Surprise 388

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Nr. 388 | 18. November bis 1. Dezember 2016 | CHF 6.– inkl. MwSt. Die Hälfte des Verkaufspreises geht an die Verkaufenden. Bitte kaufen Sie nur bei Verkaufenden mit offiziellem Verkaufspass.

Vor der Tür Wie Rechtsradikale einer Familie das Leben zur Hölle machen


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Surprise singt – auch für Sie! Buchen Sie den Surprise Strassenchor für Ihren Firmen- oder Privatanlass. Infos: www.vereinsurprise.ch/strassenchor oder Telefon 061 564 90 40.

Verein Surprise, Spalentorweg 20, 4051 Basel Spendenkonto PC 12-551455-3

Helfen tut gut. Zeit, zuzuhören. Zeit, abzuwarten. Zeit für Rückschläge. Zeit, zu helfen. All das gibt es in der niederschwelligen Beratung, die in den Surprise Regionalbüros in Basel, Bern und Zürich stattfindet. Die Verkaufenden des Strassenmagazins erhalten hier nicht nur ihre Hefte, gratis Kaffee oder Internetzugang, sondern wenden sich mit ihren Sorgen und Fragen an die Surprise Mitarbeitenden. Ob bei der Wohnungs- und Arbeitssuche, Schulden, beim Umgang mit Behörden und administrativer Korrespondenz, bei familiären Krisen oder Suchtproblemen – für zirka 400 armutsbetroffene Menschen in der ganzen Schweiz ist diese umfassende Begleitung eine unentbehrliche Stütze im Alltag. Surprise hilft individuell und niederschwellig. Spenden Sie heute. Spendenkonto PC: 12-551455-3, IBAN: CH11 0900 0000 1255 1455 3 2

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Ob wir uns auf der Strasse sicher fühlen, hängt von verschiedenen Faktoren ab. Tageszeit, Ort, Wetterlage und das Verhalten der Mitmenschen sind massgeblich dafür, wie wohl uns ausserhalb unseres Zuhauses ist. Ein Parkhaus bei Nacht als Frau, der einsame Waldweg bei Nieselregen in der Dämmerung ohne Hund oder die Grossdemo mit massivem Polizeiaufgebot sind keine Wunschszenarien für ängstliche Gemüter. Im Bedrohungsfall die Polizei rufen zu können, garantiert in einem funktionierenden Rechtsstaat für viele ein Gefühl von Sicherheit. Dass dieses System seine Grenzen hat, zeigt der Fall einer von Rechtsradikalen bedrohten Familie in Weil am Rhein. Lesen Sie mehr ab SARA WINTER SAYILIR Seite 14. Auch der soziale Status ist zudem entscheidend dafür, wie sicher wir sind. REDAKTORIN Wer auf der Strasse lebt, ist seinem Umfeld schonungslos ausgesetzt: der Kälte sowie der Willkür der Mitmenschen und Sicherheitskräfte. Wenig überraschend, dass viele Obdachlose auch dann noch misstrauisch sind, wenn man ihnen Hilfe anbietet. Das erfuhr Regisseurin Nadja Sieger – besser bekannt als Clownin Nadeschkin – während ihrer Recherche zu einem Theaterstück über Obdachlosigkeit in Berlin. Mit ihrem Werk «Aus die Maus» will sie Kinder zu einem sensibleren Umgang mit Obdachlosen animieren. Mehr dazu ab Seite 10. Dass Armut auch ein bedeutender Faktor für die eigene physische und auch psychische Sicherheit ist, beschreiben auch die Texte aus der diesjährigen Schreibwerkstatt der Caritas Zürich. Warum, zeigen Betroffene unter dem Titel «Schein und Sein» in Text und Bild ab Seite 18.

BILD: TOBIAS SUTTER

Titelbild: privat, Bearbeitung: WOMM

Editorial Zur Sicherheit

Ich wünsche Ihnen eine gute Lektüre Sara Winter Sayilir

10 Theater «Wir üben uns im Wegschauen» SURPRISE 388/16

14 Rechtsextremismus In ständiger Angst

ILLUSTRATION: ELIF

BILD: RENÉ RUIS

BILD: ZVG

Inhalt 04 Randnotiz Glühbirnen mit WLAN 04 Vor Gericht Blumen und Blüten 05 Die Sozialzahl Die AHV ist keine Giesskanne 06 Wir alle sind #Surprise «Mit Freude und Dankbarkeit» 07 Challenge League Sonne in der Hölle 08 Porträt Wildsau mit Helfersyndrom 22 Moumouni … ist unsicher 23 Buch Unaufdringlich engagiert 24 Film «Es ist kann verflixt kompliziert sein» 25 Kultur Magischer Strahlenschutz 26 Ausgehtipps Im Curriculum 28 Verkäuferinnenporträt International Tania 29 Surplus Eine Chance für alle 30 In eigener Sache Impressum

18 Armut «Wo bleibt der Parmigiano?»

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Randnotiz Glühbirnen mit WLAN Unser System basiert auf einer stetig wachsenden Wirtschaft. Also darfst du jedes Jahr mehr Geld ausgeben. Das ist die grosse Errungenschaft unserer Gesellschaft. Geniess die Auswahl. Sei glücklich, endlich gibt es Computer, die man am Handgelenk tragen kann. Sei dankbar, dass es jetzt Glühbirnen mit WLAN gibt. Sei froh, dass Hanspeter die Idee hatte, Joghurt unverpackt teurer zu verkaufen. Geniess es, dass du im Biomarkt ein Vielfaches für dein Abendessen bezahlen darfst. Überleg dir genau, wie du noch mehr Geld ausgeben kannst. Kauf deine COS-Jeans nicht zuhause in Zürich, hol sie lieber in Berlin, so dass du noch zwei Flüge und eine AirbnbUnterkunft zahlen darfst. Vergiss nicht, dir regelmässig ein reines Gewissen zu kaufen, indem du mindestens den CO2-Ausstoss deines Fluges, deiner Busfahrt und deiner EMails mit einer Spende kompensierst. Je mehr man arbeitet, desto effizienter sollte man Geld ausgeben, denn man hat ja kaum Zeit dazu. Du hast so viel Verantwortung, also verteile dein Geld gerecht und unterstütze auch das lokale Kino und den kleinen Buchhändler um die Ecke. Ohne dich werden sonst Menschen arbeitslos. Viel Konsum ist gut und noch mehr ist besser. Schon Gott sagte, Geiz sei eine Sünde. Du bist sowas von verpflichtet, dein Geld aus dem Fenster zu werfen, weil sonst die Erde stehen bleibt. Denk an die armen Produkte und die Millionen Produzenten, die von dir abhängig sind. Schenke ihnen die Berechtigung zu existieren. Du bist der heilige Konsument. In deinen Händen liegt nicht weniger als die Macht darüber, dass die Welt mindestens so schön bleibt, wie sie gerade ist. Dein Konsum ist ein tolles Geschenk an dich selbst und gleichzeitig eine wunderbare Leistung für die Gesellschaft. Mach nie Pause, kauf nachts und sonntags im Internet, werde besser darin, immer mehr Geld auszugeben. Wenn du es nicht kannst, weil du nicht jedes Jahr mehr verdienst, musst du Schulden machen. Sonst versagt die Wirtschaft und es wäre deine Schuld. Wenn es irgendwann keine Renten und Sozialleistungen mehr geben wird, dann hast du schlicht zu wenig konsumiert.

Florian Burkhardt war erfolgreicher Sportler, Model und Internetpionier. Sein Leben wurde im Film «Electroboy» dokumentiert.

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Vor Gericht Blumen und Blüten Was ihn geritten hat, kann er nicht sagen. «Es war eher so ein Spiel», sagt Murat B.* Mal auszuprobieren, was der neue Scanner und der Drucker so können, mit denen er für seine Bekannten hin und wieder Flyer gestaltet. Und dann sah die Fünfziger-Note, wenn nicht täuschend echt, so doch ziemlich gut aus. Der junge Mann druckte 20 Scheine, damals noch von den alten Fünfzigern. Dann ging er los. In einem Blumenladen kaufte er einen Blumenstrauss für seine Freundin. Er reichte der Floristin seine Blüte, sie gab ihm anstandslos 32 Franken Wechselgeld heraus. Da das so gut geklappt hatte, ging er in ein türkisches Lebensmittelgeschäft einkaufen. Allerlei Gemüse und Früchte und 17 Franken Wechselgeld waren die Gegengabe für das Falschgeld. Erfolg macht leichtsinnig: Den dritten Versuch startete B. in einer Shisha-Bar. Es war sein letzter. Eilte er zuvor nach dem Bezahlen gleich davon, blieb er diesmal lange sitzen. Die Kellner hatten Musse, sich den Geldschein in der Kasse genauer anzusehen. Während der Herr Fälscher an der Shisha zog, konnten die Kellner aber nicht mehr ausmachen, wer nun damit bezahlt hatte. Und um nicht die Kunden mit einem Fehlalarm zu verprellen, liessen sie alle laufen und alarmierten erst danach die Polizei. Dann passierte etwas Erstaunliches: Den Fälscher packten Skrupel. Er ging in die Bar zurück und sagte: «Ich war’s.» Vielleicht hatte er gehofft, seine Reue würde ihn vor einer Anzeige bewahren. Aber da war er auf dem Holzweg. Geldfälschung mag der Staat überhaupt nicht. Der Angeklagte, bislang unbestraft, sieht nicht aus, als hätte er das Zeug zum Betrüger im grossen Stil: 23 Jahre alt, ein kindliches Gesicht mit einer An-

deutung von Barthaar, sein rundlicher Körper steckt in einem Trainingsanzug, komplettiert wird das Outfit mit Turnschuhen, Baseballcap und Rucksack. Kein cleverer Profi-Gauner, kein Playboy, eher wirkt er bodenständig wie sein ehrbar erlernter Beruf: Sanitär. «Wollen Sie uns nicht etwas über die Hintergründe der Tat erzählen?», fragt der Richter. Vielleicht erwartet er irgendwelche Erklärungen über Kreativität und künstlerische Ambitionen, aber es folgt nur eine Geschichte nach dem üblichen Muster: eine On-und-Off-Beziehung, die Es-ist-kompliziert-Freundin wird schwanger, es folgen familiäre Probleme, der Täter verliert den Job, das Geld wird knapp, die Schulden häufen sich. Ein paar bunte Blüten für Blumen, Gemüse und eine Shisha. «Ich habe mich selbst der Polizei gestellt», versucht der Angeklagte seine Haut zu retten, und der Verteidiger fügt hinzu, dass ihm gar nichts passiert wäre, hätte er den verhängnisvollen Schritt zurück nicht getan. Aber das zählt nicht, der Mann sitzt in der eigenen Falle. Als minderschwerer Fall wird er zu sechs Monaten mit Bewährung verurteilt. Der Drucker und der Scanner landen in der Asservatenkammer, ebenso die Druckvorlage, der echte Fünfziger. Zudem muss B. dem Blumenladen und dem Gemüsegeschäft den entstandenen Schaden ersetzen. «Aber mit echtem Geld», ruft ihm der Richter noch zu. * Name geändert

Isabella Seemann ist freie Journalistin in Zürich und porträtiert monatlich die kleinen und grossen Fische, die es in die Gerichtssäle geschwemmt hat.

Priska Wenger ist Illustratorin in Biel und New York. SURPRISE 388/16


BILD: WOMM

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Quelle: Bundesa

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Die Sozialzahl Die AHV ist keine Giesskanne Die Mehrheit der Stimmenden hat im September die Initiative des Schweizerischen Gewerkschaftsbundes für eine kleine Erhöhung der AHV-Renten abgelehnt. Bald werden wir zu einer weit grösseren Reform der Altersvorsorge Stellung nehmen müssen. Verfolgt man die Diskussion im Parlament und in den Medien, so ist man immer wieder erstaunt darüber, wie begrenzt das Wissen über diese Altersvorsorge ist. Konzentriert man sich auf die AHV, muss man drei Stichworte kennen: Die AHV ist eine Sozialversicherung, sie finanziert ihre Rentenleistungen über das Umlageverfahren und basiert auf einem Generationenvertrag. Die AHV ist für alle obligatorisch. Unabhängig davon, ob man erwerbstätig ist oder nicht, hat man Beiträge an die AHV zu leisten. Wer nichts verdient, zahlt einen minimalen Beitrag. Erwerbstätige kennen die Lohnabzüge, die in gleicher Höhe von den Beschäftigten und deren Arbeitgebern zu entrichten sind. Im Moment belaufen sich diese auf je 4,2 Prozent. Dabei ist das gesamte Lohneinkommen AHV-pflichtig. Im Gegensatz zu anderen Sozialversicherungen kennt die AHV keine Obergrenze bei den Beiträgen. Anders sieht dies auf der Leistungsseite aus. Die minimale Rente für eine einzelne Person beträgt 1175 Franken. Die maximale Rente darf nur doppelt so hoch sein, also 2350 Franken nicht übersteigen. Wer über die Jahre im Schnitt mehr als rund 84 000 Franken verdient, zahlt mehr ein, als ihm oder ihr später an Rente zusteht. Die AHV ist eine gewollte Umverteilung von oben nach unten. Deshalb ist die AHV eine Sozialversicherung. Weil alle Personen in der Schweiz in dieses Obligatorium eingebunden sind, bekommen auch alle eine Rente, wenn sie das Pensionierungsalter erreichen. Und zwar unabhängig davon, ob sie diesen Betrag brauchen oder nicht. Die AHV ist keine Giesskanne, mit der Wasser auch dorthin geschüttet wird, wo es gar nicht

