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Bingo! Eine Reise ins Herz der Lotto-Schweiz Mit Seitan im Bunde: ein Selbstversuch in Veganismus

Phänomen David Graeber – wie ein Professor zum Popstar der Linken wurde

Nr. 316 | 3. Januar bis 16. Januar 2014 | CHF 6.– inkl. MwSt. Die Hälfte des Verkaufspreises geht an die Verkaufenden. Bitte kaufen Sie nur bei Verkaufenden mit offiziellem Verkaufspass.


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*gemäss Basic 2008-2. Seite bitteMACH heraustrennen und schicken oder faxen an: Verein Surprise, Administration, Spalentorweg 20, Postfach, 4003 Basel, F +41 61 564 90 99, info@vereinsurprise.ch

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Titelbild: WOMM

Editorial Selbstdarsteller

Bei Redaktionskollege Florian Blumer ist die Selbstbespiegelung themaimmanent. Er unterzog sich nämlich letzten November einem Selbstversuch: Einen Monat lang wollte er ganz ohne tierische Nahrungsmittel auskommen – kein Fleisch, keine Milchprodukte, keine Eier und noch nicht einmal Honig. Damit wollte er herausfinden, wie schwer die Umstellung auf eine vegane Ernährung fällt. Er kam zum Schluss – so viel vorweg, die ganze Geschichte gibts ab Seite 13 –, dass es mit der Ernährungsumstellung nicht getan ist, denn der Verzicht auf Tierprodukte verändert den gesamten Lebensstil.

BILD: DOMINIK PLÜSS

Gleich mit dem ersten Heft des neuen Jahres brechen wir ein kleines Tabu. Denn seriöse Journalisten würden sich normalerweise lieber einen Finger brechen als der Selbstdarstellung zu frönen, und sie haben viel Erfahrung darin, in Deckung zu hechten, sobald die Fotografen anrücken. Doch für diese Ausgabe schrieben gleich zwei Surprise-Redakteure über eigene Erlebnisse und liessen sich dazu auch noch ins Bild rücken.

RETO ASCHWANDEN REDAKTOR

Auch ich wagte eine Art Selbstversuch und reiste zu einem Lottomatch tief im Kanton Freiburg. Wer als Städter den Saal einer Dorfbeiz betritt, um Bingo zu spielen, gerät in ein Milieu, das geografisch nahe und trotzdem weit weg von der gewohnten eigenen Lebenswelt liegt. Weil ich in Sachen Ernährung etwas rückständiger bin als Kollege Blumer, wollte ich beim Lottomatch unbedingt einen Schinken gewinnen. Warum das nicht klappte, erzähle ich Ihnen ab Seite 10. Als ich wieder in der Stadt war, habe ich mir selber einen Schinken und ein paar praktische Sachen für den Haushalt gekauft. Und mich damit vor die Kamera gestellt – das Resultat sehen Sie vorne auf diesem Heft. Sollte Ihnen das zuviel der Selbstdarstellung sein, versichere ich Sie meines vollsten Verständnisses. Und verweise auf die beiden anderen grossen Geschichten dieser Ausgabe: Der Essay über den Kapitalismuskritiker und Popstar der linken Intelligenz David Graeber sowie das Interview mit der scheidenden Wikipedia-Chefin Sue Gardner sind aus der professionellen Distanz geschrieben, die auch Kollege Blumer und ich den Rest Jahres wieder pflegen werden. Ehrenwort. Ich wünsche Ihnen eine anregende Lektüre und ein gutes neues Jahr. Reto Aschwanden

Surprise ist auf Spenden angewiesen. Auch auf Ihre! Herzlichen Dank. PC-Konto 12-551455-3 Ihre Meinung! Wir sind gespannt auf Ihre Kritik, Ihr Lob oder Ihre Anmerkungen. Schreiben Sie uns! Auf leserbriefe@vereinsurprise.ch oder an Verein Surprise, Redaktion, Spalentorweg 20, Postfach, 4003 Basel. Es werden nur Leserbriefe abgedruckt, die mit vollem Namen unterzeichnet sind. Die Redaktion trifft eine Auswahl und behält sich vor, Briefe zu kürzen. Oder diskutieren Sie mit uns auf www.facebook.com/vereinsurprise SURPRISE 316/14

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10 Lottomatch Mit Tigerfinkli ins Glück Im Saal des Restaurants Senslerhof in St. Antoni geschieht sonntags Seltsames: Wenn es draussen dunkel wird, legen drinnen Menschen fortgeschrittenen Alters stundenlang kleine Deckel auf Papierzettel. Für die Dauer eines Lottomatches hat der Rest der Welt Pause. Wir wagten uns ins Herz der Schweizer Bingoszene und kämpften mit Rentnerinnen um die besten Karten.

13 Veganismus Keine Tiere essen Veganismus liegt im Trend, über Sinn und Unsinn einer tierfreien Ernährung wird heftig gestritten. Uns interessierte aber weniger das Pro und Contra als die praktische Frage: Was passiert, wenn ein Käseliebhaber und Margarineverabscheuer vom einen auf den anderen Tag vegan lebt? Wie sieht ein Alltag ohne Fleisch, Milch und Käse aus? Unser Redaktor hat sich einen Monat lang auf tierfreie Diät gesetzt.

BILD: DOMINIK PLÜSS

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Inhalt Editorial Selbstversuche Die Sozialzahl Versteckte Arbeitslosigkeit Aufgelesen Nette Rocker Zugerichtet Nerika auf dem Strassenstrich Rückblick Peter Aebersold zum Surprise-Jahr 2013 Starverkäufer Teklemaryam Gebremaryam Porträt Vegan ohne Zeigefinger David Graeber Popstar der Globalisierungskritiker Fremd für Deutschsprachige Für und wider hier und dort Fotografie Komponieren mit Menschengruppen Kultur Der Daniel Düsentrieb der Steinzeit Ausgehtipps Die Reitschule wird russisch Verkäuferporträt Von der Strasse an die Minibar Projekt SurPlus Eine Chance für alle! In eigener Sache Impressum INSP

BILD: MWF

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BILD: VICTORIA WILL

18 Wikipedia Die Hüterin des Internets

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Wikipedia hat als Nachschlagewerk den klassischen Lexika den Rang abgelaufen und zählt zu den beliebtesten Websites überhaupt. Als nichtkommerzielle Stiftung ist die Plattform eine Exotin unter den OnlineRiesen. Im Interview spricht die scheidende Wiki-Chefin Sue Gardner über das Internet als Einkaufszentrum, die Degradierung der Nutzer zu Konsumenten und die Folgen des Frauenmangels in der Computerbranche.

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100 % 90 % 80 % 70 % 60 % 50 % 40 % 30 % 20 % 10 % 0%

Sekundarstufe 1 (ohne nachobliatorische Ausbildung)

Teilzeiterwerbstätige Unterbeschäftigte Erwerbslose

Die Sozialzahl Unterbeschäftig t «Möchten Sie gern e mehr arbeiten?» Regelmässig stellt das Bundesamt fü r Statistik im Rahm en seiner Schweiz schen Arbeitskräft erieerhebung SAKE Personen, die in Schweiz leben, die de r se Frage. 2012 ha ben sie 291000 M schen mit Ja bean en twortet. Dies entsp richt 6,3 Prozent Erwerbstätigen in der der Schweiz. Dami t liegt das Land internationalen Ve im rgleich in der Spitz engruppe. In der Eu päischen Union err ro eichen nur Irland, Spanien und Gros britannien höhere sWerte. In Fachkreis en spricht man vo den Unterbeschäfti n gten. Man könnte die ses Phänomen auch als verdeckte Arbe itslosigkeit bezeich nen. Unterbeschäftigte arbeiten teilzeitlich , möchten gerne ihren Beschäftigungsg rad erhöhen und sin d auch für mehr Ar beitszeit disponib el. Die Grafik zeigt , dass die Quote Unterbeschäftigten der jene der Teilzeitbe schäftigten bei M schen ohne nachob enligatorische Ausbild ung übersteigt, be den höheren Ausb i ildungsniveaus ist es umgekehrt. Män äussern öfter den ner Wunsch nach Meh rarbeit als Frauen, die ausländische und Erwerbsbevölkerung leidet stärker unter einem Beschäftigu ngsmangel als die schweizerische. Ve schiedene Aspekte rder Unterbeschäfti gung lassen den Schluss zu, dass vo r allem Erwerbspe rsonen mit einer tie beruflichen Qualifik fen ation und einem nie drigen Einkommen den Wunsch nach einem höheren Be schäftigungsgrad un damit einem höhe d ren Erwerbseinkom me n äussern. So zeigt sich, dass Persone n ohne nachobligato rische Ausbildung Vergleich zu ihrem im Bevölkerungsanteil bei den Teilzeiterwerbstätigen überv ertreten sind. Das Gleiche gilt auch fü ren Anteil an den Er r ihwerbslosen. Beide Befunde verweisen die grossen Schwier auf igkeiten von Perso nen mit geringen ruflichen Qualifikati beonen, auf dem hie sigen Arbeitsmark gewünschter Form t in einer Erwerbstätig keit nachgehen zu kön-

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Sekundarstufe 2 (Berufslehre)

Tertiärstufe (Universität, Fachhochschule)

räftestatistik

Quelle: Bundesamt für Statistik, Schweizerische Arbeitsk

eben und sich ihrem Schicksal erg nen. Die meisten haben n. Nur gebesserung ihrer Situatio glauben nicht an eine Ver an, sich akUnterbeschäftigten gibt rade ein gutes Viertel der bemühen. g ihrer Arbeitssituation zu tiv um eine Verbesserun ckungen schten zeitlichen Aufsto Rechnet man alle gewün rebte Art das zusätzlich angest zusammen, so entsprich r eben ode – n elle itst 2 94 000 Vollze beitsvolumen im Jahr 201 als ten ftig chä bes ter tte man die Un 94 000 Arbeitslosen. Hä ück ber k isti tat ens der Arbeitslos verdeckte Arbeitslose in rch du res Jah im eitslosenquote sichtigt, so hätte die Arb en! rag bet t zen 2,9, sondern 5,1 Pro schnitt 2012 nicht mehr die wödrei Möglichkeiten, um en Grundsätzlich besteh sum Pen te sch en auf das gewün chentlichen Arbeitsstund eiarb lle Ste nden an der aktuellen aufzustocken: mehr Stu rad gsg un einem höheren Beschäftig ten, eine neue Stelle mit Unterbeliche Stelle suchen. Die oder dann eine zusätz n würste re Präferenzen: Am lieb schäftigten haben hier kla utlich weniichen Stelle arbeiten. De den sie mehr an der gle und nur nach einer neuen Stelle, ger sind auf der Suche zweiten sich vorstellen, an einem gerade 16 Prozent können t bereit, Wirtschaft ist nur beding Ort zu arbeiten. Doch die ugestehen. mehr Erwerbsarbeit zuz den Unterbeschäftigten chäftigFähigkeiten der Unterbes Zu wenig entsprechen die die HälfUnternehmen. Nur knapp ten den Ansprüchen der schten ün gew zur res alb eines Jah te von ihnen findet innerh nsch Wu den hr me zumindest nicht Arbeitszeit oder äussert h nac h noc h auc d als ein Drittel sin nach Mehrarbeit. Mehr z gan ist t Res der beschäftigung, und einem Jahr in der Unter chieden. aus dem Arbeitsmarkt ges UR KN OE PFE L@ VE RE INS CA RLO KN ÖP FEL (C. MM S, WO BIL D: SIM ON DR EY FU

PR ISE .CH )

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Aufgelesen News aus den 90 Strassenmagazinen, die zum internationalen Netzwerk der Strassenzeitungen INSP gehören.

Empathie statt Verwahrung Kiel. Immer wieder wird hierzulande Stimmung gemacht gegen eine vermeintliche «Kuscheljustiz». In England wird sie mit grossem Erfolg praktiziert, Verantwortliche in Deutschland nehmen sich daran ein Beispiel: In «Täter-Opfer-Ausgleich»-Programmen werden Täter mit ihren Opfern konfrontiert und lernen, Empathie zu entwickeln. Dies hat in England nicht nur dazu geführt, dass die Opfer danach viel besser mit dem Erlittenen umgehen konnten, es hat auch die Rückfallquote um die Hälfte gesenkt.

Streit ums Essen Dortmund. Beim Thema Ernährung scheiden sich die Geister. Während die einen auf einen konsequenten Verzicht auf tierische Produkte schwören (siehe auch das Porträt und den Selbsterfahrungsbericht in diesem Heft), glaubt Fernsehköchin Sarah Wiener, dass wir die Welt «nur mit Genuss retten können». Konkret: Während Veganer Butter für Teufelszeug halten, meint Wiener: «Kunstessen mit angereicherten Zusatzstoffen wie Margarine, die meine Oma nie als Lebensmittel anerkannt hätte, wird die Menschen nicht gesund bleiben lassen.»

Rocker im Vaterschaftsurlaub Melbourne. Als so richtig harte Jungs waren Bon Jovi zwar nie bekannt. Aber hätten Sie gedacht, dass Schönling Jon Bon Jovi seit 1989 mit seiner High-School-Liebe verheiratet ist und vier Kinder hat? Und dass Gitarrist Richie Sambora während der letzten Tour mit der Begründung «I just needed to be home» kurzerhand einen Vaterschaftsurlaub einlegte? Das Bild der netten Rockstars rundet Drummer Tico Torres ab, der eine Stiftung für Kinder auf der Strasse gegründet hat und meint: «Sometimes you just gotta grow up.»

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Zugerichtet Anklageziffer I.1 Seit letztem August ist der Strassenstrich am Zürcher Sihlquai Geschichte. Verschwunden sind die ungarischen Zwangsprostituierten, deren nackte Backen im Scheinwerferlicht des Freierverkehrs flackerten. Doch einige sind noch hier, als Zeuginnen ihrer Geschichten, die nun in Gerichtsakten erzählt werden. Ihre Namen, vorliegend geändert, finden sich in den Dokumenten: I.1. Anklagevorwurf Menschenhandel. Nerika, ihr genaues Alter weiss sie nicht, ist laut Gutachten auf dem Entwicklungsstand einer Zwölfjährigen. Wuchs in Kinderheimen und Institutionen auf. Etwa Mitte der Nullerjahre muss sie nach einem Streit mit ihrem Freund durch Budapest gestreift sein, dabei wurde sie von einem Zuhälter verschleppt. Jahre «lief» sie für ihn, für Zigaretten und Essen. Hatte er Pech im Spiel, verkaufte er sie. Zuletzt überwies ihm ein Verwandter aus der Schweiz 800 Franken, in zwei Raten mit Western Union. Dieser ist heute Hauptangeklagter in den Prozessen gegen die Roma-Zuhälterbosse. «Quittungen gibt es im Menschenhandel nicht», sagt der Verteidiger, der vor dem Züricher Obergericht einen Freispruch fordert. Auch Nerika würde auf unschuldig plädieren. Sie wusste zwar, wie ihr geschah, als sie in einen Zug nach Zürich gesetzt wurde. Trotzdem, sie war «neugierig auf die Schweiz». Am Tag ihrer Ankunft gab es am Sihlquai Instruktionen über Dienstleistungen und Preise. Dann schaffte sie an, verdiente viel, 1500 bis 2000 Franken pro Nacht, wovon sie zwischen 20 und 100 Franken behalten durfte. «Echt fair», findet das Nerika. Davon kaufte sie sich Zigaretten, Essen und

Süssigkeiten. Sie konnte arbeiten, so lange sie wollte, und Vorschriften über Mindesteinnahmen pro Nacht habe es nicht gegeben. Was ihr der Angeklagte aus ihrer Sicht antat, ist strafrechtlich schwer zu fassen: Er «retournierte» Nerika an ihren Budapester Zuhälter, der kurz nach ihr in Zürich ankam. Mit ihm lebte sie dann über einer Dönerbude. Selbst mit Blasenentzündung arbeitete sie, er würde sie sonst «erschiessen oder aufhängen». Die Rippen hatte er ihr schon gebrochen. «Das habe ich schlecht verkraftet», sagte sie drei Monate später bei der Polizei. Ihre Angst war nun so gross, dass sie ihren Zuhälter «aufgab» und anzeigte. Im Frauenhaus gab man ihr Geld für ihre Rückreise in die ungarische Provinz, zu ihrer Mutter, die sie umgehend wieder rauswarf. So landete Nerika wieder in Budapest, wo der, vor dem sie geflüchtet war, bereits auf sie wartete. Er sperrte sie ein, schlug und missbrauchte sie, zwang sie wieder zur Prostitution. Bis die Sondereinheiten die Wohnung stürmten. Einen Monat später war sie wieder in der Schweiz, verwahrlost, abgemagert und suizidal, aber betreut in einer geschlossenen psychiatrischen Abteilung. Ja, das ist teuer, aber nichts im Vergleich zum Preis ihres Leids. Und ja, die 4500 Franken Schadenersatz und 5000 Franken Schmerzensgeld, die ihr zugesprochen werden, gehen zulasten des Schweizer Steuersubstrats, nicht des Oberbosses, dessen siebeneinhalb Jahre Haft wir auch finanzieren. Aber «bezüglich des Menschenhandels gilt das Weltrechts- bzw. das Universalitätsprinzip», sagt die Anklage. Wer damit nicht einverstanden ist, dem ist Nerika egal.

