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Heulsuse? Fussball-Arzt Felix Marti räumt auf mit Vorurteilen Am Rand der Demokratie – wie Wirtschaftsberater mitregieren

Sans-Papiers: das «Basler Modell» verspricht eine Lösung, die allen dient

Nr. 321 | 14. bis 27. März 2014 | CHF 6.– inkl. MwSt. Die Hälfte des Verkaufspreises geht an die Verkaufenden. Bitte kaufen Sie nur bei Verkaufenden mit offiziellem Verkaufspass.


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Titelbild: Nationalspieler Stephan Lichtsteiner, Keystone/Steffen Schmidt

Editorial Hart, aber fair

Dies hat den Fussballern unter anderem den Ruf eingebracht, wehleidige Simulanten zu sein. Felix Marti, seit 35 Jahren Teamarzt des FC Basel, sieht das anders. Im Interview ab Seite 10 erzählt er anschaulich, was die Spieler alles einstecken müssen. Und er verriet uns auch, was er konkret ändern würde, um den Fussball noch fairer zu machen. Zum Start ins Fussballjahr 2014 mit der WM in Brasilien (und dem Homeless World Cup in Chile, an dem auch dieses Jahr wieder ein Surprise-Team teilnehmen wird) baten wir Marti zum Gespräch über die schönste Nebensache der Welt.

BILD: ZVG

«Wir wollen fairen Sport» – mit diesen Lettern wurde einem als Fussball-Junior schon in den Achtzigerjahren auf grossen Transparenten schwarz auf gelb eingeimpft: Foulen und Simulieren tut man nicht. Je älter man wurde, desto wichtiger wurde das Siegen, auch den Trainern, und man bekam zu verstehen, dass die Regeln durchaus auch mal ein bisschen ausgereizt werden dürfen. Bei den Profis gehören taktische Fouls und psychologische Spielchen dazu.

FLORIAN BLUMER REDAKTOR

Ist Fairness im Fussball Gegenstand weltweiter Kampagnen, so ist sie in unserem Umgang mit Sans-Papiers ein Fremdwort geblieben. In der ganzen Debatte um die Masseneinwanderungsinitiative kamen und kommen sie noch nicht einmal vor. Denn es dürfte sie gar nicht geben, weil sie ohne Aufenthaltsbewilligung in unserem Land leben und arbeiten. Hundertausende sind es Schätzungen zufolge, die mitten unter uns leben, ohne elementare Grundrechte, dafür in ständiger Angst, entdeckt und ausgeschafft zu werden. Sie leben trotz allem hier: Weil sie nicht in ihre ursprüngliche Heimat zurück können oder wollen. Und weil wir kein Interesse daran haben, sie zurückzuschicken. Denn wir sind dringend auf ihre Arbeit angewiesen: in der Altenpflege, in den Küchen, auf den Felder der Bauern – harte Arbeit, für die sich sonst kaum jemand findet. Eine Institution, die sich seit zwölf Jahren dafür einsetzt, dass Regeln aufgestellt werden, die für beide Seiten fair sind, ist die Basler Anlaufstelle für Sans-Papiers. Für ihren pragmatischen Vorschlag, das «Basler Modell», wird sie in diesem Tagen mit dem «Prix Social» geehrt. Lesen Sie in diesem Heft, was es damit auf sich hat und was Betroffene über ihr Leben in der Schweiz berichten. Es ist zu hoffen, dass der Preis seinen Zweck erfüllt und jenen Auftrieb verleiht, die sich für eine faire Lösung im Umgang mit den Sans-Papiers einsetzen. Damit eines Tages auch für sie gilt, was auf unseren Fussballplätzen längst etabliertes Motto ist: Wenn es schon hart zu und her geht, dann auf jeden Fall fair. Mit sportlichen Grüssen, Florian Blumer

Surprise ist auf Spenden angewiesen. Auch auf Ihre! Herzlichen Dank. PC-Konto 12-551455-3 Ihre Meinung! Wir sind gespannt auf Ihre Kritik, Ihr Lob oder Ihre Anmerkungen. Schreiben Sie uns! Auf leserbriefe@vereinsurprise.ch oder an Verein Surprise, Redaktion, Spalentorweg 20, Postfach, 4003 Basel. Es werden nur Leserbriefe abgedruckt, die mit vollem Namen unterzeichnet sind. Die Redaktion trifft eine Auswahl und behält sich vor, Briefe zu kürzen. Oder diskutieren Sie mit uns auf www.facebook.com/vereinsurprise SURPRISE 321/14

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10 Fussball Erste Hilfe BILD: SACHA GROSSENBACHER/FC BASEL

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Inhalt Editorial Fairplay Basteln für eine bessere Welt Farbe bekennen Aufgelesen Ein persönlicher Eierbock Zugerichtet Überforderte Mutter Mit scharf! Die Folgen der Sparpolitik Starverkäufer Hans-Peter Meier Porträt Militanter Gourmet Wörter von Pörtner Regelverstösse Alexander Seiler Filmer und Ästhet Kultur Ritualisierte Gesellschaft Ausgehtipps Samenbank im Bild Verkäuferinnenporträt Anka Stojkov Projekt SurPlus Eine Chance für alle! In eigener Sache Impressum INSP

Wenn sich ein Rot-Blauer vor Schmerz am Boden windet oder ihm auch nur der Hals kratzt, ist Felix Marti zur Stelle, seit 35 Jahren. Im Interview beschreibt der FCB-Teamarzt die Fussballwelt von der Seitenlinie und vom Untersuchungszimmer aus: Er erklärt, wanns wirklich weh tut und wie man eine Schwalbe erkennt, plaudert über sein Verhältnis zu Spielern und Trainern und sagt, was er im Fussball ändern würde.

14 Demokratie Berater regieren mit Zum Beispiel Rorschach und St. Gallen: Wenn die Steuern (nur) für Gutverdienende gesenkt werden, wenn Debatten umgangen werden, wenn das Samichlausgeschenk gestrichen wird – dann wird «mit Unternehmertum regiert», wie SVP-Stadtpräsident Thomas Müller aus Rorschach stolz verkündet. Dahinter stehen Beraterfirmen mit lukrativen Mandaten. Der Markt dafür wächst, mit Risiken und Nebenwirkungen für die Bevölkerung.

BILD: ISTOCKFOTO

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ILLUSTRATION: PRISKA WENGER

18 Sans-Papiers Ein Leben in Angst

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Im Gegensatz zu anderen Ländern sperrt sich die Schweiz noch immer konsequent gegen eine Regularisierung von Menschen, die schon lange hier leben und arbeiten, sich aber vor den Behörden verstecken müssen. Die Anlaufstelle Basel setzt sich seit Jahren für sie ein, für ihr «Basler Modell» wurde sie nun ausgezeichnet. Sans-Papiers-Experte Pierre-Alain Niklaus erklärt, warum bei einer Umsetzung des Modells alle profitieren würden und drei Betroffene erzählen, wie es ist, ohne Rechte in der Schweiz zu leben.

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ILLUSTRATION: SIMON DREYFUS | WOMM

1. Suchen Sie sich drei Karten aus dem unvollständigen Spiel, das in jeder Küchenschublade herumliegt.

2. Schneiden Sie unsere drei Vorlagen aus und kleben Sie diese vorsichtig mit einem Leimstift auf die Jasskarten.

3. Fertig sind die Surprise-Zivilcourage-Karten. Nun können Sie in jeder Alltagssituation unkompliziert Farbe bekennen.

Basteln für eine bessere Welt Zivilcourage à la Carte Der Gefällt-mir-Klick auf Facebook ist eine billige Währung. Wer etwas auf seine Meinung hält, tut sie in der realen Welt sichtbar kund – zum Beispiel in der einfachen Sprache des Fussballs. Unser Tipp: Rot und Gelb sparsam und nur bei schweren Fouls einsetzen. Unsere exklusive grüne Karte für Herzerwärmendes hingegen darf man mehrmals täglich zücken. SURPRISE 321/14

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Aufgelesen News aus den 90 Strassenmagazinen, die zum internationalen Netzwerk der Strassenzeitungen INSP gehören.

Gute Schlepper Wien. «Der Schlepper ist ein Dienstleister, der eine sozial nützliche Tätigkeit verrichtet»: Dieser Satz, ausgedruckt und anonym bei der Polizei abgegeben, brachte dem Wiener Asyl-Aktivisten Michael Genner einen Prozess ein. Gutheissung einer Straftat, Höchststrafe zwei Jahre. Später konnte er präzisieren: «Viele meiner Klienten überlebten nur dank guter Schlepper.» Ein Flüchtling sagt: «Ein guter Schlepper achtet auf dein Leben, ein schlechter erpresst und betrügt dich.» Die Anklage gegen Genner wurde am Ende fallengelassen.

Kleines Luftschloss Graz. In der Rubrik «Haftnotizen» gibt Insasse Inot regelmässig Einblick in seine Gedankenwelt. Soviel steht fest: «Zum Grübeln gibts eh immer genug.» Und hinter Gittern beschäftigt ihn vor allem: Die Zeit danach. «Nirgends kann man besser Luftschlösser bauen als im Knast. Aber da draussen gibts halt die Realitäten», so Inot. Geld etwa. Oder die Frage nach dem Wohin. Neu anfangen? Zurück ins vertraute, aber vorbelastete Leben? «Vielleicht bau ich mir wieder mal ein kleines Luftschloss», schliesst er.

Eierbock für Strizzi Linz. Möchtegern-Zuhälter sind offenbar ein Thema auf dem Strich, wie eine Dame namens Lilli berichtet. Die «Strizzis» machen sich wichtig und «versuchen, bei den Mädchen Standgeld zu kassieren». Oder billigeren und ungeschützten Sex zu erzwingen. Lilli löste das Problem meist mit einem Anruf bei ihrem richtigen Zuhälter. Was nicht immer reichte: «Einer bekam von mir persönlich einen Eierbock, und ich habe ihn dann auch nie mehr gesehen.» Wir lassen das Österreichische hier für sich sprechen.

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Zugerichtet Wilde Kerle Bei der Urteilseröffnung kommt in dem sonst auch als Kühlschrank bekannten grossen Saal des Zürcher Obergerichtes etwas wie Wärme auf. Die Richter haben die Angeklagte grösstenteils freigesprochen, sitzen nun einfach da und gucken mit gelösten Mienen in die Luft. Die Somalisch-Übersetzerin strahlt, hat sie doch gerade ihre Feuertaufe am Obergericht bestanden. Traditionell gewandet, aber in breitestes Züridütsch übersetzend, hat sie den Gerichtspräsidenten, einen Schweizer Demokrat, entzückt. «Wir können nur mutmassen, was wirklich passiert ist», sagt der Gerichtspräsident bei der Urteilseröffnung. Meist reichen Mutmassungen nicht für einen Schuldspruch – aber hier lagen die Dinge etwas komplizierter. Aussage stand gegen Aussage – und zwar jene der angeklagten Mutter gegen die ihrer beiden Kinder. Die beiden damals sechs- und achtjährigen Buben wurden Mitte Februar 2012 aufgegriffen und zum Polizeiposten gebracht. Dort erhoben sie schwere Vorwürfe gegen ihre Mutter. Mit einem Staubsaugerrohr habe sie zugeschlagen, mit brennenden Zündhölzern ihre Zungen verletzt und ständig geschimpft. Die Behörden schritten ein, verhafteten die Mutter und entzogen ihr das Sorgerecht. Polizei und Staatsanwaltschaft befragten Kindergärtnerinnen, Klassenlehrerinnen, die Nachbarn und die Ärzte, die die zwei Buben etliche Male behandelt hatten – wegen diverser Knochenbrüche, Prellungen, Wunden. Der Fall schien klar, die erste Instanz verurteilte die Somalierin denn auch zu einer zweijährigen Haftstrafe. Mit samtener Stimme erzählte die 26-Jährige im Berufungsprozess, wie ihr 2009 die Flucht

in die Schweiz gelang. Ihre beiden Jungs blieben in der Heimat, erst beim Vater, und als dieser umkam, bei der Mutter der Angeklagten. Dann starb auch diese, und die beiden waren mehr oder weniger auf sich gestellt. Schliesslich schaffte es die Mutter 2011, ihre Buben in die Schweiz zu holen. «Herr Richter», sagt sie, «wenn ich meinen Kindern Böses wollte, hätte ich sie doch einfach in Somalia gelassen.» Sie räumte aber ein, dass sie viel habe schimpfen müssen. Komplett verwildert seien ihre Buben gewesen. Wenn sie sich nicht gegenseitig verprügelten, rauften sie sich mit andern. Überall seien sie hochgeklettert und runtergefallen. Genau dies bestätigten auch Lehrpersonen und Nachbarn. Auch im Kinderheim, wo die beiden nun sind, läuft es nicht anders. Wenn es nicht nach ihrem Willen geht, springen sie einfach aus dem Fenster. Oder sie büxen aus, wie zuvor von zuhause, und erzählen dann abenteuerliche Geschichten. Die Zeit hatte für die Angeklagte gearbeitet, ihre Version wurde immer plausibler. «Die Jungen kamen aus einem kriegsversehrten Land in die sichere Schweiz», resümierte der Gerichtspräsident, «aber auch von der Ziegenweide, wo sie tun und lassen konnten, was sie wollten, in eine Umgebung, in der es überall Regeln und Zäune gibt.» Dass da die Mutter, die die Aufgabe habe, ihnen diese Regeln beizubringen, zum Feindbild werden könne, leuchte ein. Ganz ausschliessen, dass die Mutter manchmal überreagiert habe, könne man nicht – doch das Gericht entlässt sie mit einer Busse für die Ohrfeigen, die sie zugegeben hatte, und dem Rat, sich doch das nächste Mal Hilfe zu holen, wenn ihre Buben ausser Rand und Band sind. YVONNE KUNZ (YVONNE.KUNZ@GMAIL.COM) ILLUSTRATION: PRISKA WENGER (PRISKAWENGER@GMX.CH) SURPRISE 321/14


Kommentar Die Ironie des Systems Die Ansprüche an den Staat steigen, gleichzeitig muss gespart werden. Eine Lücke, in der Wirtschaft und Politik aufeinanderprallen.

