an und gehe auf der National Mall, einem Park mitten in Washington, spazieren.» Reginald Black fing 2008 bei Street Sense an. Er hatte einen älteren Mann getroffen, der die Zeitung am Eastern Market verkaufte. Dieser erzählte Reggie, dass auch er StrassenzeitungsVerkäufer werden könnte. Einige Tage später bekam Reggie das erste Training. Seit dieser Zeit hat er schon viel für Street Sense gemacht: Reggie schrieb Gedichte und Artikel für die Zeitung, brachte sich als Reporter und Layouter ein, half beim Fundraising und unterstützte die Schreibversuche seiner Verkäuferkollegen durch seine Arbeit mit der Schreibgruppe. Vor allem aber sieht sich Reggie als Anwalt für Obdachlose. Weil er Obdachlosigkeit am eigenen Leib erlebt, weiss er genau, wie es ist, in Washington – einer Stadt, in der schätzungsweise ein Fünftel der Einwohner in Armut leben – kein Zuhause zu haben. «Hier geht es so sehr um Geld und hohe Politik, dass keiner mehr auf die Gesichter auf der Strasse achtet. Die Menschen laufen einfach vorbei.» Reggie sagt, dass ihm die Arbeit bei Street Sense neben dem Magazinverkauf auch die Möglichkeit gegeben habe, seine Interessen und Talente genauer kennenzulernen. Er geniesst die Herausforderung, auf verschiedenen Events als Reporter arbeiten zu können. Zudem entwirft er gerne seine eigenen Layouts am Computer. «Mir gefällt es, dass ich als Amateur-Journalist arbeiten kann, während ich gleichzeitig viele Aspekte meines Lebens verbessere», sagt Reggie. «Ja, ich bin vielleicht obdachlos, aber ich habe so viel zu bieten.» Reggie ist in Washington geboren. Seine eigene Situation beschreibt er so: «Das ist ein Fall, den du gerne in eine Schublade einordnen würdest, aber du findest einfach keine passende.» Seine Mutter starb, als er sieben Jahre alt war, sein Vater 2011. Reggie weiss nicht, wo der Rest seiner Familie ist, hätte aber gerne Kontakt zu ihr. Trotz dieser Schwierigkeiten ist er überzeugt, dass ihm diese Erfahrungen helfen, sich für andere einzusetzen, denen ebenfalls die unterstützende Gegenwart einer Familie fehlt. «Es gibt viele Fälle wie den meinen, die aber zu oft unter den Teppich gekehrt werden», sagt Reggie. «Obdachlosigkeit kann man nicht mit geistigen Scheuklappen oder einem verschlossenen Herzen besiegen», sagt Reggie. Er glaubt, dass Obdachlosigkeit nicht nur das Problem von Einzelnen ist, sondern ein Problem, das eine Gemeinschaft als Ganzes angeht. Für ihn wäre der beste Ansatz im Kampf gegen Obdachlosigkeit eine umfassende Strategie, die jedem eine Rolle zuweist. Er ist überzeugt davon, dass die Gemeinschaft offen sein muss und gut informiert über die Gründe und Auswirkungen der Armut.

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BILD: STREET SENSE

VON MOLLY KRAYBILL

Für seine Zukunft hat er grosse Träume. Reggie möchte eine Organisation gründen, die ähnlich wie Street Sense arbeitet, aber sich vor allem auf die Kunst konzentriert. Damit hätten obdachlose Künstler einen Raum, in dem sie ihre eigene Kunst produzieren könnten und die Ressourcen, sie zu verbreiten. Ausserdem träumt er davon, in die Politik zu gehen, um gegen Obdachlosigkeit zu kämpfen. Er sagt: «Ich hoffe, ich kann eine Stimme des Wandels sein.» ■ www.street-papers.org / Street Sense USA SURPRISE 313/13


SurPlus – eine Chance für alle! Werden Sie Gotte oder Götti bei SurPlus Surprise kümmert sich um Menschen, die weniger Glück im Leben hatten. Menschen, die kaum Chancen auf dem ersten Arbeitsmarkt haben und ihr Leben in die eigenen Hände nehmen wollen. Mit dem Verkauf des Strassenmagazins Surprise überwinden sie ihre soziale Isolation. Ihr Alltag bekommt wieder Struktur und mehr Sinn. Sie gewinnen neue Selbstachtung und erarbeiten sich aus eigener Kraft einen kleinen Verdienst. Das verdient Respekt und Unterstützung. Das Spezialprogramm SurPlus ist ein niederschwelliges Begleitprogramm für ausgewählte Surprise-Verkaufende, die regelmässig das Strassenmagazin

verkaufen und hauptsächlich vom Heftverkauf leben. Diese Verkaufenden erhalten nur geringe soziale Ergänzungsleistungen und werden im Programm SurPlus gezielt vom Verein Surprise unterstützt: Sie sind sozial abgesichert (Ferien, Krankheit, U-Abonnement) und werden bei Problemen im oft schwierigen Alltag begleitet. Mit einer Patenschaft leisten Sie einen wesentlichen Beitrag für die soziale Absicherung der Verkaufenden und ermöglichen ihnen, sich aus eigener Kraft einen Verdienst zu erarbeiten. Vielen Dank für Ihr Engagement!