YVONNE KUNZ (YVONNE.KUNZ@GMAIL.COM) ILLUSTRATION: PRISKA WENGER (PRISKAWENGER@GMX.CH) SURPRISE 316/14


Rückblick Ein erfolgreiches Jahr

Nominieren Sie Ihren Starverkäufer! Schreiben Sie uns mit einer kurzen Begründung, welche/n Verkäufer/in Sie an dieser Stelle sehen möchten: Verein Surprise, Redaktion, Spalentorweg 20, Postfach, 4003 Basel, F +41 (0)61 564 90 99, redaktion@vereinsurprise.ch

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Auch der Strassenchor ist gewachsen. Er trifft sich wöchentlich zum gemeinsamen Singen. Die Mitglieder berichten begeistert von den Proben und der guten Stimmung. Ein besonderer Anreiz sind die regelmässig stattfindenden öffentlichen Auftritte. Zu einer Erfolgsgeschichte ist unser jüngstes Projekt geworden: Dank der Anschubfinanzierung durch die Christoph Merian Stiftung konnten wir in Basel einen sozialen Stadtrundgang realisieren, bei dem Armutsbetroffene durch ihre eigene Lebenswelt führen. Die Idee fand in den Medien und in der Presse breite Resonanz. In den ersten acht Monaten wurden bereits 120 Führungen durchgeführt, an denen 1700 Personen teilnahmen. Alle, mit denen ich darüber sprechen konnte, waren beeindruckt und persönlich berührt. Fürs das neue Jahr bereiten wir einen sozialen Stadtrundgang in Zürich vor. Verstärken konnten wir unsere internationale Vernetzung. Unsere Geschäftsführerin Paola Gallo ist im laufenden Jahr zum Board Member des International Network of Street Papers (INSP) gewählt worden. Diesem Dachverband gehören zur Zeit 120 Strassenzeitungen aus 38 Ländern an. Nachdem wir 2012 mit einem Defizit abschliessen mussten, erwarten wir für das vergangene Jahr eine ausgeglichene Rechnung, dies nicht zuletzt dank unsern Sponsoren und vielen Spenderinnen und Spendern. Ihnen allen sei herzlich gedankt. Im Vorstand hat sich die neue Struktur mit Ausschüssen und Ressorts gut bewährt. Als

zusätzliches Mitglied konnten wir Gabriela Wawrinka, Geschäftsleiterin des Kurszentrums K5, willkommen heissen. Das Herzstück unseres Unternehmens sind aber unsere Mitarbeitenden und ganz speziell die Verkaufenden. Sie stehen bei jedem Wetter auf der Strasse und lassen sich auch dann nicht unterkriegen, wenn viele Passanten vorbeieilen oder wegschauen. Ihr Halt sind jene Menschen, die stehen bleiben und ein Heft kaufen. Dazu gehören wohl auch Sie, liebe Leserin, lieber Leser – Ihnen sage ich herzlich: Merci und ein gutes neues Jahr. Peter Aebersold BILD: ZVG

2013 geht als erfolgreiches Jahr in die Geschichte von Surprise ein. Gleich zwei Jubiläen feierten wir mit verschiedenen Veranstaltungen: Surprise besteht nämlich bereits seit 15 Jahren, und in dieser Zeit sind 300 Ausgaben des Strassenmagazins erschienen. Ein Erbe aus der Anfangszeit war die organisatorische Doppelspurigkeit von GmbH und Verein. Im vergangenen Jahr konnten wir die Umwandlung unserer Struktur in einen transparent geregelten Trägerverein endgültig abschliessen. Zudem werden wir vom Frühjahr 2014 an schuldenfrei sein. Die Verschuldung war seinerzeit nötig geworden, weil wir der AHV «auf einen Klapf» mehr als eine halbe Million Franken abliefern mussten. Auch der Betrieb hat sich im laufenden Jahr konsolidiert. Die Zahl der Verkaufenden hat zugenommen. Allerdings wuchs die Zahl der verkauften Hefte weniger stark, da viele Verkaufende wegen der von den Behörden unnötig restriktiv festgelegten Freibeträge weniger Hefte absetzten. Mit einzelnen Kantonen konnten wir Verbesserungen erreichen, in andern sind wir auf Unverständnis gestossen. Mehr Unterstützung – namentlich von Sportverbänden und Firmen – durfte der Strassensport erfahren. Die Strassenfussball-Nationalliga ist im vergangenen Jahr auf 18 Teams angewachsen, die regelmässig trainieren und an Turnieren um Schweizermeister-Titel und den Einzug ins Nationalteam spielen. Letzteres nimmt regelmässig an der Weltmeisterschaft für sozial benachteiligte Menschen teil, im vergangenen Jahr in Polen.

BILD: ZVG

Vereinspräsident Peter Aebersold über zwölf ereignisreiche Monate.

Starverkäufer Teklemaryam Gebremaryam Jeannette Varrin aus Hünibach schreibt: «Ich möchte gerne Herrn Teklemaryam Gebremaryam als Starverkäufer nominieren. Er ist immer aufgestellt, und ich finde es toll, wie er trotz geringen Deutschkenntnissen an der Ecke steht und nicht einfach die Hände in den Schoss legt. Diesem Verkäufer gebührt ein grosses Lob – gerade wenn man bedenkt, wie hart es für jemanden aus einer wärmeren Weltgegend sein muss, stundenlang in der nassen Kälte hierzulande zu stehen.»

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Porträt Den Köcher voller Ideen Model, Tauchlehrerin und Kunststudentin – Lauren Wildbolz verfolgt verschiedenste Interessen mit grosser Energie. Nun zeigt sie den Zürchern, wie lustvoll die vegane Ernährung sein kann – ohne Moralpredigten, dafür mit ansteckender Begeisterung. VON MANUELA DONATI (TEXT) UND ROLAND SOLDI (BILD)

Fünf Jahre reist sie durch die Welt, arbeitet in Ägypten und auf den Kapverdischen Inseln. Weg von zuhause, den bekannten Mustern und Wegen, lernt sie sich selbst besser kennen. «Beim Reisen wird man auf sich selbst zurückgeworfen, man erfährt so sehr viel über sich selbst. Das hat mir sehr gut getan.» Nach fünf Jahren, sie ist mittlerweile fast 28, weiss sie auch: Ewig wird sie nicht als Tauchlehrerin arbeiten, der Job belastet die Gesundheit und das Gehalt reicht oft gerade dafür, die Kosten vor Ort zu decken. Sie beschliesst zurückzukehren – zurück in die Schweiz und zurück zu ihrer Kunstausbildung. Während dem Bachelor-Studium in Fine Arts an der Zürcher Hochschule der Künste ZHdK beginnt sie, den Veganismus in die Kunst zu integrieren, betreibt das vegane Kochen als Aktivismus. Sie kurvt mit Velo und Reiskocher durch Zürich und kocht an Szeneanlässen. Eigentlich soll ihre «Yogi-Veganokitchen» ihr Studium finanzieren, aber weil sie dabei auf Bio-Qualität setzt, legt sie drauf statt etwas zu verdienen. Völlig umsonst ist die Aktion aber nicht, denn aus ihr entsteht die Idee eines eigenen Restaurants – in Zürich soll es endlich auch geben, was in Berlin und New York schon gang und gäbe ist: ein rein veganes Restaurant. 2010 eröffnet die Trendsetterin im Zürcher Kreis 4 die «Vegan Kitchen and Bakery». An begeisterten Besuchern mangelt es nicht, an Kapital für

Auf die Frage nach ihrem Lieblings-Lebensmittel muss Lauren Wildbolz nicht lange überlegen. Es sprudelt nur so aus ihr heraus, von alten Gemüse- und Fruchtsorten, die sie wiederentdeckt hat, von Linsen in allen möglichen Farben und Grössen, von verschiedenen Gewürzen, die die Sinne wecken. «Ich habe eine Rohkost-Bourbon-Vanille, die ist unglaublich süss, am liebsten würde ich die Samen über alles streuen», schwärmt Lauren Wildbolz. Schnell wird klar: Veganismus, wie sie ihn lebt, hat nichts mit Verzicht zu tun. Und ihre Auslegung der veganen Küche soll auch niemanden ausschliessen: «In meinem Freundeskreis gibt es Menschen mit den unterschiedlichsten Ernährungsweisen. Wenn ich koche, können alle mitessen. Und am nächsten Tag ohne Probleme in ein Stück Fleisch beissen.» Kochen und Essen sind für die 33-Jährige lustvoll und sinnlich, auch wenn sie als Veganerin seit sieben Jahren komplett auf Fleisch, Eier und Milch verzichtet. Die tierischen Produkte fehlen ihr überhaupt nicht: «Ich weiss gar nicht mehr, wie Fleisch schmeckt.» Mit dem Klischee des Veganers als bewollsockter Körnlipicker, der den Zeigefinger mahnend in die Höhe hebt, hat Lauren Wildbolz nichts gemein – sie versprüht Energie und Lebensfreude, die Augen leuchten und die Hände unterstützen das Gesagte energisch, so vermag sie schnell für ihre Anliegen «Ich hatte schon sehr jung alles: Markenkleider, Schuhe. Deshalb zu begeistern. Diese liegen auf der Hand: Ininteressierte mich das dann irgendwann nicht mehr.» dem sie auf tierische Produkte verzichtet, nicht nur in der Ernährung, sondern auch bei Schuhen und Taschen, will Lauren Wildbolz ein Zeichen setzen. Ein Miete, Mitarbeiterlöhne und diverse Investitionen hingegen schnell. Zeichen gegen die Textil- und die Lebensmittelindustrie und ihren sorgUnd so verkauft sie ihr Restaurant 2012 wieder. «Mit einem Sack voller losen Umgang mit Ressourcen. Erfahrungen» macht sie weiter, immer noch ganz im Zeichen des vegaDen Entscheid zum Fleischverzicht fällte Lauren Wildbolz schon als nen Aktivismus. Heute betreibt Lauren Wildbolz ein veganes Catering, Jugendliche. Eine «Hare-Krishna-Broschüre, die irgendwie bei uns zugibt vegane Kochkurse und greift immer wieder zu unkonformen Mithause rumlag» inspiriert die 14-Jährige dazu, Vegetarierin zu werden. teln, um auf ihre Anliegen aufmerksam zu machen. Im Rahmen ihrer Ein Spiegelei landet trotzdem immer mal wieder auf dem Teller, Fisch Bachelor-Arbeit an der ZHdK stellt sie ein temporäres Restaurant auf die und Muscheln genauso. Die politische Dimension einer Ernährung ohBeine, in dem nur mit Essen aus dem Müll gekocht wird – also mit Lene Fleisch kommt erst später: Dass Tiere leiden müssen, dass bei der bensmitteln, die zwar schon abgelaufen, aber noch geniessbar sind. Ein Fleischproduktion Unmengen von Abfall entstehen und unverhältnisdeutliches Zeichen gegen den Food Waste unserer Gesellschaft. mässig viel Wasser benötigt wird. Veganes Essen ist in Zürich mittlerweile für viele eine Alternative unAls Jugendliche interessiert sich Lauren Wildbolz wie die meisten ter anderen, so wie thailändisch oder italienisch. Lauren Wildbolz ist Gleichaltrigen vor allem für die Glitterwelt aus Party und Markenkleizufrieden mit der Entwicklung. «Der Veganismus ist in der Gesellschaft dern. Mit 19 macht sie den Vorkurs an der Schule für Gestaltung und beangekommen», stellt sie fest. Dennoch – an Ausruhen will sie nicht denginnt nebenbei zu modeln. Durch ihre Eltern – Vater Jost ist Fotograf ken: 2014 feiert sie gleich zwei Geburten: Im Frühsommer erwartet sie und der Zwillingsbruder von Schauspieler Klaus Wildbolz, Mutter Sanihr erstes Kind und bereits im Frühling soll ihr Kochbuch «Vegan Kitdra Model und Stylistin – knüpft sie schnell die richtigen Kontakte, auch chen & Friends» in den Läden stehen. Damit nicht genug: Schon wenn sie mit 19 schon zu alt für eine internationale Karriere ist. «Ich schwirren die nächsten Projekte im Kopf herum, schliesslich gilt es, die hatte schon sehr jung alles: Markenkleider, Schuhe. Deshalb interesMasterarbeit im Fach Transdisziplinäre Kunst zu realisieren. Lauren sierte mich das dann irgendwann nicht mehr», sagt sie rückblickend. Sie Wildbolz hat noch viele Ideen im Köcher – und alle drehen sich um die sei dankbar gewesen, schnell viel Geld zu verdienen. Den ganzen Zaster vegane Küche. in der Zürcher Clubszene zu verprassen, ist aber nicht ihr Ding. Lieber finanziert sie sich damit ihren Traum und wird Tauchlehrerin. www.vegankitchenandbakery.ch SURPRISE 316/14

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Lottomatch Kein Schwein in Santoni Bingos und Lottomatches sind altmodische Vergnügungen für Rentner auf dem Lande. Soweit das Vorurteil. Doch wer die Stadt verlässt, um in der Dorfbeiz Lotto zu spielen, taucht ein in eine wunderliche Parallelwelt.