Vielleicht sind Sie Zeugin oder Zeuge einer Fusion geworden. Vielleicht hat sich Ihr Wohnort mit dem Nachbardorf zusammengeschlossen oder wurde der angrenzenden Stadt einverleibt. Dann haben Sie ein diffuses Phänomen der Moderne ganz konkret erfahren: Die Welt wächst dem Dorf über den Kopf. Immer komplexer werden die Aufgaben, die der Staat – auch seine kleinste Einheit, die Gemeinde – zu erfüllen hat (Seite 17). Es muss nicht gleich eine volle Fusion sein: Eine Schweizer Gemeinde arbeitet in durchschnittlich 8,6 Politikbereichen mit anderen Gemeinden zusammen – ein Spitzenwert im europäischen Vergleich. Am stärksten ausgeprägt ist die sogenannte interkommunale Zusammenarbeit bei der Feuerwehr und bei der Spitex. Andere Bereiche sind etwa Antennenanlagen, Energiebetriebe, Schul-, Kirch- und Sozialgemeinden oder die Gemeindepolizei. Der Bürger der Moderne ist einer mit Anspruch: Kita und Altenpflege, Hochgeschwindigkeitsinternet und Autobahnanschluss, Heilpädagogik und Taktfahrplan sind heute auch in den hintersten Winkeln des Landes eine Selbstverständlichkeit. Eine Selbstverständlichkeit, auf welche die Schweiz stolz sein darf. Ebenso selbstverständlich fordern viele einen schlanken Staat. Einen Staat also, der möglichst nichts kostet. Zwar haben gut 70 Prozent der Schweizer Gemeinden in den letzten Jahren ihre Verwaltungen ausgebaut. Die Ressourcen hinken der gestiegenen Komplexität und den Erwartungen trotzdem weit hinterher. Die Verwaltung muss immer mehr leisten – und erhält die dafür nötigen Stellen nicht bewilligt. Kein Wunder brauchen Politiker und Beamte in dieser Lücke zwischen Anspruch und Ressourcen Hilfe. Wenn das Milizsystem an seine Grenzen kommt, tritt der Unternehmensberater auf. Firmen wie PwC und KPMG sind die bekanntesten Exponenten einer

Nominieren Sie Ihren Starverkäufer! Schreiben Sie uns mit einer kurzen Begründung, welche/n Verkäufer/in Sie an dieser Stelle sehen möchten: Verein Surprise, Redaktion, Spalentorweg 20, Postfach, 4003 Basel, F +41 (0)61 564 90 99, redaktion@vereinsurprise.ch

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Branche, die ihr Geld unter anderem damit verdient, dass sie im Notfall schnell mit Fachwissen und Personal zur Stelle ist (ab Seite 14). Zahllose weitere kleine und grosse Beratungsunternehmen mischen ebenfalls mit in einem Markt, der stetig wächst. Was rechtlich unbedenklich ist, hat das Potenzial eines politischen Problems: Mit der Auslagerung von Aufgaben und Kompetenzen verliert der Staat auf die Dauer wertvolles Know-how. Und die Bevölkerung verliert die demokratische Kontrolle – oder zumindest die Kontrolle darüber, wie viel Demokratie noch übrig ist. Denn vieles spielt sich hinter den Kulissen ab. Und in der Welt der Manager und Sanierer herrschen Ideen und Ideologien, die unvereinbar sind mit einem demokratischen Staat für alle. Exemplarisch dafür steht eine Aussage, mit der sich PwCVerwaltungsratspräsident Markus Neuhaus darüber beklagt, dass es Unternehmen zum moralischen Vorwurf gemacht werde, wenn sie zum Beispiel im Ausland Steuern sparen: «Völlig offen bleibt dabei, welche Moral vorgehen soll.» Offenbar also gibt es zweierlei Moral. Wie jene der Unternehmen aussieht, schiebt Neuhaus gleich nach: «Auch gilt es zu berücksichtigen, dass Steuern für Unternehmen Kosten darstellen.» Eine andere durchaus plausible Sichtweise wäre: Steuern sind eine Investition in die Infrastruktur. Die Aussage zeigt, dass der Berater nicht neutral ist. PwC setzt sich für immer tiefere Steuersätze ein. Und verdient dann mit, wenn die Verwaltung einer Gemeinde oder eines Kantons ein Mandat zur Entwicklung eines Sparprogramms vergibt. Bezahlt wird dieses Mandat selbstverständlich mit Steuergeldern. Man kann dies im besten Fall als Ironie des Systems betrachten. ■ Zum Thema: «Manager im Gemeindehaus», S. 14 «Das Geschäft mit dem Staat hat Zukunft», S. 17

BILD: ZVG

VON AMIR ALI

Starverkäufer Hans-Peter Meier Mike Shann aus Zürich schreibt: «Hans-Peter Meier ist ein Star, nicht weil seine Verkaufsmethoden besonders auffällig sind, sondern weil er den gehetzten Leuten am Bellevue geduldig Surprise anbietet und für jedes verkaufte Heft sehr dankbar ist. Dabei ist er immer angenehm diskret, plaudert aber auch gerne mal über den Inhalt des aktuellen Heftes oder die Ereignisse vor Ort. Ich wünsche ihm alles Gute und weiterhin viel Erfolg mit dem Verkauf von Surprise!»

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Porträt Black is beautiful Kaffeeröster und Meister-Barista Shem Leupin hat eine Mission: den Zürchern die Kunst des Kaffeegenusses beizubringen. Er selbst trinkt nicht viel Kaffee. Aber wenn, dann schwarz, ohne Zucker. Alles andere hält er für ein Übel. VON MANUELA DONATI (TEXT) UND ANDREA GANZ (BILD)

deres Platz hat, erstaunt nicht. Auf die Frage nach einem Hobby antwortet er: «In meinem Leben dreht sich alles um den Kaffee. Ich neige dazu, ein bisschen militant zu sein – meine Freundin beschwert sich manchmal deswegen.» Vielleicht wäre er produktiver und effizienter, gäbe es einen Ausgleich zu seiner Kaffee-Leidenschaft, gibt er zu. Aber: «So bin ich eben.» Und immerhin führte ihn die Beharrlichkeit, mit der er seinen Beruf verfolgt, letztes Jahr zum Titel des Barista-Schweizermeisters. Ganz oder gar nicht, nach diesem Motto scheint Shem Leupin zu leben. So kam er als 18-Jähriger alleine aus Australien in die Schweiz. Seine Eltern und Geschwister, mit denen er als Vierjähriger von Luzern in den australischen Outback zwischen Sydney und Canberra gezogen war, liess er zurück. «Ich wollte damals einfach weg aus der Enge und der Kulturarmut in der australischen Kleinstadt.» Luzern und die Schweiz hielt er aus der Ferne für das Zentrum Europas – und merkte dann schnell, dass er doch nicht in einer Weltstadt gelandet war, wie er es sich gewünscht hatte. «18 ist extrem jung für so einen grossen Schritt. Aber ich war impulsiv und vielleicht etwas naiv», so Shem Leupin

Mit seiner Schirmmütze, dem Schnauz und seinem Arm voller Tattoos könnte man sich Shem Leupin gut als Matrose auf einem Hochseefrachter oder als Mitglied einer Rockabilly-Band vorstellen. Eine andere Assoziation ist diejenige mit dem Nescafé-Mann, der in den Neunzigerjahren mit der Aussage «Isch habe doch gar keine Auto, Signorina» Frauen zum Schmelzen und zum Kaffeetrinken brachte. Sänger in einer Band war der 32-Jährige tatsächlich einmal – «ich würde sagen, ich war nicht sehr gut», kommentiert er –, das Stichwort Kaffee dagegen trifft bei Shem Leupin ins Schwarze. Allerdings hat er nichts mit pulverfertigem Cappuccino am Hut: Shem Leupin ist leidenschaftlicher Verfechter einer neuen, qualitätsorientierten Kaffee-Kultur. Dabei geht es ihm nicht um tassenhohen Milchschaum oder um kunstvolle Zeichnungen auf dem Milchkaffee. Er will, dass Kaffee wieder um des Kaffees willen getrunken wird, dass es also um das Aroma der Kaffeebohne geht. Und das sei nur möglich, wenn dieses nicht von Zucker und Milch dominiert wird. «Den Kaffee mit Zucker zu trinken ist für mich dasselbe Übel, wie wenn jemand Zucker in den Wein «In meinem Leben dreht sich alles um den Kaffee. Ich neige dazu, mischen würde», sagt er. Shem Leupin möchein bisschen militant zu sein.» te, dass die Zürcher besseren Kaffee trinken. Damit das passiert, muss seiner Meinung nach rückblickend. Dennoch war die erste Zeit spannend, alles neu und aufein Umdenken in der Gastronomie passieren. «Viele denken, für guten regend. Da er schon ein bisschen Schweizerdeutsch sprach und bei BeKaffee braucht man einfach eine gute Maschine. Geschultes Personal kannten unterkommen konnte, lebte er sich schnell ein, begann eine und qualitativ hochwertige Zutaten gehören aber genauso dazu.» Goldschmiedelehre. Aus Heimweh brach er diese ab – nur um dann Und mit diesen Zutaten, genauer gesagt mit der Kaffeebohne und doch in der Schweiz zu bleiben. Er zog nach Zürich, wo er das fand, ihrer Röstart, befasst er sich in seiner Funktion als Developer bei der weswegen er in die Schweiz gekommen war: eine schnelllebige und inRösterei Stoll: Er kümmert sich unter anderem um den Einkauf und die novative Stadt, einen neuen Freundeskreis. Er begann in der Sportsbar Auswahl der Kaffeebohnen und besucht regelmässig die Plantagen, von im Kreis 4 zu arbeiten, wo ihn seine Chefin in seiner Kaffee-Leidendenen die Rösterei ihren Kaffee bezieht. Wer nun denkt, Shem Leupin könne ohne eine Tasse Kaffee nicht in schaft unterstützte und Experimente und Veränderungen zuliess. Ganz den Tag starten und sei den ganzen Tag am «Käfele», der irrt. «Ich brauoder gar nicht, so scheint es Shem Leupin auch beim Thema Heimat zu che eigentlich wenig Kaffee. Es kann gut sein, dass ich in den Ferien eine halten. Er ist keiner dieser Heimweh-Australier, die schachtelweise die ganze Woche lang keinen Kaffee trinke.» Oft müsse er aus beruflichen Nationalwürze Vegemite importieren – «nach einem Bissen davon habe Gründen bis zu dreissig Tassen am Tag trinken, an Genuss sei dabei ich wieder genug für ein Jahr», meint er dazu. nicht immer zu denken. Reist er aber nach Italien, hat er seinen eigenen Erst nach sechs Jahren in der Schweiz flog er zum ersten Mal wieder Kaffee immer im Gepäck – für Shem Leupin ist Italien nicht das Kaffeenach Australien. Und stellte erstaunt fest, dass dieser ihn sein kleiner Mekka, für das es so oft gehalten wird. «Italien hat zwar eine EspressoBruder nun überragte: «Als ich ihn das letzte Mal gesehen hatte, war er Kultur, was aber nicht heisst, dass der Kaffee besser ist.» Wenn Shem 13, nun 19 Jahre alt. Da habe ich schon gemerkt, dass ich etwas verpasst Leupin über die Kaffee-Kultur philosophiert, wird deutlich: Sein Beruf habe.» Dennoch ist klar, dass er Zürich als Verfechter der Kaffee-Kultur ist mehr als ein Job. «Beim Kaffee gibt es so viele unterschiedliche Benoch eine Weile erhalten bleiben wird. Auch weil das Bewusstsein für reiche, vom Anbau bis zum kreativen Prozess. Das ist wahnsinnig spanSpezialitäten-Kaffee in Australien schon weiter verbreitet ist als in der nend. Für mich hat Kaffee eine coole, ja gar glamouröse Seite.» Um stets Schweiz: «Hier gibt es noch etwas zu tun für mich.» Vielleicht wird er auf dem neuesten Stand zu sein, bildet sich der Autodidakt ständig weischon bald mit seinem eigenen Café dafür sorgen, dass die Zürcher ihr ter und tauscht sich mit Gleichgesinnten aus. Dass daneben wenig anKaffee-Trink-Verhalten ändern. ■

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BILD: SACHA GROSSENBACHER/FC BASEL

Trost vom Doktor (hier für FCB-Verteidiger Philipp Degen): «So ein Schlag auf die Knochenhaut tut einfach sehr weh.»

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Fussball Wenn die Knochen krachen Seit 35 Jahren drückt Felix Marti (61) bei jedem Heimspiel des FC Basel die Bank – nicht als Ersatzspieler, sondern als der Mann, der zur Stelle ist, wenns auf dem Platz kracht. Und dies passiert ziemlich häufig: Sportarzt Marti räumt mit dem Vorurteil auf, dass Fussballer Simulanten sind.

INTERVIEW VON FLORIAN BLUMER

Es pressiert immer, weil man immer möglichst bald eine Diagnose haben muss, damit man auch eine Prognose hat, wie lange der Spieler ausfällt.

Wer mit dem Tram vom Bahnhof Basel zu Felix Martis Allgemeinarztpraxis in Muttenz fährt, der kommt auf halbem Weg an seiner zweiten Ist das Fussball-Geschäft hektischer geworden? Hatte man früWirkungsstätte vorbei: dem St. Jakob-Park oder «Joggeli», Heimstadion her mehr Zeit? des FC Basel. Ganz im Gegensatz zur repräsentativen Heimat des SerienPressiert hat es schon immer – wenn sich ein Spieler verletzt, kann Schweizermeisters ist Martis Praxis eine eher unscheinbare Angelegenman ihm nicht in zwei Tagen einen Termin geben. Das war schon imheit. Wären da nicht diverse FCB-Insignien, die den stolzen Teamarzt mer so. Heute ist das öffentliche Interesse einfach viel grösser. Als sich wie den langjährigen Fan verraten: da ein Wimpel mit den UnterschrifMarco Streller im Trainingslager verletzte, nähte ich ihn in der Kabine. ten der Spieler, dort ein Bild von Team-Captain Marco Streller mit der Als ich rauskam, standen fünf Journalisten da, die wissen wollten: Was Aufschrift «Danke für alles», hier eine überdimensionierte Taschenuhr hat er, wie lange fällt er aus? mit eingraviertem «Dangge» von Trainer Murat Yakin, dort ein Minipokal «Schweizer Meister 1980». Wenn Marti von seiner Arbeit mit dem FC Basel erzählt, leuchten «Der Primeur scheint den Medien sehr wichtig. Die Meldung seine Augen, und seine Begeisterung für den muss offenbar nicht einmal stimmen.» Sport und den Verein wird mit Händen greifbar. Felix Marti, der Job des FCB-Teamarztes scheint eine Art Familienangelegenheit zu sein: Schon Ihr Vater und Ihr Onkel übten dieses Amt aus. War Ihr Weg vorbestimmt? Na ja … mein Onkel wurde 1965 FCB-Teamarzt, mein Vater half ihm, ich ging immer an die Spiele. Dann 1979, das war bei mir gerade ums Staatsexamen rum, flog der FCB nach Haiti und Antigua ins Trainingslager und keiner der beiden konnte mit. Da meinten sie, ich könne das ja machen. Der Trainer hatte nichts dagegen. Das wurde dann meine Feuertaufe: In Haiti lag die halbe Mannschaft krank im Bett. Seither bin ich dabei. Ihr Hauptjob ist das Führen einer Allgemeinarztpraxis. Wie passt da Ihr Engagement als Fussballarzt hinein? Primär bin ich 24 Stunden am Tag für die Spieler und das Umfeld erreichbar. Wir sind aber heute ein Dreierteam von Sportärzten, welches das Tagesgeschäft abdeckt. Ich bin bei jedem Heimspiel dabei, die Auslandspiele und Trainingslager teilen wir uns auf. Eigentlich bin ich fast jeden Tag mit dem FCB in Kontakt, er ist Teil meines Lebens. Wenn irgendetwas ist, ruft man mich an, irgendjemand kommt schnell vorbei. SURPRISE 321/14

Wie haben Sie den Medien-Hype um Michael Schumachers Skiunfall erlebt? Die Rolle der Medien wurde hart kritisiert. Die Medien machen ja nur, was der Konsument will. Alle schimpfen über die Medien, aber lesen tun sie die Storys dann trotzdem. Was ich bei den Medien nicht verstehe … ich sage manchmal: Wartet doch noch einen Tag, dann wissen wir es besser, dann habt ihr die Wahrheit. Aber der Primeur scheint ihnen sehr wichtig. Die Meldung muss offenbar nicht einmal unbedingt stimmen. Sie sind seit Jahrzehnten ein naher Beobachter des Fussballgeschehens. Eine grosse Veränderung ist, dass es heute um viel mehr Geld geht. Trauern Sie manchmal den alten Zeiten nach? Nein. Ich kann ja nicht den Rhein hinaufschwimmen … Aber es ist schon erstaunlich, wie sich das Ganze entwickelt hat. Wenn unser FC Basel plötzlich riesige Transfergewinne macht – da sind schon Summen im Spiel, die früher undenkbar waren. Aber das Spiel an sich ist immer noch dasselbe: 22 Spieler und ein Ball. Weil das Interesse der Öffentlichkeit gestiegen ist, die Champions League sehr erfolgreich ist, ist halt auch der Marktwert gestiegen.