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rsicherungen

gebraucht wird. Die AHV ist eine Versicherung, die im «Schadensfall» gegenüber allen Versicherten ihre Leistung zu erbringen hat. Sobald man sich auf das Argument einlassen würde, dass Gutverdienende die AHV doch gar nicht benötigen, würden diese sich auch von der Beitragspflicht befreien wollen. Hier ist an das mahnende Wort des einstigen Bundesrats Willi Ritschard zu erinnern: «Es mag sein, dass die Reichen die AHV nicht brauchen, aber die AHV braucht die Reichen.» Die AHV ist eine einfach organisierte Sozialversicherung. Was sie an einem Tag einnimmt, geht am anderen Tag als Rente wieder raus. Mit diesem Umlageverfahren werden über ein Jahr Renten in der Höhe von rund 42 Milliarden Franken ausbezahlt. Die AHV wird nicht nur über die Lohnabzüge finanziert. Sie erhält auch Mittel aus Konsumsteuern: Ein Prozent der Mehrwertsteuer und der grösste Teil der Alkohol- und Tabaksteuer sowie der Spielbankenabgabe fliessen der AHV von der öffentlichen Hand zu. Dazu kommen noch Kapitalerträge auf den AHV-Fonds, in dem eine Reserve von rund einem Beitragsjahr liegt. Weil diese Erträge eher bescheiden ausfielen, verzeichnete die AHV-Rechnung im Jahr 2015 ein Defizit. Ob die AHV auch noch in 20, 30 oder 40 Jahren funktionieren wird, ob also auch die Jungen einmal eine Rente aus der ersten Säule erhalten werden, das hängt davon ob, ob der Generationenvertrag zur AHV halten wird. Dieser Vertrag bindet immer drei Generationen: jene der Grosseltern, der Eltern und der Kinder. Die Eltern finanzieren die Renten der Grosseltern und das Aufwachsen der Kinder. Sie tun dies im Wissen, dass ihre Eltern das Gleiche taten, und im Vertrauen darauf, dass ihre Kinder später diese Verpflichtung ebenfalls eingehen werden. Die AHV gibt es nur so lange, wie sie auf diese generationenübergreifende Solidarität bauen kann. Prof. Dr. Carlo Knöpfel ist Dozent am Institut Sozialplanung, Organisationaler Wandel und Stadtentwicklung der Hochschule für Soziale Arbeit der Fachhochschule Nordwestschweiz.

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Ausgabe 385 Ich lese Surprise sehr gerne, eigentlich jede Nummer. Immer wieder werden Themen behandelt, die in den Tagesmedien so nicht vorkommen. Herzlichen Dank für die Redaktionsarbeit. E.-M. Jodl, Affoltern am Albis

Hans Rhyner ist auf Anhieb sehr sympathisch, offen und hat eine ehrliche Freundlichkeit. Unser kurzes Gespräch hat mir spontan ein gutes Gefühl gegeben. Noch einige Minuten später hatte ich ein Lächeln im Gesicht. Dafür möchte ich Hans von Herzen danken! S. Schmid, Zürich

Wir alle sind #Surprise Wer das Strassenmagazin kauft, tauscht mehr als Geld gegen Ware: Fast immer gibt es ein Lächeln dazu, oft werden ein paar Worte ausgetauscht – und manchmal sogar gegenseitiges Vertrauen aufgebaut. Viele Leserinnen und Leser berichten uns von ihren Begegnungen mit den Verkaufenden. Und sie schreiben der Redaktion, was sie gut gefunden haben und was weniger. Wir bedanken uns herzlich für diese Rückmeldungen – und teilen hier einige davon mit Ihnen.

Yosef Asmerom hat mir Surprise nahegebracht. Ich lese jede Ausgabe von A–Z und freue mich immer, ihn samstags vor der Migros in Bassersdorf zu sehen und ein paar Worte mit ihm zu wechseln. R. Wegmann, Bassersdorf

Ausgabe 385

Danke für die Aufzeichnung des Verkäuferinnenporträts «Ich bin das schwarze Schaf der Familie». Der Mut und die Kraft dieser Frau aus Serbien haben mich berührt und beeindruckt. Wie sie trotz vieler Schwierigkeiten und Nöte wieder aufgestanden und ihren Weg mit ihren Söhnen weitergegangen ist: Chapeau! Ich wünsche ihr Kraft, um weiter an ihre Träume zu glauben und einen Schritt nach dem anderen mit Vertrauen zu gehen. E.-M. Conod, Zürich

Hugo Knobel steht in Zürich am Bahnhof Stadelhofen an der Stadelhofer Passage zwischen Kiosk und der Outback Lodge. Er trägt halblange, blonde Haare, und ich weiss, dass er die Wochenenden jeweils im Tessin verbringt. Seit ich pensioniert bin, komme ich nicht mehr bei ihm vorbei, aber eine Begebenheit mit ihm ist mir gut in Erinnerung geblieben: Es ist schon einige Jahre her. Surprise kostete damals noch fünf Franken. Nachdem im Hallenbad mein Kleiderkasten aufgebrochen wurde und ich meiner Barschaft und Uhr verlustig ging, hatte ich an Badetagen nur noch einen Fünfliber als Depotmünze für den Spind bei mir. Auf dem Heimweg kam ich beim Surprise-Verkäufer vorbei. Ich zeigte ihm die leeren Notenfächer und das leere Münzfach meines Portemonnaies und klagte, ich würde ihm jetzt mit meiner letzten Barschaft ein Heft abkaufen. Herr Knobel sah mich entsetzt an und fragte, ob er mir vielleicht mit einem Betrag aushelfen könne. Ich habe ihm dann die Situation erklärt. Noch heute denke ich mit Freude und Dankbarkeit daran zurück, dass ein Mensch, der sicher finanziell nicht auf Rosen gebettet ist, mir in einer vermeintlich schlimmen Lage Hilfe angeboten hat. G. Cornu, Felben-Wellhausen

Stadtrundgang Vielen Dank für die Führung «Konfliktzone Bahnhof – vom PissPass zur Wärmestube» mit den Stadtführern Markus Christen und Heiko Schmitz. Ich fand sie unglaublich spannend und auch faszinierend. Viele Dinge waren mir überhaupt nicht bewusst und brachten mich immer wieder zum Staunen. Die lockere Art der Stadtführer und wie sie über diese Dinge gesprochen haben, machte die ganze Führung noch einmal ein Stück besser. Viele Dinge werde ich in Zukunft anders begutachten und einmal mehr überdenken als zuvor, beispielsweise wenn ich auf Bänken oder Ähnlichem sitze. Y. Gschwind, Therwil

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Surprise ist auf Spenden angewiesen. Auch auf Ihre! Herzlichen Dank. PC-Konto 12-551455-3 oder vereinsurprise.ch/spenden-surprise Schreiben auch Sie uns – oder schicken Sie uns Bilder von Ihren Begegnungen mit Surprise! leserbriefe@vereinsurprise.ch oder Verein Surprise, Redaktion, Spalentorweg 20, 4051 Basel SURPRISE 388/16


BILD: ZVG

Challenge League Sonne in der Hölle

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Ein Blick in die Zelle: Der Autor und seine Mitinsassen.

guter Geruch nach Mandarinen und Orangen, es muss in der Nähe einen Garten gegeben haben. Morgens versuchte ich jeweils, diesen Geruch zu geniessen. Ich stellte mich ans Fenster und atmete tief ein. Schamsuddin fand das interessant und stellte sich manchmal dazu, um ebenfalls zu riechen. Wir sprachen viel am Fenster, und ich fand heraus, dass er ein radikaler Muslimbruder war. Nach einem Monat schickte mir ein Freund aus England eine grosse Schachtel mit Büchern nach meinem Geschmack; Philosophie, Politik und Romane. Eines Tages unterbrach mich Schamsuddin beim Lesen: «Was für einen Quatsch liest du da? Diese Bücher sind von Ungläubigen, die den Menschen von Gott ablenken und in die Finsternis führen wollen. Es ist meine Pflicht, dir den rechten Weg zu Gott zu zeigen.» Ich packte die Gelegenheit zum Dialog: «Ich lese hier gerade Kant, und der findet, das Nachdenken über Übersinnliches führe in die Irre, weil der Mensch nicht genügend darüber wissen könne.» Schamsuddin brüllte mich an: «Er zieht dich direkt in die Hölle mit seinem Weg.» Ich sagte lächelnd: «Wird man auch für das Lesen bestraft und in die Hölle geschickt?» Wir debattierten täglich über Himmel und Hölle. Ich sprach von der Realität und verglich die Hölle mit unserer dunklen Zelle. Er aber wollte mich auf den richtigen, heiligen Weg bringen. Manchmal stritten wir richtiggehend und brüllten einander an. Einmal, nach so einem heftigen Streit, sprachen wir fast fünf Tage nicht miteinander, bis schliesslich Maulud zwischen uns vermittelte und den Frieden in die Zelle zurückbrachte. Aber langsam verstanden wir uns besser, und am Ende konnten wir normal über alles diskutieren. Schamsuddin rasierte sogar seinen langen Bart ab.

Nach sechs Monaten im Dunkeln kam ein Polizist und sagte: «Macht euch bereit, ihr werdet in ein Lager gebracht.» Die Polizei durfte uns nicht mehr als sechs Monate unter solchen Bedingungen festhalten. Wir wurden einer nach dem anderen in Handschellen nach draussen gebracht. Es regnete stark und war dunkel an jenem Tag Anfang Februar. Wir fuhren nach Komotini nahe der türkischen Grenze, wo wir spätabends aus dem Minibus stiegen, in dem es nur eine kleine Lampe, keine Fenster und kaum Luft zum Atmen gab. Das Lager war ein vierstöckiges Gebäude, das rundherum mit Stacheldraht umzäunt war. Flüchtlinge hatten es zweimal bei Protesten in Brand gesetzt, aber es hatte grosse Fenster und Matratzen. Man brachte uns zu einem Zimmer, in dem bereits drei Kurden sassen. Müde von den Handschellen und der Fahrt in dem stickigen kleinen Minibus legte ich mich auf eines der weichen Betten. Als ich einschlief, rief jemand meinen Namen, ich war nicht sicher, ob es ein Traum war. Ich öffnete die Augen und hob den Kopf. Es war bereits Morgen und Schamsuddin lehnte neben dem Fenster an der Wand, wo die Sonne ihn anstrahlte. Er rief laut: «Wir haben endlich den Himmel gefunden, es gibt keine Finsternis mehr!»

BILD: FLURIN BERTSCHINGER

Meine Flucht aus Iran brachte mich 2012 nach Griechenland, von wo ich weiter nach Mitteleuropa wollte. Ich bezahlte dafür einem Schleuser 4000 Euro, da ich weder einen Reisepass noch eine Aufenthaltsbewilligung hatte. Der Schleuser besorgte mir einen italienischen Ausweis, der auf den Namen Marco Rossi lautete, und klebte mein Foto drauf. Zuversichtlich ging ich zum Hafen von Igoumenitsa, um eine Fähre nach Venedig zu nehmen. Einfach so, als ob ich europäischer Bürger wäre. Am Kontrollpunkt fragte ein Polizist nach meinen Papieren. Ich holte meinen italienischen Ausweis aus der Hosentasche und gab ihn dem Beamten. Als er den Ausweis öffnete, fiel das aufgeklebte Foto zu Boden. Später wurde ich auf die Polizeistation der nahe gelegenen Stadt Arta gebracht. Eingeklemmt zwischen zwei Polizisten lief ich die Treppe hinunter, wo es einen schmalen Korridor mit vier Zellen gab. In jeder Zelle waren ein Paar Häftlinge, die sich bereits auf Persisch, Urdu und in anderen Sprachen über meine Ankunft unterhielten. Man öffnete die Gittertür der Zelle in der Mitte des Korridors. In der Ecke war ein kleines Fenster, in der Tür stand ein Junge und ganz hinten sass ein Mann. Bald kam ich mit dem Jungen ins Gespräch, er war 16, hiess Maulud und sprach algerisches Arabisch, das ich nur schwer verstehen konnte. Der andere aber blieb die ganze Zeit in seiner Ecke und bewegte sich von dort nicht fort, auch nicht zum Abendessen. Am nächsten Tag, als ich mich früh am Morgen mit meinem Buch hingesetzt hatte – «Der Gotteswahn» von Richard Dawkins –, kam er etwas nach vorne und fragte mich auf Arabisch: «Was liest du da?» «Philosophie», antwortete ich. «Worum geht es?» – «Darum, dass es sehr wahrscheinlich keinen Gott gibt.» – «Das ist Quatsch! Es gibt nur ein Buch der Wahrheit! Der Koran ist Gottes Wort und gilt überall!» Nach diesem Gespräch hatte ich Angst vor ihm. Dafür sprach ich oft mit Maulud, obwohl er erst für das Mittagessen aufstand und bald nach dem Abendessen wieder schlafen ging. Er war nur etwa sieben Stunden pro Tag wach. Irgendwann bastelten Maulud und ich uns ein Schachbrett aus einer Pizzaschachtel. Wir spielten oft, und eines Tages fragte der Ältere, ob er auch mitspielen könne. Wir plauderten etwas während der Partie, und am Ende stellte er sich vor: Schamsuddin, 28, aus Algerien. Ich begriff, dass er aus einer religiösen Familie stammte. Schamsuddin bedeutet «Sonne des Glaubens». In unserer Zelle gab es kein Sonnenlicht, das Fenster war klein und mit einem Gitternetz verhängt. Trotzdem drang durch das Fenster ein

Der iranisch-kurdische Journalist Khusraw Mostafanejad, 31, wurde 2015 vorläufig in der Schweiz aufgenommen. Hier erzählt er von den Menschen, die er auf der Flucht kennengelernt hat.