VON RETO ASCHWANDEN

was gewinnen will, sollte mindestens einen Glücksbringer zu seinen Karten stellen, manche bauen auch ein ganzes Arsenal auf. Nach dem Znacht fahren wir los zum Restaurant Senslerhof in St. Antoni oder Santoni, wie die Eingeborenen sagen. Das Gemeindewappen ist zweigeteilt: Oben zeigt es auf goldenem Grund den Stab des heiligen Antonius (übrigens der Patron der Schweine, das werte ich als gutes Omen für meinen Schinken) mit zwei Glöcklein. Der untere Teil beruht auf einer Fehlannahme: Weil man davon ausging, der Freiburger Schultheiss Jean Gambach sei der Stifter der Antoniuskapelle im Dorf gewesen, nahm man dessen Familienwappen ins Gemeindewappen auf. Seit 1945 ist bekannt, dass Gambach nichts mit der Kapelle zu tun hat, aber jänu: «Nun zeigt halt eben das Gemeindewappen im unteren Teil das Familienwappen der Gambach», so die kommunale Homepage. Santoni liegt ziemlich abgelegen an der Sprachgrenze. Der Weg führt über unbeleuchtete Landstrassen durch eine sanft geschwungene Voralpenlandschaft. Wir kommen kurz nach halb sieben beim Senslerhof an. Der Parkplatz ist gross und gut gefüllt, rund um das Restaurant gruppieren sich Schulhaus, Landmetzg, Landi und Raiffeisen. Stammgäste scharen sich draussen um den Zigitisch, und einer feuert schmierig grin-

Irgendwann hat man das Samstagabend-Angebot in der Stadt auch gesehen. Konzerte und Kinos, Galerien und Bars – alles langweilig. Also sassen Andrea und ich an diesem Samstagabend im Dezember auf dem Sofa und zappten durchs TV-Programm. Irgendwann erwähnte sie, dass ihre Mutter mit ihrem Mann anderntags zu einem Lottomatch gehen würde. Ein Lottomatch. Inbegriff der provinziellen Abendunterhaltung. Nervenkitzel für Leute, die nie ins Casino gehen würden und eine praktische Einnahmequelle für Dorfvereine, die so ihre Kassen füllen. Warum eigentlich nicht? Als Kind ging ich ab und zu mit den Eltern zum Lottomatch. Meist im Säli des Restaurants Bauernhof in Altdorf. Ich erinnere mich, dass ich seinerzeit ein gutes Händchen hatte. Mehr als einmal brachte ich einen Schinken heim und einmal sogar ein Goldvreneli. Ich will einen Schinken. Und vielleicht haben sie auch Toaster, so einen könnte ich gerade gebrauchen. Wir fragten also Silvia und Jean-Pierre, ob wir sie begleiten dürften. Sie freuten sich und luden uns ein, vorher zum Znacht vorbeizukommen. Bei Rinds-Steak und Rotwein gab mir Silvia eine Schnellbleiche in der Kunst des Lottospielens. Angefangen mit dem Material: Wer etwas auf sich hält, bringt Menschen, bei denen man sich fragt, ob sie den nächsten seine eigenen Utensilien an einen Lottomatch, Winter noch erleben werden sind fähig und willens, im Kampf etwa farbige, transparente Plättchen zum Abum die besten Karten ihre Körper einzusetzen. decken der Zahlen. Zwar werden vor Ort Deckelchen zur Verfügung gestellt, aber die sind aus billigem Karton und haben keine Metallfassung. Die ist deshalb send die ins Lokal eilende Serviceangestellte an: «Hopphopp.» Die junwichtig, weil erfahrene Spieler nach dem Ende einer Runde die Deckelge Frau wirft dem Spassvogel einen vernichtenden Blick zu. «Dein Charchen elegant mit einem Magnetstab von den Spielkarten holen. Manche me zieht nicht mehr», grölen seine Kumpel. Es ist fast wie früher im ReSpieler haben auch Schablonen: Die Spielkarten sind nämlich bessere staurant Bauernhof in Altdorf. Fresszettel, und wer von daheim eine Schablone mitbringt, kann sie Im Foyer reisst man sich die Spielkarten nach Wahl von Blöcken. Ich ganz einfach sauber ordnen. Alle anderen, also wir, sind zur Fixierung suche nach Geburtsjahren und Zahlen, die irgendwie Glück verheissen, der Karten auf Klebeband angewiesen. Silvia packt uns welches ein. bis ich das Gewusel rundherum nicht mehr aushalte, das Menschen veranstalten, bei denen man sich fragt, ob sie den nächsten Winter noch Körpereinsatz im Kampf um die Karten erleben werden. Noch aber sind sie fähig und willens, im Kampf um die Im Kanton Freiburg, wo Silvia und Jean-Pierre wohnen, sind die besten Karten ihre Körper einzusetzen. Ich rette mich zum Eingang ins wichtigen Lottoausdrücke französisch. Das heisst: Wer eine horizontale Säli und bezahle bei freundlichen jungen Frauen 30 Franken für meine Zahlenreihe komplett hat, schreit nicht etwa «Lotto» oder gar «Bingo» drei Karten, die zur Kontrolle gestempelt werden. durch die Gegend, sondern ruft «Quine». Zwei komplette Zahlenreihen Im Säli bieten lange Tischreihen und alte Schulhausstühle Platz für bedeuten «Double Quine», und sollte ich tatsächlich alle Zahlen einer grob geschätzt 250 Menschen. Wir suchen uns einen Tisch nahe bei der Karte abdecken können, darf ich immer noch nicht «LOTTO» brüllen, Bühne, von wo aus die Preise zu sehen sind. So eine Enttäuschung: Statt sondern muss «Carton» rufen. Das wärs im Groben, nur dies noch: Wer Schinkli und Toaster auf einem hübsch geschmückten Gabentisch hän-

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BILD: WOMM

Das wäre der Plan gewesen: ein Haufen toller Preise. Doch es sollte anders kommen.

berat wissen: «Welche Massnahmen gedenkt der Bundesrat zu treffen, gen schnöde Nötli und Couverts mit Geschenkgutscheinen an einer Leium dieser unkorrekten (…) Anwendung der Bundesgesetzgebung ein ne. Andrea begrüsst es, dass es Bargeld statt Schinkli gibt, aber sie ist ja Ende zu setzen?» Zur Antwort der Landesregierung nur soviel: Sie konnauch Vegetarierin. Wir kleben unsere Karten fest und bestellen Getränte weder ein Problem entdecken noch fühlte sie sich zuständig. ke. Zu den erfreulichen Aspekten auf dem Land gehören die Preise: ein Tee crème 3.50, die Flasche Bier 5.80. An den Nebentischen ist viel RiEin Auftakt nach Mass vella blau zu entdecken und manche sparen, indem sie das Cola in LiSo langsam füllt sich der Saal. Lotto scheint ein Spiel für Schweizer terflaschen ordern – lieber günstig als gut gekühlt. Seniorinnen zu sein. Ausser einer rundlichen Thailänderin ist niemand Es dauert noch über eine halbe Stunde, bis es losgeht, Zeit für einen mit fremdländischem Aussehen zu erblicken. Unter 70 ist kaum jemand, Exkurs zur Bedeutung des Lottos im Kanton Freiburg. Kurz gesagt ist und auch Männer sind Mangelware – auf einen kommen bestimmt der zweisprachige Kanton die Schweizer Lotto-Hochburg schlechthin. sechs Frauen. Als der Speaker die Bühne betritt, erzählt Jean-Pierre, der Möglich machen das im Vergleich zu anderen Kantonen liberale Regeeine Weile verschwunden war, mit dem habe er vorher schnell eins lungen. Davon hat auch der Staat etwas, stehen ihm doch zwei Prozent getrunken. Das ist sicher kein Nachteil für uns. Der Speaker heisst die des Preisgeldes zu. Lotto ist für Freiburger ein derart gewichtiges Thema, dass sich sogar der Bundesrat damit befassen musste. 2004 fühlte sich der Freiburger Eine Rentnerin am Nachbartisch murrt: «Wir wollen dann auch Nationalrat Didier Berberat zu einer Anfrage noch etwas.» Doch wir sind nicht zum Teilen hier. an die Landesregierung bemüssigt. Weil er wohl ahnte, dass er bei seiner Wählerschaft Anwesenden herzlich willkommen und bedankt sich im Namen der Mumit dieser Aktion nicht eitel Freude auslösen würde, pries er zum Einsikgesellschaft Santoni, die den Lottomatch organisiert hat. Dann erklärt stieg erst einmal seinen Kanton: «Zu Recht für seinen köstlichen Vacheer das Prozedere. Für Auswärtige ist der Senslerdialekt eine Herausforrin, seine Chilbi, seine herrlichen Landschaften und seine Dynamik bederung: «Nai hemmer die Zahle, die hemmer is Säckli itaa, Frou Fasel kannt, scheint sich der Kanton Freiburg nun auch bei den Lottoliebhahet die kontrolliert. Denn allne zääme vöu Glück u punkt haub acht welberinnen und Lottoliebhabern einen Namen gemacht zu haben.» Dale wier starte.» Noch einmal durchschnaufen. nach formulierte er seine Bedenken: Es sei nämlich so, dass bei Frei«Zum ersten Quine: fünfundfünfzig, cinquant-cinque.» Der Speaker burger Lottomatches die gewonnenen Gutscheine in Bargeld umgewiederholt jede Zahl auf Französisch, doch ist das Tempo gleichwohl tauscht werden könnten, was gegen Artikel 2 des Bundesgesetzes behorrend. Ich muss mich am Riemen reissen, um mitzukommen, und fratreffend die Lotterien verstosse. Zudem sehe Artikel 6 des Bundesgesetge mich, wie um Himmels willen die alten Frauen, die zumeist mehr zes über die Verrechnungssteuer vor, auf Geldtreffern über 50 Franken Karten als ich vor sich haben, den Überblick behalten. «QUINE!» Wie eine Steuer zu erheben, was in Freiburg unterbleibe. Darum wollte BerSURPRISE 316/14

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BILDER: MWF

Das Preisgeld hängt an der Leine, oben die Jackpot-Zehner.

Profis räumen ihre Karten mit dem Magnetstab ab.

bitte? Andrea holt gleich den ersten Preis. Mit der orangen Zusatzkarte für die ersten fünf Runden, die ich ihr ausgesucht habe, weil mein Jahrgang draufsteht. Ein Jungmusiker kommt mit einem Mikrofon vorbei und liest die Zahlen zur Kontrolle vor, alles in Ordnung. «Dasch guet. Hetts es witersch Quine?», will der Speaker wissen. «Das ische nid der Fall.» Ein Gutschein über 40 Stutz ist der Preis. Andrea vollführt ein Tänzchen im Sitzen und Jean-Pierre sagt: «Diddeldiddel!» Das macht er gern, wenn er sich freut.

Seniorinnenspiel Lotto – unter 70 ist kaum jemand.

Draussen vor der Beiz wird etwas von Beschiss geraunt. Leute aus dem Organisationskomitee würden Preise abräumen. Ich trete näher und erkundige mich, ob es denn nicht mit rechten Dingen zugehe. Ich ernte skeptische Blicke, dann sagt eine Frau: «Nein, nicht hier. Ein paar Dörfer weiter, aber dort gehe ich nicht mehr hin.» Dann drückt sie schnell ihre Zigi aus und dreht sich weg. Man reibt Fremden ungern die schmutzigen Lokalgeheimnisse unter die Nase. Dann starten die zweiten zehn Runden. Ich machs kurz: Wir gewinnen nichts mehr. Das ist für Andrea, Silvia und Jean-Pierre nicht weiter tragisch, die haben ja schon. Ich aber muss mich zusammenreissen, um nicht «SCHÜTTELN!» Richtung Bühne zu bellen. Im Restaurant Bauernhof machte man das damals so, damit der Speaker die Zahlen or-

Schmutzige Geheimnisse am Rauchertisch Ein Auftakt nach Mass, und es wird noch besser. In der zweiten Runde holt Jean-Pierre ein Quine und in der dritten legt er mit einem Double nach. Eine Rentnerin am Nachbartisch murrt: «Wir wollen dann auch noch etwas.» Andrea vollführt ein Tänzchen im Sitzen und Jean-Pierre sagt: Doch wir sind nicht zum Teilen hier. In der «Diddeldiddel!» Das macht er gern, wenn er sich freut. fünften Runde gelingt Andrea ein Double Quine und im siebten Durchgang schlägt Silvia dentlich durchmischt. Aber hier, sagt Silvia, gehört sich das nicht, damit der Ruhe der routinierten Spielerin zu: Erst sichert sie sich das rum ersäufe ich den aufsteigenden Unmut in einem weiteren Bier. Double Quine, und kaum hat der Speaker angefangen, weitere Zahlen Kurz vor zehn ist der Abend gelaufen. Das Säli leert sich rassig, die vorzulesen, ruft sie: «Carton!» Volltreffer. Das kommt wohl vom GlücksLeute ziehts heim zu. Zeit für den Kassensturz: Unsere Vierergruppe käferli und dem Tigerfinkli, die sie um ihre Karten gruppiert hat. Fürs geht mit 110 Franken in bar und 190 Franken in Gutscheinen für die Double Quine gibts je 30 Stutz in bar und in Gutscheinen, für den CarLandmetzg, die lokale Käserei und ähnliche Geschäfte heim. Nur für ton jeweils 50. Jean-Pierre macht «Diddeldiddel», und auch ich freue mich lautet das Fazit: Ausser Spesen nichts gewesen. Und die läppern mich mit, aber so langsam wäre die Reihe gopferdeckel an mir. Ein paar sich: 30 Franken für die Dauerkarten, dann vier mal drei Stutz für die Mal komme ich nah ran, aber die entscheidende letzte Zahl will und will Wechselkarten und noch mal zwei Franken pro Karte für die Überranicht kommen. Erst gibts keinen Schinken und dann noch nicht mal eischungsserie am Schluss, die auch nichts gebracht hat. Macht 46 Frannen Gutschein, den ich in der Landmetzg nebenan zu Schinken hätte ken plus 11.60 für Bier. Ich fühle Frust, doch ich lächle tapfer und machen können. Sauerei. Bevor meine Laune endgültig in den Keller heuchle Freude über die Gewinne meiner Gspänli. Später im Bett muss sinkt, ist nach zehn Runden Pause. Ich räume mit Silvias Magnetstab die ich lange Schweinchen zählen, bis ich endlich einschlafen kann. Deckelchen fachgerecht von den Zetteln, dann brauche ich eine Zigi. ■

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Der Veganer darf nicht mitmachen: Salat mit Brot statt Tortelloni mit Pesto …

Veganismus Wenn die Seele kocht Veganismus liegt im Trend – das ist schön und gut, ganz sicher für die Tier- und Umwelt. Doch wie lebt es sich so ganz ohne Tierisches? Unser Redaktor hat es einen Monat lang versucht.