Andreas Ammann Bern

Jela Veraguth Zürich

René Senn Zürich

Marlis Dietiker Olten

Kurt Brügger Basel

Fatima Keranovic Basel

Josiane Graner Basel

Wolfgang Kreibich Basel

Tatjana Georgievska Basel

Bob Ekoevi Koulekpato, Basel

Marika Jonuzi Basel

Peter Gamma Basel

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Jovanka Rogger Zürich

Ralf Rohr Zürich

Anja Uehlinger Aargau

Ja, ich werde Gotte/Götti und unterstütze das SurPlus-Programm von Surprise! 1 Jahr: 6000 Franken

1/2 Jahr: 3000 Franken

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1 Monat: 500 Franken

313/13 Talon bitte senden oder faxen an: Verein Surprise, Administration, Spalentorweg 20, Postfach, 4003 Basel, F +41 61 564 90 99, info@vereinsurprise.ch, PC-Konto 12-551455-3 SURPRISE 313/13

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Surprise ist: Hilfe zur Selbsthilfe Surprise hilft seit 1997 Menschen in sozialen Schwierigkeiten. Mit Programmen in den Bereichen Beschäftigung, Sport und Kultur fördert Surprise die soziale Selbständigkeit. Surprise hilft bei der Integration in den Arbeitsmarkt, bei der Klärung der Wohnsituation, bei den ersten Schritten raus aus der Schuldenfalle und entlastet so die Schweizer Sozialwerke.

Ich möchte Surprise abonnieren! 24 Ausgaben zum Preis von CHF 189.– (Europa: CHF 229.– ) (Verpackung und Versand bieten StrassenverkäuferInnen ein zusätzliches Einkommen.) Gönner-Abo für CHF 260.–

Eine Stimme für Benachteiligte Surprise verleiht von Armut und sozialer Benachteiligung betroffenen Menschen eine Stimme und sensibilisiert die Öffentlichkeit für ihre Anliegen. Surprise beteiligt sich am Wandel der Gesellschaft und bezieht Stellung für soziale Gerechtigkeit. Strassenmagazin und Strassenverkauf Surprise gibt das vierzehntäglich erscheinende Strassenmagazin Surprise heraus. Dieses wird von einer professionellen Redaktion produziert, die auf ein Netz von qualifizierten Berufsjournalistinnen, Fotografen und Illustratorinnen zählen kann. Das Magazin wird fast ausschliesslich auf der Strasse verkauft. Rund dreihundert Menschen in der deutschen Schweiz, denen der Arbeitsmarkt verschlossen bleibt, erhalten damit eine Tagesstruktur, verdienen eigenes Geld und gewinnen neues Selbstvertrauen.

Sport und Kultur Surprise fördert die Integration auch mit Sport. In der Surprise Strassenfussball-Liga trainieren und spielen Teams aus der ganzen deutschen Schweiz regelmässig Fussball und kämpfen um den Schweizermeister-Titel sowie um die Teilnahme an den Weltmeisterschaften für sozial benachteiligte Menschen. Seit 2009 hat Surprise einen eigenen Chor. Gemeinsames Singen und öffentliche Auftritte ermöglichen Kontakte, Glücksmomente und Erfolgserlebnisse für Menschen, denen der gesellschaftliche Anschluss sonst erschwert ist. Finanzierung, Organisation und internationale Vernetzung Surprise ist unabhängig und erhält keine staatlichen Gelder. Das Strassenmagazin wird mit dem Erlös aus dem Heftverkauf und mit Inseraten finanziert. Für alle anderen Angebote wie die Betreuung der Verkaufenden, die Sportund Kulturprogramme ist Surprise auf Spenden, auf Sponsoren und Zuwendungen von Stiftungen angewiesen. Surprise ist eine nicht gewinnorientierte soziale Institution. Die Geschäfte werden vom Verein Surprise geführt. Surprise ist führendes Mitglied des Internationalen Netzwerkes der Strassenzeitungen (INSP) mit Sitz in Glasgow, Schottland. Derzeit gehören dem Verband über 100 Strassenzeitungen in 40 Ländern an.