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Porträt Wildsau mit Helfersyndrom Der Gastronom Markus Stocker hilft mit einem Projekt Flüchtlingen in Süditalien. Weil ihm die Politik zu träge ist, engagiert er sich lieber im Kleinen.

VON MARA WIRTHLIN (TEXT) UND BASILE BORNAND (FOTO)

fo- und Essensständen, Konzerten und einer Kunstauktion, ein weiteres Event ist Ende November im Basler Sudhaus geplant. Manche meinen, es sei dekadent, auf diese Weise Geld für Flüchtlingsprojekte zu sammeln, sagt Stocker. Die Konsumgesellschaft hierzulande mit der humanitären Katastrophe andernorts direkt zu verknüpfen, ist offenbar nicht jedermanns Sache. «Viele halten uns zudem für zu wenig politisch», ergänzt er, obwohl auch Politikerinnen wie die Basler Grossrätin Sarah Wyss (SP) bei Help for Refugees mitarbeiten. Stockers Engagement allerdings habe mit Politik tatsächlich wenig zu tun, eher mit «purem Humanismus», wie er sagt. Politik interessiere ihn zwar, sei ihm aber zu träge. Lieber wirke er im Kleinen: «Wir können die Welt nicht verändern. Aber wir können einzelnen Menschen konkret weiterhelfen», ist er überzeugt. Hat er erstmal für eine Sache Feuer gefangen, ist Stocker kaum zu bremsen. Einmal setzte er in einem einzigen Sommer 160 000 Franken in den Sand – er hatte sich mit einem Gastroprojekt auf dem Kasernenareal völlig überschätzt. Das Fiasko warf ihn in eine tiefe emotionale Krise, aus der er gestärkt hervorging, wie er erzählt. Noch heute wird er sehr ernst, wenn er sich daran erinnert. «Man wächst vor allem in

In Blazer, Hemd und eleganten Lederschuhen könnte Markus Stocker – in Basel als «Stocky» bekannt – auch als klassischer Firmenangestellter durchgehen. Wären da nicht die beiden Tätowierungen, die an Hals- und Ärmelkrempe hervorblitzen. Und dieser direkte, etwas wilde und zugleich spitzbübische Blick des 48-Jährigen, der vermittelt: Ich mach mein eigenes Ding, ob du willst oder nicht. Wenn Stocker erzählt, meint man, eine Lust am Spiel mit Klischees, an einem gewissen «bad boy image» zu spüren. Und irgendwie entspricht es ihm auch: Anstatt Studium und anschliessender Festanstellung lebte er eine wilde Jugend. Er reiste und feierte viel und hielt sich mit unterschiedlichen Gelegenheitsjobs über Wasser. «In meinem wohlhabenden Elternhaus bin ich mit diesem Lebensstil oft angeeckt», sagt er. In den Neunzigerjahren entdeckte der grossgewachsene, schlanke Mann dann seine Leidenschaft für die Gastronomie. Er tourte mit einem mobilen Ofen durch die ganze Schweiz und bereitete elsässische Flammkuchen nach dem Rezept seiner Grossmutter zu. Es folgten Projekte mit einer grossen Spannbreite im Stil- und Preissegment: So war er einer der zwei Betreiber des Edel-Restaurants Johann, das im vergangenen Herbst aus wirt«Wir können die Welt nicht verändern. Aber wir können einzelschaftlichen Gründen die Pforten schloss. Er nen Menschen konkret weiterhelfen.» betreibt aber auch Buvetten in Kaiseraugst und auf der Wasserfallen, mobile Container-Bars, wie sie auch in Basel an zahlreichen Stellen stehen. Das verbindende schwierigen Zeiten», sagt er. Finanziell lebt er eher auf kleinem Fuss, Element seiner unterschiedlichen Projekte sei die Liebe zu den Mensein Einsatz für Help for Refugees ist reines Ehrenamt. Geld interessieschen: «Mir geht es vor allem um den Kontakt zu den Gästen», sagt Store ihn nicht, «aber brauchen tut man es leider doch». cker. «Auch wenn man mir Raubein das vielleicht nicht gibt, aber ich bin Stocker reflektiert gern über sich und sein Leben und erzählt von seiein Philanthrop.» nen orientierungslosen Jahren als junger Mann, als seine kaum zu bänUnter anderem deshalb gründete Stocker vergangenen Herbst das digende Lebenslust auch negative Seiten hatte. «Früher war ich sehr Netzwerk Help for Refugees Basel. Am Anfang seines Engagements ausufernd. Meine Energie wirkte auch destruktiv – gegen mich und die stand vor allem Wut: «Als im vergangenen Frühjahr Bilder von toten Menschen in meinem Umfeld.» Das Flüchtlingsengagement, seine BeFlüchtlingskindern um die Welt gingen, war ich zuerst stinksauer!» ziehung und auch der Fakt, dass er vor zweieinhalb Jahren zum zweiStocker nutzte sein Netzwerk, berief Sitzungen mit Politikern und enten Mal Vater wurde – all das verleiht ihm Halt. «Ohne meine Partnerin gagierten Kulturschaffenden ein und liess sich von Freunden beraten, geht nichts», gibt Stocker gern zu. Mit ihr führt er die Buvette Fux & Haas die professionell in der Entwicklungsarbeit tätig sind. Schliesslich auf der Wasserfallen, und ab kommendem Frühling wird das Paar zukonnte er eine Gruppe von Leuten zusammentrommeln: Help for Refudem das Restaurant im Sonnenbad auf dem Margarethenhügel führen, gees leistet Soforthilfe und finanziert ein Wohnheim für junge Migraneiner kleinen, altehrwürdigen Badeanstalt. Stockers Freundin ist nicht tinnen und Migranten in der süditalienischen Stadt Bari mit. Rund nur Lebens-, sondern auch seine wichtigste Geschäftspartnerin. Vor al70 000 Franken hat die Gruppe schon investiert, dreimal reiste sie zulem aber halte sie ihm schonungslos den Spiegel vor und ermögliche dem nach Süditalien, um Kleider, Decken und ähnliche Hilfsgüter zu ihm dadurch, aus seinen Fehlern zu lernen, sagt er. verteilen. Schon immer war Stocker den Frauen sehr zugetan. Mit seinen zahlEs ist nicht das erste Mal, dass Stocker sich für andere einsetzt: Als reichen Exfreundinnen verstehe er sich noch immer blendend. Die ein senegalesischer Angestellter und Freund im Jahr 2011 ausgewiesen «wunderschöne Beziehung» zum älteren, heute 22-jährigen Nachwuchs werden sollte, kämpfte er, bis dieser nach fünf Jahren juristischem Hin pflegt und geniesst er ebenfalls. Da gibt es auch einiges nachzuholen, und Her endlich bleiben durfte. Seine neue Organisation gibt Stockers denn: «Als ich zum ersten Mal Vater wurde, war ich in vielerlei Hinsicht Wunsch, anderen Menschen zu helfen, eine konkrete Form. Zudem eine rücksichtslose Wildsau», so Stocker. Reuen tut es ihn allerdings kann er es mit seiner Leidenschaft für die Gastronomie verbinden: Das nicht: «Es gibt keine verpassten Chancen, es musste alles so sein, wie es Fundraising betreibt Help for Refugees in enger Zusammenarbeit mit der war.» Er könne sich nicht anpassen oder verstellen, konnte es noch nie. Basler Kultur- und Restaurantszene. So fand gemeinsam mit anderen «Ich bin hundertprozentig authentisch und pur. Das ist nicht immer einOrganisationen im März ein Grossanlass in der Markthalle statt, mit Infach. Aber ich lerne dazu.» ■

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BILD: GERI BORN

Nadja Sieger hält ihre verschiedenen Rollen strikt getrennt: die Schauspielerin und Theatermacherin, die Komikerin und die Privatperson.

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Interview «Wir üben uns im Wegschauen» Die Clownin Nadja Sieger, besser bekannt als Nadeschkin, hat am Berliner Grips-Theater ein Theaterstück über Obdachlose inszeniert – für Kinder. Sie möchte bei ihnen ein Umdenken über Menschen auf der Strasse bewirken. INTERVIEW VON BEAT CAMENZIND

Nadja Sieger, das Stück «Aus die Maus» basiert auf einer wahren Begebenheit. Eine Obdachlose brachte es fertig, über mehrere Monate im Berliner Grips-Theater versteckt zu wohnen. Konnten Sie mit der Frau reden? Nein, ich weiss nicht, wo die Frau heute lebt. Ich konnte nie mit ihr sprechen. Sie flog auf und durfte nicht mehr im Theater übernachten. Aber es ist erstaunlich: Die Frau schaffte es, monatelang ungesehen am Sicherheitspersonal und beim Portier vorbeizukommen. Sie muss die Situation am Eingang sehr genau beobachtet und einen Trick rausgefunden haben. Das war ziemlich raffiniert.

Menschen hinein. Ich gab ihnen Spielsituationen vor, und was dabei entstand, haben wir gefilmt, ausgewertet und streckenweise als ganze Dialoge abgetippt. So entstand in wochenlanger Arbeit ein Stück. An wen wendet sich das Theaterstück? Das Stück ist für 8- bis 11-jährige Kinder. Die sind in Berlin härter drauf als in der Schweiz. Je nach Quartier, in dem sie wohnen, sind sie selber mit Armut konfrontiert und sehen täglich obdachlose Menschen. Manche hören schon in diesem Alter die Vorurteile der Eltern: Obdachlose sind faul und nutzlos. Sie sehen, wie die Leute auf der Gasse beschimpft werden. Sie wissen aber nicht, dass das ungerecht ist, und kopieren das Verhalten der Eltern.

Sie haben lange über Obdachlose recherchiert. War das Neuland für Sie? «Kinder sind in Berlin härter drauf als in der Schweiz. Je nach Quartier, Die Theaterleitung hat mich für Regie und in dem sie wohnen, sind sie selber mit Armut konfrontiert und sehen Autorenarbeit angefragt. Mir war von Anfang täglich obdachlose Menschen.» an klar, dass ich das Stück nicht am Tisch schreiben konnte. Ich wollte mich auf das TheWas ist denn härter in Berlin als in Zürich? ma einlassen. Also begann ich zu recherchieren und möglichst viele InDie Anonymität ist gross, und ebenso gross ist die Freiheit. Keiner formationen über Obdachlosigkeit in Berlin zu sammeln. Und natürlich schaut hin. Das kann toll sein, wenn es dir gut geht und alles rund läuft. ging ich auf die Gasse. Ich besuchte eine Suppenküche und fuhr beim Wenn du aber auf der Gasse lebst, kann das im schlimmsten Fall den Kältebus mit. Der dreht seine Runden in der Nacht. Die Mitarbeiter verKältetod bedeuten. sorgen Obdachlose mit Decken und anderer Hilfe, wenn es draussen so richtig kalt ist. Sie sind vor allem als Clownin bekannt. Haben Sie diese Rolle ins Stück eingebracht? Und wie wurde daraus dann das Theaterstück? Clowns hadern immer mit Regeln und Fehlern. Sie geben dabei nie auf. Anhand der Informationen aus der Recherche liessen wir die SchauAuch wenn es längst keinen Sinn mehr macht, nichts kann sie bremsen, spieler improvisieren. Sie versetzten sich in das Leben von obdachlosen SURPRISE 388/16

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BILD: DAVID BALTZER/BILDBUEHNE.DE

Maus (Frederic Phung) ärgert sich: Mit Kippe (Regine Seidler) auf der Bühne kann er nicht weitermachen wie bisher.

sie machen weiter im eisernen Glauben an das «Mein knapp sechsjähriger Sohn ist noch wertungsfrei und begegnet Licht am Ende des Tunnels. Insofern sind sie den Obdachlosen auf Augenhöhe, solange ich nichts Negatives über Obdachlosen ähnlich: Sie haben alles verloren sie sage.» ausser dem Glauben, dass es trotz allem, was nicht mehr geht, weitergeht. Inwiefern? Clowns sind aber auch wie Kinder. Es ist ein stetes Auf und Ab mit der Als ich mit dem Kältebus in der Nacht unterwegs war, lehnten viele ObStimmung. Sie sind zu Tode betrübt und dann wieder himmelhochdachlose einen Schlafsack ab. Sie waren launisch in ihrem Unglück, jauchzend, brechen Regeln, funktionieren nicht oder völlig anders im wollten ihre Ruhe. «Jeder kann auf der Strasse enden»: Diese Aussage beSystem. Auch hier gibt es eine Parallele zu den Obdachlosen. Auch sie gegnete mir oft im Gespräch mit Leuten, die hier täglich helfen, und imtun unfreiwillig Dinge, die man nicht tun sollte, einfach weil sie gerade mer wieder fragte ich mich, ob das auch stimmt. Erst war der Job weg, nicht anders können. dann die Frau, die Familie, der Freundeskreis, und dann? Wer mit Obdachlosen redet, weiss: Sie erzählen einem nie die ganze Wahrheit. WaClowns und Obdachlose haben also viel gemeinsam? rum auch? Viele verstehen ja selber nicht, warum ihr Leben so schiefgeClowns, Kinder sowie Obdachlose leben, wenn auch aus unterschiedlaufen ist. lichen Gründen, im Moment. Und wer im Moment lebt, verwickelt sich ständig in neue Probleme, lebt dabei aber auch eine gewisse LeichtigKann ein Theaterstück Verständnis für Obdachlose schaffen? keit. Kaum einer weiss, dass Obdachlose auch lachen können. Aber sie Wir schauen täglich weg, weil wir so gar nicht wissen, was wir für diekönnen es. se Menschen tun könnten. In Berlin begegnet man je nach Kiez 15 Obdachlosen pro Tag. Man gibt einem oder zweien was, die anderen überHaben Sie bei der Arbeit auch Ihre eigenen Ansichten über Obdachsieht man. Im Theater lernen wir das Gegenteil: hinschauen, bei «Aus lose überdacht? die Maus» 75 Minuten lang. Die Zuschauer erfahren verschiedene GeBisher wusste ich wenig. Ich kannte aber die Meinung derer, die sagen, schichten, wieso Obdachlose so sind, wie sie sind. Sie lernen deren Ziewer auf der Strasse lebt, sei selbst schuld, sie seien auf Drogen oder le und Träume kennen und haben die Chance, etwas zu erfahren, was krank und man selber nicht zuständig. Während meiner Recherchearsie sonst nicht erfahren können, wollen oder dürfen. beit wurde mir etwas Wichtiges klar: Niemand verlässt freiwillig für immer seine Wohnung. Niemand landet gern in solch einer unangenehmen Was passiert im Stück «Aus die Maus» konkret? Lebenssituation. Es steckt immer eine Verkettung von SchicksalsschläEin Schauspieler will in der Rolle der coolen Zaubermaus seine Erfolgsgen dahinter. Hinzu kommt, dass Eigenschaften wie Stolz oder Scham theorien vom glücklichen Leben präsentieren. Die obdachlose «Kippe» keine guten Ratgeber sind für den Weg zurück ins warme Daheim.