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VON FLORIAN BLUMER (TEXT) UND DOMINIK PLÜSS (BILDER)

Verkäuferin verspricht mir aber, dass ich viel klarer im Oberstübchen werde, wenn ich – wie sie hofft – ganz zum Veganer würde. Sie drückt mir das Magazin des Vegetarier- und Veganerverbands in die Hand, dessen Lektüre meinen Verdacht weiter nährt, dass das mit der Religion vielleicht nicht alle so sehen wie die erwähnte Freundin. Gleich in zwei Artikeln werden Veganer davor gewarnt, sich ungesund zu ernähren. «Nur ein gesunder Veganer ist ein guter Veganer», heisst es. Denn: Wer sich vegan ernährt und ungesund aussieht, der nährt damit die Vorurteile der Fleischesser. Ich lasse mich nicht beirren, freue mich über meinen Einkauf, der wieder zahlreiche Entdeckungen enthält und ertappe mich bei einem verschwörerischen Gemeinsamkeitsgefühl, als ich in der Migros eine Frau erblicke, die vorher ebenfalls im Veganerladen war. Der Reiz des Neuen trägt mich durch die ersten Tage, mein geliebter Käse ist mir

«Vegan – alles andere ist extrem», stickert die Veganer-Front. Tierfabriken, Klimawandel, Herzinfarkt: Die Argumente für ein Leben ohne tierische Produkte sind bekannt. Vegane Ärztinnen, Köche und Wrestlerinnen beweisen, dass man das durchaus kann. Doch will man das auch? An ein Leben mit wenig Fleisch habe ich mich schon vor Jahren gewöhnt – was mich zum «Flexitarier» macht, wie ich vor einer Weile aus der Zeitung erfuhr. Aber ein Leben ganz ohne Butter auf dem Brot, ohne Milch im Chai, ganz ohne Gruyère, Brie de Meaux und Stilton, macht das noch Spass? Ich will es wissen und starte am 1. November einen veganen Monat. Die Reaktionen auf meinen Entscheid fallen geteilt aus. Der Bürokollege droht mir, mit Rauchen aufzuhören, sollte ich aufgrund von Mangelernährung unausstehlich werden. Meine Freundin dagegen ist von der Idee so begeiWer in Cornatur beisst und dabei an ein Rindssteak stert, dass sie sich gleich anschliesst und mir zum Start ein veganes Kochbuch schenkt. Es denkt, den wird die Enttäuschung schnell wieder in die trägt den Titel «Einfach vegan» und den leicht Arme der Metzger treiben. beunruhigenden Zusatz «Hier kocht die Seele mit». Das Blättern darin macht Vorfreude, die wurst, in der Euphorie schmeckt mir sogar der Kartoffelstärkekäse aus Rezeptbilder sehen nicht nach Verzicht, sondern nach Gourmet-Schlemdem Veganerladen, irgendwie. merei aus. Entdeckergeist erwacht, Aufbruchstimmung kommt auf. Im Dann, am vierten Tage, werde ich schwach. Körperlich. Meine MitBio-Laden erkunde ich staunend eine neue Lebensmittelwelt: Edelhefe streiterin lacht mich aus: psychosomatisch. Ihr geht es blendend, doch (zum Bestreuen von Teigwaren, Salat und so weiter), Seitan (ein Proauch sie ist schwach geworden. Geistig: Sie war spontan bei entfernten dukt aus Getreideeiweiss, ähnlich wie Tofu, nur mit Geschmack), HaVerwandten eingeladen, die sie selten sieht. An einem Salatblatt und eiselnuss-Reisdrink (ein absoluter Geheimtipp!), Hafer Cuisine (ein ernem Stück Brot zu kauen, erklärt sie mir, wäre auf jeden Fall als Beleistaunlich leckerer Rahmersatz) und vieles mir bis dahin Unbekanntes digung aufgefasst worden. Ich bleibe stark trotz Schwäche, trinke erstmehr. mal ein Glas Sojamilch und brate mir ein paar Falafeltaler. Gleichzeitig schaue ich in meinem schlauen Kochbuch nach, was mir fehlen könnGute und schlechte Veganer te. Der vegane Koch führt unter dem Punkt «Vegane Ernährung – ManDie Löcher, die das Verschenken der Butter-, Milch- und Käsereste in gelernährung?» jedoch nur auf, dass man ausgewogen essen, sich viel meinen Kühlschrank gerissen hat, sind mit Margarine, Sojamilch und bewegen und viel Sonnenlicht tanken soll. Und er erklärt, dass Veganer Falafeltalern gestopft, es kann losgehen. Ich will mir zum Frühstück eilänger leben als Fleisch-und-Co-Esser. Eine konkretere Diagnose wagt ne Schokoladen-Sojamilch anrühren und studiere bang die Beschreidafür meine karnivore Bürokollegin: Sie tippt auf Vitamin-B-Mangel. bung auf der Kakaopulverpackung. Es sieht gut aus: Auf der ganzen langen Zutatenliste ist keine verdächtige Substanz zu finden – Kakao geht. Pommes Chips zum Znacht Dann die Enttäuschung: Kakao mit Sojamilch geht gar nicht. Es ist eine Ich schwächle auch am Nachmittag noch etwas, nach einem weiteeinzige wässrige Enttäuschung. Ähnliche Erfahrungen sollte ich im Verren Glas Sojamilch und einem Teller Hartweizengriess-Gnocchi mit Tolaufe des Monats noch etliche machen. Eine erste Erkenntnis vorweg: matensauce und Edelhefeflocken zum Nachtessen fühle ich mich aber Wer Margarine isst und Butter erwartet, wer in Cornatur beisst und daschon viel besser und kräftiger. Ich bringe in Erfahrung, dass einem bei an ein Rindssteak denkt, wer Ersatzkäse aus Kartoffelstärke isst (es nach ein paar Tagen noch keine Vitamine fehlen können und tippe soll gar veganes Fondue geben, das wollte ich gar nicht genauer wisselbst auf eine Stressreaktion des Körpers auf die Ernährungsumstelsen), den wird die geschmackliche Enttäuschung schnell wieder in die lung. Bereits am Tag sechs werde ich wieder schwach, diesmal aber Arme der Metzger und Käser treiben. ebenfalls im übertragenen Sinn des Worts. Ich fahre direkt nach der ArErfolgversprechender ist das Zubereiten von genuin veganen Gerichbeit zu einem Konzert. Da gleich gegenüber der Konzerthalle ein Fussten. Mit Bulgur gefüllter Butternusskürbis aus dem Ofen, zum Beispiel. ballspiel stattfindet, hat es Essensstände. Naturgemäss gibt es dort aber Das Nachkochen des ersten Rezepts aus dem Kochbuch gerät zum Festnur Wurst und Brezel. Der Verkäufer fragt mich, ob ich meine Brezel mit mahl, mit Vermicelles mit Kokoscrème als krönendem Abschluss. Schinken, Käse oder Butter will. Ich knabbere an meiner trockenen BreDie Anfangszeit ist aber auch von einer Reihe von Anfängerfehlern zel, würge ihn irgendwie den Hals hinunter und merke: Damit schaffe geprägt: Aus anti-imperialem Reflex ein Rivella statt ein Cola bestellt – ich den Abend nicht. Ich lege mir etwas zurecht von einem Joker, der enthält Milchserum. In der Beiz einen Salat bestellt – kommt mit mir zusteht und beschliesse: Der vegane Monat ist mir gerade wurst. französischer Sauce, enthält natürlich Mayonnaise, welche wiederum Ich verdränge die Schuldgefühle und rapple mich danach schnell natürlich Ei enthält. Vermicelles in der Coop-Bio-Tiefkühlversion als vewieder auf. Am Wochenende erfolgt mit Spinatspätzle mit Röstzwiebeln gane Speise erkannt – das frische aus der Migros, gutgläubig gekauft, das nächste selbstgekochte kulinarische Highlight, und ein Besuch im enthält «Aroma (mit Milchzucker und Milchprotein)». Doch nach ein vegetarischen Restaurant Tibits fühlt sich an wie ein Ausflug ins Schlapaar Tagen wird der Blick auf die Zutatenliste zum Automatismus, die raffenland. Weniger erfreulich allerdings dann die Feststellung am Feiervegane Ernährung gelingt fortan unfallfrei. abend zehn Minuten vor Zugabfahrt: Die Tagespasta an meinem Was ist eigentlich mit Honig? Ich frage die Veganerin in meinem Lieblings-Take-Away im Bahnhof ist mit Speck und Käse. Wo jetzt noch Freundeskreis. Sie meint nur: «Iss, worauf Du Lust hast, Veganismus ist etwas Veganes finden? Es gibt Pommes Chips zum Nachtessen. Ein Tiefkeine Religion!» Das klingt zwar beruhigend, beantwortet aber meine schlag auch, nach dem Mittagessen mit leeren Händen aus der KondiFrage nicht. Ich mache mich auf zum Veganerladen Eva’s Apples in Zütorei wieder herausgeschickt zu werden. Als sehr sozial erweist sich der rich. «Natürlich nicht», bekomme ich dort die klare Antwort. Die

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… doch wenn er sich zu helfen weiss (z. B. mit Seitan Stroganoff mit Pilzen und Edelhefe), dann muss auch er nicht hungern.

Temporär-Veganismus auch nicht: Ein gemeinsames Mittagessen mit Strich ist Veganismus nicht eine Ernährungs-, sondern eine LebensArbeitskollegen ist fast nur möglich, wenn jeder sein eigenes Essen mitweise. Es braucht also bestimmt mehr als einen Monat, um sich richtig bringt oder ich bereit bin, mich in Kantine oder Restaurant im Zweifelsdarauf einzustellen. Und er ist etwas für besonders Willenstarke oder fall mit Salat zufrieden zu geben. Das Geburtstagsessen meines Bruders mit der Familie wird «Nur ein gesunder Veganer ist ein guter Veganer», heisst allerdings auch für mich zum Genuss – weil ich bestimmen darf, wohin es geht (zum Inder). es in der Veganerzeitschrift – sonst würde man bei FleischNach zwei Wochen beginnen die vielen essern Vorurteile schüren. kleinen Enttäuschungen, Entbehrungen und Widrigkeiten an meiner Motivation zu nagen. Ich sehne mich nach einem Stück Stilton. Und ganz einfach danach, für solche, die sich ganz sicher sind, dass man auf keinen Fall Tierisches auch essen zu dürfen, was meine vegetarische Bürokollegin ganz selbstessen darf – also auch nicht den Bio-Käse vom Bauernhof des Freundes. verständlich darf. Zuletzt, ich gebe es zu, kürzte ich etwas ab und liess Und sind Pflanzen keine Lebewesen? Und was ist mit meinem Handy mir beim Betriebs-Weihnachtsessen am 28. November keinen Salat, aus Kinder- und Sklavenarbeit – sind Menschen nicht auch schützenssondern auch eine Fonduegabel bringen. werte Kreaturen? Auch der Veganismus beantwortet nicht alle Fragen, auch er befreit nicht vor der individuellen Entscheidung, was man ok Die Moral von der Geschicht findet und was nicht. Abschliessend darf ich erstens einmal feststellen, dass ich den Monat Ich für meinen Teil habe beschlossen, die kulinarischen Entdeckunüberlebt habe, ganz gut sogar. Mein Kollege raucht noch immer, und ich gen in meinen Speiseplan aufzunehmen, meinen Kaffee auch in Zukunft habe drei Kilo abgenommen. Ein Freund meinte gar, meine Haut sehe mal schwarz zu trinken und also einen neuen Trend zu lancieren: Ich gesünder aus und mein Blick sei irgendwie wacher geworden. Ob ich werde Flexiganer. ■ gar klarer im Kopf geworden bin, dürfen Sie, geschätzte Leserin oder Leser, gleich selbst beurteilen. Ich habe jedenfalls folgende Erkenntnisse gewonnen: Veganismus macht kreativ. Er ist ein wirksames Mittel gegen die Missachtung des Essens als etwas, das man schnell an der nächsten Ecke besorgt und zwischendurch einwirft. Und er schärft das Bewusstsein dafür, was man eigentlich isst. Veganismus ist aber auch etwas für Menschen, die entweder nicht gerne auswärts und bei Freunden essen Vegan geniessen: Einfach vegan – Genussvoll durch den Tag, Schirner Verlag oder deren Freunde selbst Veganer oder sehr tolerant sind. Unter dem Mehr über Veganismus als Lebensweise erfahren Sie im Porträt auf Seite 8. SURPRISE 316/14

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BILD: THOMAS ALTFATHER GOOD

Auch ein akademischer Popstar hat Fans: David Graeber (links) an einer Demonstration für Immigrantenrechte in New York.

David Graeber Vergesst eure Schulden! David Graebers Thesen zu Geld und Kredit sind so radikal, dass er eigentlich eine Randerscheinung sein müsste. Doch der Anthropologie-Professor und Occupy-Vordenker ist ein Medienstar, Anarchisten strömen genauso an seine Vorlesungen wie Wirtschaftsexperten. Eine Annäherung an das Phänomen Graeber.

VON STEFAN MICHEL

Cool, cooler, am coolsten: David Graeber ist New Yorker, Professor für Anthropologie und erklärter Anarchist. Er solidarisiert sich öffentlich mit den Protestbewegungen gegen WTO und G8 und gilt als Vordenker von Occupy Wall Street. Er schreibt Bücher und Aufsätze mit Titeln wie «Kampf dem Kamikaze-Kapitalismus», «Inside Occupy» oder «On the Phenomenon of Bullshit Jobs». Dass sein Lehrauftrag an der US-amerikanischen Elite-Uni Yale nicht verlängert wurde, hat seinen Ruf als Rebell weiter gefestigt. Und seiner Karriere hats nicht geschadet: Inzwi-

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schen doziert er an der nicht minder renommierten London School of Economics. Als David Graeber vor ein paar Wochen am Gottlieb Duttweiler Institut (GDI) in Rüschlikon ZH, über Schulden und Demokratie sprach, standen Schlips- neben Dreadlockträgern Schlange und füllten den Saal bis auf den letzten Platz. In der gleichen Woche kam er im «Echo der Zeit», der Wirtschaftssendung «Eco» und in der «Sternstunde Philosophie» zu Wort und gab eine Reihe von Zeitungsinterviews. Wann hat einer, der den Kapitalismus in seiner aktuellen Form abschaffen will, zuletzt eine solche Beachtung erhalten? SURPRISE 316/14