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Was würden Sie im Fussball gerne ändern? Mein oberstes Ziel wäre, dass der Schiedsrichter gestärkt wird, dass es auf dem Fussballplatz gerechter zu und her geht. Wenn die ganze Welt gesehen hat, wie Basel in der Champions League vier Schalke-Spieler genial ins Offside gestellt hat – das sind Profis aus der Bundesliga, und die standen dort wie die Deppen im Offside. Nur waren dann die Basler die Deppen, weil der Schiri das Offside nicht gegeben hat –, dann regt mich das auf, wenn es heisst, dass es die Attraktivität des Fussballs erhöht, weil darüber diskutiert wird. Ich finde, es sollte eher über schöne Tore diskutiert werden! Da verstehe ich nicht, dass nicht endlich der Videobeweis eingeführt wird. Kameras sind ja sowieso da. Da müsste man endlich über den Schatten springen und die technischen Hilfsmittel nutzen, die man hat, wie in der Medizin.

die guten Fussballer manchmal gefoult werden, Lionel Messi zum Beispiel. Obwohl er weiss, der andere will mich ausschalten, geht er trotzdem jedes Mal wieder in den nächsten Zweikampf. Dennoch: Wenn ein Spieler aufschreit, sich windet – nach drei Minuten aber wieder aufsteht und frischfröhlich losrennt, denkt man: So schlimm kann das nicht gewesen sein … Am Anfang tut so ein Schlag auf die Knochenhaut einfach sehr weh, wenn Schienbein auf Schienbein oder Stollen auf Schienbein trifft. Und wenn du mit Eiswasser kommst, geht es dem Spieler nach zwei, drei Minuten viel, viel besser. Schmerzt es Sie manchmal, wenn Sie mitansehen und -hören müssen, wie sich ein Spieler am Boden wälzt, der offensichtlich starke Schmerzen hat, während ihn das halbe Stadion auspfeift? Das ist halt ein Teil der momentanen Fussballkultur. Auch Strelli (Marco Streller) haben sie ausgepfiffen gegen Feyenoord Rotterdam, als er nach seinem Tor in den Pfosten gesaust ist und am Boden lag. Als wir dann vor der gegnerischen Fankurve durchgingen, höhnten sie von den Rängen herunter und buhten ihn aus. Marco lachte ihnen zu und machte eine Geste, zeigte auf seine Verletzung, er blutete. Da kehrte die Stim-

Sie sprechen ganz selbstverständlich über FCB-Spiele gegen Schalke und Chelsea – Sie haben aber selber miterlebt, wie der heutige Ligaprimus in der Nationalliga B dümpelte und trotz grosser Zuschauerunterstützung jahrelang nicht aus dem Loch herauskam. Wie haben Sie diese Zeit erlebt? Der Abstieg 1988 war natürlich ein Weltuntergang. Da sind alle davongelaufen, es war alles am Auseinanderfallen. Man riet uns, Konkurs anzumelden und in die 5. Liga abzusteigen. Wir sind sechs Jahre durch die Häme der Na«Wenn man nahe am Spielfeldrand ist, hört man es manchtion gegangen. Wir spielten auch schlecht, vermal krachen. Man ist erstaunt, wie die zur Sache gehen, da loren 4:0 gegen Pratteln im Schweizer Cup! Es stieben die Funken.» war wirklich eine sehr harte Zeit. Als es dann endlich klappte mit dem Aufstieg, als wir gemung plötzlich, die Fans lachten zurück. Und man hat gesehen: Das gen Chênois den entscheidenden Punkt holen konnten, sind wir in Genf Ganze ist Teil eines Schauspiels. mit der Crossair abgeholt worden. Das war ein Supererlebnis. Auch der Empfang in der Stadt ist mir immer noch in Erinnerung, das war unSie stehen seit 35 Jahren am Spielfeldrand. Erkennen Sie eine glaublich. Dann, als das neue Stadion kam, mit Trainer Christian Gross, Schwalbe – und wissen, der braucht eigentlich keine Hilfe? ging es los. Ich weiss noch, Gross verteilte zu Beginn T-Shirts, auf denen Es wäre überheblich, wenn ich sagen würde, dass ich es immer stand: I have a dream, Champions League. Wir dachten: Ok, man muss sehe … aber wenn ich sehe, wie es passiert ist, wie der Spieler in den sich die Ziele hoch setzen, wenn man sie im Leben erreicht, sind sie zu ersten paar Sekunden des Geschehens reagiert, dann weiss ich häufig tief gesetzt. Heute ist der FCB in der Champions League fast zur Norsofort, ob da wirklich etwas passiert ist. Klar erkennt man zum Teil malität geworden. auch eine Schwalbe. Aber auch der Schiedsrichter hat ja oft Mühe, eine Schwalbe zu erkennen, weil sie zum Teil sehr geschickt sind. Fussballer stehen eher im Ruf, Diven und Simulanten zu sein. Wie sehen Sie das, als Teamarzt? Sie erkennen es nicht besser als ein Schiedsrichter? Wenn ein Fussballspieler sagt, dass er bei einem Sprint einen einSicher nicht. Aber ich kann abschätzen, ob es wirklich geknallt hat. schiessenden Schmerz in der Wade spürte, dann wäre es Blödsinn, Wenn du es bei einem Kopfballduell krachen hörst und einer regungswenn er den harten Typen markieren würde. Man nimmt ihn raus, dalos liegen bleibt, dann weisst du: Es pressiert. Ich bin immer froh, wenn mit die Verletzung, die sich angekündigt hat, nicht beim nächsten ich beim Spieler eintreffe und er sich bewegt und bei Bewusstsein ist. Schritt so reisst, dass er statt zwei gleich sechs Wochen ausfällt. Das sind keine Simulanten. Es ist höchstens so, dass man, wenn man in FühSie mussten auch schon einmal einem Spieler die Zunge aus dem rung liegt, einen Tick länger liegen bleibt. Hals nehmen, der ohnmächtig war … Ja, das war der damalige FCB-Goalie Stefan Huber, der beim RausgeKommen Sie sich da manchmal wie ein Komplize vor, wenn Sie hen mit einem Spieler zusammenknallte. Er blieb auf dem Rücken liemerken: So schlimm kanns nicht sein, aber jetzt dauert das Spiel gen. Als ich da hinkam, schnappte er nach Luft und hatte die Zunge im noch drei Minuten und unsere Mannschaft muss unbedingt das Hals. Das ist zum Glück sehr selten, aber da pressierte es. In einer solUnentschieden über die Runden bringen … chen Situation wartest du auch nicht, ob dich der Schiri reinlässt. Ich wäre dafür, dass man in der zweiten Halbzeit die Zeit anhält, wenn einer gepflegt werden muss. Das würde ein Stück der Hektik, der Stichwort Doping: Haben Sie schon erlebt, dass Spieler zu Ihnen Ungerechtigkeit, der Schauspielerei rausnehmen – sofern es das übergekommen sind und fragten, ob Sie nicht was für sie hätten? haupt im grossen Stil gibt. Wie gesagt: Fussballer müssen sehr viel einEigentlich nicht, weil ganz klar ist, dass sie bei mir nicht fragen müsstecken. Eine Zeit lang fotografierte ich die Verletzungen. Wenn ich sen. Ich gebe ja dauernd Medikamente ab, wenn sie krank oder verletzt manchmal Marco Strellers Schienbeine nach dem Match sehe … trotz sind. Da ist mir immer die Dopingliste präsent, damit ich ihnen nichts Verder Schienbeinschoner hat er Abdrücke von den Stollen des Gegners an botenes gebe. Die Spieler haben die Weisung, dass sie kein Medikament den Beinen. Die sind sehr hart im Nehmen. Wenn man nahe am Spielnehmen dürfen, ohne es mit uns abzusprechen. Aber beim Fussball … du feldrand ist, hört man es manchmal krachen. Man ist erstaunt, wie die kannst den Steilpass nicht besser spielen oder die Finte im Strafraum, die zur Sache gehen, da stieben die Funken. Da ist nichts mit Weicheiern kannst du nicht verbessern mit Doping. Du kannst wahrscheinlich die oder so. Es ist bewundernswert, was die einstecken. Wenn ein Spieler Ausdauer steigern – aber die Spieler werden streng kontrolliert. Angst hat reinzugehen, dann spielt er auch schlechter. Man sieht ja, wie

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Das funktioniert mit den Kontrollen? «Ich verstehe nicht, dass nicht endlich der Videobeweis einJa, natürlich. Die kommen unangemeldet geführt wird. Man müsste die technischen Hilfsmittel nutzen, ins Training, neuerdings wird nicht nur eine die man heute hat, wie in der Medizin.» Urinprobe, sondern auch eine Blutprobe entnommen. In der Europa League und in der Ein medizinischer Tipp? Champions League werden praktisch bei jedem Match zwei Spieler jeAuf dem Asphalt sind sicher Schürfungen ein Problem. Auf jeden Fall der Mannschaft kontrolliert. sollten sie Schienbeinschoner tragen und es sollte geschaut werden, dass es ums Spiel geht und nicht ums Siegen. Ein gesunder Ehrgeiz ist Haben sich im Laufe der Jahre auch Freundschaften mit Spielern gut, aber nicht auf Kosten der Fairness. entwickelt? Ja, das ist das Schöne daran, dass ich FCB-Doktor bin. Von vielen Fans schwören dem FCB auf Transparenten «ewigi Treui». Gilt ehemaligen Spielern und auch Trainern, die in der Region geblieben dies auch für Sie? sind, bin ich immer noch Hausarzt. Oder andere kommen zu mir für eiAlso Treue sowieso. Ich bin schon so lange dabei, aber noch kein bissnen Check, wenn sie gerade hier sind. Ich frage die heutigen Spieler chen müde. Die Frage ist, wann fertig ist, wann ich nicht mehr immer manchmal: Könnt Ihr Euch noch erinnern an den oder den? Dann stauan vorderster Front dabei und immer erreichbar sein kann, auch aus gene ich manchmal, wie schnelllebig das Ganze ist. Stars aus den Siebzisundheitlichen Gründen. Aber so lange ich mich fit fühle und so lange ger- und Achzigerjahren wie Rivelino oder Zico zum Beispiel, die kenich die Akzeptanz spüre, das Vertrauen der Clubleitung, der Spieler, des nen die jungen Spieler heute nicht mehr. Oder auch den langjährigen Umfelds, so lange wir ein Team haben, das am gleichen Strick zieht, so FCB-Erfolgstrainer Helmut Benthaus, wenn sie nicht aus der Region lange ich so den Plausch daran habe – werde ich dabeibleiben. sind. Ich habe sehr viel Kontakt auch mit ehemaligen Trainern. Das ist ■ toll, wir sind eine grosse Familie. «Arzt aus Leidenschaft und Freund» Bei Surprise gibt es die Strassenfussball-Liga für sozial BenachMarco Streller, Captain des FC Basel, hatte teiligte: Was raten Sie jemandem, der anfängt Fussball zu spielen? schon mehrfach intensiv mit Felix Marti zu Ich finde das sehr positiv. Gerade wegen der Lebensfreude: Sie betun. Er sagt: «Felix Marti ist Arzt aus Leidenwegen sich, bauen Beziehungen untereinander auf, sie müssen einen schaft und mittlerweile ein Freund von mir geTeamgeist entwickeln. Derjenige, der gut ist, spürt Anerkennung, das worden. Er ist 24 Stunden verfügbar, was wir stärkt das Selbstwertgefühl. Es gibt Leute, die in dieser Hinsicht im Allalle enorm schätzen. Eine kleine Anekdote: tag sehr viel ertragen müssen. Wenn sie im Fussball ein Betätigungsfeld An meinem 30. Geburtstag haben wir ihn fast finden, in dem sie sich ausleben können, sehe ich das nur positiv. nicht mehr von der Tanzfläche bekommen.»


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Demokratie Manager im Gemeindehaus Sie sind Wirtschaftsberater und agieren hinter den Kulissen: Die Leute der Firma PricewaterhouseCoopers gewinnen immer mehr Einfluss auf die Politik, wie Beispiele aus der Ostschweiz zeigen. VON RALPH HUG

Der Beamer summt. Auf der Leinwand steht gross zu lesen: «Ist Erfolg öffentlicher Institutionen eine Frage der Wandelfähigkeit?» Wir sind im noblen St. Galler Kongresszentrum Einstein. Eine Schar Regierungsräte, Stadtpräsidenten, Chefbeamte und Verwaltungsfachleute hat sich versammelt. Sie kommen aus der ganzen Ostschweiz und dem angrenzenden Ausland. Gastgeber ist die Beratungsfirma PricewaterhouseCoopers, besser bekannt unter dem Kürzel PwC. PwC Ostschweiz hat zum «1. Public Forum» geladen. Das Einstiegsreferat suggeriert Dramatik: «Durchstarten oder notlanden?» lautet der Titel. Doch es folgt kein Thriller, sondern ein Schwall von ManagementChinesisch. PwC-Mann Roland Schegg deckt die Zuhörerinnen und Zuhörer mit Begriffen wie Arbeitshypothese, Multidimensionalität, Handlungsoptionen, Zielfokus, strategische Erfolgsfaktoren, Kernaktivitäten, Leadership, Führungspyramide, Kompetenzebenen, Businessplan und SWOT-Analyse ein. Schegg erläutert auch, wie der strategische Führungsprozess im Wechselspiel Effektivität versus Effizienz verstetigt werden kann. Wie bitte? Jedenfalls klingt Scheggs Schlussfolgerung simpel: «Einfachheit ist gefordert!» Um das zu erreichen, müsse man sich zuerst «durch die Tiefen der Komplexität durcharbeiten». Und das bedeute harte Arbeit, so Schegg. Wer hätte das gedacht?