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Kippe: «Da draussen gibt es Tausende, die obdachlos sind, die sind alle zur Schule gegangen, also fast …» Maus: «Ja, aber wir werden nicht obdachlos!» Kippe: «Wer ist denn wir? Wer sind denn Sie und wer bin ich?» Bei Ihren Recherchen für das Stück haben Sie herausgefunden, dass es in Deutschland kaum Statistiken über Obdachlose gibt. Es ist schwierig, Obdachlose zu zählen. Viele verstecken sich. Trotzdem gibt es Städte, die sich mehr um diese Menschen kümmern als Berlin. Aber was man nicht zählt, zählt nicht. Dabei wären hier die Zahlen enorm wichtig. Zum Beispiel in der Politik, wo sich Dinge oft erst verändern, wenn sie zu fassen und zu beweisen sind. In Berlin gibt es bislang nur Schätzungen: Man redet von rund 40 000 Wohnungslosen. Davon leben 6000 auf der Strasse. Angeboten werden gerade mal 600 Notschlafplätze. Ausserdem schätzt man, dass 60 Prozent der Obdachlosen nicht aus Berlin sind, sondern aus dem Osten, 20 Prozent stammen aus den ländlichen Gegenden Deutschlands, und nur 20 Prozent sind aus Berlin selbst. Wagen Sie einen Vergleich mit der Situation in der Schweiz? Berlin wird derzeit immer mehr ein Magnet für Randständige, ähnlich wie das früher der Platzspitz in Zürich für Drogensüchtige war. In den nächsten drei Jahren soll die Anzahl der Obdachlosen in Berlin laut Schätzungen um 60 Prozent zunehmen. In der Schweiz ist man von solchen Zahlen meilenweit entfernt. Hier gibt es auch mehr Institutionen, die sich dieser Menschen annehmen. In Berlin gibt es auch Personen, die sich für Hilfszentren einsetzen, aber es gibt zum Beispiel keinen Pfarrer Sieber. Ich glaube, in der Schweiz geht es den Obdachlosen besser, wenn sie denn Hilfe annehmen wollen.

Hinschauen schafft nähe und Verständnis, lehrt «Aus die Maus».

erwacht hinter dem Vorhang und kommt ins Scheinwerferlicht, um zu schauen, was hier gespielt wird. Der Schauspieler wird sauer, weil er mit dieser Frau auf der Bühne sein Stück nicht weiterspielen kann. Aber die Obdachlose kurzerhand rauswerfen geht eben auch nicht, denn Kippe wohnt heimlich im Theater. Es ärgert den Schauspieler zudem, dass das Publikum fast mehr über Kippe lacht als über ihn. Sie parodiert ihn und lockt ihn aus der Reserve, bis er zu ihr sagt: «Die lachen nur, weil du eine Pennerin bist. Weil du nichts kannst!» Es gab Testvorstellungen, da schrien ein paar Kinder im Publikum: «Ja, er hat recht, du bist scheisse.» Andere hielten dagegen. Ein echter Konflikt. Anfänglich handelt der Schauspieler gegen Kippe. Dann erfährt er ihre Geschichte und wird empathisch. Die Zuschauer erleben das genauso. Einige wechseln während des Stückes von der einen Seite auf die andere. Das Stück schafft Nähe, Trauer, Freude und Versöhnung. Kurz: Man begegnet einer Obdachlosen auf Augenhöhe. Maus: «Kennt ihr das: Es gibt Tage, da springst du morgens aus dem Bett und freust dich, weil alles einfach grossartig ist.» Kippe: «Ick hab keen Bett!» Maus: «Das ist doch blöd jetzt, vor den Kindern, alle hier haben ein Bett. Oder gibt’s jemanden, der kein Bett hat?» Kippe: «Ich.» Maus: «Um Sie geht es nicht, es geht um die Kinder.» Kippe: «Aber wenn jetzt, zum Beispiel, sie hier (sie zeigt auf ein Kind) später mal obdachlos ist, und Sie jetzt sagen, darum geht’s hier nicht …» Maus: «Die werden doch später nicht obdachlos!» Kippe: «Wieso denn nicht?» Maus: «Ja, aber hallo? Die gehen alle zur Schule.» SURPRISE 388/16

Sie haben einen Sohn. Haben Sie ihn beim Schreiben für das Kindertheater um Rat gefragt? Mein Sohn ist bald sechs Jahre alt. Er hat das Stück schon bei den Proben gesehen. Und ja, er war mir ein Ratgeber. Das Gute an seinem Alter ist, dass er noch keine Vorurteile hat. Er nimmt die Figuren im Stück so, wie sie sind. So wie die Leute miteinander umgehen, so kommt es von ihm zurück. Wenn ich ihm Geld für einen Bettler gebe, gibt er ihm das gerne einfach weiter. Er ist wertungsfrei und begegnet den Obdachlosen auf Augenhöhe, solange ich nichts Negatives sage über diese Leute. Als Mutter versuche ich ihm zu vermitteln, dass das Wichtigste ein respektvoller Umgang mit sich und anderen Menschen ist. Man soll zu sich Sorge tragen. ■

Auf vielen Bühnen zuhause Nadja Sieger ist 1968 in Zürich geboren. Ein Jahr vor der Matura, 1987, gründete sie mit Urs Wehrli das Duo Ursus & Nadeschkin. Die beiden feiern nächstes Jahr ihr 30-jähriges Bühnenjubiläum. Sie haben in dieser Zeit unter anderem acht abendfüllende Programme gespielt, waren mit dem Zirkus Knie unterwegs oder brachten ein ganzes Sinfonieorchester ins Wanken. Dafür erhielt das Duo in der Schweiz fast alle Preise, die an Theaterleute vergeben werden. Doch Nadja Sieger ist nicht nur Nadeschkin. Sie singt, synchronisiert Filme oder spielt als Schauspielerin mit, schreibt Drehbücher, arbeitet als Regisseurin, moderiert, unterrichtet und ist Mutter eines Sohnes. Derzeit lebt sie in Berlin.

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Rechtsextremismus In ständiger Angst Rechtsradikale drangsalieren eine Familie in Weil am Rhein. Das Verfahren läuft, die Polizei ist in Alarmbereitschaft. Und trotzdem kann die Familie nicht mehr in Frieden leben. Eine Reportage über die Grenzen des Rechtsstaats im Bedrohungsfall.

VON SIMON JÄGGI (TEXT)

wiederholt am Auto zu schaffen machte. Die Polizei durchsuchte daraufhin dessen Wohnung, fand eine abgebrochene Antenne und Sekundenleim. Die Familie verzeigte den Mann, den sie kaum kannte, wegen Störung des Nachbarschaftsfriedens. Das Familiengericht sprach ein Annäherungsverbot aus. Der Nachbar durfte sich fortan der Familie nicht mehr als auf 150 Meter nähern. Doch das schreckte ihn nicht ab: Er bedrohte die beiden Söhne, beschimpfte Anita Diallo als «Negerschlampe». Dann kündigte die Verwaltung ihm fristlos die Wohnung. «Wir dachten, damit kehrt Ruhe ein. Doch das Unheil nahm gerade erst seinen Lauf», sagt Anita Diallo. Als die Familie kurze Zeit später durch den Ort spazierte, fuhr der Schwiegersohn des Nachbars vor und bremste scharf. Er habe ihr zugerufen «Dich mache ich fertig», schildert Anita Diallo den Ablauf der Ereignisse. Die Diallos rannten zu ihrem Auto, um zur Polizei zu fahren. In einem Kreisel schnitt ihnen der Schwiegersohn abermals mit dem Auto den Weg ab. Als Anita Diallo ausstieg, schlug er sie mit der Faust zu Boden, trat ihr mehrmals in den Rücken. Und drohte erneut: «Ich schalte meine Gang ein, die Pegida, die machen dich fertig.» Passanten alar-

Das Unheil im Leben von Anita Diallo (Name geändert) kündigte sich an mit Sekundenleim. Als sie am 17. Oktober 2015 in der Tiefgarage ihr Auto aufschliessen wollte, passte der Schlüssel nicht mehr ins Schloss. Zugeklebt. In den nächsten Wochen häuften sich die Beschädigungen: eine abgebrochene Antenne, angeleimte Scheibenwischer, Ketchup auf der Windschutzscheibe. Zuerst dachte sie an Kinderstreiche. Kurze Zeit später lösten sich während einer Fahrt auf der Schnellstrasse die Muttern vom Hinterrad, Anita Diallo konnte gerade noch rechtzeitig halten. Wenig später fand ihr Ehemann Moussa (Name geändert), dessen Eltern aus Westafrika stammen, im Briefkasten ein Stück Schweinefleisch. Dort offenbar in der Annahme deponiert, er sei Muslim und lasse sich so provozieren. «In dem Moment realisierten wir, da geht es um Rassismus», sagt Anita Diallo. Sie sitzt am Esstisch ihrer Wohnung in Weil am Rhein-Friedlingen, wo sie mit ihrem Mann und den beiden Söhnen wohnt. Eine auf den ersten Blick unauffällige Frau Anfang vierzig mit offenem Blick, im linken Nasenflügel ein feiner Silberstecker, die blonden Haare schulterlang. Zum Gespräch mit Sie tauchten vor der Schule der beiden Kinder auf, wie zuletzt beim Surprise trifft sie sich allein, Moussa ist bei der Geburtstag des Jüngeren in Begleitung eines Kampfhundes. Arbeit in Freiburg, die beiden Söhne, 16 und 7 Jahre alt, sind in der Schule. Anita Diallo ist mierten die Polizei, Moussa Diallo ging dazwischen und fuhr dann seigebürtige Ostdeutsche, vor zehn Jahren ist die Familie aus Brandenburg ne verletzte Frau zur Notaufnahme. Diagnose: dreifacher Bandscheibenins Dreiländereck gezogen. Von Diallos Haustür bis nach Basel und zur vorfall, Prellungen am Brustkorb und im Gesicht. Seither muss sie tägSchweizer Grenze sind es nur wenige hundert Meter. Jeden Samstag lich mehrere Schmerzmittel schlucken und ist bis auf Weiteres krankgeströmen hier die Einkaufstouristen über die Grenze, weil es günstiger ist schrieben. Auch zum Schlafen braucht sie Tabletten. Anfang Jahr kommt als zuhause in der Schweiz oder in Frankreich. Schön ist Friedlingen der Fall vor Gericht. nicht gerade, an der langen Hauptstrasse reihen sich Einkaufszentrum, türkische Gemüseläden, Outlets, Discounter, Eckkneipen und PaketstaAnnäherungsverbot ohne Wirkung tionen in charmelosen Neubauten aneinander. Bei den letzten Wahlen Anita Diallo nimmt ihr Mobiltelefon in die Hand und zeigt darauf Bilgab hier jeder Vierte seine Stimme der Alternative für Deutschland der, die sie am Tag nach dem Angriff vor fünf Monaten von ihrem Bal(Afd). Das ist viel für Baden-Württemberg. kon aus gemacht hat. Zu sehen ist eine Gruppe von rund zehn PersoAuf dem Tisch vor Anita Diallo steht eine Schale mit Früchten, vor nen, die unter ihrer Wohnung im Hof des fünfgeschossigen Wohnblocks dem Fernseher liegen sorgfältig übereinandergelegt ein paar Hefte. Zeit stehen. Männer mit kurzen Haaren und dunklen Jacken, ein paar zum Aufräumen hat sie viel, sie verlässt ihre Wohnung kaum noch. Man Frauen und auf manchen auch ein paar Kinder. «Ich war gerade beim könnte sagen, sie hält Stellung. Und hinter ihr im Schrank steht ein Korb Abendessen kochen. Weil die immer etwas hochgerufen haben, bin ich mit Schlagstöcken und Pfeffersprays. Seit vergangenem Sommer beaufmerksam geworden», erzählt sie. Einige habe sie wiedererkannt, sie stimmt Angst das Leben der Familie. Zu Beginn schien es lösbar: Aufhatte sie bei den Demonstrationen der regionalen Pegida gesehen. grund der wiederkehrenden Beschädigungen am Auto riet die Polizei Den Sommer über versammelte sich die Gruppe in unterschiedlicher der Familie Diallo, eine Kamera zu installieren. Das tat sie. Wenn wir Zusammensetzung fast jeden Abend im Innenhof. «Sie drohten, dass sie den Täter überführen können, sagten sich die Diallos, dann hört das raufkämen und die Tür eintreten würden», sagt Anita Diallo. Mittlerauf. Tatsächlich zeigten die Videoaufnahmen, wie sich ein Nachbar SURPRISE 388/16