herrscht die Kunst, ein bekanntes Phänomen aus einer anderen Warte Vielleicht liegt es daran, dass David Graeber Professor ist. Als solzu betrachten und so neue Schlüsse zu ziehen. Doch nicht alles, was chem hängt ihm im konsumgesättigten Abendland etwas Harmloses an. plausibel tönt, lässt sich auch beweisen. Was Graeber schreibt, klingt Am besten macht man Querdenker unschädlich, so scheint es, indem gut. Manchmal zu gut, um wahr zu sein. man sie mit Sympathie empfängt und einfach mal reden lässt. Und reDie gängige Volkswirtschaftslehre sieht im herrschenden Kreditsyden tut Graeber tatsächlich nicht zu knapp. Seinem Vortrag zu folgen stem kein Verbrechen. In der Diskussionsrunde nach David Graebers und gleichzeitig Notizen zu machen, ist fast unmöglich. Viel zu schnell Vortrag im GDI meldete sich der NZZ-Wirtschaftskolumnist Beat Kaprast er durch Epochen und Schauplätze. Sein Unterhaltungswert ist peler zu Wort: «Der eine hat Geld, der andere Projekte. Die beiden finhoch, man hört ihm gerne zu, etwa wenn er beklagt, dass es in London den sich und treten in eine Gläubiger-Schuldner-Beziehung ein. Das ist kaum mehr gute Bands gebe, weil das britische Sparprogramm alle normal. Krisen und Bankrotte waren immer die Ausnahme.» Er fuhr zwinge, irgendeinem Knochenjob nachzugehen. Ebenso flüssig lesen fort: «In einer funktionierenden Geldwirtschaft mit genügend Geldversich seine Bücher. Die Beispiele sind lebensnah, der Ton locker, und sorgung und einem Kapitalmarkt mit Zinsen als Regulatoren sind die wenn er kritisiert, dann mit sanftem Zynismus. Machtmittel nicht ungebührlich verteilt. Probleme entstehen nur, wenn Seine Ansichten zu Geld und Kredit, die er im 500 Seiten starken die Schuldner aus laufendem Einkommen nur noch die Zinsen und Bestseller «Schulden – die ersten 5000 Jahre» niederschrieb, sind nicht nicht mehr die Amortisation bezahlen – sich also zu hoch verschulden – minder originell: «Geld ist eine militärische Technologie» ist eine, oder wenn sie gar die Zinsen erneut als Kredit aufnehmen.» Kappeler «Schulden muss man nicht unbedingt zurückzahlen» eine andere. Seine beschrieb das Problem der Überschuldung, in dem diverse Staaten Argumentation: «Staaten lösen ihre Schulden endlos durch neue Kredistecken. te ab, Grossbanken und Versicherungen werden mit Geld aus der Staatskasse gerettet, aber Tausende von Uni-Abgängern stottern ihre StudienDie Zuversicht des Revolutionärs Darlehen während Jahren ab.» Graeber gehörte selber dazu. Doch ist es Der Zins als Regulator bewirkt dann, dass Staaten, an deren Zahnicht unfair gegenüber jenen, die ihre Schulden beglichen haben, wenn lungsfähigkeit gezweifelt wird, höhere Zinsen bezahlen müssen, um andere das nicht tun müssen? «Ebensogut könnte man verlangen, dass neue Kredite aufnehmen zu können, was ihre Verschuldung weiter vernicht nur ein paar wenige, sondern alle Menschen beraubt werden müstieft. Graeber ging auf Kappelers Einwurf nicht näher ein. Seine Antsen», kontert Graeber. wort: «Das ist eine naive Sichtweise dessen, wie Macht und Kredit Schulden sind ein Machtmittel, ist der Anthropologe überzeugt: funktionieren.» So sorgfältig Graeber seine Positionen in seinen Büchern Geld sei zuerst im Umfeld von Armeen entstanden. Die ersten Anleihen herausarbeitet, so salopp geht er bisweilen mit kritischen Gegenfragen seien immer Kriegsanleihen gewesen. So finanzierten Herrscher ihre Feldzüge und beteiligten ihre Geldgeber im Gegenzug an der Kriegsbeute oder den Erträ«Wenn etwas, das eine Generation vorher noch als verrückt gen des eroberten Gebiets. Aus ähnlichem Grund seien Märkte entstanden: Ein stehenangesehen wurde, zumindest schon ein Lippenbekenntnis des Heer von mehreren Zehntausend Soldaten ist, dann war eine Revolution erfolgreich.» zu verpflegen und zu versorgen, sei für ein einzelnes Königshaus zu aufwendig gewesen. um. Als er am Schweizer Fernsehen gefragt wurde, wie es die Anarchie Also bezahlte man die Soldaten mit Geld und erhob Steuern von der Zischaffen könnte, das Folterverbot durchzusetzen, konterte er: «Es ergibt vilbevölkerung. Indem diese den Soldaten Nahrung verkauften, kamen wenig Sinn, jene, die am liebsten foltern würden, dafür einzusetzen, das sie in den Besitz des Geldes, das sie als Steuern an den König zurückFolterverbot durchzusetzen.» Das zeigt Graebers Misstrauen gegenüber zahlten. seiner oder überhaupt allen Regierungen, ist aber keine Antwort auf die Frage. Er fuhr fort: «Miese Typen, die gerne Gewalt anwenden, wird es Böse Kredite immer geben. In einer Anarchie werden diese aber sicher nicht ArmeeGraeber gibt selber zu, dass dies eine Vereinfachung sei. Wichtiger ist chef.» Die Frage blieb unbeantwortet. ihm, mit dem Mythos aufzuräumen, dass Märkte und Geld quasi natürWas David Graebers Positionen erfrischend macht, ist die Zuversicht, lich aus der Tauschwirtschaft heraus entstanden seien. Immer haben die er ausstrahlt. Er sieht sich nicht als einsamen Warner im Kampf geStaaten oder Feudalherrscher entscheidend dazu beigetragen, dass gen Windmühlen. Das Umdenken habe bereits eingesetzt. Die ProtestMünzen geprägt und für gültig erklärt wurden, Schulden in Geld bebewegungen gegen WTO und G8 sowie jene gegen den Wall Street-Kaglichen und Guthaben weiterverkauft werden konnten. pitalismus seien erfolgreich gewesen. Es werde noch 20 oder 30 Jahre Er kritisiert die Geldschöpfung durch die Banken, also dass diese gehen, bis sich das zeigen werde. Das sei bei den meisten Revolutionen Geld ausleihen dürfen, das sie gar nicht besitzen. Nur für fünf bis zehn der Fall. Die Forderungen der Achtundsechziger begannen sich erst in Prozent der Kreditsumme, die eine Bank ausgibt, besitzt sie tatsächlich den Achtzigerjahren durchzusetzen, und was in der Französischen Reeinen Gegenwert. Den Rest leiht sie sich selber und gibt ihn als Kredit volution radikale Forderungen waren, war ein halbes Jahrhundert späweiter, im Vertrauen darauf, dass der Empfänger seine Schulden begleiter in weiten Teilen Europas mehrheitsfähig. «Wenn etwas, das eine Gechen wird. Wird ein grosser Teil der Schuldner der Bank zahlungsunfäneration vorher noch als verrückt angesehen wurde, zumindest schon hig, wird es auch die Bank. Graeber zitiert den Automobil-Industriellen ein Lippenbekenntnis ist, dann war eine Revolution erfolgreich», präziHenry Ford, der einst sagte: «Zum Glück verstehen die Menschen unser siert Graeber. Geld- und Bankensystem nicht. Denn sonst gäbe es noch vor dem nächWer alt genug ist, erinnert sich an die Achtzigerjahre, als in der sten Morgen eine Revolution.» Schweiz die grünen Positionen als weltfremd belächelt wurden. Keine Kredite sind böse. Das steht für Graeber fest. Und durch diese Brille 20 Jahre später bekannten sich sämtliche Regierungsparteien zum sieht jede negative Folge des Kreditwesens wie ein Teil eines bösen Schutz der Umwelt. Aus dieser Warte sind die halbherzigen AnstrenPlans aus. Man kann zum Geschäft der Banken stehen, wie man will: gungen, die Bankenregulierung zu verschärfen, um Krisen wie jene von Ohne Bankkredite stünde unsere Wirtschaft still. Als die Finanzkrise auf 2008 zu verhindern, Vorboten einer tiefgreifenden Reform des Bankihrem Höhepunkt war und die Banken kaum mehr Geld liehen, litten geund Kreditwesens. Und sollte es doch nicht so kommen, so hört es sich rade KMU, die Kredite brauchen, um das Material zu beschaffen, das sie heute zumindest gut an. verarbeiten, oder die Produkte, die sie weiterverkaufen. Graeber be■ SURPRISE 316/14

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SURPRISE 316/14 BILD: VICTORIA WILL


Wikipedia «Die Grosskonzerne legen Innovationen auf Eis» Sue Gardner ist Chefin der Stiftung Wikimedia, die das Online-Lexikon Wikipedia betreibt, die am fünftmeisten aufgerufene Website weltweit – und die einzige nicht gewinnorientierte unter den Top 50. Nun hat Gardner ihren Job gekündigt: Das Internet braucht ihre Hilfe.

INTERVIEW VON CHRISTOPH CADENBACH

Frau Gardner, wie sah die Institution Wikimedia aus, als Sie vor sechs Jahren dort begonnen haben? Damals arbeiteten sieben Leute für die Stiftung in einem kleinen Büro in St. Petersburg in Florida, das wir uns mit Steuerberatern und Immobilienmaklern teilten. Über mein Einstellungsgespräch müssen wir heute noch lachen: Zwei Mitglieder des Stiftungsrats hatten mich in ein Café eingeladen. Die eine war eine Jurastudentin aus den USA, der andere machte irgendwas mit Technik und kam aus Holland – der Stiftungsrat wird von den Wikipedia-Nutzern gewählt. Wir unterhielten uns eine Weile, und irgendwann meinten die beiden, ich solle mal eine Runde um den Block gehen. Als ich wiederkam, sagten sie, dass sie mich mögen und ich den Job haben kann. Heute läuft das nicht mehr so ab, wir haben eine Personalabteilung und insgesamt 180 Mitarbeiter.

Ich möchte mich stärker für ein freies und offenes Internet engagieren. Ich habe mir das Netz immer als eine Stadt vorgestellt. Und natürlich sollte es in dieser Stadt Kinos geben und Banken und Schuhgeschäfte und Plakatwände für Werbung, aber eben auch Büchereien und Schulen und öffentliche Parks. Unter den 50 meistbesuchten Websites der Welt ist Wikipedia aber im Moment die einzige, die nicht am Profit orientiert ist, sondern nur am öffentlichen Wohl. Sie sind umzingelt von Google, Amazon und eBay. Wird das Internet zur Shopping Mall? Ich denke schon. Ich habe nichts gegen diese Seiten, ich nutze sie selber, aber ihr vordringliches Ziel ist es nun mal, Geld zu verdienen. Dass sie den Menschen helfen, ist zweitrangig. Ihre Dominanz hat in meinen Augen dazu geführt, dass das Ökosystem des Internets aus dem Gleichgewicht geraten ist. Und noch eine andere Entwicklung, die damit zusammenhängt, stört mich: Das Grossartige am Internet war doch mal, dass es den Leuten die grenzenlose Möglichkeit gibt, selber Inhalte zu produzieren, Blogs sind dafür nur ein Beispiel. Heute nutzen die Leute jedoch am liebsten Seiten, die ihre Ausdrucksmöglichkeiten beschneiden. In den USA verbringen die Menschen zehn Minuten von jeder

Sie sind mit der Stiftung nach San Francisco gezogen, also in die Nähe des Silicon Valley. Wie sieht es heute bei Wikimedia aus? Auf der einen Seite wie in einer typischen jungen Technologiefirma: Alle sind superlässig angezogen, es gibt keine fixen Arbeitsplätze, in der Küche stehen Essen und Getränke, die sich jeder umsonst nehmen kann. Abends veranstal«Ich habe mir das Netz immer als eine Stadt vorgestellt. Natürten wir öfter Partys mit Karaoke oder Filmvorlich sollte es Banken, Schuhgeschäfte und Plakatwände geben, führungen. Auf der anderen Seite sind wir aber aber eben auch Büchereien und öffentliche Parks.» auch wie eine typische gemeinnützige Organisation. Wir sind radikal transparent, veröffentlichen alle unsere Finanzen. Die Mitarbeiter stellen sich regelmässig onStunde, die sie online sind, auf Facebook. Dort können sie den «Gefällt line den Fragen der Wikipedia-Autoren und Spender. Manche Konferenmir»-Button klicken oder Inhalte verlinken, aber kaum noch eigene zen streamen wir live im Internet. kreieren. Wikipedia ist ein spendenfinanziertes Projekt, die Autoren schreiben allesamt gratis. Dennoch gibt es das Online-Lexikon in mehr als 280 Sprachen, allein die deutsche Version hat etwa 1,6 Millionen Einträge. Warum wollen Sie dieses einzigartige Projekt nun verlassen? SURPRISE 316/14

Drückt sich diese Tendenz der verringerten Möglichkeiten nicht auch in den neuen Geräten aus, mit denen wir das Internet betreten, den Tablets zum Beispiel? Tablets wie das iPad sind Geräte ohne Tastatur, man kann mit ihnen wunderbar Videos gucken, aber nur schwer längere Texte schreiben. Sie

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ILLUSTRATIOM: SARAH WEISHAUPT

schiedsgeschenk. Wenn Sie nun bei Wikimedia aufhören: Was sind für das Konsumieren optimiert, nicht für das Produzieren. Natürbekommen Sie? lich haben sie trotzdem ihre Berechtigung, nur wenn wir nicht aufpasNiemand arbeitet bei der Wikimedia Foundation, um reich zu wersen, verlieren wir die Möglichkeiten, die uns das Internet gibt. Die Geden. Ich nehme ein paar schöne Erinnerungen mit. Letztes Wochenende schichte der Medien hat sich bisher immer wiederholt, Tim Wu, ein habe ich zum Beispiel stundenlang mit anderen Wikipedia-Autoren über amerikanischer Autor und Medienanalytiker, hat darauf in seinem grossartigen Buch «The Master Switch» hingewiesen: Auch das Radio und das Fernsehen wur«Tablets wie das iPad sind Geräte ohne Tastatur. Sie sind für das den in ihren Anfangstagen gefeiert, weil sie als Konsumieren optimiert, nicht für das Produzieren.» Medien die Menschen verbinden und den Informationsfluss befeuern. Völlig zu Recht. Ich den Artikel zu Bradley Manning diskutiert, dem Whistleblower. In meihabe mir alte Radioprogrammpläne durchgesehen: Da haben Uniproner Freizeit arbeite ich selbst gern an Artikeln. Die Frage war, wie im Wifessoren ihre Hörer in Mathematik unterrichtet. Heute sind Radio und kipedia-Eintrag Mannings Wunsch nach einer Geschlechtsumwandlung, Fernsehen zumindest in den USA Kommerzwüsten und werden von eiund dass er nun Chelsea Manning heissen will, berücksichtigt wird. nigen wenigen Konzernen kontrolliert. Diese Monopolisierung hat auch in der Internetbranche längst stattgefunden. Aber kann man Unternehmen vorwerfen, erfolgreich zu sein? Nein, wenn du ein profitorientiertes Unternehmen leitest, ist es natürlich dein Job, den Profit zu steigern, den Börsenwert zu maximieren. Und dazu gehört es auch, immer grösser zu werden und sich Konkurrenz vom Leib zu halten. Im Silicon Valley haben wir deshalb im Moment die Situation, dass viele kleine innovative Technologiefirmen von den wenigen grossen Konzernen aufgekauft werden – die Grossen aber nichts mit den Innovationen machen. Sie legen sie geradezu auf Eis. Als Google-Chef Eric Schmidt 2011 seinen Führungsposten aufgab, bekam er 100 Millionen Dollar in Google-Aktien als Ab-

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Und? Der Eintrag wurde erst in Chelsea Manning umbenannt und dann wieder in Bradley Manning. Ich finde das falsch, aber es war Mehrheitsmeinung. Auf der Wikimedia-Website kann man in einem Bericht nachlesen, dass Sie etwa 200 000 Dollar im Jahr verdienen. Werden Sie von den Apple- und Facebook-Managern eigentlich belächelt, dass Sie keine Millionärin sind? Ich denke schon. Und viele sind richtig perplex, dass Wikipedia eine halbe Milliarde Leser im Monat hat und wir nicht versuchen, daraus Gewinn zu schlagen. Aber ich erinnere mich auch noch gut an ein Interview, das ein junger Facebook-Mitarbeiter einmal gegeben hat. Er war SURPRISE 316/14


ein Überflieger, hat richtig Karriere gemacht, sagte dann aber diesen tollen Satz: «Die besten Köpfe meiner Generation denken nur noch darüber nach, wie man Menschen dazu verleitet, auf Werbung zu klicken. Das ist doch beschissen.» Und ich finde, er hat recht. Das Magazin New Yorker hat neulich beschrieben, wie das soziale Leben in San Francisco wegen der vielen tausend SiliconValley-Millionäre immer mehr auseinanderdriftet. Die Mieten steigen ins Unbezahlbare. Wie ist Ihr Eindruck? Viele Menschen aus der Technologiebranche leben hier in einer Art Blase. Sie fahren mit dem Google-Bus zur Arbeit, ihre Wäsche wird abgeholt, sie müssen noch nicht mal mehr zum Friseur gehen, weil der bei ihnen im Büro vorbeikommt. Ich glaube, diese Abschottung wirkt sich auch auf die Produkte aus, die diese Menschen entwickeln. Das lässt sich vor allem an den Apps beobachten, die hier entstehen. Eine sehr erfolgreiche App ist zum Beispiel Uber, die es einfacher macht, ein Taxi zu bekommen … … vor allem Taxis mit Luxusmarken wie die Mercedes-S-Klasse oder die 7er-Reihe von BMW. Die App ist fantastisch, aber sie löst natürlich ein Problem für Menschen, die eigentlich keine Probleme haben. Unter den zehn meistbesuchten Websites der Welt gibt es nur zwei, an deren Spitze eine Frau steht: Yahoo wird von Marissa Mayer geleitet und Wikipedia von Ihnen. Ist die Männerdominanz ein Problem? Definitiv! Technologie ist die entscheidende Macht heute. Aber bisher wird sie fast ausschliesslich von Männern erdacht, entwickelt und vermarktet. Ich denke, dass es eine grössere und spannendere Vielfalt an technologischen Produkten geben könnte, wenn mehr Frauen in der Branche engagiert wären, nicht nur im Management, sondern auch als Programmiererinnen und Ingenieurinnen. Eines Ihrer Ziele bei Wikipedia war es, auch dort mehr Frauen als Autorinnen zu gewinnen, denn bisher lag deren Anteil bei zehn bis 15 Prozent. Ist Ihnen das gelungen? Nein, das braucht Zeit. Sich bei Wikipedia zu engagieren, entspricht einem absoluten Minderheitengeschmack. Auch 99 Prozent der Männer werden nie im Leben einen Artikel schreiben. Es bedarf gewisser Charakterzüge, um daran Gefallen zu finden: Man muss ein wenig pedan-