Müller eine Powerpoint-Folie: Der Stadtrat ist der Verwaltungsrat und die Amtsleitungen sind die Geschäftsleitung. Rorschach ist eine Firma geworden und Müller ihr CEO. Aber wohin steuert er die Rorschach AG? Die Stadt soll von aktuell gut 8800 wieder auf 10 000 Einwohner wachsen, ferner die Seesicht als Marke propagieren und die Steuersätze für mittlere und hohe Einkommen senken – also für die Gutverdienenden. Von Normalverdienern ist nicht die Rede. Projekt 1.14: Streichung der Samichlaus-Überraschung Braucht auch St. Gallen, das urbane Zentrum der Ostschweiz, einen Turnaround? Nein, hier geht es laut Stadtpräsident Thomas Scheitlin (FDP) darum, ein drohendes Loch in der Kasse abzuwenden. Das Motto müsse «Agieren statt reagieren» lauten. Deshalb stellt er der Versammlung keinen Businessplan, sondern ein Sparprogramm namens «Fit13plus» vor. Man staunt: Von diesem ominösen Programm waren bis zu diesem Tag immer nur Bruchstücke an die Öffentlichkeit gelangt. Selbst Parlamentsmitglieder rätselten über den Inhalt. Und nun, an der PwC-Tagung, werden sogar Details ausgebreitet. Die Teilnehmenden erfahren, dass es sich um ein 35-Millionen-Sparprogramm handelt, das nach Möglichkeit ab sofort umgesetzt wird. Scheitlin gibt sogar Einblick in intime Details, die später in der GPK des Stadtparlaments, und dort auch nur nach hartnäckigem Nachfragen einzelner Mitglieder, auf den Tisch gelegt werden sollten. Am «Public Forum», dem Ort der Eingeweihten, weiss man schon, dass etwa die Schulverwaltung mit dem Projekt «1.14 Streichung der Samichlaus-Überraschung» befasst ist oder dass der Bausekretär den «80–100%-Einsatz von Recyclingpapier» prüfen muss. Nur die Öffentlichkeit weiss das zu diesem Zeitpunkt nicht. Sie erfährt es erst ein halbes Jahr später. Eigentlich geht sie das auch gar nichts an. So zumindest sieht es die ökonomische Denkart vor, wie sie von PwC für öffentliche Körperschaften als probates Tool proklamiert wird. Danach ist ein Gemeinwesen wie eine Firma zu führen. Wirtschaftliche Rationalität ist oberstes Prinzip. In die Verwaltung

Die Rorschach AG Nach Schegg sind drei Leute aus der Praxis an der Reihe. Sie berichten, wie sie sich mithilfe von PwC durch die Tiefen der Komplexität hindurchgearbeitet haben und was dabei an Einfachem herauskam. Reto Friedauer, der parteilose Gemeindepräsident von St. Margrethen, erzählt vom Businessplan, den er für seine Rheintaler Gemeinde aufgestellt hat. Am Anfang stand eine Klausurtagung, natürlich mit PwC-Beratern. Das Ziel der Übung hiess: «Wir führen den Turnaround herbei!» Von Turnaround spricht man üblicherweise, wenn eine Firma im Sumpf steckt und wieder heraus will. Steckt St. Margrethen im Sumpf? Diese Frage Wo gemanagt werden muss, ist ein Souverän fehl am Platz. bleibt unbeantwortet. Auf jeden Fall hat die Wichtig ist die Projektorganisation, nicht die demokratische Gemeinde Potenzial. Am Schluss des Referats Willensbildung. wird klar, dass der St. Margrethner Turnaround zur Hauptsache aus einer neuen, milmüssen Effizienz und Leadership rein, klare Ziele sind gefragt. Ein Bulionenteuren Zentrumsüberbauung namens «Europuls» besteht. Sie soll sinessplan muss her und auch eine Strategie mit Zeithorizont. Beden Standort mächtig aufwerten. Daneben sollen weitere Gebiete entzeichnend ist, dass in diesen Konzepten die Demokratie zu verschwinwickelt, das heisst in der Regel: neu überbaut werden. Die örtliche Bauden droht. Sie kommt nur am Rande vor. Wo gemanagt werden muss, lobby freuts. ist ein Souverän fehl am Platz. Hauptsache, es gibt einen Chef, der anDen Turnaround bereits geschafft hat Rorschach. Neue Wohntürme, ordnet. Wichtig ist die Projektorganisation, nicht die demokratische eine Betonpasserelle am Bahnhof und eine riesige Konzernzentrale der Willensbildung. Würth AG direkt am See sind die sichtbaren Zeichen. «Die Stadt RorAuch in den Powerpoint-Folien zum St. Galler Sparprogramm schach führt mit Unternehmertum», klärt Thomas Müller, der Stadtprä«Fit13plus», die den Teilnehmenden am «Public Forum» gezeigt werden, sident, das Publikum auf. Müller sorgte vor einigen Jahren für Schlagexistieren nur die Exekutive, die Dienststellen und die Arbeitsgruppen. zeilen, als er von der CVP zur SVP übertrat. In Rorschach wurde das Das Parlament fehlt, die Stimmbürgerinnen und Stimmbürger sowieso. Parlament bereits 2004 – ein Jahr nach Müllers Amtsantritt – abgeVon einem demokratischen Prozess ist nicht die Rede, nur von Projektschafft. Es gibt nun also keine lästigen Anfragen, keine langen Debatten, arbeit und Massnahmenumsetzung. Die St. Gallen AG braucht keine AbEinwände und Bedenkenträger mehr. Es wird regiert. Auch dazu zeigt SURPRISE 321/14

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stimmungen. Auch Kommunikation erscheint lediglich unter der Überkommen, braucht es wieder Beratung, wie man die leeren Kassen füllen schrift «Stolpersteine», also als potenzieller Unfall. Dieser Unfall ist denn kann. Berater wie PwC profitieren immer. auch eingetreten, wie später die Reaktion des Stadtparlaments zeigte: Manchmal aber spielt PwC ganz offen in der Politik mit. Vor der AbÜber die Parteigrenzen hinweg wurde die Information der Öffentlichkeit stimmung zur 1:12-Initiative etwa beschwor PwC-Präsident Markus als missglückt bezeichnet. Dies obwohl auch der städtische InformaNeuhaus drohende Standortverluste für die Schweiz und mischte sich so tionsbeauftragte im Kernteam des Projekts war. Dort sass auch PwC-Beganz direkt in den Abstimmungskampf ein. Der Beratungskonzern profirater Roland Schegg, als wäre er ein Angestellter der Stadtverwaltung. Und nicht ein exterWährend die Öffentlichkeit über das Sparprogramm rätselt, ner Experte. Das zeigt: PwC versteht es, nahe erfahren die Teilnehmer der PwC-Tagung mehr. Viel mehr. an der Sache zu sein. Der Konzern verdient mit seinen Managementkonzepten viel Geld. Er verkauft sie nicht nur Unternehmen, sondern zunehmend auch Kantoliert sich überdies als innovativer Schrittmacher. Als erstes Unternehmen nen, Städten und Gemeinden. Ursprünglich aufs Buchprüfen spezialiführte PwC teilflexible Renten ein, die nicht mehr in vollem Umfang gasiert, konkurrenziert PwC damit zunehmend klassische Consultingfirrantiert sind. Ein fragwürdiges Rentenmodell, das nun Schule zu machen men wie McKinsey oder Boston Consulting Group. Offenkundig sind die droht. Etwa bei den SBB mit ihren sogenannten Wackelrenten. Kurzum: öffentlichen Gemeinwesen ein Beratungsmarkt mit Potenzial (siehe Text PwC regiert mit – hinter, bei Bedarf aber auch vor den Kulissen. rechts). Dem «1. Public Forum» dürfte ein zweites folgen. Es sind Kun281000 Franken kostete «Fit13plus» die Stadt St. Gallen. Das Parladenanlässe, die dem eigenen Geschäft und der Akquisition von Mandament hatte aber nur 50 000 Franken bewilligt. Jetzt ist ein Nachtragskreten dienen. Die Politiker Friedauer, Scheitlin und Müller mutierten dadit fällig – und eine Begründung, wieso das Projekt über fünfmal mehr bei unfreiwillig zu Werbeträgern von PwC. kostete als ursprünglich vorgesehen. Ob die teuren Vorschläge von PwC ihr Geld wert sind, ist eine andere Frage. Die Firma empfahl zum BeiKostenpunkt: 281 000 Franken spiel, den städtischen Angestellten die Wohnsitz- und Familienzulage zu Fakt ist, dass die PwC-Leute Wirtschaftsinteressen bedienen, auf welkürzen. Doch dabei hatten die Manager nicht an die Politik gedacht: che die Politik im neoliberalen Zeitalter gelernt hat, besondere RückNach Protesten der Personalverbände musste der Stadtrat zurückkrebsen sicht zu nehmen. Zwar gelten Wirtschaftsberater als neutrale Spezialiund die Massnahme, die bereits im Budget 2014 enthalten war, wieder sten, die Managementprobleme lösen. Doch sie wissen sich gut in Szene zurücknehmen. Diesen Schlag ins Wasser hätte der Stadtrat voraussehen können, wenn er wie ein politisches Gremium mit der nötigen Sensibizu setzen. So erstellt PwC regelmässig vergleichende Studien zur Steuerlage in den Kantonen. Der Konzern trägt damit zum Steuerwettbewerb lität gehandelt hätte. Doch er wollte lieber Manager sein – und lief gegen bei, an dem er wiederum durch Beratungen für Steuersenkungsprodie Wand. Der Fall zeigt: Ein Sparprogramm kann man nicht einfach eingramme verdient. Sollte der Tax-Wettbewerb einmal zum Stillstand kaufen und eilig übers Budget verordnen. Politik ist nicht Wirtschaft. ■

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Demokratie Das Geschäft mit dem Staat hat Zukunft Wie lukrativ die Mandate bei der öffentlichen Hand wirklich sind, wissen nur die Beratungsfirmen selbst. Klar ist: Der Markt wächst. Management-Professor Reto Steiner sieht kein grundsätzliches Problem – warnt aber vor Stolpersteinen.

VON AMIR ALI

den letzten Jahren selbstverständlich geworden sind – sie erfordern Innovation beim Staat. «Und diese holt man sich bei Beratungsfirmen», sagt Steiner. Der zweite Grund: Die Kapazitäten der Verwaltungen haben mit dem Anstieg der Erwartungen nicht mitgehalten. «Eine Schweizer Gemeinde hat im Schnitt 240 Stellenprozente», sagt Steiner. «Das sind sehr kleine Einheiten.» Die Politik muss oder will sparen, nicht zuletzt wegen Steuersenkungen. Oft werden nötige Stellen nicht bewilligt.

Wer wissen will, welche Dimensionen das Geschäft von Wirtschaftsberatern mit staatlichen Stellen hat, muss sich auf eine Spurensuche machen. Der Schweizerische Gemeindeverband, die Lobbyorganisation der Kommunen auf Bundesebene, kann auf Anfrage nicht weiterhelfen. Die Beratungsfirmen selbst geben nicht preis, welche Summen an Steuergeldern sie in dem Markt umsetzen. Die Prüfungsgesellschaft KPMG lässt gerade einmal verlauten, man halte Beratungsmandate beim Bund, 2000 Franken Tagesansatz in Kantonen sowie in Städten und Gemeinden. PricewaterhouseCoopers In dieser Lücke zwischen stark steigenden Ansprüchen und relativ (PwC) bestätigt: «Wir beraten Gemeinden und Städte und auch den schwach zunehmenden Ressourcen wächst der Beratungsmarkt. Und Bund sporadisch», bei Personalengpässen oder wenn «besondere Kenntder ist attraktiv, obwohl der Staat mit rund 2000 Franken tiefere Tagesnisse» gefragt seien. Ernst & Young und McKinsey nehmen explizit keiansätze zahlt als in der Privatwirtschaft üblich. Der grosse Vorteil: Der ne Stellung. öffentliche Sektor ist «relativ stabil», sagt Steiner. Marktführer in der Beratung von Gemeinden und Kantonen dürfte Ist eine Gemeinde mit neuen Aufgaben konfrontiert – wie etwa dem der Schweizer Ableger des internationalen Treuhänder-Netzwerks BDO Aufbau einer Kindertagesstätte –, ist das ein Fall für den Berater. Ebenso sein (Gesamtumsatz in der Schweiz 2012: 166,1 Millionen Franken). Genaue Umsatzzahlen für den öffentlichen Sektor weist BDO zwar nicht aus. Wie eng das «Sind Leistungen und Know-how einmal ausUnternehmen und die öffentliche Hand mitgelagert, muss die Gemeinde dies oft weiterhin einander verbunden sind, zeigt jedoch ein Blick in die Aktivitäten des Netzwerks: An der vom externen Berater beziehen. Hier droht eine alljährlichen «Gemeindetagung» der Firma Abhängigkeit.» Reto Steiner, Professor für öffentliches Management werden Kontakte geknüpft und gepflegt, Beratungsfelder vorgestellt, Erfolgsgeschichten erbei Reorganisationen, auf der Suche nach Personal und Kadern und – zählt. Frischgebackene und bisherige Exekutivpolitiker holt BDO – etwa wie im nebenstehend beschriebenen St. Galler Beispiel – bei Sparproim Kanton Aargau – gleich nach den Wahlen mit einem «Seminar Startgrammen. hilfe für Stadt- und Gemeinderäte» ins Boot. Dass sich der Staat gezielt Fachwissen für Projekte holt, findet SteiDas Vorgehen scheint Schule zu machen: Mit dem «1. Public Forum», ner sinnvoll. Doch er sieht auch Gefahren: «Sind Leistungen und Knowdas PwC 2013 durchführte (siehe Seite 14) signalisiert der Schweizer how einmal ausgelagert, muss die Gemeinde dies oft weiterhin vom Ableger des globalen Buchprüfungs- und Beratungskonzerns ebenfalls: externen Berater beziehen. Hier droht eine Abhängigkeit.» Kurzfristig Das Geschäft mit dem Staat hat Zukunft. Mit einer Umsatzsteigerung günstig und vorteilhaft, kann das Geschäft für die Gemeinde auf lange von 17 Prozent war der öffentliche Sektor (zu dem auch die UNO, das Sicht teurer werden, als wenn die Kompetenz intern aufgebaut würde. IKRK und das Bildungswesen zählen) im vergangenen Geschäftsjahr der Paradebeispiele dafür sind die IT-Projekte bei Bund und Kantonen, die grösste Wachstumsbereich von PwC Schweiz. KPMG, der dritte grosse ihre Budgets regelmässig sprengen und damit für Schlagzeilen sorgen. Player im Schweizer Markt, macht im Bereich «Infrastructure, GovernRechtlich, sagt Steiner, seien Beratungen «absolut unproblematisch» ment und Healthcare» nach der Finanzbranche und der Industrie am – solange der Prozess demokratisch legitimiert und abgesichert werde. meisten Umsatz. Das sei in der Schweiz so gut wie immer der Fall. Behördenvertreter benutzten Beratungen teilweise aber auch, um Verantwortung abzugeOft werden Stellen nicht bewilligt ben: Kommt das Sparprogramm von aussen, kann es ein Politiker unFest steht: Das Geschäft mit Beratungen der öffentlichen Hand ter Umständen einfacher verkaufen. Eine weitere Gefahr: Je stärker wächst. Reto Steiner, Professor für öffentliches Management an der Uniumkämpft das Geschäft mit dem Staat wird, desto mehr Gags und Gimversität Bern, ist Beobachter und Insider zugleich: Auch er und sein Inmicks lassen sich die Firmen einfallen. Schnell heisst es: Jetzt braucht stitut beraten öffentliche Körperschaften in Managementfragen. Für die ihr noch ein Risikomanagement, eine Balanced Scorecard und ein FühZunahme sieht er zwei Gründe: Erstens seien die Ansprüche an die Verrungscockpit. «Ob das die Verwaltung besser macht, ist oft schwer zu waltungen gestiegen, die Komplexität der Aufgaben habe zugenomsagen», so Steiner. Am Ende sei vor allem eines wichtig: «Welche Leimen. Die Bevölkerung sei fordernder geworden: «Man erwartet Leistungen der Staat erbringt oder streicht, muss die Bevölkerung entstungen wie in der Privatwirtschaft, will schnelle Antwort auf Emails scheiden.» und den Pass online bestellen.» Auch wenn diese neuen Leistungen in ■ SURPRISE 321/14

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Sans-Papiers Arbeiten und schweigen Seit zwölf Jahren setzt sich die Anlaufstelle in Basel für Sans-Papiers ein, dieses Engagement wird nun mit einem Preis gekrönt. Surprise hat mit Sans-Papiers-Experte Pierre-Alain Niklaus gesprochen und lässt drei Betroffene zu Wort kommen.