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Der Fall macht deutlich, wo die Grenzen des polizeilich Durchsetzbaren liegen: Trotz Annäherungsverboten und laufendem Verfahren fühlt sich Familie Diallo immer noch bedroht. Die Möglichkeiten der Polizei, gegen die Missachtung der Annäherungsverbote vorzugehen, sind beschränkt. Doch Diallo will weiterkämpfen. Dafür, dass die Normalität in das Leben der Familie zurückkehrt. Überregional vernetzt Die rechte Szene in Weil sorgt seit Jahren immer wieder für Schlagzeilen. Mehrere Personen stehen unter Beobachtung der Sicherheitsbehörden. Für Aufsehen sorgte 2009 eine Hausdurchsuchung beim regionalen «Stützpunktleiter» der NPD-Jugendorganisation. Damals stellte die Polizei 22 Kilogramm Material sicher, aus dem sich eine Rohrbombe hätte bauen lassen, darunter grosse Mengen an Chemikalien sowie Fernzündungsgeräte. Ausserdem ein Sturmgewehr und mehrere Messer. Seit den Gemeinderatswahlen 2014 sitzt ein Vertreter der NPD im lokalen Parlament. Zudem organisierte eine Gruppe im vergangenen Jahr an mehreren Sonntagen sogenannte Abendspaziergänge, aus der schliesslich die Pegida Dreiländereck hervorgegangen ist. Diese hat seither mehrere Kundgebungen veranstaltet und wird Medienberichten zufolge von zwei bekannten Schweizer Rechtsradikalen aus St. Gallen und Dornach geleitet. Im Mai dieses Jahres gründete auch die Partei Die Rechte einen Ableger in Weil. Darüber hinaus hetzen zahlreiche Personen auf einschlägig bekannten regionalen Facebook-Gruppen gegen Einwanderer, den Islam und die Bundesrepublik Deutschland. Die Polizei spricht in Bezug auf Rechtsextremismus in Weil von einem harten Kern von rund zehn Personen, um den sich zahlreiche Sympathisanten scharen. Nebst dem Fall Diallo ermittelt sie unter anderem wegen nicht angemeldeten Demonstrationen auf Autobahnbrücken, bei denen Reichskriegsflaggen geschwenkt wurden, wegen Drohbriefen und verbalen Bedrohungen, unter anderem gegen Matteo Di Prima, der für die Partei Die Linke im Lörracher Gemeinderat sitzt. In ganz Baden-Württemberg mehren sich politisch motivierte Angriffe von Rechts. So listet der jüngste Verfassungsschutzbericht allein für 2015 70 Straftaten gegen Asylunterkünfte im südwestlichsten Bundesland auf. Die Zahl der rechtsextremistischen Straftaten hat sich im Vergleich zu 2014 verdreifacht. In Weil am Rhein schaukelt sich die Stimmung derweil weiter hoch. Vor wenigen Wochen steckten Unbekannte das Auto des Kreisvorsitzenden der Partei Die Rechte in Brand. Links und Rechts sprühen Dro-

weile hat das Familiengericht gegen neun Personen ein Annäherungsverbot ausgesprochen. «Doch das wird einfach ignoriert», sagt Diallo. Sie tauchten vor der Schule der beiden Kinder auf, wie zuletzt beim Geburtstag des Jüngeren in Begleitung eines Kampfhundes. Sie passten Diallo beim Einkaufen ab, verfolgten sie oder den älteren Sohn mit dem Auto. Auch vor dem Haus versammelten sie sich immer wieder. «Sie zeigen damit: Wir beobachten dich, wir wissen, was du tust», so Anita Diallo. Weil ihr Mann Moussa in Freiburg arbeite, könne er tagsüber nur wenig zum Schutz Die Stadt behauptet immer noch, Rechtsextreme seien ein kleines Problem der Familie beitragen. Doch auch wenn er zuund kämen vor allem von ausserhalb. hause sei, lasse ihn die Gruppe erstaunlicherweise in Ruhe. «Vielleicht haben sie Angst vor hungen an Hauswände. In Basel, Weil und Lörrach hängen anpranihm, weil er kräftig gebaut ist», sagt Anita Diallo. Trotzdem ist sie es, die gernde Plakate, deren Urheberschaft der linken Szene zugeordnet wird. den Kampf gegen die rechte Gruppierung führt. Die mit den Medien «Wir stellen uns vor – Rechtsradikale aus Ihrer Region», steht darauf in spricht, zu den Gerichtsprozessen fährt. Sie sagt, sie möchte ihr Familie dicken Lettern. Darunter Bilder und Namen von rund 20 Personen aus so weit wie möglich aus der Öffentlichkeit halten. dem nahen Elsass und Deutschland. Darunter auch jene Personen, welDie Familie führt inzwischen ein Leben voller Vorsichtsmassnahmen. che die Familie Diallo bedrohen. Die Kinder sind vom Sportverein abgemeldet, der jüngere Sohn darf sich Eine Frau, die sich bereits seit einiger Zeit mit Rechtsextremismus in nur noch unter Aufsicht im Pausenhof aufhalten. Der Ehemann von der Region beschäftigt, ist Kathrin Ganter. Die Journalistin arbeitet für Anita Diallo fährt – statt wie früher mit dem Zug – jetzt mit dem Auto die lokale Zeitung Der Sonntag. Seit sie über die rechte Szene berichtet, zur Arbeit nach Freiburg, damit er im Notfall so rasch wie möglich zuweiss sie aus eigener Erfahrung, was es heisst, mit Drohungen zu leben. hause sein kann. Sie selbst verlässt das Haus nur noch im Auto durch Nachdem mehrere Artikel zum Thema von ihr erschienen waren, tauchdie Tiefgarage und wenn möglich in Begleitung. Zum Einkaufen fährt te bei Facebook die Gruppe «Kathrin Ganter Boykottieren» auf, wo die sie nach Lörrach oder noch weiter weg. Um das Stadtzentrum von Weil Journalistin massiv beleidigt und bedroht wurde. Wenige Tage nach eimacht sie einen Bogen. «Die Angst, dass ich wieder angegriffen werde, nem grösseren Artikel über die Familie Diallo besuchten zwei Personen ist zu gross», sagt sie. Immer hat sie Pfefferspray dabei, nachts steht es der rechten Szene die Redaktion und fragten nach ihr. «Ich versuche, griffbereit neben ihrem Bett. Die Nummer der Polizeiwache kennt Diallo dem möglichst keinen Einfluss auf mein Leben zu geben», sagt sie. Man inzwischen auswendig. Immer wenn wieder Personen aus besagter merkt ihr an, dass es nicht leicht ist. Gruppe vor ihrem Haus oder beim Einkaufen auftauchen, ruft sie dort an.

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Wer sich solidarisch zeigt Das Schweigen der Mehrheit erfährt auch Anita Diallo. Sie berichtet zudem von Freunden, die sich zurückgezogen haben. «Die Leute haben Angst und wollen mit dem Thema möglichst wenig zu tun haben», sagt sie. In ihrem Wohnblock hätten sich nach den Berichten in den lokalen Zeitungen gerade mal zwei Personen solidarisch gezeigt. Schutz und Unterstützung erhält die Familie derweil von Personen aus der ebenfalls grenzüberschreitend vernetzten linken Szene, die über

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Kathrin Ganter zog vor zehn Jahren in die Region. Immer wieder fielen ihr Männergruppen mit kurz rasierten Haaren und einschlägiger Kleidung auf. «Ich habe seit einiger Zeit vermutet, dass hier eine grössere Gruppe Rechtsextremer existiert.» Sie habe immer wieder erfolglos versucht, einen Einblick in die Szene zu bekommen. Bis dann im vergangenen Jahr die Kundgebungen begannen und im Netz die ersten Facebook-Gruppen Zulauf erhielten. «Als die regelmässigen Demonstrationen anfingen, war für mich bald klar, dass die Gefahr einer Eskalation gross ist», sagt Ganter. Die Entwicklung über die vergangenen Monate sei denn auch wie aus dem Extremismus-Lehrbuch abgelaufen. Zuerst die Radikalisierung im Internet, Kundgebungen auf der Strasse und schliesslich die ganz konkreten Bedrohungsfälle. Dabei habe sie eher vermutet, dass es Personen aus der linken Szene treffe oder einen Politiker, so Ganter. Personen, die ohnehin bereits im Fokus stehen. «Dass jetzt die Familie Diallo da hineingeraten ist, da spielt auch der Zufall mit.» Obwohl sie bereits Dutzende Texte über die Szene verfasst habe, die Ideologie hinter den Gruppen zu durchschauen sei schwierig. Sie erkenne kein gemeinsames Weltbild, sagt die Journalistin. Es sei mehr eine wilde Zusammensetzung von Systemgegnern, die einen politischen Umsturz propagierten. Was zudem immer wieder auffalle, sei die Betonung des Völkischen. «Ich denke, die grosse Gemeinsamkeit ist wirklich der Rassismus», so Ganter. Dass die Situation nun gerade im Weiler Stadtteil Friedlingen eskaliert, ist aus ihrer Sicht kein Zufall. Kaum irgendwo sonst in Baden-Württemberg hatte die AfD bei den letzten Wahlen mehr Stimmen erzielt wie hier. 24,4 Prozent, fast so viel wie in Sachsen-Anhalt. «Einerseits ist das ein friedliches und multikulturelles Quartier», erklärt Kathrin Ganter. «Andererseits ist es auch ein sehr abgehängter Stadtteil. Und viele Alteingesessene verspüren einen gewissen Frust.» Die Behörden hätten es schlicht verpasst, sich in den vergangenen Jahren stärker um das Quartier zu kümmern. Stattdessen behaupte die Stadt immer noch, die Rechtsextremen seien ein kleines Problem und kämen vor allem von ausserhalb. «Dabei zeigt doch der hohe Wähleranteil für die Protestpartei AfD, dass hier etwas schiefläuft», meint Ganter. «Es wäre falsch zu sagen, das seien alles Rechtsextreme. Aber gegen irgendetwas protestieren sie ja. Und aus dieser Wählergruppe speist sich auch die schweigende Unterstützung solcher Aktionen wie gegen die Familie.»

die Medien auf die Familie aufmerksam geworden sind. Anita Diallo bezeichnet sie als ihre neuen Freunde. Wenn diese vorbeikommen, holt sie die Pfeffersprays und Schlagstöcke aus dem Schrank. So ausgerüstet bringen sie Anita Diallo alleine oder zu zweit zum Einkaufen, zum Coiffeur oder zum Arzt. Seit ihre rechten Verfolger erneut vor den Schulen aufgetaucht sind, begleiten sie auch die Söhne wieder zum Unterricht und zurück. Sie wisse, wie belastend das alles für ihre Kinder sei, sagt Diallo. Zugleich schweisse es die Familie weiter zusammen. «Gemeinsam stehen wir das durch», sagt sie. Eine der zentralen Figuren der Gruppe, von der Diallo sich bedroht fühlt, ist Andreas Weigand. Er ist der Kreisvorsitzende der Partei Die Rechte. Anita Diallo erzählt, dass er unter anderem vor der Schule die Kinder beobachte und ihr beim Einkaufen mit dem Auto folge. Am Telefon gibt sich Andreas Weigand zunächst freundlich, streitet jedoch alles ab. Er habe Frau Diallo ausser vor Gericht noch nie gesehen. «Diese ganzen Anschuldigungen sind politisch motiviert. Das ist eine koordinierte Aktion der linksextremen Szene», sagt Weigand. Der Platz vor der Wohnung der Familie sei schon immer ein beliebter Treffpunkt von ihm und seinen Freunden gewesen. Er lege beide Hände dafür ins Feuer, dass seine Leute der Familie nichts getan hätten. «Ich bin hier der Kopf der Gruppe. Wenn ich sage, die Füsse werden stillgehalten, dann werden sie auch stillgehalten.» Weigand sieht sich selber als Opfer. «Wir werden einfach verurteilt, als rechte Rassisten und Neonazis. Aber kein Mensch setzt sich einmal mit uns an den Tisch und spricht mit uns», sagt er. Dann holt er aus zur Grundsatzkritik: Die Presse sei nur noch links, wer eine andere Meinung habe, gelte gleich als rechtsradikal. Das politische System in Deutschland sei am Ende, die Bundesrepublik ein illegaler Staat unter Besatzung der USA. Deshalb brauche sich auch niemand zu wundern, wenn die Lage einmal eskaliere. «Es wird nicht mehr lange dauern, bis das System zusammenfällt oder es zu einem Krieg kommt.» Gegen Ausländer habe er nichts und auch noch nie jemanden bedroht, das solle man schreiben, sagt er. Anita Diallo kennt Weigands Standpunkt von den Gerichtsterminen, bei denen die Gruppe erfolglos eine Aufhebung der Annäherungsverbote verlangt hatte. «Ich finde das erbärmlich. Er soll wenigstens dazu stehen», sagt sie. Schliesslich habe sie Bilder, die beweisen, dass er immer wieder auftauche, obwohl er seit Kurzem nicht einmal mehr in Weil wohne, sondern auf der anderen Seite des Rheins im nahen Elsass. Für Diallo ist klar, welches Ziel Weigand und seine Freunde verfolgen. «Sie wollen, dass wir wegziehen.» Doch Diallo und ihr Mann wollen nicht weichen. Sie haben sich für den Widerstand entschieden. «Wir wollen das per Gerichtskampf austragen und hoffen, dass sich die Situation so beruhigt.» Sie hätten niemandem etwas getan und nichts verbrochen. «Deshalb gehen wir auch nicht weg.» Sie wollen bleiben, solange es für sie und die Kinder irgendwie geht. ■