Eine Instanz des Wissens Die Wikimedia Foundation ist eine gemeinnützige, nicht-gewinnorientierte Organisation, deren mit Abstand wichtigstes Projekt Wikipedia.org ist, das grösste Online-Lexikon der Welt. Die Mitarbeiter der Wikimedia Foundation kümmern sich um die Technik, die Server zum Beispiel, sowie um Öffentlichkeitsarbeit und um rechtliche Fragen. Die Artikel selbst werden von Freiwilligen geschrieben – grundsätzlich kann daran arbeiten, wer einen Internetzugang sowie Zeit und Lust hat. Wikipedia ist eine Instanz geworden – in Sachen Zuverlässigkeit und Umfang hat sie längst die renommierte Encyclopedia Britannica überholt, wie Studien bewiesen. Die Weltwoche kritisierte zwar unlängst, dass das Gemeinschaftsprojekt einen linken Einschlag habe. Wikipedia funktioniert aber nach demokratischen Prinzipien und den drei wichtigsten Grundsätzen: neutraler Standpunkt, Nachprüfbarkeit und Relevanz. Wikipedia gibt es in 286 verschiedenen Sprachversionen. Die deutsche ist nach Englisch und Niederländisch die drittumfangreichste und die qualitativ beste, wie Sue Gardner sagt. (fer) SURPRISE 316/14

tisch sein und die Recherche mögen, man braucht technisches Verständnis und relativ viel Freizeit. Die meisten Autoren sind Geeks: junge, technisch interessierte Menschen. Eine breite Marketingkampagne für Frauen wäre deshalb falsch. Wir versuchen stattdessen gezielt, mit Universitäten in Kontakt zu treten, damit zum Beispiel die Professoren mit ihren Studenten an Artikeln arbeiten. So entdecken vielleicht mehr Frauen ihr Interesse daran. Es wäre sehr wichtig, denn Wikipedia ist stark bei Themen wie Mathematik oder Technik, aber schwach, wenn es um Feminismus, Gender-Theorie, aber auch Mode geht. Über eine Gefahr, die unsere Freiheit im Internet bedroht, haben wir noch gar nicht gesprochen: die staatliche Überwachung. Waren Sie überrascht, als Edward Snowden die Methoden des amerikanischen Geheimdienstes NSA aufgedeckt hat? Ja, die Dimensionen haben mich sehr gewundert. Was antworten Sie Menschen, die sagen: Ich bin kein Terrorist und kein Verbrecher, wenn ich überwacht werde – was solls. Das ist eine gefährliche Argumentation. Wir leben in einer Gesellschaft, in der es so viele Gesetze gibt, dass wir ständig Gefahr laufen, eines zu brechen. Die Frage ist, welche durchgesetzt werden – und das kann sich ständig ändern. Die Überwachung macht also jeden verletzlich. Durch den NSA-Skandal ist auch die Infrastruktur des Internets in den Fokus geraten: die Kabel, durch welche die Daten weltweit verschickt werden. Netzaktivisten kritisieren manche Kabelbetreiber schon lange dafür, dass sie ein Zwei-Klassen-Netz einführen wollen. Was meinen die Netzaktivisten damit? Das ist ein kompliziertes Thema, das sich vor allem um den Begriff der Netzneutralität dreht. Die grundlegende Frage ist, ob wir das Internet als öffentlichen Raum behalten wollen, als eine Stadt mit einem Netz von Strassen, auf denen sich jeder bewegen kann. Oder ob wir das Internet als privates Gut betrachten. Dann würden über kurz oder lang die, die mehr bezahlen, ein besseres Netz bekommen als die weniger Privilegierten. Für mich ist die Netzneutralität sehr wichtig, und ich denke, dass es Regeln geben sollte, damit das Internet ein öffentlicher Raum bleibt. ■

Der Abdruck dieses Interviews erfolgt mit freundlicher Genehmigung des SZ-Magazins.

Die zehn meistbesuchten Websites der Welt* 1. google.com 2. facebook.com 3. youtube.com 4. yahoo.com 5. baidu.com (chinesische Suchmaschine) 6. wikipedia.org 7. qq.com (chinesisches Service-Portal) 8. amazon.com 9. taobao.com (chinesische Verkaufs-Plattform) 10. live.com (Suchmaschine von Microsoft)

*laut der Webanalyse-Site www.alexa.com, Stand 19. Dezember 2013.

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BILD: ZVG

Fremd für Deutschsprachige Gretchenfrage Wetten, jeder Secondo kennt die Frage? Ich hörte sie während meiner Kindheit jedenfalls jährlich, wenn wir «runter» fuhren. Es fand sich immer jemand, der sie stellte: ein Onkel, irgendeine Verwandte, ein Bekannter des Vaters aus Rekrutenzeiten. Die Frage war stets an uns Kinder gerichtet und schnappte meist dann zu, wenn das Gespräch der Erwachsenen abebbte und es zwischen diesen unangenehm still zu werden drohte: Wo gefällt es dir besser, hier bei uns oder in der Schweiz? Die Frage war ein Thermometer, das sie einem jährlich in den Mund schoben, um zu messen, ob man noch eine von ihnen war oder bereits verloren war, an die Schweiz. Ich kannte die Idealantwort, bekam aber die nötigen Wörter nicht raus, denn schon bevor der Mund aufging, schmeckte er nach Lüge:

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Hier, hier bei uns ist es schöner. Ist ja klar! Eine richtige, eine aufrichtige Antwort musste her. Aber wie? Wie sollte ich all die Menschen, Orte, Dinge und Gefühle gegeneinander abwägen? Einmal kam die Frage von Tante Bekrije, die auf dem Ecksofa thronte. Ihre amüsierte Stimme wurde begleitet von einem forschenden Blick. Während sie auf meine Antwort wartete, schien ihr Körper auf Stand-by geschaltet: die Beine angezogen, die Mokkatasse in der einen Hand, die Untertasse in der anderen und das Lächeln surrend vor meinem Gesicht. Zögernd begann ich aufzuzählen, Schönes auf Schönes zu stapeln, so dass die Dinge von hier und die Dinge von dort zu zwei wetteifernden Türmen wurden: Versteckis spielen mit den Cousinen und Cousins – mit meiner besten Freundin Yasmin zuschauen, wie der Süssigkeitenstand an der Chilbi aufgestellt wird der Geschmack nach Metall, wenn Grossmutter mir aus dem Ziehbrunneneimer zu trinken gibt – am Samstagmorgen Trickfilme schauen und tonnenweise Cornflakes essen dass die Männer sich die Hand auf die Brust legen, wenn sie einander Zigaretten anbieten – dass Politik etwa so ungefährlich klingt wie einen Brief zur Post bringen

Stobi Flips – Suuri Fischli Wenn der Strom ausfällt und alle im Dunkeln weiterreden und lachen – Yasmins Mami, das … … im Nu waren die schönen Dinge zu Worttürmen angewachsen – sie wankten, stürzten in sich zusammen und blieben stumm liegen. Tante Bekrijes Aufmerksamkeit war längst weg – jetzt verglich sie mit Luljeta die Handgelenke. Wer hatte die schlankeren? Verstohlen schaute ich zu ihr rüber. Wenn sie die Frage nächstes Jahr stellte, wollte ich sofort eine Antwort parat haben! Kaum zurück in der Schweiz, ging es wieder los mit der Schule. Doch am ersten Tag hatte ich nicht gleich aus nach dem Unterricht. Herr Marti bat mich noch kurz zu bleiben und stellte mich einer rundäugigen Frau vor, die sehr deutlich sprach. Sie hatte ein Lächeln und einen Zettel mit Fragen für mich dabei. Frage Nr. 1 war zum Ankreuzen: In welcher Sprache fühlst du dich zu Hause? A  (Schweizer-)Deutsch B  andere Sprache SHPRESA JASHARI (SHPRESAJASHARI@HOTMAIL.COM) ILLUSTRATION: RAHEL NICOLE EISENRING (RAHELEISENRING.CH) SURPRISE 316/14


Fotografie Der Verein als Stillleben Über viele Jahre haben das Fotografen-Team Ursula Sprecher und Andi Cortellini Klubs und Gruppen porträtiert. Nun erscheinen die Bilder im Buch «Freizeitfreunde» und verändern die landläufige Vorstellung über Gruppenbilder.

Ein Gruppenbild ist eine glatte Sache. Der Fotograf treibt die ganze Mannschaft oder Abteilung oder was auch immer zusammen, dann steht man Schulter an Kinn und schaut auf Kommando möglichst fröhlich drein. Ein paar Wochen später kann man sich dann im Jahresbericht oder gerahmt an der Bürowand betrachten. Die Gruppenbilder der Basler Fotografen Ursula Sprecher und Andi Cortellini sind anders. Die Menschen stehen verstreut, die Raumordnung ist streng und gelächelt wird auch kaum. Eigentlich wirken die Fotografien fast wie Stillleben. «Eine schöne Umschreibung», findet Ursula Sprecher. «Die Bilder sind tatsächlich sorgfältig durchkomponiert, wir haben fast nichts dem Zufall überlassen.» «Freizeitfreunde» ist eine freie Arbeit. Es gab keinen Auftrag, Gruppenbilder anzufertigen; Sprecher und Cortellini fragten von sich aus Vereine und Klubs an, ob sie bei diesem Projekt mitmachen würden. «Ich habe mich gefragt, wo du alle Altergruppen und Schichten findest, wie du eine Übersicht über die gesamte Gesellschaft gewinnen kannst», beschreibt Sprecher den Ausgangsgedanken des Projekts. Die Fotografien entstanden über mehrere Jahre. Bevor die Bilder unlängst als Buch erschienen, waren sie in verschiedenen Zeitungen und Magazinen abgebildet, Auszüge waren auch in Ausstellungen zu sehen. Die «Freizeitfreunde» sorgten für Aufsehen: 2010 waren Sprecher und Cortellini für den deutschen Medienpreis LeadAward in der Kategorie Portraitfotografie nominiert, 2011 gabs einen ersten Preis anlässlich der Kunstmesse Scope Miami, und beim Schweizer Prix Photo letztes Jahr gewann das Fotografen-Duo den Spezialpreis der Jury. Die Inszenierung der Bilder verlangte von allen Beteiligten Geduld. Die Fotografen mussten Vereine und vor allem auch Locations finden, die zu den jeweiligen Gruppierungen passten. Den Tauchclub Dintefisch etwa stellten sie in ein leeres Schwimmbecken des Gartenbades Eglisee in Basel. Das Zeitfenster war eng, denn abgelassen wird das Wasser jeweils nur für wenige Tage im Frühling. Als das Bassin zur Verfügung stand, mussten auch die Taucher parat sein. Und willig, den Vorstellungen der Fotografen zu folgen. Denn denen ging es nicht darum, möglichst alle Klubangehörigen ins Bild zu rücken. Sondern sie trafen bewusst eine Auswahl und positionierten die einzelnen Personen exakt so im Bassin, wie sie sich das während der Planung vorgestellt hatten. Aufbau, Arrangement und Ausleuchten dauerten mehrere Stunden. Dafür ging das eigentliche Fotografieren schnell. «Du trägst das Bild lange mit dir herum, dann baust du ganz langsam und präzise auf, postierst die Leute und drückst erst ab, wenn das Bild so ist, wie du es dir vorgestellt hast», erklärt Andi Cortellini. SURPRISE 316/14

BILD: URSULA SPRECHER UND ANDI CORTELLINI

VON RETO ASCHWANDEN

Strenge Komposition aus Neopren und Licht: Der Tauchclub Dintefisch.

Die Strenge dieser Bildkompositionen fasziniert und löst beim Betrachter teilweise auch Befremden aus. Da fragt man sich, wie denn die porträtierten Klubs die Fotos fanden. «Natürlich gab es da und dort Irritationen», erinnert sich Ursula Sprecher. Grundsätzlich hätten aber alle Freude gehabt. Schliesslich würde durch die Fotoarbeit etwas estimiert, das den Leuten auf den Bildern wichtig ist. Andi Cortellini verweist darauf, dass sie als Aussenstehende oft Dinge entdeckten, die denjenigen, die sich ihrem Hobby jede Woche widmen, nicht mehr auf- oder einfallen: «Den Freischützen wäre es nie in den Sinn gekommen, sich für ein Bild zwischen ihre Zielscheiben zu stellen, aber als wir mit diesem Vorschlag kamen, fanden sie: Aha, gute Idee.» Dann sind die ernsten Gesichter auf den Bildern also nicht das Resultat frustrierender Aufnahmen? Die beiden Fotografen lachen. «Nein, denn es geht ja auch um eine Ernsthaftigkeit, mit der diese Leute ihr Hobby pflegen, da ist es nicht nötig, für den Fotografen zu grinsen», findet Ursula Sprecher. Und Andi Cortellini stellt klar: «Wir wollten nicht einfach hübsche Gruppenbilder machen. Wir wollten interessante Fotos machen, die anregen, genau hinzuschauen, bis die Aktivität der jeweiligen Gruppe sichtbar wird.» Das ist Ursula Sprecher und Andi Cortellini eindrücklich gelungen. ■ Ursula Sprecher und Andi Cortellini: HobbyBuddies Freizeitfreunde, Kehrer Verlag, 2013. www.sprechercortellini.ch

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BILD: EFA MÜHLETHALER

BILD: ZVG

Kultur

Dieser Homo africanicus feilt an seinem Vorwärtskommen.

Letztes Jahr hat sich Eva Mühlethaler bei Transform nett eingerichtet.

Buch Steinzeit-Akademiker

Ausstellung Labor der Künste

Wer glaubt, Evolution sei eine Laune der Natur, der hat «Edward» von Roy Lewis noch nicht kennengelernt.

500 Quadratmeter Industrieraum werden zur spartenübergreifende Begegnungszone der Kunst. Möglich machts das mehrwöchige Berner Projekt Transform.

VON CHRISTOPHER ZIMMER VON MONIKA BETTSCHEN

Die Steinzeitmenschen waren wahrlich nicht zu beneiden: Gejagt von den Karnivoren, den hochspezialisierten, mit Zähnen und Krallen bestückten Kampfmaschinen auf vier Beinen, von Krankheit, Hunger und Kälte dezimiert, war ihr Vegetieren eine Lotterie ohne nennenswerte Gewinnchancen – und die Evolution des in allem unterlegenen Menschen anfangs ein zum Scheitern verurteiltes Experiment. Wäre da nicht Edward gewesen, der Homo africanicus und Daniel Düsentrieb der Steinzeit. Edward, der nicht nur das Feuer aus den Vulkanen holt, sondern auch noch segensreiche Erfindungen am Laufmeter liefert: Falle, Speer, Pfeil und Bogen – und mit Support seiner Sippe auch noch Handwerk, Kochkunst, Malerei, Religion, den Tanz und, ach ja, die Liebe. Letztere aus durchaus praktischen Gründen, ist Exogamie (die Partnersuche ausserhalb der eigenen Sippe) doch dem Genpool förderlich. Also ganz nach Edwards Gusto, der, den Blick fest auf das Ziel «Zivilisation» gerichtet, von einem paläolithischen Arkadien mit komfortablen Einfamilienhöhlen träumt und die Evolution mit allen Mitteln vorantreibt. Nichts kann ihn davon abhalten, selbst wenn er bei seinen Experimenten schon mal halb Uganda abfackelt und dabei die eigene Sippe ankokelt. Onkel Wanja ist da ganz anderer Meinung. «Back to the trees» lautet seine Devise; mit Edwards modernistischem Firlefanz hat er nichts am Dickschädel. Das äussert er auch lautstark und bei jeder Gelegenheit, und so diskutieren Onkel Wanja, der reaktionäre Skeptiker, und Edward, der Revolutionär, über Für und Wider des Fortschritts, und das mit einem Vokabular, das jedem heutigen Wissenschaftler alle Ehre machen würde – Steinzeit-Akademiker unter sich! Der britische Autor Roy Lewis (1913–1996) war nicht nur als Anthropologe tätig, sondern auch als Auslandskorrespondent in Afrika – und damit punkto Vorzeit bestens gerüstet. Mit «Edward» hat er ein aberwitziges Schelmenstück voller Anachronismen geschrieben, das zugleich ein ernstzunehmender Lehrgang durch die frühe Menschheitsgeschichte, die prähistorische Flora und Fauna und das Lieben und Treiben in vorsintflutlichen Zeiten ist. Vergnüglicher kann Geschichtsunterricht wohl schwerlich sein.