VON OLIVER ZWAHLEN (TEXTE) UND PRISKA WENGER (ILLUSTRATIONEN)

Sie machen unsere Wäsche, pflegen unsere Eltern, hüten unsere Kinder – oder sind selbst noch welche. In der Schweiz leben zwischen 90 000 und 300 000 Menschen ohne geregelten Aufenthalt, ihre Zahl lässt sich nur schätzen. Unterstützung bekommen sie von den Anlaufstellen, die rechtliche und medizinische Beratungen anbieten – und Aufmerksamkeit schaffen für diejenigen, die keine Stimme haben. Anerkennung für dieses Engagement gibt es selten. Nun aber wird die

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Anlaufstelle Basel vom Sozialarbeiterverband mit dem «Prix Social» ausgezeichnet: für ihre zwölfjährige pionierhafte Arbeit und die Ausarbeitung des sogenannten Basler Modells, das mit konkreten Vorschlägen eine Besserstellung von Sans-Papiers fordert. Im Interview auf Seite 21 erklärt Sans-Papiers-Experte Pierre-Alain Niklaus, warum die Politik gut daran täte, auf die Forderungen einzugehen. Wie es ist, ohne Papiere und somit ohne Rechte in der Schweiz zu leben, erzählen drei Betroffene. So unterschiedlich ihre Geschichten auch sind, eines haben sie gemeinsam: Die Angst, aufzufliegen, bestimmt ihr Leben. SURPRISE 321/14


«Wir wussten kaum etwas über die Schweiz» Die 40-jährige Lila*, Mutter von zwei Kindern, redet so leise, dass man sie kaum versteht. Sie versucht, sich nicht von der Angst bestimmen zu lassen. Als Sans-Papier kann ich mich ja nicht einfach auf eine Zeitungsannon«In die Schweiz kam ich vor neun Jahren zusammen mit meinem ce melden. Das wäre zu gefährlich. Meine grösste Angst ist, dass ich eiMann und den beiden Kindern. Wir stammen aus einem armen Land in nes Tages unverschuldet in eine Polizeikontrolle gerate. Das ist mir vor Asien. Welches das ist, möchte ich nicht sagen. Da nur wenige Menein paar Jahren schon einmal passiert. Damals hatte ich unglaubliches schen von dort in der Schweiz leben, fürchte ich, dass mich ein Leser Glück: Ich erklärte dem Polizeibeamten, dass ich den Pass zu Hause vererkennen und verraten könnte. Wieso wir gekommen sind? Wir mussgessen hätte, worauf er mich gehen liess. Ich verstehe nicht so recht, ten fliehen. Mein Mann hatte Probleme mit der lokalen Regierung. Bewieso Leute vor der Polizei Angst haben müssen, obwohl sie nie etwas vor wir uns auf den Weg machten, wussten wir wenig über die Schweiz. verbrochen haben. Ich habe nie etwas gestohlen, zahle alle meine RechWir kannten sie aus dem Fernsehen und den Zeitungen. Wir wussten, dass das Land viele Berge hat, die ähnlich wie diejenigen in unserer Heimat aussehen. Wir «Ich verstehe nicht, wieso Leute vor der Polizei Angst haben dachten, dass wir uns hier bestimmt wohlfühmüssen, obwohl sie nie etwas verbrochen haben.» len würden. Entscheidender war jedoch, dass die Schweiz nicht Teil der EU ist und sie desnungen selber und habe eine Arbeit. Ich versuche, mich von dieser wegen nur beschränkt Informationen austauschen kann. Man sagte uns, Angst nicht bestimmen zu lassen. Ich gehe ganz normal einkaufen oder dass wir in der Schweiz sicherer seien, dass wir besser untertauchen besuche mit meinen Freundinnen ein Café. Was ich allerdings nicht tue: könnten, wenn alles schiefläuft. Ich fahre so gut wie nie in andere Städte. Heute arbeite ich in über fünf Familien als Haushaltshilfe. Trotzdem Ich habe ohnehin nicht viel Kontakt mit anderen Menschen. Ich bin habe ich keine Chance auf eine Aufenthaltsbewilligung. Leute, die aus eher zurückhaltend mit neuen Bekanntschaften. Dass ich keine Aufenteinem Land ausserhalb der EU kommen, können faktisch nur per Heihaltsbewilligung habe, weiss in meinem Umfeld fast niemand. Nur gerat eine Bewilligung erhalten. Als Haushaltshilfe verdiene ich pro Stunrade zwei oder drei Leute. Ich rede nur sehr ungern über dieses Thema. de 25 Franken. Ich bin ausgebildete Ingenieurin. Manchmal frage ich Je weniger Bescheid wissen, desto sicherer ist es für mich und meine Famich schon, wieso ich kochen, putzen und bügeln muss und nicht auf milie. Über die Zukunft mache ich mir wenig Gedanken. Ich bin aber zumeinem Beruf arbeiten kann. Aber ehrlich gesagt, empfinde ich die versichtlich, dass ich in ein paar Jahren eine Niederlassungsbewilligung Hausarbeit nicht als schlimm. Im eigenen Haushalt muss ich ja auch bekomme. Vermutlich werde ich in einigen Jahren eine Härtefallregeputzen. Meine Arbeitgeber behandeln mich meistens sehr respektvoll. lung anstreben. Ich kann mir nicht vorstellen, bis zum Ende des Lebens Eine Frau bezahlt mir sogar jeweils die Hälfte des Bustickets, das ich schwarz zu arbeiten. Und zurückgehen, das kann ich mir nach all den brauche, um zu ihr zu fahren. Solche kleinen Gesten machen mich Jahren auch nicht mehr vorstellen.» glücklich. Auch freue ich mich, wenn mich die Leute weiterempfehlen. ■

«Ich trage ein Geheimnis mit mir» Für den 19-jährigen Ajit* ist die Ausbildung das Wichtigste. Ausserdem träumt er von Barcelona. «An meine Heimat habe ich schöne Erinnerungen. Wenn ich zurückten führen nach Italien oder Spanien. Es ist mein Traum, diese Länder denke, kommt mir in den Sinn, wie ich im Kindergarten mit meinen zu besuchen. Madrid und Barcelona reizen mich ganz besonders, denn Freunden spielte oder in der Schule lesen lernte. Ich bin in einer kleinen von dort kommen meine liebsten Fussballmannschaften. Ich wünsche Stadt aufgewachsen, in der wenig los war. Es gab staubige Strassen, mir, dass ich eines Tages dort in einem Stadion sitzen und meiner Manndurch die hin und wieder ein Lastwagen ratterte, und braungrüne Hüschaft zujubeln kann. Nach der Schule möchte ich in einer Bank oder in gel. Inzwischen bin ich fast 20 Jahre alt und habe mehr als die Hälfte einer Versicherung arbeiten. Die Schule, die ich jetzt besuche, ermögmeines Lebens in der Schweiz verbracht. Seit ich hier ankam, konnte licht mir eine solche Stelle, ohne dass ich in eine Lehre gehen muss. ich das Land, aus dem ich komme, nie mehr besuchen. Manchmal haSollte ich später irgendwann wieder in meine Heimat zurückkehren, be ich das Gefühl, als wären meine Erinnerungen bloss ein Film, den ich hilft mir die Ausbildung auch dort bei der Stellensuche. Eine Ausbildung mir vor Jahren angesehen habe. Alles ist so weit weg. in der Schweiz ist viel wert! Von der Politik wünsche ich mir, dass sie Ich besuche derzeit eine weiterführende Schule. Meine Lieblingsfäsich stärker in der Entwicklungszusammenarbeit engagiert. Und natürcher sind Sport, Mathe und Französisch. Von meinen Mitschülern weiss lich, dass die Einwanderungsgesetze etwas offener werden. Damit will keiner, dass ich keine Aufenthaltsgenehmigung habe. Dieses Geheimnis ich aber nicht sagen, dass die Schweiz verschlossen ist. Die meisten zu bewahren ist allerdings nicht besonders schwer: Mit den Klassenkameraden rede ich «Ich bin traurig, dass ich nicht auf die Abschlussreise kann.» sowieso nie über solche Dinge. Ich habe auch gar kein Bedürfnis, mit jemandem über meinen Status zu sprechen. Ich habe mich längst daran gewöhnt, dass ich Schweizer sind mir gegenüber freundlich. Ich mache selten schlechte ein Geheimnis mit mir trage. Nur gelegentlich kommt es in der Schule Erfahrungen. Es gibt natürlich schon Situationen, in denen Leute ein zu schwierigen Situationen. Sie haben meistens mit Ausflügen zu tun, bisschen Stress machen. Einmal hatte ich einen seltsamen Geschmack an denen ich nicht teilnehmen kann. Hier müssen meine Eltern und ich im Mund, nachdem ich in einem Park etwas getrunken hatte. Also habe immer eine gute Ausrede finden, denn auch die meisten Lehrer wissen ich das Getränk einfach ausgespuckt. Neben mir sass eine ältere Frau, nicht, dass ich keine Papiere habe. Dass ich nicht auf die Abschlussreidie hat daraufhin mit der Zunge geschnalzt, den Kopf geschüttelt und se mitkann, stimmt mich schon etwas traurig. Die meisten Klassenfahrgesagt: ‹Immer diese Ausländer›.» ■ SURPRISE 321/14

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«Ich gehöre fast zur Familie» Die 38-jährige Véronique* hütet in der Schweiz das Kleinkind einer anderen Familie. So kann sie ihrem 17jährigen Sohn in Togo eine Ausbildung finanzieren. «Ich kam vor mehr als acht Jahren zum ersten Mal in die Schweiz. Jemand hatte mich eingeladen, ich kam mit dem Flugzeug. Ich hatte ein Visum und kehrte nach einem Monat in meine Heimat zurück. Ich habe einen Sohn, der heute 17 Jahre alt ist. Ich bin auch hier, damit er eine gute Ausbildung machen kann. Er lernt Schreiner. Sein Vater hat sich nie um ihn gekümmert. Mittlerweile ist der Vater meines Sohnes gestorben. Man arrangiert sich dann irgendwie in der Familie. Ich kümmerte mich nicht nur um meinen Sohn, sondern auch um meinen jüngsten Bruder, eine Nichte und die Tochter einer Cousine. Meine Eltern wohnten in einer andern Stadt. Mein Bruder ging an die Universität, er studierte Recht. Da ich die Einzige war, die gearbeitet hat, lag es an mir, die Studiengebühren zu zahlen. Er hat jetzt den Abschluss, findet aber keine Arbeit. An einer Schule unterrichtete ich Hauswirtschaft. Diese Arbeit habe ich gerne gemacht. Aber ich musste immer wieder bei verschiedenen Personen Geld ausleihen, um zu überleben. Ich sagte mir, man kann nicht immer nur warten, man muss sein Schicksal in die eigenen Hände nehmen! Also verliess ich mein Land zum zweiten Mal. Dieses Mal hatte ich keine Einladung – es gab einen anderen Weg. Ich stellte ein Asylgesuch, und bin ein Jahr im Asylverfahren geblieben, dann hat man mir gesagt, ich müsse in mein Land zurückkehren. Ich bin nicht zurückgekehrt. Als ich noch im Asylheim wohnte, betreute ich das Kind einer Bewohnerin, die einen Deutschkurs besuchte. Die Verantwortliche des Heims hat das Kind gefragt, wer auf es aufpassen solle. Es hat mich gewählt. Dafür habe ich ein wenig Geld bekommen, aber nicht viel. Seit über drei Jahren hüte ich nun das Kleinkind einer Familie. Die Kleine hat mich sehr gerne und gibt mir Mut. Die Familie ist nett mir gegenüber, ich bin beinahe wie ein Familienmitglied geworden. Vom Morgen bis zum Abend bin ich mit der Kleinen zusammen. Ich mache Spaziergänge mit ihr, gehe einkaufen, wir gehen ab und zu in den Zoo. Im Sommer sind wir viel im Park. Ich koche für sie. Am Anfang hatten wir Arbeitszeiten vereinbart, aber wir haben es wieder aufgegeben, weil wir sie nicht einhalten konnten. Die Kleine spricht schon mehr Französisch als Portugiesisch, die Sprache der Eltern. Die Frau ist selbst Migrantin. Sie hat einen Sinn für Menschlichkeit. Sie versteht, dass wir Menschen sind und keine Tiere. Sie zeigt mir, dass sie mich schätzt, und ich gebe ihr auch meine Zuneigung. Ich verdiene 2000 Franken im Monat und kann dort wohnen und essen. Ich habe zwei Tage pro Woche frei. Immer wenn ich kann, schicke ich Geld nach Togo, aber nicht direkt an meinen Sohn. Ich überweise es an eine Tante, die das Geld für ihn verwaltet. Zudem unterstütze ich seit Kurzem auch noch meine Mutter, die beinahe gelähmt ist und viel Betreuung und Medikamente braucht. Ich telefoniere viel mit meiner Familie in Togo und erzähle, wie das Leben hier wirklich ist. Denn dort glauben sie, dass man in der Schweiz immer genügend Mittel hat und sie jederzeit unterstützen kann. Man muss es ihnen gut erklären, sonst verstehen sie es nicht. Ich habe Angst vor der Polizei. Bisher wurde ich noch nie kontrolliert. Die Situation, in der ich bin, ist nicht gut. Was mich traumatisiert, ist, dass ich nicht weiss, was ich machen soll, wenn ich morgen nach Togo zurückmuss. Ich war auch schon krank deswegen. Dennoch habe ich es nie bereut, hierhergekommen zu sein. Ich glaube fest daran, dass es eines Tages eine Lösung geben wird.» ■ * Alle Namen geändert. Auszug aus: «Nicht gerufen und doch gefragt. Sans-Papiers in Schweizer Haushalten» von Pierre-Alain Niklaus, Lenos Verlag, Basel 2013

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Sans-Papiers «Viele Familien würden ihre Angestellten gerne legal beschäftigen» Pierre-Alain Niklaus leitete während sieben Jahren die Anlaufstelle für Sans-Papiers in Basel und verfasste verschiedene Bücher zum Thema. Im Interview erklärt er, wie die Lage der Papierlosen verbessert werden kann – und wieso das der ganzen Gesellschaft zugutekäme.

INTERVIEW VON OLIVER ZWAHLEN

Die Basler Anlaufstelle wird mit dem «Prix Social» ausgezeichnet. Damit soll das «Basler Modell» gewürdigt werden, ein Manifest mit Vorschlägen für eine Besserstellung von Papierlosen. Wie sehen diese aus? Das Basler Modell konzentriert sich auf drei wesentliche Bereiche: Erstens sind wir der Meinung, dass jedes Jahr eine bedarfsgerechte Anzahl von Aufenthalts- und Arbeitsbewilligungen an in Basel arbeitende Sans-Papiers vergeben werden soll. Zweitens soll der Zugang zu den Sozialversicherungen allen erwerbstätigen Sans-Papiers offenstehen. Wichtig ist dabei, dass die Sozialversicherungen eine allfällige Meldepflicht an die Ausländerbehörde nicht anwenden. Drittens soll Basel jugendlichen Sans-Papiers grosszügig Bewilligungen für eine berufliche Grundausbildung erteilen. Mit dem Manifest wollen wir zunächst eine Debatte auslösen. Politische Vorstösse sind in einem zweiten Schritt angedacht. Was meinen Sie mit einer «bedarfsgerechten Anzahl» an Bewilligungen? In der Schweiz gibt es einen grossen Bedarf an Menschen, die weniger privilegierte Arbeiten ausüben. Nehmen wir die Haushaltshilfen als Beispiel: Landesweit beschäftigen zwischen 350 000 und 400 000 Haushalte eine Hilfskraft. Das sind beispielsweise Familien, bei denen beide Elternteile arbeiten, oder Rentner, die Hilfe bei ihrer Alltagsbewältigung benötigen. Da kaum Schweizer bereit sind, die wenig attraktive Arbeit auszuüben, müssen etwa 100 000 Haushalte auf Menschen ohne geregelten Aufenthaltsstatus zurückgreifen. Viele dieser Familien wären froh, wenn sie ihre Angestellten legal und auch sozialversichert beschäftigen könnten. Wie könnte die Vergabe von Bewilligungen konkret aussehen? Die Zahl der Bewilligungen für Menschen in weniger privilegierten Berufen könnte an jene für hochqualifizierte Arbeitskräfte gekoppelt SURPRISE 321/14