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Armut «Wo bleibt der Parmigiano?» Stellensuche im Alter, Hunger zum Nachtessen, wer wenig hat, gibt viel: Betroffene schreiben darüber, was es bedeutet, am Rand der Gesellschaft zu stehen. TEXTE UND ILLUSTRATIONEN AUS DER SCHREIBWERKSTATT DER CARITAS ZÜRICH

Eine Frage der Einstellung Mit hängenden Schultern stehe ich vor dem schweren Stahlgittertor und wundere mich. Ich schaue mich um und entdecke eine Kamera und eine Gegensprechanlage. Auf den leiernden Klingelton antwortet eine scheppernde Frauenstimme mit der Frage: «Ja bitte?» «Guten Tag, ich heisse Hugentobler und fange heute hier an.» Ich wende das Gesicht zur Kamera und merke, dass ich mich ungewollt im stark ergrauten Kinnbart kratze. Ohne weiteren Kommentar schiebt sich das Tor meterweit zur Seite. Ich gehe über den nassen Asphalt auf das erste Haus zu. Das ganze Gelände ist mit Maschendrahtzaun umspannt, der oben mit schräg gekipptem Stacheldraht abgeschlossen ist. Hat das damit zu tun, dass die wenigsten Menschen freiwillig hier sind? Vom RAV zwangseingewiesen zu einem Beschäftigungsprogramm? Oder ist es wirklich nur, weil die Anlage früher einen Militärbetrieb beheimatete? Es wurde als Vorschlag deklariert, doch hätte ich abgelehnt, wäre mir das Arbeitslosengeld gekürzt worden. So viel zur freien Wahl. Die Situation erinnert an Friedrich Glausers Roman «Der Chinese»: Arbeitsanstalten vor 100 Jahren. Sogar die Argumentation ist die gleiche geblieben: Es ist wichtig, den Leuten eine Tagesstruktur zu geben. Nach über 300 Absagen bin ich noch immer auf Stellensuche, und soll jetzt anderen dabei behilflich sein. Solchen, die weniger gut Deutsch können oder keine Computerkenntnisse haben. Die Logik des RAV ist unergründlich: Weil ich selber keine Stelle finde, qualifiziert mich das, andern zu helfen. Aber vielleicht ist das ja so. Schliesslich sind viele Psychiater, die sich auf Eheberatung spezialisieren, mindestens zweimal geschieden. Gegenüber der Empfangstheke schmückt eine Grafik die Wand. Zwei junge Menschen vollführen Luftsprünge und werfen die Arme in die Luft. Stelle gefunden! Aufbruch! Juhu! «Jungunddynamisch», neudeutsch in einem Wort geschrieben. Weitere Menschen unterschiedlichen Alters treffen ein, und wir werden in ein Sitzungszimmer geführt und vom Leiter persönlich begrüsst. Einer der anderen neuen Sträflinge ist in der Buchhaltung eingeteilt. Von ihm erfahre ich später, dass die Institution 140 Franken erhält pro Tag und Teilnehmer, die hier GratisarSURPRISE 388/16

beit verrichten. Der Leiter erklärt in überschwänglichem Positivismus, wenn man zehn perfekte Bewerbungen einreiche, bekomme man neun Vorstellungsgespräche. Jemand protestiert, das Alter sei ein häufiger Absagegrund. «Das Alter ist kein Problem! Wir hatten einen 61-Jährigen, der eine Stelle fand!» «Ja», rufe ich dazwischen, «der muss recht berühmt sein. Von dem haben mir schon mehrere RAV-Berater erzählt.» «Wissen Sie», entgegnet er, jetzt mit deutlich kühlerem Lächeln, «Sie haben vermutlich einfach die falsche Einstellung. Die müssen Sie ändern, dann klappt das sofort.» Er beugt sich zu mir hinüber und tätschelt mein Knie. Er hat weder meinen Lebenslauf gelesen noch die Zeugnisse noch irgendeines der Bewerbungsschreiben. Wir werden wohl kaum Freunde. In der Mittagspause stehe ich zusammen mit ein paar Kollegen vor der Kantinenbaracke. Wisi, ein Fels von einem Mann, war jahrelang in der Holzindustrie in Kanada tätig. Die ist jetzt kollabiert, und Wisi ist wieder zuhause. Ich helfe ihm mit der Darstellung des Lebenslaufs. Draussen vor dem Stacheldraht geht eine Mutter mit zwei Kleinkindern spazieren. Die Kinder schauen zu den Männern hinter dem Zaun. «Jaja, schaut nur», sagt Wisi mit seiner Bären-Stimme. «So endet ihr, wenn ihr in der Schule nicht fleissig lernt.» Die Knirpse sind noch nicht im Schulalter und staunen ihn ratlos an. Wir alle krümmen uns vor Lachen. Es ist alles eine Frage der Einstellung! ■

Der Autor wurde 1955 geboren und zog mit den Eltern mehrmals innerhalb der Schweiz um. Dann reiste er durch mehrere Kulturen, Urwälder, Wüsten und Weltmeere weiter auf der Suche nach Erfahrungen, Erkenntnissen und Freuden. Die kaufmännische Lehre war nicht die glücklichste Wahl, verhalf jedoch zu interessanten Aufgaben im Umfeld von Musik. Er schreibt, macht Bilder und Skulpturen, kocht und isst gern. Fusion, Firmenauflösung, Stellenverlust. Personalvermittler sagen, er wäre nicht glücklich in einem Team aus lauter jungen Leuten, wie sie selbst es sind. Zurzeit in kleinem Pensum angestellt.

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Ungebetene Gäste Klopf, klopf. «Psst, sei doch mal leise! Ich glaube, unser Besuch hat soeben geklopft.» Ich vernehme ein Räuspern. Sind es ein oder zwei Gäste, die heute vorbeischauen? Sofort erblicken wir den Kleinen. Nach einer kurzen Weile stolpert auch noch der grosse Gast in die gute Stube. Wir schauen uns an und seufzen. Wortlos wissen wir, was der andere denkt: Hoffentlich ziehen sie bald Leine. So ungebeten unser Besuch reinschneit, genauso ungebeten lang kann seine Anwesenheit dauern. Er nistet sich ein und macht es sich bequem. Manchmal gastiert er bis zu drei Tage, was uns zur Weissglut bringt. Gerne würde ich ihn ausquartieren. Geistreich verspotten. Für die beiden ein Verbotsschild mit der Aufschrift «Betreten auf eigene Gefahr» errichten. Fühle mich grossartig. Wie mein eigener Herr. «Klingelingeling» scheppert es da in meinem Kopf. Alle Sinne wach. Hellwach. Traurig entsinne ich mich des wahren Seins der Langzeitgäste. Ich habe mich recht gut daran gewöhnt und komme ziemlich klar mit unserem Besuch. Die Kleine aber verträgt ihn ganz und gar nicht. Sie jammert und weint viel. Es schmerzt mich, wenn ich sehe, wie sie unter den nicht erwünschten Gästen leidet. Es schnürt mir regelrecht die Kehle zu, raubt mir den Schlaf und die Luft zum Atmen. Zurzeit kann ich an dieser Situation nichts ändern. Sie kommen rein, ohne dass wir ihnen die Tür öffnen. So ist es nun mal. Wenn ich darauf angesprochen werde, antworte ich mit «alles bene». Ja, alles wäre bene, wenn’s mehr Penne geben würde. Dieses ewige Nörgeln: «al dente, bitte» oder «wo bleibt der Parmigiano?», geht mir recht auf den Geist. Sie verlangen nach Mahlzeiten. Manchmal im Flüsterton, oft aber mit unüberhörbarem Ächzen. Sie meckern, wenn die Verköstigung nicht so ausfällt wie erwünscht. «Ist das hier denn ein Wunschkonzert oder was?», ärgere ich mich insgeheim. Na gut, ich muss ja zugeben, dass eine leckere, sahnige Tomatensauce zu den Penne uns auch besser mundet als so füdlibluti. Auf dem Sofa zu viert eingelullt. Die Kleine auf meinem Schoss liegend, die beiden unbeliebten Besucher klebrig an uns, träumen wir vom Schlaraffenland. Sehnsüchtig mit glänzenden Augen liebäugeln wir einem reichgedeckten Tisch entgegen. Mmm. Das Wasser läuft mir im

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Mund zusammen. Rieche gebratenes Hähnchen. Ein noch lauwarmer Schokoladenkuchen-Duft erfüllt die Luft in der guten Stube. Stopp! Schreit alles in mir. Widerstrebend. Angewidert rümpfe ich die Nase. Mit verzerrtem Gesicht starre ich den kleinen grünen Eimer an. Ein «Gopfertori» entgleitet meiner Kehle. «Wer hat den Deckel offen gelassen?» Ich blicke in leere Augenpaare. Wutentbrannt und tiefstverletzt zerre ich den kleinen grünen Eimer von seinem Platz, um sein Inneres auszukehren. Der abgestandene Bioabfall kehrt uns die Mägen um. Einige Tage später breche ich während der Arbeitszeit zusammen. Meine Arbeitskollegen sind gehörig geschockt und rufen die Ambulanz. Die Sanitäter untersuchen mich und meinen: «Frau Mändli, Sie haben seit Tagen viel zu wenig gegessen.» Ich lache und sage: «Ich esse fünfmal am Tag, das kann nicht sein.» Salopp widersprochen, in der Tat esse ich nur den Rest, welchen meine Tochter übrig lässt. Ich erscheine wie ein abgemagertes Model, zwar stimmt die Grösse nicht, aber das Knochige. Alles nur Schein – wie die Topmodelfigur? Bin ich ich? Bin ich wirklich ich? Ich scheine da zu sein. Wenn es beim nächsten Mal an die Tür klopft und der kleine und grosse Hunger unaufgefordert zu Besuch kommen, wie soll ich meiner dreijährigen Tochter erklären, dass es nur füdlibluti Penne gibt, auch zum Frühstück? ■ Tanja Mändli, 1978 geboren, x-mal umgezogen vom Greifenseeufer übers Appenzell bis nach Zürich. Akrobatin war lang ihr Traumberuf. Heute Traumtänzerin und ausgebildete Überlebenskünstlerin. Geschult als Assistentin, Kassiererin, Abwaschkraft, pädagogische Mitarbeiterin. Alleinerziehende Mutter einer wunderbaren und ausserordentlich intelligenten Tochter, die im Sommer ihren 20. Geburtstag feiert. Lebensfroh und lebensmutig entdeckte sie 2005 als Low-Budget-Reisende mit ihrer Tochter Zentralamerika. Kämpfte sich durch eine Erschöpfungsdepression. Heute reich ausgestattet mit Dankbarkeit und Bescheidenheit. Geht nur Wege mit Herz.

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Hast du einen Einzahlungsschein mitgebracht? Tantchen sitzt frisch gekämmt in ihrem Bequemstuhl im Zimmer des privaten Pflegeheims. Sie hat ihren hellgrauen, samtweichen Mohairschal um die Schultern gelegt. Da sie nicht mehr selbständig aufstehen und gehen kann, ist ihr öfters kalt. Heute habe ich mir vorgenommen, das Zimmer nicht zu verlassen, bevor ich mein Anliegen angebracht habe. Ich muss es ihr einfach sagen, es loswerden. Das mit Tantchen und mir begann an einem Spätsommertag vor einem Jahr. Ich war bei ihr zu einem der seltenen Besuche, damals noch in einer Wohnung der Alterssiedlung. Da sah ich den ungeöffneten Umschlag der Steuererklärung neben ihr auf dem Stuhl. Vorsichtig sprach ich sie darauf an, und es stellte sich heraus, dass sie das übersehen hatte sowie auch, weitere schriftliche und finanzielle Sachen in Ordnung zu halten. Der physische Zerfall des Körpers war Anforderung und Anstrengung genug für den Tag. Ich bot ihr Unterstützung an, und sie zeigte mir bereitwillig, wo alle Sachen aufbewahrt waren. Ihre jüngere Halbschwester sei informiert über alles, doch war auch sie schwach geworden und konnte kaum mehr kommen. Eine Woche später besuchte ich Tantchen erneut. Wir schickten die Steuererklärung an die Bank, die das seit Jahren für sie erledigte, kümmerten uns um weitere ungeöffnete Post. Ich sprach sie auf die Wohnsituation an. Es zeigte sich, das Tantchen bereit war, in die Pflegeabteilung zu wechseln, der Banker hatte ihr gesagt, das Geld würde über mehrere Jahre reichen, auch im privaten Pflegeheim. Sie war jedoch noch nie beim Direktor im Büro gewesen und scheute sich, ein Gespräch zu verlangen. Gemeinsam schafften wir es, beim Direktor vorzusprechen. Er nahm die Sache in die Hand, und ein paar Wochen später wurde ein Zimmer frei und sie zog um. Nun musste die Wohnung geräumt werden. In tagelangem Zusammensein sortierten wir Schubladen, Schränke und Kästen. Sie sass in ihrem Stuhl, und ich legte ihr alle Dinge zum Entscheiden in den Schoss, von Schere, Bücher, Fotos, Tonbandkassetten über Kleider, Wäsche, Schmuck, Toilettensachen – den ganzen Haushalt. Was muss bleiben, was muss weg? «Oh, schau mal», sagt Tantchen an einem Morgen, «dieser Läufer, den hat meine Mutter selber gestickt, so fein und delikat, und doch litt sie das Leben lang unter rheumatischen Beschwerden, vor allem in den Händen.» Mittlerweile bin ich jede Woche bei Tantchen. Beim heutigen Besuch spüre ich in mir eine Wut, die immer grösser wird: Nie hat sich Tantchen erkundigt, wie ich es schaffe, sie so regelmässig zu besuchen und ihre Angelegenheiten zu erledigen. Ich sitze da, höflich wie immer, sortiere Banksachen, lege ihr die Zahlungen zur Unterschrift vor. Nachdem ich ihr beim letzten Besuch das Bargeld aus dem Verkauf ihrer afrikanischen Masken gegeben hatte und sie mich bat, das Geld in den Safe zu legen, war ich erstaunt und erschüttert zugleich, dass sie mir nichts davon gab. Sie ist deine Tante, sagte ich mir, sie hat keine eigenen Kinder, und niemand der vielen Nichten und Neffen scheint Zeit zu haben, sich um ihre Sachen zu kümmern. Die Diskrepanz zwischen ihrer und meiner finanziellen Situation ist so immens, meine Gedanken oft in Sorge darum, genug zu verdienen, um meinen bescheidenen Lebensunterhalt eigenständig bestreiten zu können.