Dass leerstehende Industriehallen und Kunst ein Traumpaar ergeben, ist hinlänglich bekannt. Doch eher selten sind Orte zugänglich, an denen man dieser Liaison hautnah beiwohnen könnte. Das Berner Kunstprojekt Transform hat dieses Bedürfnis nach mehr Einsicht in den kreativen Schaffensprozess erkannt und verwandelt bereits zum dritten Mal ehemalige Gewerberäume in ein Testlabor für darstellende und bildende Kunst. «Versuchsanordnung 3», wie die diesjährige Ausgabe in Anspielung an die speziellen Rahmenbedingungen genannt wird, erstreckt sich über einen Zeitraum von sieben Wochen. Rund 35 Künstlerinnen und Künstler werden in Gruppen aufgeteilt und füllen abwechselnd die Räume mit ihren Arbeiten aus. Jede Woche übernimmt eine neue Künstlergruppe und ergänzt oder verändert die Ansätze der Vorgänger. Auf 500 Quadratmetern entsteht so ein temporäres und interdisziplinäres Gesamtkunstwerk, dessen Reiz in seiner Flüchtigkeit liegt. Es empfiehlt sich, dieses Projekt nach Möglichkeit mehrmals zu besuchen, denn erst im Vergleich zum letzten Besuch werden die mal dezenten, mal radikalen Veränderungen offensichtlich. Transform präsentiert Veränderung als einzige Konstante überhaupt. «Es geht hier eben gerade nicht darum, ein Kunstwerk in einem bestimmten Zeitfenster fertigzustellen, sondern die Entstehung von Neuem und das Miteinander der einzelnen Kunstsparten erlebbar zu machen», sagt Franz Krähenbühl, Mitgründer von Transform. «Mit der Versuchsanordnung 3 ist es uns gelungen, eine Parität zwischen den hier vertretenen Kunstformen zu erreichen. Dadurch entsteht ein ausgewogener Einblick in den Schaffensprozess.» Die hohen Räume an der Güterstrasse öffnen jeweils am Freitagabend ihre Tore für alle Interessierten. Neben bildender Kunst umfasst das Programm performative Ansätze, Theater und Musik. Alle Anlässe werden mit einem Wochenprotokoll eröffnet, in dem die mitwirkenden Kunstschaffenden vorgestellt werden. Darauf folgen Darbietungen, Konzerte, Barbetrieb. «Und auf jeden Fall so manche Überraschung!», verspricht Franz Krähenbühl.

Roy Lewis: Edward. Wie ich zum Menschen wurde. Unionsverlag 2013. 21.90 CHF

Öffnungszeiten: 10. Januar bis 28. Februar, jeweils freitags von 19.30 bis 24 Uhr.

Transform/ Versuchsanordnung 3, Güterstrasse 8, 3008 Bern

www.transform.bz

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BILD: ZVG

Die 25 positiven Firmen Diese Rubrik ruft Firmen und Institutionen auf, soziale Verantwortung zu übernehmen. Einige haben dies schon getan, indem sie dem Strassenmagazin Surprise mindestens 500 Franken gespendet haben. Damit helfen sie, Menschen in prekären Lebensumständen eine Arbeitsmöglichkeit zu geben und sie auf ihrem Weg zur Eigenständigkeit zu begleiten. Gehört Ihr Betrieb auch dazu? Die Spielregeln sind einfach: 25 Firmen werden jeweils aufgelistet, sind es mehr, fällt jener Betrieb heraus, der am längsten dabei ist.

Che gusto: Schwarzkohl auf Röstbrot.

Piatto forte Robust durchs Januarloch Kein Januar ohne Januarloch. Nach den Festtagen ist vielerorts kein Geld mehr vorhanden, um dick aufzutragen. Dann kochen wir eben mit kleinem Budget. Aber sicher nicht weniger gut.

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Privat-Pflege, Hedi Hauswirth, Oetwil am See

02

Hofstetter Holding AG, Bern

03

Bachema AG, Schlieren

04

fast4meter Bern, Storytelling & Moderation

05

Fischer & Partner Immobilien AG, Otelfingen

06

Oechslin Architektur GmbH, Zollikerberg

07

Kaiser Software GmbH, Bern

08

Thommen ASIC-Design, Zürich

09

mcschindler.com, PR-Beratung, Redaktion,

VON TOM WIEDERKEHR

Das Piatto forte dieser Ausgabe ist eine Bruschetta con Cavolo Nero. Bruschetta nennt man frisch geröstetes Weissbrot, welches vor allem als Unterlage von klein gewürfelten, frischen Tomaten Berühmtheit erlangte. Allerdings haben Tomaten im Januar nicht ihre Saison. Der Cavolo Nero – also der Schwarzkohl – allerdings schon. Er stammt von einer Wildvarietät ab, die an Mittelmeerstränden vorkommt, und ist ein richtig robustes Gewächs, welches Temperaturen bis minus 15 Grad Celsius überlebt. Tatsächlich wird er erst geerntet, nachdem er mindestens einmal Frost erlebt hat. Temperaturen unter null erhöhen seinen Zuckergehalt und die Zellstrukturen werden gelockert: das macht die Blätter zarter und genussvoller. Aber auch der Schwarzkohl ist und bleibt ein Kohl, welcher durch seinen hohen Anteil an Ballaststoffen zu Blähungen führen kann. Um dem vorzubeugen, bereiten wir den Kohl mit vielen frischen Gewürzen zu: die gerüsteten und gewaschenen Blätter des Cavolo Nero mit einem scharfen Gemüsemesser zu feinen Streifen schneiden und in bestem Olivenöl auf ganz kleinem Feuer für rund 30 Minuten garen. Wenn die Kohlstreifen weich, zart und leicht karamellisiert sind, eine fein gehackte Knoblauchzehe und alle gehackten Gewürze dazu geben, auf die Sie Lust haben: glatte Petersilie, Pfefferminze, Basilikum, Zwiebelgrün. Brennessel und Peperoncino verleihen ihm zusätzlich Charakter. Alles in der Pfanne gut vermischen und nochmals ein paar Minuten anziehen lassen. In der Zwischenzeit italienisches Weissbrot in Scheiben schneiden. Da es dieses Brot in unseren Breitengraden nicht an jeder Ecke gibt, können Sie auch herkömmliches Weiss- oder Halbweissbrot verwenden. Sofern Sie ein Cheminee haben, rösten Sie die Brotscheiben über dem offenen Feuer. Ansonsten im Toaster. Die jetzt knusprigen Brotscheiben noch warm mit einer Knoblauchzehe abreiben, mit Fleur de Sel würzen und den lauwarmen Cavolo Nero darauf verteilen. Wem das als Mahl trotz Januarloch arg karg vorkommt, der kann dazu gerne eine gute Flasche Chianti öffnen und noch ein paar Scheiben Salami und Käse dazu servieren.

Corporate Publishing, Zürich 10

Anne Hoffmann Graphic Design, Zürich

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VXL Gestaltung und Werbung AG, Binningen

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Proitera GmbH, Basel

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advocacy ag, communication and consulting, Basel

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BEVBE Ingenieurbüro, Bonstetten

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Margareta Peters Gastronomie, Zürich

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Gemeinnütziger Frauenverein, Nidau

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Schweizer Tropeninstitut, Basel

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VeloNummern.ch

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Scherrer & Partner GmbH, Basel

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Applied Acoustics GmbH, Gelterkinden

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Buchhandlung zum Zytglogge, Bern

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hervorragend.ch, Kaufdorf

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Velo-Oase, Erwin Bestgen, Baar

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Coop Genossenschaft, Basel

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Cilag AG, Schaffhausen

Möchten Sie bei den positiven Firmen aufgelistet werden? Mit einer Spende von mindestens 500 Franken sind Sie dabei! PC-Konto: 12-551455-3, Verein Surprise, 4051 Basel Zahlungszweck: Positive Firma + Ihr gewünschter Eintrag. Wir schicken Ihnen eine Bestätigung.

Bezugsquellen und Rezepte: http://piattoforte.ch/surprise 316/14 SURPRISE 316/14

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BILD: ADRIAN ELSNER, EISBUERO.CH

BILD: LASCHITZKII BILD: ZVG

Ausgehtipps

Guz singt von Neid und ist trotzdem ein Guter.

Bern/Zürich Der beste Freund

Hier müsste man einmal Ferien machen.

Berthold Seliger: Ein Konzertagent rechnet ab.

Zürich Johann, einen Tee!

Auf Lesetour Ein Insider packt aus

Die Villa Patumbah sei ein Meisterwerk des Historismus, ein denkmalpflegerisches Glanzstück und daher jetzt zu einem neuen Heimatschutzzentrum eingerichtet worden, lesen wir in den Presseunterlagen und finden, das klingt ein bisschen nach Akademikerdeutsch. Dabei hat die Sache durchaus Fleisch am Knochen: Hier wirkt nämlich noch immer der ewige Butler Johann – er ist schon seit 130 Jahren im Dienst der Villa tätig – und nimmt Besucher mit auf eine Tour durch Haus und Garten. Die Dauerausstellung wiederum heisst «Baukultur erleben – hautnah!», und auch das klingt wieder, als ob uns eine angestaubte Materie schmackhaft gemacht werden müsste. Dabei wäre das gar nicht nötig. Denn jetzt schauen wir uns die Villa an und denken unwillkürlich, hier müsste man einmal einen ganzen Sommer lang Ferien machen können. Und sich von Johann den Tee, Gebäck und danach einen Cognac reichen lassen. Und vielleicht vom Historismus träumen. Aber ehrlich gesagt, nur vielleicht. (dif)

Berthold Seliger sieht nicht aus wie ein Rockstar, und wir wissen nicht einmal, ob er überhaupt ein Instrument beherrscht. Trotzdem tritt der Mann nun in Lokalen auf, die normalerweise von Musikerinnen und Musikern bespielt werden. Und zwar aus gutem Grund. Seliger brachte als Konzertagent über viele Jahrzehnte Acts wie Patti Smith, Lou Reed und Calexico auf die Bühne, bis ihm der zunehmende Ausverkauf der Kultur die Arbeit vergällte. Nun hat er ein Buch geschrieben: «Das Geschäft mit der Musik. Ein Insiderbericht», ein anregendes und wütendes Manifest gegen die real existierende Musikindustrie. Seliger plaudert also aus dem Nähkästchen, und weil er das äusserst eloquent tut, dürften die Leseabende so erfreulich ausfallen wie ein richtig gutes Konzert. (ash)

Zum Jahreswechsel trifft man gern alte Bekannte. Solche wie Olifr Guz Maurmann, denn dann bestimmt statt Blues bald Zuversicht die Stimmung. Guz präsentiert sein neues Album «Der beste Freund des Menschen», auf dem er einmal mehr ein paar Hits aus den Verstärkern schüttelt. Das unterhält und tut gut, denn «Der beste Freund des Menschen», das ist natürlich weder der Hund noch die Wildsau auf dem Plattencover, sondern Guz selber. (ash) Mi, 8. Januar, 20 Uhr, Rösslibar, Bern; Fr, 17. Januar, 21 Uhr, Helsinki Klub, Zürich.

Anzeige:

Fr, 17. Januar, 20 Uhr, Kaserne, Basel; So, 19. Januar, 19.19 Uhr, El Lokal, Zürich; Di, 21. Januar, 19.45 Uhr, Palace, St. Gallen; Mi, 22. Januar, 20 Uhr, Cardinal, Schaffhausen.

Heimatschutzzentrum in der Villa Patumbah, Mi, Fr, Sa, 14 bis 17 Uhr, Do und So 12 bis 17 Uhr, Zollikerstrasse 128, Zürich. www.heimatschutzzentrum.ch

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BILD: ZVG

BILD: ZVG

Kann Konsum denn Sünde sein?

Von der Kirche in den Knast: Ein Dokfilm liefert Hintergründe zu Pussy Riot.

Bern Sittenzerfall

Bern Punk und Elektro gegen die Kälte

Sodom und Gomorrha könnte auch Zürich sein, findet Autorin Cory Looser und macht sich auf zu einem Abriss der Schweizer Zeitgeschichte von den Fünfzigern bis in die Achtziger. Und findet dabei: Abgründe, Furchen der moralischen Verwahrlosung in der heilen Welt, Risse in der Hochglanz-Realität der Werbebranche. Die Schweiz, vom Krieg verschont, erlebt in den Fünfzigern ein Gefühl der grenzenlosen Machbarkeit, mit der Werbung als Wegbereiterin dieses Booms. Anhand des Aufstiegs und Falls einer gut situierten Familie bringt das Ensemble des Spiegeltheaters ein absurd anmutendes Untergangstheater auf die Bühne des Tojo Theaters. Fünf Schauspieler und eine Musikerin spielen 17 Figuren in drei Jahrzehnten. Sie zeichnen das Bild einer Zeit, in der der wirtschaftliche Aufschwung alles dominierte und die Ideen der 68er-Bewegung die Gesellschaft revolutionierten. Doch das idealistische Motto der Hippiegeneration, «Make love not war», mündet schliesslich in Dekadenz und Promiskuität. Mitten drin der Protagonist Tom Solol: Visionär, Familienvater, Liebhaber und Künstler. (dif) «Für Solol von Gomorrha», Do, 9., Fr, 10. und Sa, 11. Januar, je 20.30 Uhr,

«Komme, was wolle, weil etwas kommt immer. Es hat noch keine Zeit gegeben, in der nichts gewesen ist.» Was kann schon schiefgehen mit einem solchen Lebensmotto? Das dürfte auch für einen Film gelten, der damit anfängt, dass ein russischer Bastler elektronischer Musikgeräte seinen Kollegen nach dem Zuprosten daran erinnert, dass dies doch ihr Lebensmotto sei. Es handelt sich um den neuen Dokfilm «Elektro Moskva», der die skurrile Geschichte der elektronischen Musik in Russland erzählt. Ebenso skurril mutete hier die Geschichte an, dass zwei junge Frauen einer Punkband für das unerlaubte Singen in einer Kirche für zwei Jahre ins Straflager geschickt wurden. Natürlich, die Rede ist von Pussy Riot, mittlerweile ein weltweites Symbol für den Widerstand gegen Putin und autoritäre Willkür. «Pussy Riot – A Punk Prayer» erzählt die Geschichte mit ihren Hintergründen. Zu sehen sind beide Filme am Russlandabend der fünften Auflage des Norient-Musikfilmfestivals in Bern. Ein weiterer Schwerpunkt werden Dokus aus dem arabischen Raum sein, passend dazu gibts am Freitag in der Turnhalle Elektro aus Ägypten. Es dürfte also heiss werden Mitte Januar in Bern. (fer)

Tojo Theater Bern. www.tojo.ch

5. Norient-Musikfilmfestival, Do, 9. bis Sa, 11. Januar, Kino in der Reitschule Bern, Partys am Fr, 10. Januar in der Turnhalle Progr und am Sa, 11. Januar im Frauenraum der Reitschule, www.norient.com

BILD: ISTOCKPHOTO

Basel Jeder ein König Am Dreikönigsapéro in der Basler Predigerkirche sind all jene herzlich willkommen, die normalerweise nicht an Apéros eingeladen werden. Bereits zum 20. Mal findet der festliche Anlass statt, der von den drei Kantonalkirchen Basel-Stadt und der Caritas beider Basel organisiert wird. Nebst Glühwein, Punsch, Geschichten und Musik erwartet die Gäste – natürlich – Dreikönigskuchen. Allerdings einer, der auf wundersame Weise viele Königinnen und Könige enthält. Diese können in ein Tombola-Los umgetauscht werden, das in jedem Fall einen Gewinn bedeutet. Der Hauptgewinn ist – passenderweise – ein Abendessen im vornehmen Hotel Drei Könige. Dreikönigsapéro für Menschen wie du und ich: Mo, 6. Januar, ab 18.15 Uhr, Predigerkirche am Totentanz 19, Basel. SURPRISE 316/14

Glühwein, Geschichten und Geschenke am Dreikönigsapéro.