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Datum, Unterschrift 313/13 Bitte heraustrennen und schicken oder faxen an: Verein Surprise, Administration, Spalentorweg 20, Postfach, 4003 Basel, F +41 61 564 90 99, info@vereinsurprise.ch

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Herausgeber Verein Surprise, Postfach, 4003 Basel www.vereinsurprise.ch Öffnungszeiten Sekretariat 9 – 12 Uhr, Mo – Do T +41 61 564 90 90, F +41 61 564 90 99 info@vereinsurprise.ch Geschäftsführung Paola Gallo (Geschäftsleiterin), Sybille Roter (stv. GL) Anzeigenverkauf T +41 61 564 90 90, M +41 76 325 10 60 anzeigen@vereinsurprise.ch Redaktion T +41 61 564 90 70, F +41 61 564 90 99 Reto Aschwanden (Nummernverantwortlicher), Florian Blumer, Diana Frei, Mena Kost redaktion@vereinsurprise.ch, leserbriefe@vereinsurprise.ch Ständige Mitarbeit Rosmarie Anzenberger (Korrektorat), Rahel Nicole Eisenring, Shpresa Jashari, Carlo Knöpfel, Yvonne Kunz, Stephan Pörtner, Milena Schärer, Isabella Seemann, Priska Wenger, Tom Wiederkehr, Christopher Zimmer Mitarbeitende dieser Ausgabe Michèle Faller, Lucian Hunziker, Olivier Joliat, Andrea Keller, Franziska Kohler, Molly Kraybill, Hanspeter Künzler, Lukas Rüegger, Fabienne Schmucki, Livio Marc Stöckli Gestaltung WOMM Werbeagentur AG, Basel Druck AVD Goldach Auflage 17 000, Abonnemente CHF 189, 24 Ex./Jahr Marketing, Fundraising T +41 61 564 90 50 Christian von Allmen

Vertriebsbüro Basel T +41 61 564 90 83 Thomas Ebinger, Anette Metzner, Spalentorweg 20, 4051 Basel, basel@vereinsurprise.ch Vertriebsbüro Zürich T +41 44 242 72 11, M +41 79 636 46 12 Reto Bommer, Engelstrasse 64, 8004 Zürich, zuerich@vereinsurprise.ch Vertriebsbüro Bern T +41 31 332 53 93, M +41 79 389 78 02 Andrea Blaser, Alfred Maurer, Bruno Schäfer, Pappelweg 21, 3 Bern, bern@vereinsurprise.ch Strassenchor T +41 61 564 90 40, F +41 61 564 90 99 Paloma Selma, p.selma@vereinsurprise.ch Strassensport T +41 61 564 90 10 Lavinia Biert (Leitung), Olivier Joliat (Medien), David Möller (Sportcoach) l.biert@vereinsurprise.ch, www.strassensport.ch Vereinspräsident Peter Aebersold Wiedergabe von Artikeln und Bildern, auch auszugsweise oder in Ausschnitten, nur mit ausdrücklicher Genehmigung der Redaktion. Für unverlangte Zusendungen wird von der Redaktion und dem Verlag jede Haftung abgelehnt. Surprise behält sich vor, an Verkaufende gerichtete Postsendungen zu öffnen. Barspenden an namentlich bezeichnete Verkaufende können nur bis zu einem Betrag von CHF 100.– weitergeleitet werden. Darüber hinausgehende Beträge sollen – im Einverständnis mit der Spenderin oder dem Spender – allen Verkaufenden zugute kommen.

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Ein Auftritt des SurpriseStrassenchors

Ein sozialer Stadtrundgang Die Surprise-Stadtführer Markus, Rolf und Wolfgang erzählen persönliche Geschichten aus ihrem Alltag als Obdachlose und Armutsbetroffene und zeigen die Stadt aus ihrer Perspektive. Schenken Sie Ihrem Team einen anderen Blick auf die Stadt.

Wenn Sie Ihr Umfeld auf musikalischem Wege überraschen möchten, empfehlen wir Ihnen, einen Auftritt des Surprise-Strassenchors zu schenken. Unter professioneller Leitung gibt der Chor fidele Lieder aus aller Welt zum Besten und sorgt garantiert für heitere Stimmung!

Ein Surprise-Jahresabo Eine Surprise-Tasche oder Surprise-Mütze.

Schenken Sie statt einer gewöhnlichen Weihnachtskarte ein Surprise-Jahresabonnement! Oder wünschen Sie Ihren Kunden alles Gute per Inserat – macht das ganze Jahr über Freude.

Auch unsere Surprise-Artikel werden immer wieder gerne verschenkt! Damit ist man für die täglichen Herausforderungen gerüstet. Es stehen Ihnen Surprise-Taschen und -Mützen in diversen Farben zur Auswahl.

Immer die gleichen Weihnachtskarten? Schon wieder schlechter Wein? Schenken Sie Ihren Liebsten, Freunden und Geschäftspartnern doch mal etwas Überraschendes. Sie tun sowohl ihnen als auch den Menschen, die gar nichts haben, etwas Gutes. Genauso vielseitig wie unser Magazin sind nämlich auch unsere Weihnachtsgeschenke.

Wir informieren und beraten Sie gerne über das beste Geschenk. Sie erreichen uns unter 061 564 90 50. Oder auf www.vereinsurprise.ch SURPRISE 313/13

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15 Jahre vor Ort. Feiern Sie mit. www.strassenmagazin.ch www.facebook.com/vereinsurprise Unterst端tzen Sie uns: PC-Konto 12-551455-3

WOMM

Wir feiern 15 Jahre Schalterhalle Bhf SBB.


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