Ich muss etwas sagen, heute ist es so weit. «Weisst du, Tantchen», beginne ich, «ich führe eine freiwillige Beistandschaft für eine demente ältere Frau, wie ich dir ja bereits sagte. Die Kesb zahlt mir dafür eine kleine Entschädigung, 1200 Franken im Jahr. Das, was ich dort mache, entspricht in etwa dem, was ich auch für dich mache.» Aha. Nichts. Uff, wenigstens habe ich es gesagt, bin für mich eingestanden. Das erleichtert mich. Eine Woche später: Wieder besuche ich Tantchen. Wir begrüssen uns. Dann schaut sie mich an und fragt: «Hast du einen Einzahlungsschein mitgebracht?» ■ In den Fünzigerjahren geboren, war die Autorin während der Pubertät lange hospitalisiert, danach – trotz einengendem Rumpf-Korsett mit neu erwachtem Lebenshunger, nur gebremst durch elterliche Sorge – eine Vernunftausbildung im kaufmännischen Bereich. Die soziale Ader zuerst mit den Behindertenpfadis erprobt, später als ausgebildete Sozialpädagogin im Drogentherapiebereich. Bauersfrau mit Familie, später eine Therapieausbildung und aus familiären Gründen mit 50 Jahren das Wagnis selbständiger Erwerbstätigkeit. Damit hat sich die Autorin, die lieber anonym bleiben möchte, eine eigene, bescheidene finanzielle Basis erarbeiten können, die erfordert zwar Einschränkungen im Leben in der Stadt, aber dank einer günstigen Wohnsituation ist sie nicht auf fremde Hilfe angewiesen.

Illustratorin Elif landete als kaufmännische Angestellte in den Buchhaltungsabteilungen auf helvetischem Boden. Schliesslich kam ihr durch Krankheit, Scheidung und Jobverlust innerhalb weniger Monate alles abhanden, eine Teilrente kam hinzu. Elif lebt in der besten Stadt der Schweiz. Hin und wieder zeichnet sie gern.

Die Texte stammen aus der Schreibwerkstatt «Schein und Sein» der Caritas Zürich. Surprise druckt sie in leicht redigierter Fassung. Mehr Texte sowie Zahlen und Fakten rund um Armut und Sozialhilfe finden sich in der Caritas-Broschüre «Schein und Sein – Texte über Armut aus der Schreibwerkstatt 2016 von Caritas Zürich». Sie kann gratis bestellt werden unter: www.caritas-zuerich.ch/caritaszh/was-wir-sagen/schreibwerkstatt SURPRISE 388/16

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BILD: ZVG

Moumouni … … ist unsicher Ich gehe sehr naiv bis kreativ mit der Aufgabe um, mich in Zürich zu orientieren, und so kommt es, dass ich seit vier Jahren fast täglich neue Dinge über die Stadt lerne. Oft reagiere ich darauf mit einem freudig-überraschten «Oh. So schön!» Dieses Mal war das ein bisschen anders. Ich sagte: «Waaaaaas?!» Ich war gerade mit einer ebenfalls schwarzen Kollegin im Zug von einer Frau rassistisch beschimpft worden. Warum, weiss ich auch nicht, das passiert halt manchmal. Wir wollten mit dem Taxi weiter, aber als ich gerade ins erstbeste am HB einsteigen will, hält mich meine Kollegin zurück und zieht mich zu einem anderen. Auf meinen fragenden Blick bekomme ich eine verstörende Erklärung: Sie sei schon des Öfteren von weissen Taxifahrern nicht mitgenommen worden, am Zürcher Bahnhof herrsche eine Art informelle Segregation. Sie und mehrere ihrer dunkelhäutigen Freunde hätten schon mehrfach erlebt, dass wartende oder vorbeifahrende Fahrer demonstrativ das Taxilicht ausschalteten, wenn sie sich ihnen näherten. Einmal sei sie von vier weissen Fahrern nacheinander abgewiesen worden, bevor

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sie endlich von einem Nicht-Weissen in der Reihe mitgenommen wurde. Das ist schockierend. Auch, dass sie es völlig nüchtern erzählte, als handele es sich um etwas Gewöhnliches. Es geht nicht darum, dass der weisse Taxifahrer uns vielleicht doch mitgenommen hätte. Es geht darum, dass Rassismus Unsicherheit bedeutet. Unsicherheit, die so omnipräsent ist im Leben von NichtWeissen, wie es sich Weisse kaum vorstellen können. Unzählige alltägliche Situationen, in denen wir uns nicht sicher fühlen vor Rassismus. Das muss nicht gerade in physische Gewalt ausarten. Ich bin tatsächlich noch nie für meine Hautfarbe oder Religion zusammengeschlagen worden, mir hat noch nie jemand ein «U» für «Usländer» in die Stirn geritzt. Hah! Aber ich werde für meine Hautfarbe und Religion im öffentlichen Raum beschimpft, kontrolliert, mir wird misstraut und signalisiert, dass ich nicht «hierher gehöre». Das ständige Gefrage, woher ich komme, in jeder auch nur möglichen Situation, und die Erwartung, dass ich vor Fremden immer meine Familiengeschichte auspacke: Wer wann wohin gezogen ist und mit wem Sex hatte, ob meine Eltern noch zusammen sind, womöglich eine Scheinehe führen oder mich adoptiert haben, gekoppelt mit der Ignoranz gegenüber meiner Antwort: «Nein, ich meine richtig, wo kommst du richtig her?» Zufrieden sind diese Frager erst, wenn die Antwort irgendwas, egal was, mit Afrika beinhaltet. Das ist Rassismus. Ohne zu fragen in meine Haare zu fassen. Meine Antwort auf Deutsch konsequent überhören und auf Englisch weiterreden. Das ist das Alltägliche. Und dann kommen da noch die

häufigen Einzelfälle dazu. Im Zug beschimpft werden. Als Einzige kontrolliert werden. Androhung von Gewalt. Rassistische Sprüche von Lehrpersonen, Polizisten. Und dann ist da noch das ständig unter medialem und politischem Beschuss zu stehen. Das macht was mit mir, mit uns. Es kreiert ein Unwohlsein, eine Angst, eine Unsicherheit. Ich höre oft Leute sagen, sie seien keine Rassisten. Das stimmt nicht. Wir sind alle in eine rassistische Struktur hineinsozialisiert und bewegen uns darin. Ich möchte, dass sich Weisse, wenn sie denn wollen, dass sich Nicht-Weisse in ihrem Umfeld wohlfühlen, damit auseinandersetzen. Denn ich fühle mich oft nicht wohl. Und ich wohne hier.

Fatima Moumouni hatte während des Schreibens ihre rechte Faust gen Himmel gestreckt. Danach haute sie kräftig auf den Tisch.

Rahel Nicole Eisenring ist freie Illustratorin. www.raheleisenring.ch SURPRISE 388/16


Kultur

Buch Unaufdringlich engagiert In «Vertraute Dinge, fremde Dinge» nimmt uns der nigerianisch-amerikanische Autor Teju Cole mit auf eine Erkundung der Welt, die unter die Haut geht.

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BILD:

In «Open City», dem Roman, der Teju Cole zum Shooting Star der neueren amerikanischen Literatur gemacht hat, gerät der Protagonist auf seinen Streifzügen durch New York in eine Ausstellung mit Gemälden John Brewsters, dem er eine «unaufdringliche Beobachtungsgabe» attestiert, etwas, das nicht weniger auf den Betrachter selber zutrifft – und auch auf den Autor Teju Cole. Wobei es zwischen dem Protagonisten und seinem Erzähler einen gewichtigen Unterschied gibt: Die Romanfigur versucht, alles von sich fern zu halten – die Schläge und Demütigungen in der nigerianischen Schule, die Widersprüche im Alltag eines Schwarzen in Amerika, die Konflikte mit den Eltern. Selbst als er zusammengeschlagen wird oder als ihn ein eigenes Verbrechen einholt, nimmt er alles wie aus der Distanz wahr, als wäre das eloquente Beschreiben ein Schutzschild, der ihm die Konsequenzen vom Leibe hält. Teju Cole dagegen ist auf eine zwar ebenso unaufdringliche, dabei aber bezwingende Weise engagiert. Dies zeigt sich deutlich in einer Auswahl seiner Essays, die er unter anderem für die Zeitschrift New Yorker oder das New York Times Magazine geschrieben hat und die nun auf Deutsch erschienen sind. Darin widmet er sich einer Vielzahl von Themen, meist Fotografie, aber auch Literatur, Musik, Reisen und Politik, denen er sich stets offen und selbstkritisch nähert, um nicht Behauptungen aufzustellen, sondern – wie er eingangs notiert – um im Schreiben die Grenzen des Wissens zu erkunden. Diese Fülle an Themen ist kein Zufall. Teju Cole selber vereint in sich eine erstaunliche Vielfalt von Disziplinen. Der Mann ist Kunsthistoriker, Fotograf, Romanautor, Dozent und Essayist – und Twitterer mit 150 000 Followern (@tejucole). Auch seine Biografie ergibt ein nicht weniger buntes Bild: 1975 in den USA als Kind nigerianischer Eltern geboren, verbrachte er seine Jugend in Lagos, kehrte für das Studium in die USA zurück, lebt heute in Brooklyn und hat schon die halbe Welt bereist.

© TEJU COLE/TIM KNOX

VON CHRISTOPHER ZIMMER

Teju Coles Rolle als afrikanischer US-Immigrant hat ihn zu dem gemacht, was er ist: ein Beobachter der Welt.

Dieser inzwischen vielfach preisgekrönte Autor sagt von sich, er sei «als Quereinsteiger von der Kunstgeschichte zur Literatur gekommen». Womit sich ein Bogen zur eingangs geschilderten Szene aus «Open City» spannt. Denn seine eigene «unaufdringliche Beobachtungsgabe» verdankt Teju Cole wohl nicht zuletzt auch seinem kunstwissenschaftlich geschulten Blick, der in allem das Bildhafte erkennt und in den Bildern die narrative Kraft. «Gute Fotografie ist Literatur» zitiert er nicht umsonst den US-Fotografen Walker Evans. Dieser Blick zeichnet sich durch einen ganz bestimmten Winkel aus: «Mein Verständnis der amerikanischen Erfahrung ist von der Perspektive als afrikanischer Immigrant jüngeren Datums geprägt», schreibt Cole. Diese Perspektive, deren Wurzeln bis in das Trauma der Sklaverei reichen, zieht sich wie ein roter Faden durch die Essays, wie eine grundsätzliche Sensibilität, die ihn nicht zuletzt mit den Opfern von Rassismus, Ausgrenzung, Unterdrückung, Folter und Diktatur verbindet. Besonders deutlich wird dieser Grundtenor dort, wo er sich, «als Treuhänder eines schwarzen Körpers», an die Schauplätze von historischen und aktuellen Verbrechen oder von Schlüsselmomenten der Weltgeschichte begibt, oder an Stätten, die wesentlich für seinen

eigenen kulturellen Werdegang sind. Expeditionen, die er unternimmt, um die Geschehnisse, den Horror, aber auch das Staunen vor Ort für sich und uns zu unter die Haut gehenden Erfahrungen zu machen – an der US-Grenze zu Mexiko, in Afrika, Italien, Brasilien oder Palästina. In der Schweiz war er 2014 Writer in Residence am Zürcher Literaturhaus. Immer wieder zeigt er erhellende Verbindungen auf, die den Schatten und Schrecken der Welt eine Hoffnung entgegensetzen, die aus der Erkenntnis gewonnen werden kann. Teju Cole legt damit einen klugen, persönlichen und immer wieder berührend poetischen Essayband vor, eine lesenswerte Schule des Sehens, die zum Nachdenken über die Welt anregt. ■

Teju Cole: Vertraute Dinge, fremde Dinge. Essays. Hanser Berlin 2016. 35.90 CHF

Wir verlosen zwei Mal «Vertraute Dinge, fremde Dinge»: E-Mail oder Postkarte mit dem Betreff «Teju Cole» bis am 2. Dezember an: redaktion@strassenmagazin.ch oder an Strassenmagazin Surprise, Redaktion, Spalentorweg 20, 4051 Basel.

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Film «Es kann verflixt kompliziert sein» Lukas Hartmann hat mit «Finsteres Glück» einen Roman über einen Jungen geschrieben, der seine Familie bei einem Autounfall verliert. Stefan Haupt hat den Stoff als Spielfilm adaptiert.