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Verkäuferporträt «Bonjour!» Tesfagabir Ghebreab (37) aus Eritrea ist ein offener und umgänglicher Typ. Das macht ihn zum Verkaufstalent – egal, ob er vor dem Coop in Muri Surprise anpreist oder Kaffee und Gipfeli im Zug.

«Als ich vor fünf Jahren angefangen habe, Surprise zu verkaufen, war ich erst seit ein paar Monaten in der Schweiz und hatte neben dem Deutschkurs viel Freizeit. Um Geld zu verdienen und nicht den ganzen Tag im Flüchtlingszentrum verbringen zu müssen, fing ich mit dem Verkauf der Hefte an. Da ich mich gerne mit den Leuten unterhalte, konnte ich das neu erlernte Deutsch gleich mit meinen Kunden sowie den Mitarbeitern vom Surprise-Vertriebsbüro in Bern üben. Seit mehr als einem Jahr arbeite ich nun als Minibar-Verkäufer im Zug und komme deshalb nur noch selten dazu, an meinem Standort, bei der Coop-Filiale in Muri bei Bern, Surprise zu verkaufen. Das Schöne bei beiden Tätigkeiten ist, dass ich mich mit der Kundschaft unterhalten kann. Die Gespräche im Zug dauern aber nur so lange, wie ich das Gipfeli und den Kaffee serviere, dann muss ich mit meinem Wagen weiter. Der Kontakt zu den Menschen und das Reisen durch die Schweiz gefallen mir sehr. Ich bin normalerweise in den Zügen nach Zürich, Basel, Brig oder Genf unterwegs, entweder ab morgens um sechs oder ab zwei Uhr nachmittags. Wenn die Reise Richtung Westschweiz geht, begrüsse ich die Kunden mit ‹Bonjour!› und sage den Preis auf Französisch. Eine Frau war so nett und hat mir die wichtigsten französischen Wörter und Zahlen auf mein Handy gesprochen. So kann ich mir das jederzeit anhören, die Wörter wiederholen und nachsprechen. Um mein Deutsch laufend zu verbessern, habe ich immer ein kleines Notizbuch dabei. Dort drin stehen Begriffe, die ich noch im Wörterbuch nachschauen will, oder Wörter, bei denen ich noch nicht ganz sicher bin, was sie alles bedeuten können, zum Beispiel ‹anziehen›. Dieses Wort hat ja verschiedene Bedeutungen: ein Kleidungsstück anziehen, eine Schraube anziehen und so weiter. Der andere Grund, weshalb ich nicht mehr so oft Surprise verkaufe, ist meine Familie. Vor bald drei Jahren durften meine Frau und mein damals knapp vierjähriger Sohn zu mir in die Schweiz reisen. Um hierher zu kommen, mussten sie zuerst aus Eritrea flüchten und dann in Äthiopien warten, bis mit den Behörden und dem Roten Kreuz alles geregelt war. Erst dann – am 14. Januar 2011, das weiss ich noch genau – konnten sie von Addis Abeba nach Zürich fliegen. Ihre Ankunft war ein sehr emotionaler Moment für uns alle. Meine Frau und ich haben geweint, und der Junge hat sich vor mir gefürchtet, weil er mich nach der langen Trennung nicht mehr erkannte. Dafür fühlte er sich hier, wie das bei den Kindern ja meistens der Fall ist, schneller zuhause als meine Frau. Die neue Sprache, das fremde Essen, das kalte Klima bereiteten ihm keine Mühe. Mittlerweile ist er in unserem Dorf Rüfenacht in der ersten Klasse und spricht mit den andern Kindern Berndeutsch. Im Mai vor einem Jahr haben wir noch ein Mädchen bekommen. Meine Frau schaut im

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BILD: IMO

AUFGEZEICHNET VON ISABEL MOSIMANN

Moment noch zu den Kindern und besucht zweimal pro Woche einen Deutschkurs. Danach möchte auch sie eine Arbeit finden. In Eritrea hat sie in einer Wäscherei gearbeitet, vielleicht hilft ihr diese Erfahrung bei der Arbeitssuche. Unser Ziel ist es jedenfalls, so bald als möglich unseren Lebensunterhalt allein aus eigener Kraft zu verdienen. Meine Stelle als Minibar-Verkäufer habe ich mit Hilfe des Schweizerischen Arbeiterhilfswerks (SAH) gefunden, das in Bern den Kurs ‹coopera› zur beruflichen Integration anbietet. Ohne diese Unterstützung hätte ich die nötigen Bewerbungsunterlagen nie so zusammenstellen können, wie es in der Schweiz erwartet wird. Vor der konkreten Stellensuche haben wir jedoch noch abgeklärt, ob es für mich die Möglichkeit gibt, eine Berufslehre, zum Beispiel Polymechaniker, zu machen. Doch leider wird das in meinem Alter nicht mehr finanziert. Ich bin sehr zufrieden mit der Arbeit, die ich jetzt mache. Überhaupt fühle ich mich in der Schweiz sehr wohl, denn meine Familie und ich können hier in Frieden und Freiheit leben.» ■ SURPRISE 316/14


SurPlus – eine Chance für alle! Werden Sie Gotte oder Götti bei SurPlus Surprise kümmert sich um Menschen, die weniger Glück im Leben hatten. Menschen, die kaum Chancen auf dem ersten Arbeitsmarkt haben und ihr Leben in die eigenen Hände nehmen wollen. Mit dem Verkauf des Strassenmagazins Surprise überwinden sie ihre soziale Isolation. Ihr Alltag bekommt wieder Struktur und mehr Sinn. Sie gewinnen neue Selbstachtung und erarbeiten sich aus eigener Kraft einen kleinen Verdienst. Das verdient Respekt und Unterstützung. Das Spezialprogramm SurPlus ist ein niederschwelliges Begleitprogramm für ausgewählte Surprise-Verkaufende, die regelmässig das Strassenmagazin

verkaufen und hauptsächlich vom Heftverkauf leben. Diese Verkaufenden erhalten nur geringe soziale Ergänzungsleistungen und werden im Programm SurPlus gezielt vom Verein Surprise unterstützt: Sie sind sozial abgesichert (Ferien, Krankheit, U-Abonnement) und werden bei Problemen im oft schwierigen Alltag begleitet. Mit einer Patenschaft leisten Sie einen wesentlichen Beitrag für die soziale Absicherung der Verkaufenden und ermöglichen ihnen, sich aus eigener Kraft einen Verdienst zu erarbeiten. Vielen Dank für Ihr Engagement!

Andreas Ammann Bern

Jela Veraguth Zürich

René Senn Zürich

Marlis Dietiker Olten

Kurt Brügger Basel

Fatima Keranovic Basel

Josiane Graner Basel

Wolfgang Kreibich Basel

Tatjana Georgievska Basel

Bob Ekoevi Koulekpato, Basel

Marika Jonuzi Basel

Peter Gamma Basel

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Jovanka Rogger Zürich

Ralf Rohr Zürich

Anja Uehlinger Aargau

Ja, ich werde Gotte/Götti und unterstütze das SurPlus-Programm von Surprise! 1 Jahr: 6000 Franken

1/2 Jahr: 3000 Franken

1/4 Jahr: 1500 Franken

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1 Monat: 500 Franken

316/14 Talon bitte senden oder faxen an: Verein Surprise, Administration, Spalentorweg 20, Postfach, 4003 Basel, F +41 61 564 90 99, info@vereinsurprise.ch, PC-Konto 12-551455-3 SURPRISE 316/14

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Surprise ist: Hilfe zur Selbsthilfe Surprise hilft seit 1997 Menschen in sozialen Schwierigkeiten. Mit Programmen in den Bereichen Beschäftigung, Sport und Kultur fördert Surprise die soziale Selbständigkeit. Surprise hilft bei der Integration in den Arbeitsmarkt, bei der Klärung der Wohnsituation, bei den ersten Schritten raus aus der Schuldenfalle und entlastet so die Schweizer Sozialwerke.

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Eine Stimme für Benachteiligte Surprise verleiht von Armut und sozialer Benachteiligung betroffenen Menschen eine Stimme und sensibilisiert die Öffentlichkeit für ihre Anliegen. Surprise beteiligt sich am Wandel der Gesellschaft und bezieht Stellung für soziale Gerechtigkeit. Strassenmagazin und Strassenverkauf Surprise gibt das vierzehntäglich erscheinende Strassenmagazin Surprise heraus. Dieses wird von einer professionellen Redaktion produziert, die auf ein Netz von qualifizierten Berufsjournalistinnen, Fotografen und Illustratorinnen zählen kann. Das Magazin wird fast ausschliesslich auf der Strasse verkauft. Rund dreihundert Menschen in der deutschen Schweiz, denen der Arbeitsmarkt verschlossen bleibt, erhalten damit eine Tagesstruktur, verdienen eigenes Geld und gewinnen neues Selbstvertrauen.

24 Ausgaben zum Preis von CHF 189.– (Europa: CHF 229.– ) (Verpackung und Versand bieten StrassenverkäuferInnen ein zusätzliches Einkommen.) Gönner-Abo für CHF 260.–

Sport und Kultur Surprise fördert die Integration auch mit Sport. In der Surprise Strassenfussball-Liga trainieren und spielen Teams aus der ganzen deutschen Schweiz regelmässig Fussball und kämpfen um den Schweizermeister-Titel sowie um die Teilnahme an den Weltmeisterschaften für sozial benachteiligte Menschen. Seit 2009 hat Surprise einen eigenen Chor. Gemeinsames Singen und öffentliche Auftritte ermöglichen Kontakte, Glücksmomente und Erfolgserlebnisse für Menschen, denen der gesellschaftliche Anschluss sonst erschwert ist. Finanzierung, Organisation und internationale Vernetzung Surprise ist unabhängig und erhält keine staatlichen Gelder. Das Strassenmagazin wird mit dem Erlös aus dem Heftverkauf und mit Inseraten finanziert. Für alle anderen Angebote wie die Betreuung der Verkaufenden, die Sportund Kulturprogramme ist Surprise auf Spenden, auf Sponsoren und Zuwendungen von Stiftungen angewiesen. Surprise ist eine nicht gewinnorientierte soziale Institution. Die Geschäfte werden vom Verein Surprise geführt. Surprise ist führendes Mitglied des Internationalen Netzwerkes der Strassenzeitungen (INSP) mit Sitz in Glasgow, Schottland. Derzeit gehören dem Verband über 100 Strassenzeitungen in 40 Ländern an.

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Herausgeber Verein Surprise, Postfach, 4003 Basel www.vereinsurprise.ch Öffnungszeiten Sekretariat 9 – 12 Uhr, Mo – Do T +41 61 564 90 90, F +41 61 564 90 99 info@vereinsurprise.ch Geschäftsführung Paola Gallo (Geschäftsleiterin), Sybille Roter (stv. GL) Anzeigenverkauf T +41 61 564 90 90, M +41 76 325 10 60 anzeigen@vereinsurprise.ch Redaktion T +41 61 564 90 70, F +41 61 564 90 99 Reto Aschwanden (Nummernverantwortlicher), Florian Blumer, Diana Frei, Mena Kost redaktion@vereinsurprise.ch, leserbriefe@vereinsurprise.ch Ständige Mitarbeit Rosmarie Anzenberger (Korrektorat), Rahel Nicole Eisenring, Shpresa Jashari, Carlo Knöpfel, Yvonne Kunz, Stephan Pörtner, Milena Schärer, Isabella Seemann, Priska Wenger, Tom Wiederkehr, Christopher Zimmer Mitarbeitende dieser Ausgabe Monika Bettschen, Christoph Cadenbach, Manuela Donati, Stefan Michel, Isabel Mosimann, Dominik Plüss, Roland Soldi, Sarah Weishaupt Gestaltung WOMM Werbeagentur AG, Basel Druck AVD Goldach Auflage 17 000, Abonnemente CHF 189, 24 Ex./Jahr Marketing, Fundraising T +41 61 564 90 50 Christian von Allmen

Vertriebsbüro Basel T +41 61 564 90 83 Thomas Ebinger, Anette Metzner, Spalentorweg 20, 4051 Basel, basel@vereinsurprise.ch Vertriebsbüro Zürich T +41 44 242 72 11, M +41 79 636 46 12 Reto Bommer, Engelstrasse 64, 8004 Zürich, zuerich@vereinsurprise.ch Vertriebsbüro Bern T +41 31 332 53 93, M +41 79 389 78 02 Andrea Blaser, Alfred Maurer, Bruno Schäfer, Pappelweg 21, 3 Bern, bern@vereinsurprise.ch Strassenchor T +41 61 564 90 40, F +41 61 564 90 99 Paloma Selma, p.selma@vereinsurprise.ch Strassensport T +41 61 564 90 10 Lavinia Biert (Leitung), Olivier Joliat (Medien), David Möller (Sportcoach) l.biert@vereinsurprise.ch, www.strassensport.ch Vereinspräsident Peter Aebersold Wiedergabe von Artikeln und Bildern, auch auszugsweise oder in Ausschnitten, nur mit ausdrücklicher Genehmigung der Redaktion. Für unverlangte Zusendungen wird von der Redaktion und dem Verlag jede Haftung abgelehnt. Surprise behält sich vor, an Verkaufende gerichtete Postsendungen zu öffnen. Barspenden an namentlich bezeichnete Verkaufende können nur bis zu einem Betrag von CHF 100.– weitergeleitet werden. Darüber hinausgehende Beträge sollen – im Einverständnis mit der Spenderin oder dem Spender – allen Verkaufenden zugute kommen.

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BILDER: MARKUS CHRISTEN

Surprise Da läuft was Verkäufer-Weihnachtsfeier Saftige Überraschungen und würziges Essen Ein weihnachtlich geschmücktes und in ein Lichtermeer getauchtes Surprise-Büro empfing die Basler Verkäuferinnen und Verkäufer am 6. Dezember zur Weihnachtsfeier (die Feiern in Bern und Zürich fanden nach Redaktionsschluss statt). Aufgetischt wurde Inschera mit scharfen Saucen, ein Hirsefladenbrot aus Eritrea, zubereitet von SurpriseStrassenfussballer Abraham Mekasen, danach gabs ein reichhaltiges Dessertbuffet. Rund 35 Verkaufende aus Somalia, Eritrea, den Balkanländern und der Schweiz liessen es sich schmecken. Als besondere Überraschung schaute nach dem Essen der Santiglaus vorbei. Es wird gemunkelt, dass dieser nicht etwa aus dem Schwarzwald, sondern von der Strasse kam und dass er das Business des Surprise-Verkaufens aus eigener Erfahrung kennt. Deshalb wohl wusste er auch ganz genau, was die Anwesenden neben Süssigkeiten, Nüssen und Früchten gut gebrauchen konnten: Er brachte allen Verkäuferinnen und Verkäufern Thermowäsche gegen die Winterkälte mit. Die Herzen erwärmt haben dann zum Abschluss Heidi Gürtler und Mischi Chalon, welche die Gesellschaft mit Akkordeon und Gitarre zum Tanzen brachten. (ame)

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