werden. Das heisst, für 100 Bewilligungen für Hochqualifizierte müsste der Status von 20 bis 30 Sans-Papiers geregelt werden. Ebenfalls denkbar wäre eine kollektive Regularisierung, bei der allen Sans-Papiers eine Aufenthaltsgenehmigung erteilt wird, die bestimmte Kriterien erfüllen. Ähnliche Schritte gab es bereits in vielen unserer Nachbarländer, und zurzeit wird eine solche Reform auch in den USA vorbereitet. Werden solche Vorschläge mit der Annahme der SVP-Masseneinwanderungsinitiative nicht zunehmend unrealistisch? Es ist noch etwas früh, um dies beurteilen zu können. Ironischerweise könnte – zumindest rein theoretisch – die Initiative den SansPapiers sogar helfen. Sollte die Schweiz nämlich tatsächlich die Zuwanderung mit sehr viel strengeren Kontingenten kontrollieren, müssten die Schweizerinnen und Schweizer insgesamt mehr arbeiten. Das hätte zur Folge, dass es noch mehr Haushalte mit doppelten Einkommen gibt. Die Nachfrage nach Haushaltshilfen würde sich dadurch deutlich erhöhen. Weiter fiele die Unterscheidung zwischen EUund Nicht-EU-Bürgern weg. Der Weg, um auch Drittstaaten-Angehörigen eine Aufenthaltsbewilligung zu erteilen, stünde also offen. Andererseits hätten wir wohl wieder mehr EU-SansPapiers, ein unmögliches Szenario! In welcher Lage befinden sich Menschen, die ohne geregelten Status in der Schweiz arbeiten? Aus dem Kontakt mit unseren Kunden in der Anlaufstelle weiss ich, dass viele in ständiger Angst leben, erwischt zu werden. Sie zeigen sich nur ungern im öffentlichen Raum, weil sie die Gefahr einer Polizeikontrolle verringern wollen. Sans-Papiers können zudem ihre elementaren Rechte kaum einfordern. Sollte sich etwa ein Arbeitgeber weigern, den vereinbarten Lohn zu bezahlen, ist es nahezu unmöglich, die Forderungen vor Gericht durchzusetzen. Hier braucht es ein Umdenken: Wir müssen verstehen, dass es ohne die vielfältigen Leistungen der Sans-Papiers in vielen Bereichen

zu erheblichen Engpässen käme. Menschen, die einen wichtigen Beitrag für das Funktionieren unserer Gesellschaft leisten, sollten anständig behandelt und nicht kriminalisiert werden. Eine weitere Forderung ist, dass Sans-Papiers eine berufliche Grundausbildung ermöglicht wird. Diese Praxis kennt der Bund bereits seit dem 1. Februar 2013. Wie sind die ersten Erfahrungen? Die heutige Praxis ist ein Kompromiss, der nicht unserem Wunschbild entspricht. Besonders problematisch ist, dass Jugendliche, die eine Berufslehre absolvieren wollen, eine Genehmigung der kantonalen Migrationsämter benötigen, deren Kriterien in etwa der Härtefallregelung entsprechen. Anders formuliert: Die jungen Menschen müssen sich bei genau derjenigen Behörde melden, welche über ihre Ausschaffung verfügt. Das ist für die Jugendlichen natürlich hochriskant. Es wäre wünschenswert, dass die Genehmigungen von einem separaten Amt bearbeitet werden oder besser noch, dass eine Berufsausbildung auch ohne Bewilligung möglich ist, so wie das heute bei den Schulen schon bestens funktioniert. ■ «Keine Hausarbeiterin ist illegal» Die Basler Anlaufstelle für Sans-Papiers ist Teil eines landesweiten Netzwerks von Anlaufstellen. In ihrer neusten Kampagne kämpfen die Anlaufstellen für die Rechte papierloser Hausarbeiterinnen: www.khii.ch.

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BILD: GUIDO SÜESS

Wörter von Pörtner Strassenverkehr Kürzlich fand ich mich in der Situation, einer Gruppe Polizisten mit aufmunternden Worten und Gesten mein Wohlwollen über ihr Schaffen kundzutun. Sie büssten Autofahrer, die zu schnell durch die Dreissigerzone gefahren waren. Es war Morgen, die Strasse, an der gemessen wurde, führte zu einem Kindergarten. Ich fragte mich, ob ich jetzt zu einem der von Endo Anaconda besungenen bösen alten Männer werde, der sich freut, wenn andere drankommen. Grundsätzlich herrscht allenthalben Einigkeit, dass die Gesetze eingehalten werden müssen. Noch grössere Einigkeit herrscht bei der Frage, wer sie einhalten soll. Die anderen natürlich. Für sie sind die Gesetze absolut bindend, und jede noch so geringe Übertretung sollte strengstens geahndet werden. Für einen selber sind es bestenfalls Empfehlungen, de-

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nen man nach Gutdünken folgt, schliesslich ist man ein mündiger Bürger. Das gilt ganz besonders im Strassenverkehr. Selbst jene, die sonst stets die volle Strenge des Gesetzes fordern, sehen hier Bemühungen, diese einzuhalten und Verstösse zu ahnden, als nichts weniger als Abzockerei. Mit gleichem Recht könnte man behaupten, die Kontrollen in den öffentlichen Verkehrsmitteln seien Abzockerei, ganz zu schweigen von Warenhausdetektiven und Überwachungskameras in Läden, weil man ja jeweils nur ein Pack Kaugummis klaut und das einem Grossverteiler ja keinen wirklichen Schaden verursacht. Dafür dann grad mit 150 Franken Busse an die Kasse zu kommen, sei doch völlig ungerecht, ebenso die 100 Franken fürs Schwarzfahren, wo man doch nur die zwei Stationen zu ebenjenem Grossverteiler, bei dem man seine Kaugummis klaut, ohne Billet zurückgelegt hat. Wird man selbst einmal erwischt und gebüsst, ist das ein Beweis von Polizeistaat, Willkür und Haben-die-denn-nichts-Besseres-zu-Tun, bemerkt man eine ungeahndete Übertretung bei anderen, handelt es sich um Sittenzerfall, Anarchie und Behörden-Larifari, wenn nicht gar Korruption. Ich habe doch gar nichts gemacht. Ich musste in diesem Geschäft nur schnell etwas abholen und darum mein Auto aufs Trottoir stellen. Dass das Trottoir nicht breiter ist, dafür kann

ich weiss Gott nichts und die Leute sollen halt auf die Strasse ausweichen, auch die Schulkinder von nebenan, da lernen sie grad aufpassen. Schliesslich ist das Recht, mit dem Auto bis vor die Tür zu fahren, in der Bundesverfassung verankert. Soll ich etwa Wege im zweistelligen Meterbereich zu Fuss zurücklegen? Einkaufstüten oder sonstige Waren bis zum Auto schleppen? Niemals. Nicht, weil ich dazu nicht fähig wäre, aber körperliche Ertüchtigung darf bekanntlich nur in der dazu geeigneten Kleidung und in dazu vorgesehenen Zonen (Wald oder Fitnesscenter) ausgeübt werden. Es regnet zwar nicht, aber es könnte. Wo soll ich denn eine Regenjacke herbekommen, wo doch nur alle 300 Meter ein OutdoorStore steht? So oder ähnlich klingt wohl der innere Dialog, wenn man versucht zu rechtfertigen, dass man sich wie ein rücksichtsloser Trottel verhält und andere gefährdet. Darum freue ich mich, wenn diese Trottel wieder auf den Boden der Realität zurückgeholt werden. Und ärgere mich masslos, wenn es sich bei dem Trottel um mich handelt.

STEPHAN PÖRTNER (STPOERTNER@LYCOS.COM) ILLUSTRATION: MILENA SCHÄRER (MILENA.SCHAERER@GMX.CH) SURPRISE 321/14


Film Als es von Italienern nur so wimmelte Der Ehrenpreis des Schweizer Filmpreises geht an den 85-jährigen Alexander J. Seiler. Er war eine Galionsfigur der Linken, Fremde und Heimat waren jahrelang seine Kernthemen. Er selber findet seine Filme aber nicht nur des Inhalts, sondern auch der Form wegen wichtig.

Es gibt einen Dok-Film aus dem Jahr 1964, in dem einem auch heute noch einiges bekannt vorkommt: «Siamo italiani». Über die Italiener hören wir im Off-Kommentar Stimmen aus dem Volk: «Es hat zu viele, sodass man nirgends mehr hin kann. Es wimmelt nur so von ihnen. Wenn man ins Warenhaus möchte, muss man direkt schauen, dass man durchkommt.» Und wir denken heute: Schon damals gab es Dichtestress. Unterdessen sind die Italiener integriert, aber Regisseur Alexander J. Seiler sagt 50 Jahre später an seinem Küchentisch im multikulturellen Zürcher Kreis 4: «Das war gar kein Problem, diese Stimmen in den Beizen einzuholen.» Seiler ist einer der Gründerväter des neuen Schweizer Films, Publizist, Filmkritiker, Regisseur. Er holte 1962 in Cannes eine Goldene Palme für einen Kurzfilm, er war in der Eidgenössischen Filmkommission und hat die Schweizer Filmpolitik mitgeprägt. Er war Stimme der Linken; Bildungsbürger und engagierter Oppositioneller zugleich. Nun wird er mit dem Ehrenpreis des Schweizer Filmpreises ausgezeichnet. Mit «Siamo italiani» ist er bekannt geworden: Als einer der Ersten in der Schweiz arbeitete er nach den Regeln des Direct Cinema und begleitete italienische Familien in ihrem Alltag. Der Film löste heftige Reaktionen aus, und wenn jemand heute in einer Retrospektive einen Film von Alexander J. Seiler aufs Programm setzt, dann natürlich diesen. Seiler selber meint allerdings dazu: «Man muss nicht immer nur über ‹Siamo italiani› reden. Mein wichtigster Film ist ‹Früchte der Arbeit›, mein bester ‹Geysir und Goliath›.» «Früchte der Arbeit» ist eine 145 Minuten lange Aufarbeitung der Situation der Schweizer Arbeiterschicht. «Geysir und Goliath» ist das Porträt über den Zürcher Bildhauer Karl Geiser. Filmbiografien hat Seiler immer wieder gemacht – über den Schriftsteller Ludwig Hohl etwa und den Journalisten Roman Brodmann. «Mich interessiert ihre Fremdheit im eigenen Land», sagt Seiler, «Hohl und Geiser waren Aussenseiter, und sie sind Aussenseiter geblieben, sogar im Erfolg.» Da Alexander Seiler mit Max Frisch befreundet war, wurde er oft gefragt: «Wieso hast du nie einen Film über Frisch gemacht?» «Frisch war mir irgendwo zu nah», sagt Seiler, «er war für mich ein Dichter. Der leibhaftige junge Schweizer Dichter.» Auch wenn Alexander Seiler einige der dringendsten Themen von damals wie von heute – Fremde, Heimat – aufnahm, ist es das Verdichten, das ihn interessiert: «Ein Film überlebt nicht langfristig wegen seines Inhalts, sondern weil er für diesen Inhalt die richtige Form gefunden hat.» Der «Musikwettbewerb» von 1967 handelt vom Leistungsdenken – sogar in der Kunst. Formal gibt es hier ein Musikstück, das integral durchgespielt wird, wie bei einer Stafette zusammengeschnitten mit verschiedenen Interpreten: nicht ganz einfach umsetzbar im Zeitalter des 16-mm-Films. «Palaver, Palaver» wiederum verschränkt Max Frischs Stück «Jonas und sein Veteran» mit der Armeeabschaffungsinitiative von 1989 und SURPRISE 321/14

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VON DIANA FREI

«Man muss nicht immer nur über ‹Siamo italiani› reden», findet Alexander J. Seiler.

zeichnet so ein Stimmungsbild der Schweiz, scheinbar von meteorologischen Kräften vorangetrieben, indem Wetterlagen und der Aufbruch in Osteuropa im Off-Text vermeldet werden. Treibende Kräfte werden spürbar wie ein Wind, der über das Land fegt. «Vento di settembre» – «Septemberwind» – heisst nicht nur der Folgefilm von «Siamo italiani», sondern auch ein italienisches Lied, in dem es darum geht, Abschied von einer leichten Sommerliebe zu nehmen. Davon, dass die Vergangenheit vorbei und es Zeit ist weiterzuziehen. Wenn wieder einmal jemand ‹Siamo italiani› programmieren will, dann bittet Seiler darum, lieber «Vento di settembre» zu zeigen: «Er resümiert ‹Siamo italiani› in allen wichtigen Punkten und zeigt die Probleme der heutigen Migranten. Von jenen, die in die Heimat zurückgekehrt sind, und denen, die hier geblieben sind. Das ist die moderne Form von Migration, dass bald jeder dort, wo er lebt, fremd ist», sagt Seiler. «Es ist das Gegenstück zu dem Schweizer, der in ‹Siamo italiani› sagt: ‹Man kommt sich schon selber als Ausländer vor.›» Verleihung des Schweizer Filmpreises: Fr, 21. März, Schiffbau Zürich. «Vento di settembre» Sa, 22. März, 14 Uhr, Filmpodium Zürich. Die DVD-Edition Alexander J. Seiler erscheint am 20. März, Dschoint Ventschr 2014, ca. 99 CHF.

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Kultur

Explosive Kombination: Hulot und das moderne Leben.

Schwer auf Zack: Rote Blutkörperchen auf dem Weg zur Arbeit.

Buch Ein Held von schlaksiger Gestalt

DVD Arnold Zuckeregger greift an

In David Merveilles Bildergeschichten feiert Jacques Tatis Monsieur Hulot eine verträumt-poetische Wiederauferstehung.

Die Kinderserie «Es war einmal das Leben» findet in den Körperfunktionen Stoff für Abenteuer: Blutplättchen werden zu Helden und Bakterien zu richtig fiesen Bösewichten.

VON CHRISTOPHER ZIMMER VON DIANA FREI

Mit der Figur des tollpatschigen Monsieur Hulot hat der französische Drehbuchautor, Regisseur und Schauspieler Jacques Tati (1907–1982) Filmgeschichte geschrieben. Vor allem mit «Les vacances de Monsieur Hulot» (1953), «Mon oncle» (1958; 1959 Oscar für den besten fremdsprachigen Film) und «Trafic» (1971), in denen sich Tatis von ihm selbst dargestelltes Alter Ego mit den Tücken des Alltags und der Moderne herumschlägt und dabei auf unnachahmliche Weise Kritik an der Zivilisation, ihren Auswüchsen und Absonderlichkeiten übt. 2010 feierte Tati selber seine Wiederauferstehung als Protagonist in Sylvain Chomets Animationsfilm «L’illusionniste». Und auch sein liebenswerter Monsieur Hulot (Markenzeichen Trenchcoat, Hut, Schirm, Pfeife, zu kurze Hosen und Ringelsocken) ist wunderbarerweise wiederbelebt worden – in den Bildergeschichten des Belgiers David Merveille, dessen zweites Buch mit dem Helden von der schlaksigen Gestalt nun auf Deutsch erschienen ist. Wie sein Erfinder im Trickfilm wird auch Hulot darin zum Magier, der die Welt um sich verzaubert, wortlos, im Vorübergehn, wirksam in seiner stillvergnügten Absichtslosigkeit. 22 Geschichten sind es, jeweils aus einem Strip und einem ganzseitigen Bild, auf dem sich der Witz in einer Schlusspointe entlädt. Pointen, die man eigentlich nicht verraten sollte, aber ganz ohne einen Vorgeschmack geht es denn doch nicht. Zum Beispiel die von der Schneekugel mit dem Eiffelturm, die sich Hulot in einem Souvenirladen kauft und dann draussen umdreht und … Oder die von der kaputten Wasserleitung, die Hulot repariert, woraufhin zwar er seinen Frieden hat, aber rings um sein Haus … Und, wenn wir schon dabei sind, natürlich besonders die von Hulot, der durch den brausenden Verkehr hüpft, um dort wider Erwarten … Wem dies schon fast zu viel an Spannung genommen hat, der sollte sich möglichst bald mit Merveilles Buch entschädigen, das wie kaum ein anderes beweist, dass der Alltag nicht nur voller Tücken steckt, sondern auch voller vergnüglicher Abenteuer und der unverwüstlichen Poesie der Träume. David Merveille: «Hallo Monsieur Hulot. 22 lustige Bildergeschichten». Nord Süd 2013. 22.90 CHF

Falls Sie Probleme haben sollten, Ihre Kinder zum Zähneputzen zu bewegen, gibt es eine Lösung: Lassen Sie die Kleinen mit eigenen Augen sehen, welche widerwärtigen Bakterien sich in ihrem Mund breitmachen, wenn sie Süssigkeiten essen: kleine blaue Männchen, deren Muskeln sich aufblähen, wenn sie mit Zucker gefüttert werden. Sie machen sich mit Pressluftbohrern ans Werk, um den Zahnschmelz zu zerstören. Das ist nicht nur lustig anzuschauen, es verfehlt auch die Wirkung nicht. Die Kinder werden in Zukunft darum betteln, die bösen blauen Männchen aus ihrem Mund schrubben zu dürfen. Zu verdanken ist das alles dem Bildungsfernsehen: der französischen Serie «Il était und fois … la vie», zu Deutsch: «Es war einmal das Leben». Sie erklärt in insgesamt 26 Folgen den menschlichen Körper und so ziemlich alles, was darin abgeht. Personifizierte Blutkörperchen, Botenstoffe oder Nervenimpulse kurven da zu Fuss und in raumschiffartigen Fahrzeugen herum und liefern sich Feuergefechte mit Eindringlingen wie Bakterien oder Viren. Zum Einstieg in diese Wunderwelt des Körpers eignet sich «Folge 8 – Mund und Zähne» ganz besonders, weil einem der Ort der Handlung noch einigermassen bekannt ist. Etwas abseitiger ist dagegen etwa das Lymphsystem, aber genau hier setzt die Serie an: Sie macht auch die kompliziertesten Abläufe im menschlichen Körper greifbar. So werden Blutplättchen im Kampf gegen Krankheiten zu Helden auf einer Mission, und wenn Bakterien von ihren Widersachern aufgegriffen und aus dem Körper rausgeschmissen werden, gibt das einen actiongeladenen Plot her. Im deutschen Fernsehen lief «Es war einmal das Leben» ab 1990, und viele von uns waren da schon zu alt, um die Serie noch unter den nostalgischen Erinnerungen der eigenen Fernsehkindheit abgelegt zu haben. Umso schöner ist sie heute auch für Erwachsene noch anzusehen: Etliche Kalauer der Blutplättchen, Viren und ihrer Kumpane zielen darauf ab, dass auch die Eltern was vom Spass haben. So kommen die Mundbakterien nicht umhin festzustellen: «Bei soviel Zucker bin ich Arnold Zuckeregger», während sich ihre Muskeln nur so aufblähen, sobald sie mit Kuchen gefüttert werden. Albert Barillé: «Es war einmal das Leben», Zeichentrickfilm, Frankreich 1986, deutsche Synchronfassung. Mit freundlicher Unterstützung von Les Videos, Zürich. www.lesvideos.ch

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MUSEUM FÜR KOMMUNIKATION / HANNES SAXER

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Die 25 positiven Firmen Diese Rubrik ruft Firmen und Institutionen auf, soziale Verantwortung zu übernehmen. Einige haben dies schon getan, indem sie dem Strassenmagazin Surprise mindestens 500 Franken gespendet haben. Damit helfen sie, Menschen in prekären Lebensumständen eine Arbeitsmöglichkeit zu geben und sie auf ihrem Weg zur Eigenständigkeit zu begleiten. Gehört Ihr Betrieb auch dazu? Die Spielregeln sind einfach: 25 Firmen werden jeweils aufgelistet, sind es mehr, fällt jener Betrieb heraus, der am längsten dabei ist.

Auch das Jubeln ist ein Ritual.

Ausstellung Das wohlige Wir-Gefühl Eine als Reise konzipierte Ausstellung über Rituale macht Lust, sich mit dem Reiz des immer Wiederkehrenden auseinanderzusetzen. VON MONIKA BETTSCHEN

Es geht um die Wurst. Silbern glänzt die Grillzange im Schaukasten. Ja, fürwahr, an der Zubereitung von Grillgut scheiden sich die Geister häufig. Aber bevor an der bewährten Rezeptur geschraubt wird, bleibt man dann doch beim Alten. Und spätestens wenn der vertraute Duft aufsteigt, weiss man: Rituale sind viel mehr als immer gleiche Abläufe. Sie stiften ein wohliges Gefühl von Zusammengehörigkeit und Identität. Dass das bisweilen auch erschreckend sein kann, zeigt ein Video mit Konzertausschnitten der Band Deichkind. Mit viel Bass peitschen die Stars die tanzende Menge auf und machen sie zum Spielball ihrer Kommandos. Die Ausstellung «Rituale. Ein Reiseführer zum Leben» im Berner Museum für Kommunikation macht deutlich, wie stark Rituale unseren Alltag durchdringen. Ob die Gutenacht-Geschichte, Ostern, der Fussballabend mit den Kumpels oder das Telefongespräch mit dem Liebsten jeden Abend zur gleichen Zeit: Rituale spenden Geborgenheit und Orientierung in einer komplexen Welt. «Rituale sind eine Art innerer Kompass, der einen Menschen dazu befähigt, in einer Gesellschaft passend zu reagieren und so Teil von ihr zu sein», sagt Barbara Kreyenbühl, Leiterin Kommunikation. Deshalb habe man die Ausstellung auch wie eine Reise durch das imaginäre Land der Rituale aufgebaut. Auf vier Pfaden können die Besucher Rituale als Mittel der Macht und Manipulation, als Halt gebende Abläufe, als alltägliche Handlungen oder als Ausdruck von Tradition und Brauchtum erfahren und hinterfragen. Unterwegs gibt es die Möglichkeit, sich ein neues, eigenes Ritual zu kreieren oder sich auf einem Podest im Jubeln zu üben. Schliesslich wimmeln Preisübergaben nur so von genormten Abläufen. Der gemeinsame Nenner bei vielen Ritualen rund um den Globus ist, dass Übergänge im Zentrum stehen, zum Beispiel vom Single zum Ehepaar oder vom Leben in den Tod. Überall sind Rituale Codes, die man zu entschlüsseln verstehen muss, um bestehen zu können. Wer eröffnet im neuen Betrieb ein Meeting und wer sitzt wo? Wie soll man den Besuch aus Japan korrekt begrüssen? Das Rahmenprogramm der Ausstellung bietet zahlreiche Vertiefungsmöglichkeiten, zum Beispiel am 13. Mai mit einem Podium über Fankultur im Fussball.

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Kultur-Werkstatt – dem Leben Gestalt geben,

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Schluep Degen Rechtsanwälte, Bern

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Anyweb AG, Zürich

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A. Reusser Bau GmbH, Recherswil

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Verlag Intakt Records, Zürich

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Hotel Basel, Basel

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Homegate AG, Zürich

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Balcart AG, Therwil

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Arbeitssicherheit Zehnder GmbH, Ottenbach

Wil SG

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applied acoustics GmbH, Gelterkinden

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Privat-Pflege, Hedi Hauswirth, Oetwil am See

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Hofstetter Holding AG, Bern

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Bachema AG, Schlieren

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fast4meter Bern, Storytelling & Moderation

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Fischer & Partner Immobilien AG, Otelfingen

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Oechslin Architektur GmbH, Zollikerberg

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Kaiser Software GmbH, Bern

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Thommen ASIC-Design, Zürich

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mcschindler.com, PR-Beratung, Redaktion,

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Anne Hoffmann Graphic Design, Zürich

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VXL Gestaltung und Werbung AG, Binningen

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Proitera GmbH, Basel

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advocacy ag, communication and

Corporate Publishing, Zürich

consulting, Basel 24

BEVBE Ingenieurbüro, Bonstetten

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Margareta Peters Gastronomie, Zürich

Möchten Sie bei den positiven Firmen aufgelistet werden? Mit einer Spende von mindestens 500 Franken sind Sie dabei! PC-Konto: 12-551455-3, Verein Surprise, 4051 Basel Zahlungszweck: Positive Firma + Ihr gewünschter Eintrag. Wir schicken Ihnen eine Bestätigung.

«Rituale. Ein Reiseführer zum Leben», Museum für Kommunikation in Bern, noch bis zum 20. Juli. www.mfk.ch SURPRISE 321/14

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Ausgehtipps

In Deckung: Traumatisierte Frauen schlagen zurück.

Perle am Cinema Querfeld: «Latif» von Mikayilov, 1930.

Bern Krieg und Trauma

Basel Perspektivenwechsel

«Der grosse Krieg» wurde in den Jahren danach das Massenschlachten genannt, das vor genau einem Jahrhundert in Serbien seinen Anfang nahm – im Unwissen darüber, dass gut 20 Jahre später ein noch grösserer Krieg und ein noch grösseres Massenschlachten folgen würden. Also begann man danach, klüger geworden, zu nummerieren. Krieg ist ein Dauerbrenner in der Geschichte der Menschheit. Und er folgt immer wieder erstaunlich ähnlichen Mustern: Diese Erkenntnis machte der Churer Theaterregisseur Achim Lenz, als er an der Arbeit für ein Stück über den Ersten Weltkrieg auf das 2000 Jahre alte Epos «Bellum civile» des römischen Dichters Anneus Lucanus stiess und dort ungeahnte Aktualität fand. Lenz adaptierte das Stück über das Gemetzel zwischen den Armeen von Julius Cäsar und Pompeius mit einem Chor aus sechs Frauen, die wortgewaltig und detailreich von der Brutalität und dem Trauma des Krieges berichten. (fer)

Ob durch eine spezielle Begegnung, eine Erinnerung an die Vergangenheit oder einen durchkreuzten Plan: Manchmal ändert sich der Blickwinkel eines Menschen unvermutet – auf Dinge, das Umfeld oder auf sich selbst. In den sechs Filmen aus allen Teilen Europas, Vorderasien und Lateinamerika, die das 9. interkulturelle Kinofilmfestival «Cinema Querfeld» dieses Jahr zeigt, erleben die Hauptfiguren allesamt einen solchen Perspektivenwechsel. Ein besonderes Erlebnis für Augen und Ohren ist etwa «Latif» (1930, Regie Mikayil Mikayilov) aus Aserbaidschan: Der Stummfilm wird von aserbaidschanischen Musikern begleitet. Neben Film und Musik werden auch dieses Jahr wieder allerhand Spezialitäten aufgetischt: aus Angola, Aserbaidschan, dem Balkan, Bolivien, Bulgarien, Italien und der Schweiz. Zum süssen Abschluss gibts Kaffee und Kuchen, zu später Stunde ist jeweils die Bar geöffnet. (mek)

«Der Bürgerkrieg», Mi, 19. März, 19 Uhr, Do, 20. und

Gundeldinger Feld, Dornacherstrasse 192, Basel.

Fr, 21. März, 20.30 Uhr, Schlachthaustheater Bern.

Programm: www.querfeld-basel.ch/cinema-querfeld

Im Dienste der Wissenschaft: Bullen-Samenbank.

Winterthur Archiviertes Leben Wie verwaltet unsere Gesellschaft ihr Erbe und damit ihre Zukunft? Indem sie mit religiösem Eifer Daten sammelt und archiviert: DNA, Zahnproben, Sperma – und eine Unmenge digitaler Daten, die wir im Internet, auf Kreditkartenabrechnungen und in amtlichen Registern hinterlassen. Der Westschweizer Fotograf Yann Mingard dokumentierte in seinem Projekt «Deposit» diese Sammel- und Lagerwut mit Bildern, die verdrängte, aber drängende Fragen unserer Zeit aufwerfen: Verwandeln Fortpflanzungstechnologien den Prothesengott Mensch in einen veritablen Schöpfer? Was ist Artenvielfalt wert, die nur als rares Einzelexemplar in Labors oder Zoos existiert? Und werden in Zukunft Fantasien vom ewigen Leben zu einer konkreten medizinischen Möglichkeit? Mingard widmet sich diesen Fragen mit Fotografien, auf denen sich medizinische Geräte, Datenserver und menschliche, tierische und pflanzliche Proben oft erst auf den zweiten Blick herausschälen. (mek)

«Cinema Querfeld», internationales Kinofilmfestival, Fr, 21. bis So, 23. März, Querfeldhalle auf dem

«Deposit» von Yann Mingard, noch bis August zu sehen im Fotomuseum Winterthur. www.fotomuseum.ch

Hier könnte Ihre Werbung stehen. Werfen Sie Ihr Werbegeld nicht auf die Strasse. Investieren Sie es dort. Anzeigenverkauf, T +41 76 325 10 60, anzeigen@vereinsurprise.ch

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BILD: ZVG

BILD: ISTOCKPHOTO

Leckeres Frühlingsgemüse: Bärlauch schmeckt in Pesto, Paste und Pasta.

Walk-in Closet, Kleidertauschbörse im Salzhaus, 22. März, 13 bis 17 Uhr, Winterthur.

Basel Der Frühling ist da!

Winterthur Gib mir deine Hose!

Wer genug hat von schrumpeligem Wintergemüse, dem sei der Basler Bärlauchmarkt auf dem Matthäusplatz wärmstens empfohlen. Neben allerhand Herrlichkeiten aus Bärlauch gibts frische Radieschen, Frühlingszwiebeln und Blütenzweige zu kaufen. Ausserdem wie immer Käse, Eier, Kräuter, Selbstgebackenes und -gebasteltes – und einen feinen Kaffee. (mek)

Wir wissen: Der moderne Mensch ist ein Schädling, und davon ist leider niemand ausgenommen. Soziale Ungerechtigkeit und Umweltzerstörung lauern in der Lebensmittelabteilung, beim Flug in die Ferien – und natürlich hinter den Kleiderstangen unserer Lieblingsboutique. In einem Industrieland wie der Schweiz verbraucht jeder Mensch pro Jahr rund 81 T-Shirts. Die Produktion eines solchen verbraucht 2000 Liter Wasser. Die Energie, die eine Jeans verbraucht, reicht für 3,5 Stunden Fernsehen täglich während eines Jahres. Wer die globalen Zusammenhänge seines Kaufverhaltens nicht ganz ausblendet, ist immer wieder aufs Neue mit der Gewissensfrage konfrontiert: Was tun für eine bessere Welt? Das Projekt «Walk-in Closet» liefert eine so erfrischende wie einfache Antwort: tauschen statt wegwerfen. Die Kleidertauschbörse findet in der ganzen Schweiz statt und macht zum zweiten Mal im Winterthurer Salzhaus halt. Die Idee: Man bringt maximal zehn seiner ehemaligen Lieblingsstücke mit und tauscht sie gegen neue Kleider. Rechtzeitig zum Frühlingsanfang lässt sich so kostenlos die Garderobe aufmotzen – Musik, Geselligkeit und ein gutes Gewissen inklusive. (ami)

Bärlauchmarkt auf dem Basler Matthäusplatz, Sa, 22. März, 8 bis 14 Uhr. www.matthaeusmarkt.ch

Anzeigen:

Walk-in Closet, Kleidertauschbörse im Salzhaus, 22. März, 13 bis 17 Uhr, Winterthur. www.infoklick.ch/walkincloset

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Verkäuferinnenporträt «Es ist besser, wenn ich nicht zu viel nachdenke» Die Basler Surprise-Verkäuferin Anka Stojkov (52) ist froh, wenn sie arbeiten kann. Sie mag ihre Kundschaft und die Stadt Basel sehr, das kalte Winterwetter hingegen weniger. Doch sie weiss, was dagegen hilft.

«Surprise verkaufe ich nun schon seit einigen Jahren. Vor der Hauptpost oder am Neuweilerplatz. Ich sah damals andere Verkäufer auf der Strasse das Heft verkaufen und fragte sie, ob ich das auch machen könne. Sie haben mich ins Vertriebsbüro geschickt, und so wurde ich Suprise-Verkäuferin. Ich bin froh, wenn ich arbeite, wenn ich etwas tun kann und nicht alleine zu Hause sein muss. Ich bin wirklich sehr froh darüber. Ich spreche mit den Kundinnen und Kunden und lache mit ihnen. Es gibt auch welche, die immer wiederkommen. Ich kenne immer mehr Leute und sie kennen mich. Ich wohne zwar nicht in Basel, habe aber immer hier verkauft. Ich weiss nicht warum, aber ich mag diese Stadt so sehr. Ursprünglich komme ich aus Serbien, etwa 80 Kilometer von Belgrad entfernt. Da habe ich mit meinem Mann und unseren beiden Kindern gelebt und mich um die Familie gekümmert. Vor etwa 18 Jahren kam ich in die Schweiz. In meiner Heimat war Krieg und mein Mann ist im Krieg gestorben. Ich ging dann in die Schweiz, die Kinder blieben bei meinen Eltern. Heute sind meine Tochter und mein Sohn erwachsen und haben selber Kinder, die schon zur Schule gehen. Der Sohn hat zwei Buben und die Tochter hat ein Mädchen und einen Buben. Sie leben immer noch in Serbien. Ich telefoniere häufig mit ihnen, auch mit meinem Vater. Meine Mutter lebt nicht mehr. Ich mag meine Arbeit, das Surprise-Verkaufen. Ich rede gerne mit den Leuten und lerne so auch ein bisschen besser Deutsch sprechen. In meiner Anfangszeit in der Schweiz besuchte ich einen Deutschkurs, da lernte ich viel. Aber je mehr man sich mit den Menschen unterhält, desto mehr lernt man. Immer wieder kommt ein neues Wort hinzu. Ich kenne auch Leute aus Serbien. Mit denen rede ich natürlich in meiner Muttersprache. Das ist auch ab und zu schön. Was ich nicht so mag, ist wenn es kalt ist im Winter. Das ist schlimm! Ich trage Strumpfhosen und zwei Paar Hosen übereinander und friere manchmal trotzdem! Aber ob es kalt oder warm ist, ob die Sonne scheint oder ob es regnet: Ich bin immer draussen. Den Sommer habe ich am liebsten! Schon gestern hatte ich eine solche Freude, als vor der Post die Sonne kam. Es war warm, total warm. Ich denke auch bei kaltem Wetter an den warmen Sommer. Das hilft schon ein bisschen. Wenn ich fertig verkauft habe, gehe ich direkt nach Hause, nehme ein warmes Bad, schaue fern und ruhe mich aus. Natürlich gibt es im Haushalt auch immer etwas zu tun wie Waschen oder Putzen. Aber ich nehme es auch gerne etwas ruhig. Oft habe ich Rückenweh, ich habe Probleme mit der Bandscheibe. Ich war schon beim Arzt, aber operieren lassen möchte ich mich nicht. Davor habe ich Angst. Das Schöne am Verkaufen ist natürlich der Kontakt mit den Leuten. Wenn ich mit den Leuten sprechen und scherzen kann, geht es mir gut.

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BILD: MIF

AUFGEZEICHNET VON MICHÈLE FALLER

Es ist besser, wenn ich nicht zu viel nachdenke. Dann denke ich nämlich an meine Familie, an früher, und das tut mir nicht so gut. Wenn ich einen Wunsch frei hätte, würde ich mir Gesundheit für meine Kinder, meine Enkelkinder und für mich selber wünschen. Das ist für mich das Wichtigste im Leben. Meine Gesundheit und dass es meinen Kindern gut geht im Leben. Ich lache viel. Es ist schon ein paar Mal vorgekommen, dass ein Kunde oder eine Kundin zu mir gesagt hat: ‹Sie lächeln so schön, Ihnen muss ich einfach ein Surprise abkaufen!› Das stimmt, ich muss sogar lachen! Es gibt ja so viele Leute, die ständig mit so einem langen Gesicht herumlaufen, die Mundwinkel zeigen immer nach unten. Ich sage aber: Wenn du traurig bist, musst du trotzdem lachen, dann geht es dir besser. Das ist nämlich gesund! Lachen ist sehr gesund.» ■ SURPRISE 321/14


SurPlus – eine Chance für alle! Werden Sie Gotte oder Götti bei SurPlus Surprise kümmert sich um Menschen, die weniger Glück im Leben hatten. Menschen, die kaum Chancen auf dem ersten Arbeitsmarkt haben und ihr Leben in die eigenen Hände nehmen wollen. Mit dem Verkauf des Strassenmagazins Surprise überwinden sie ihre soziale Isolation. Ihr Alltag bekommt wieder Struktur und mehr Sinn. Sie gewinnen neue Selbstachtung und erarbeiten sich aus eigener Kraft einen kleinen Verdienst. Das verdient Respekt und Unterstützung. Das Spezialprogramm SurPlus ist ein niederschwelliges Begleitprogramm für ausgewählte Surprise-Verkaufende, die regelmässig das Strassenmagazin

verkaufen und hauptsächlich vom Heftverkauf leben. Diese Verkaufenden erhalten nur geringe soziale Ergänzungsleistungen und werden im Programm SurPlus gezielt vom Verein Surprise unterstützt: Sie sind sozial abgesichert (Ferien, Krankheit, Nahverkehrsabonnement) und werden bei Problemen im oft schwierigen Alltag begleitet. Mit einer Patenschaft leisten Sie einen wesentlichen Beitrag für die soziale Absicherung der Verkaufenden und ermöglichen ihnen, sich aus eigener Kraft einen Verdienst zu erarbeiten. Vielen Dank für Ihr Engagement!

Elsa Fasil Bern

Kostana Barbul St. Gallen

René Senn Zürich

Marlis Dietiker Olten

Negasi Garahassie Winterthur

Josiane Graner Basel

Wolfgang Kreibich Basel

Tatjana Georgievska Basel

Bob Ekoevi Koulekpato, Basel

Anja Uehlinger Baden

Ralf Rohr Zürich

Emsuda Loffredo-Cular Basel

Fatima Keranovic Basel

Ja, ich werde Gotte/Götti und unterstütze das SurPlus-Programm von Surprise! 1 Jahr: 6000 Franken

1/2 Jahr: 3000 Franken

1/4 Jahr: 1500 Franken

Vorname, Name

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PLZ, Ort

Datum, Unterschrift

1 Monat: 500 Franken

321/14 Talon bitte senden oder faxen an: Verein Surprise, Administration, Spalentorweg 20, Postfach, 4003 Basel, F +41 61 564 90 99, info@vereinsurprise.ch, PC-Konto 12-551455-3 SURPRISE 321/14

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Surprise ist: Hilfe zur Selbsthilfe Surprise hilft seit 1997 Menschen in sozialen Schwierigkeiten. Mit Programmen in den Bereichen Beschäftigung, Sport und Kultur fördert Surprise die soziale Selbständigkeit. Surprise hilft bei der Integration in den Arbeitsmarkt, bei der Klärung der Wohnsituation, bei den ersten Schritten raus aus der Schuldenfalle und entlastet so die Schweizer Sozialwerke.

Ich möchte Surprise abonnieren! 24 Ausgaben zum Preis von CHF 189.– (Europa: CHF 229.– ) (Verpackung und Versand bieten StrassenverkäuferInnen ein zusätzliches Einkommen.) Gönner-Abo für CHF 260.–

Eine Stimme für Benachteiligte Surprise verleiht von Armut und sozialer Benachteiligung betroffenen Menschen eine Stimme und sensibilisiert die Öffentlichkeit für ihre Anliegen. Surprise beteiligt sich am Wandel der Gesellschaft und bezieht Stellung für soziale Gerechtigkeit. Strassenmagazin und Strassenverkauf Surprise gibt das vierzehntäglich erscheinende Strassenmagazin Surprise heraus. Dieses wird von einer professionellen Redaktion produziert, die auf ein Netz von qualifizierten Berufsjournalistinnen, Fotografen und Illustratorinnen zählen kann. Das Magazin wird fast ausschliesslich auf der Strasse verkauft. Rund dreihundert Menschen in der deutschen Schweiz, denen der Arbeitsmarkt verschlossen bleibt, erhalten damit eine Tagesstruktur, verdienen eigenes Geld und gewinnen neues Selbstvertrauen.

Sport und Kultur Surprise fördert die Integration auch mit Sport. In der Surprise Strassenfussball-Liga trainieren und spielen Teams aus der ganzen deutschen Schweiz regelmässig Fussball und kämpfen um den Schweizermeister-Titel sowie um die Teilnahme an den Weltmeisterschaften für sozial benachteiligte Menschen. Seit 2009 hat Surprise einen eigenen Chor. Gemeinsames Singen und öffentliche Auftritte ermöglichen Kontakte, Glücksmomente und Erfolgserlebnisse für Menschen, denen der gesellschaftliche Anschluss sonst erschwert ist. Finanzierung, Organisation und internationale Vernetzung Surprise ist unabhängig und erhält keine staatlichen Gelder. Das Strassenmagazin wird mit dem Erlös aus dem Heftverkauf und mit Inseraten finanziert. Für alle anderen Angebote wie die Betreuung der Verkaufenden, die Sportund Kulturprogramme ist Surprise auf Spenden, auf Sponsoren und Zuwendungen von Stiftungen angewiesen. Surprise ist eine nicht gewinnorientierte soziale Institution. Die Geschäfte werden vom Verein Surprise geführt. Surprise ist führendes Mitglied des Internationalen Netzwerkes der Strassenzeitungen (INSP) mit Sitz in Glasgow, Schottland. Derzeit gehören dem Verband über 100 Strassenzeitungen in 40 Ländern an.

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Herausgeber Verein Surprise, Postfach, 4003 Basel www.vereinsurprise.ch Öffnungszeiten Sekretariat 9 – 12 Uhr, Mo – Do T +41 61 564 90 90, F +41 61 564 90 99 info@vereinsurprise.ch Geschäftsführung Paola Gallo (Geschäftsleiterin), Sybille Roter (stv. GL) Anzeigenverkauf T +41 61 564 90 90, M +41 76 325 10 60 anzeigen@vereinsurprise.ch Redaktion T +41 61 564 90 70, F +41 61 564 90 99 Amir Ali (ami), Florian Blumer (fer, Nummernverantwortlicher), Diana Frei (dif), Mena Kost (mek) redaktion@vereinsurprise.ch, leserbriefe@vereinsurprise.ch Ständige Mitarbeit Rosmarie Anzenberger (Korrektorat), Rahel Nicole Eisenring, Shpresa Jashari, Carlo Knöpfel, Yvonne Kunz, Stephan Pörtner, Milena Schärer, Isabella Seemann, Priska Wenger, Tom Wiederkehr, Christopher Zimmer Mitarbeitende dieser Ausgabe Monika Bettschen, Manuela Donati, Simon Dreyfus, Michèle Faller, Andrea Ganz, Ralph Hug, Dominik Plüss, Oliver Zwahlen Gestaltung WOMM Werbeagentur AG, Basel Druck AVD Goldach Auflage 17150, Abonnemente CHF 189, 24 Ex./Jahr Marketing, Fundraising T +41 61 564 90 50 Christian von Allmen

Vertriebsbüro Basel T +41 61 564 90 83 Thomas Ebinger, Anette Metzner, Spalentorweg 20, 4051 Basel, basel@vereinsurprise.ch Vertriebsbüro Zürich T +41 44 242 72 11, M +41 79 636 46 12 Reto Bommer, Engelstrasse 64, 8004 Zürich, zuerich@vereinsurprise.ch Vertriebsbüro Bern T +41 31 332 53 93, M +41 79 389 78 02 Andrea Blaser, Alfred Maurer, Bruno Schäfer, Pappelweg 21, 3013 Bern, bern@vereinsurprise.ch Strassenchor T +41 61 564 90 40, F +41 61 564 90 99 Paloma Selma, p.selma@vereinsurprise.ch Strassensport T +41 61 564 90 10 Lavinia Biert (Leitung), Olivier Joliat (Medien), David Möller (Sportcoach) l.biert@vereinsurprise.ch, www.strassensport.ch Vereinspräsident Peter Aebersold Wiedergabe von Artikeln und Bildern, auch auszugsweise oder in Ausschnitten, nur mit ausdrücklicher Genehmigung der Redaktion. Für unverlangte Zusendungen wird von der Redaktion und dem Verlag jede Haftung abgelehnt. Surprise behält sich vor, an Verkaufende gerichtete Postsendungen zu öffnen. Barspenden an namentlich bezeichnete Verkaufende können nur bis zu einem Betrag von CHF 100.– weitergeleitet werden. Darüber hinausgehende Beträge sollen – im Einverständnis mit der Spenderin oder dem Spender – allen Verkaufenden zugute kommen.

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Ist gut. Kaufen! Die neuen Surprise-Taschen sind da! Gemeinsam mit dem Secondhand-Shop «Zweifach» aus Basel haben wir neue und schicke Surprise-Tasche entworfen! Die Taschen werden umweltfreundlich aus nicht mehr gebrauchten Lastwagenplachen genäht und mit Autogurten versehen. Sie sind geräumig und verfügen innen über ein grosses Zwischenfach. Erhältlich sind sie in den Farben Rot, Blau, Grün, Orange und Schwarz.

Zweifach ist ein Betrieb der Eingliederungsstätte Baselland und bietet jungen und erwachsenen Menschen mit einer Behinderung die Möglichkeit, im beruflichen Alltag Fuss zu fassen. Tun Sie sich, Zweifach und auch Surprise etwas Gutes und bestellen Sie noch heute ihre Tasche in ihrer Lieblingsfarbe! Surprise City-Taschen (24,5 x 35,5 cm); CHF 45.– (exkl. Versandkosten) schwarz orange grün blau rot

Der Surprise-Schriftzug soll folgende Farbe haben schwarz weiss silber

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Anzahl Taschen

321/14 Seite bitteMACH heraustrennen und schicken oder faxen an: Verein Surprise, Administration, Spalentorweg 20, Postfach, 4003 Basel, F +41 61 564 90 99, info@vereinsurprise.ch *gemäss Basic 2008-2. SURPRISE 321/14

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«Dem wahren Zürich nähern wir uns erst, wenn wir versuchen, alle seine Seiten kennen zu lernen. Unter der Oberfläche sehen wir vieles klarer und sind auch bereit, für alle da zu sein. Es wächst eine viel tiefere Beziehung zur ganzen Stadt. Der Soziale Stadtrundgang ist ein Beitrag dazu.» Moritz Leuenberger

Null Sterne. Keine Punkte. Nix Glamour. Der erste «Soziale Stadtrundgang» in Zürich. Surprise-Verkaufende wollen aus der Sicht von Armutsbetroffenen, Obdachlosen und Ausgesteuerten durch die Stadt führen. Sie möchten aus ihrem Alltag erzählen und Orte zeigen, an denen man sonst vorüber geht – oder lieber wegschaut. Gemeinsam haben sie eine Mission: Sie wollen Vorurteile abbauen. Weitere Informationen zum Projekt finden Sie unter: www.vereinsurprise.ch/stadtrundgang Mit Ihrer Spende ermöglichen Sie einen etwas anderen Blick auf Zürich. Unterstützen Sie den Aufbau des Projekts «Sozialer Stadtrundgang» in Zürich: www.surprise.sosense.org

Verein Surprise, Spalentorweg 20, Postfach, 4003 Basel, T +41 61 564 90 90, www.vereinsurprise.ch, www.strassensport.ch


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