Stefan Haupt, der Hauptfigur Ihres Films geschieht, was ihr als Psychologin nie geschehen dürfte: Eliane beginnt, Professionelles und Privates zu vermischen, indem sie Yves ins Herz zu schliessen beginnt, statt ihn als Fall abzuhandeln. Hätte das Ihnen selbst auch passieren können? Stefan Haupt: Ja, sicher. Ich dachte ab und zu an die Sterbeforscherin Elisabeth Kübler-Ross, über die ich vor Jahren einen Film machte. Sie betreute schwerstkranke kleine Kinder, die vor Weihnachten noch einmal nach Hause wollten. Die Ärzte hatten es strengstens verboten, aber sie bestellte heimlich eine Ambulanz und liess sie nach Hause fahren. Kübler-Ross tat viele Dinge, die von einem ärztlichen Standpunkt aus nicht erlaubt gewesen wären, aber menschlich gesehen toll sind. Solche Entscheidungen wären auch für mich ein Spannungsfeld. Als Filmemacher geht es mir manchmal ähnlich. Von Lukas Hartmanns Roman war ich ganz persönlich sehr berührt. Aber ich lebe professionell auch davon, dass mich Geschichten berühren – und dass ich mit ihnen wiederum ein Publikum berühren kann.

BILD: ZVG

INTERVIEW VON DIANA FREI

Traumatisiert: Der achtjährige Yves hat einen langen seelischen Weg vor sich.

Geht es Ihnen in «Finsteres Glück» um die Frage des Kindeswohls auf institutioneller und politischer Ebene, oder sehen Sie Ihren Film primär als persönliche Geschichte einer Psychologin und eines Kindes? Primär ist mir die persönliche Geschichte dieser Menschen wichtig. Wir reden auch ganz bewusst wie im Buch von der Vormundschaftsbehörde und haben die Handlung nicht auf die Kesb umgeschrieben. Ich wollte kein weiteres Kesb-Bashing machen, das von der politischen Rechten motiviert und sehr simplifizierend ist, wie man immer deutlicher feststellen kann. Es ist nicht damit getan, gegen die Behörden zu schimpfen. Ich fände es viel ehrlicher, wenn man aufzeigen würde: Es kann verflixt kompliziert sein. Ich denke, ich kann das mit dem Film deutlich machen.

im Zweiten Weltkrieg als Dreieinhalbjähriger ein Massaker der SS im griechischen Distomo überlebt hat. Bei der Arbeit an jenem Film fragten mich viele Leute: «Willst du nicht versuchen, auch die Täter zu finden, deutsche Wehrmachtsoldaten, die bei dem Massaker damals dabei waren?» Wir haben das Bedürfnis, uns zu fragen: Wie kann es sein, dass ein Täter so etwas macht? Mir wurde plötzlich klar, dass dieses Bedürfnis damit zusammenhängt, dass wir die Ohnmacht fast nicht aushalten. Deshalb traf ich damals den ganz bewussten Entscheid: Ich bleibe auf der Seite dieses Jungen, der Opfer ist und den Schrecken erleben musste. Auch bei «Finsteres Glück» wollte ich daher keinesfalls beim Jungen kürzen. Ich wollte ihn, den Unschuldigen, den Ohnmächtigen, im Zentrum der Geschichte behalten.

Der Junge, Yves, hat zwar pathologische Redeflüsse und spricht mit den Toten, aber er wirkt nicht grundsätzlich gestört. Sahen Sie es als Gefahr, das Krankhafte zu überzeichnen? Wir hatten mit einer Psychologin aus dem Kinderspital Zürich zwei Vorgespräche, weil wir genau wissen wollten, wie sich ein Trauma äussert. Die Psychologin bestätigte, dass traumatisierte Kinder anfangs einen krankhaften Redefluss, eine Logorrhö, entwickeln können, die später in sich zusammenfällt. Die Trauer kommt nur noch in wenigen Momenten hoch. Die Psychologin attestierte dem fertigen Film, er sei sehr authentisch. Ich wollte aufzeigen, dass Yves einen langen Weg gehen muss, der viel seelische Arbeit braucht.

Gedankengänge von Figuren kann man filmisch nicht direkt umsetzen. Wie geht man damit um? Im Gesicht einer Figur lassen sich gedankliche Vorgänge zeigen, aber nur bedingt. Man kann zum Teil die Montage und den Erzählrhythmus zu Hilfe nehmen. Ich kann das Bild des Unfallautos länger stehen lassen als nötig, oder ich kann Elianes Blick dazu zeigen. Und ich arbeite darauf hin, dass von einem bestimmten Moment an die entsprechenden Gedanken in den Köpfen der Zuschauer selbst entstehen. Dass sie selbst zu denken beginnen: «Was für ein Horror muss es gewesen sein, in diesem Auto zu überleben.» ■

In einem Film muss man ökonomischer erzählen als in einem Roman. Was durfte aus Ihrer Sicht nicht verloren gehen? Während der Drehbucharbeit kam mir oft «Ein Lied für Argyris» in den Sinn, ein anderer meiner Filme. Es ist die Geschichte eines Griechen, der

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Stefan Haupt: «Finsteres Glück», 114 Min., CH 2016, Schweizerdeutsch, mit Eleni Haupt, Noé Riklin, Elisa Plüss u. a. Der Film läuft derzeit in den Deutschschweizer Kinos. SURPRISE 388/16


BILD: COPA & SORDES

Die 25 positiven Firmen Diese Rubrik ruft Firmen und Institutionen auf, soziale Verantwortung zu übernehmen. Einige haben dies schon getan, indem sie dem Strassenmagazin Surprise mindestens 500 Franken gespendet haben. Damit helfen sie, Menschen in prekären Lebensumständen eine Arbeitsmöglichkeit zu geben und sie auf ihrem Weg zur Eigenständigkeit zu begleiten. Gehört Ihr Betrieb auch dazu? Die Spielregeln sind einfach: 25 Firmen werden jeweils aufgelistet, sind es mehr, fällt jener Betrieb heraus, der am längsten dabei ist.

Bannzauber um Beznau: Beteiligen Sie sich mit einem Zeichen oder Zauberspruch.

Kunstaktion Magischer Strahlenschutz Das Künstlerduo Copa & Sordes zieht mit seinem Pilotprojekt «Magic Fence» in einem kollektiven Akt einen Bannkreis um Beznau, das älteste AKW der Welt. VON MONIKA BETTSCHEN

Als ab Mitte des 19. Jahrhunderts die ersten Glühbirnen zum Leuchten gebracht wurden, muss das vielen Menschen wie Magie vorgekommen sein. Eine unsichtbare Kraft, die das Leben per Knopfdruck erleichterte. Heute hat die Energie aus der Steckdose ihren Zauber von damals verloren. Tschernobyl und Fukushima konfrontierten die Öffentlichkeit mit der unangenehmen Erkenntnis, dass die Stromerzeugung in Atomkraftwerken mit grossen Risiken verbunden sein kann. «Die AKW-Befürworter praktizieren Wunschdenken, denn die Sicherheitsversprechen, die von den Verantwortlichen gegeben werden, beruhen eher auf einem Glauben daran, dass schon nichts schiefgehen wird, als auf gesichertem Wissen. Unter anderem um dies zu entlarven, bauen wir an einem magischen Schutzzaun für Beznau, das älteste AKW der Welt», sagt Birgit Krueger vom Künstlerduo Copa & Sordes. «Beide Betrachtungen basieren auf magischem Denken, also auf der kindlichen Annahme, dass mit der Macht der Vorstellung Unheil abgewendet werden kann.» Wer mitmacht, kann den Zaun online um eigene Zaubersprüche und magische Symbole aus aller Welt erweitern. Zur Inspiration kann man sich auf der Website durch das bisher existierende Stück klicken. Das Ziel des Künstlerduos ist, mit der Beteiligung anderer Menschen eine Zaunlänge von 1291 Metern zu erreichen. «Dies entspricht gemäss Luftbildern der Länge des bestehenden Schutzzauns, und wenn wir unser Ziel erreichen, wollen wir mit den Einnahmen das Ergebnis als Sicherheitskopie auf Biobaumwolle übertragen, da radioaktive Abfälle das Internet und die heutigen Sprachen überdauern werden. Die überkulturellen Symbole sollen die Menschen auch noch in tausenden Jahren davor warnen können, ein Atomendlager zu betreten», so die Künstlerin. Ein interessanter Zufall ist es, dass die Länge des Beznau-Zauns dem Datum der schweizerischen Gründungsurkunde, des Bundesbriefs, entspricht. Ende November befindet das Schweizer Stimmvolk über den endgültigen Atomausstieg. «Wir möchten betonen, dass wir uns nicht als Teil der offiziellen Kampagne sehen, sondern als ergänzende Plattform», so Birgit Krueger. Unabhängig davon, wie diese Abstimmung ausgehen wird: Der magische Schutzschild wird in jedem Fall aktiviert.

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InhouseControl AG, Ettingen

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Maya-Recordings, Oberstammheim

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noline.ch GmbH, Buus

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Imbach Reisen AG, Wanderreisen, Luzern

05

mcschindler.com GmbH, Zürich

06

Scherrer + Partner GmbH, Basel

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Ingenieurbüro BEVBE, Bonstetten

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Coop Genossenschaft, Basel

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Treuhand U. Müller GmbH, Bern

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Lions Club Zürich-Seefeld, Zürich

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Supercomputing Systems AG, Zürich

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Fraumünster Versicherungstreuhand AG, Zürich

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VXL Gestaltung und Werbung AG, Binningen

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AnyWeb AG, Zürich

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A. Reusser Bau GmbH, Recherswil

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Kreislauf 4+5, Zürich

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Thommen ASIC-Design, Zürich

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Proitera Betriebliche Sozialberatung, Basel

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Kaiser Software GmbH, Bern

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Hervorragend AG, Bern

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Gemeinnütziger Frauenverein Nidau

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Klinik Sonnenhalde AG, Riehen

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Frank Türen AG, Buchs

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R. Geigy-Stiftung, Basel

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Familie Iten-Carr Holding AG, Zug

Möchten Sie bei den positiven Firmen aufgelistet werden? Mit einer Spende von mindestens 500 Franken sind Sie dabei! PC-Konto: 12-551455-3, Verein Surprise, 4051 Basel Zahlungszweck: Positive Firma + Ihr gewünschter Eintrag. Wir schicken Ihnen eine Bestätigung.

«Magic Fence»: Das Projekt läuft auf wemakeit.ch noch bis zum 5. Dezember. www.magic-fence.net 388/16 SURPRISE 388/16

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© SUSANNA DRESCHER BILD: THÉLÈME

BILD: JENS KRAUER (MARKO REMEC)

BILD: PETER KLAUNZER, KEYSTONE

Ausgehtipps

Marco Remec im Spiegelland.

Die singen Madrigale, wenn sie angekommen sind.

Cham Spiegelbilder

Basel Vokale Pilgerreise

Im Villette Park in Cham kann man winterlich am See entlang spazieren und sich dazwischen kurz bespiegeln: im Schifftotem des New Yorker Konzeptkünstlers Marko Remec. Die Arbeit heisst «Once Upon A Time (Ship Totem)»: acht etwa drei Meter hohe Holzpfähle, die mit rund 500 gewölbten Spiegeln versehen sind. Die Stangen sind in einem Kreis aufgestellt. Steht man innerhalb des Kreises oder in der Nähe des Werks, sieht man Millionen verschiedene Spiegelungen seiner selbst, der Menschen rundherum und der gesamten Umgebung. Der Titel bezieht sich auf die vertrauten Worte, mit denen Kindermärchen beginnen und die in fast allen grossen Sprachen und Kulturen der Welt existieren: «Und wenn sie nicht gestorben sind, dann leben sie noch heute». Remecs Frage dazu lautet: Wie können so viele Menschen, die gemeinsame Kindheitsfantasien teilen, als Erwachsene so polarisierende und intolerante Ansichten haben? (dif)

Der Gare du Nord macht in den Wintermonaten grossen Bahnhof und schickt uns auf eine musikalische Reise. Angefangen bei Salome Kammers Avantgarde-Gesang, Dada-Lyrik und Broadway-Songs in «Aria», widmet sich das Strasbourger Vokalensemble Voix de Stras’ im Januar dem A-Capella-Gesang: Das sind vokale Postkarten und Reisenotizen mit Grüssen von Cage über Ligeti bis Aperghis und Monk, Bartók und Brahms. Klangzauberer Tom Mays verfremdet die Stimmen und macht sie zu einem mysteriösen Erlebnis. Nächste Station ist Long Island, wo Karlheinz Stockhausen 1968 «Stimmung» komponierte, bei Schneewetter und gefrorenem Meer. Obertonsänger Christian Zehnder lässt uns den eisigen Wind nochmals ganz frisch um die Ohren brausen. Und Ende März holen uns italienische Madrigale aus dem 17. Jahrhundert wieder hinter dem Ofen hervor. (dif)

«Once Upon A Time (Ship Totem)», Villette Park Cham,

Di und Mi, 24. und 25. Januar, je 20 Uhr, und weitere

Kunsthaus Zug, noch bis zum 9. März 2017

Daten, Gare du Nord, Schwarzwaldallee 20, Basel

www.kunsthauszug.ch

www.garedunord.ch

Im Alter endlich sein eigener Herr: Charles Probst.

Bern Im Curriculum Gefangen im Käfigturm: Das dürfte im übertragenen Sinn eine treffende Beschreibung dessen sein, was Verdingkinder bis in die Achtzigerjahre erleben mussten. Von den Behörden aus verschiedenen Gründen der Familie weggenommen und bei Bauern platziert, für die sie im besten Fall eine günstige Arbeitskraft waren. Die einstigen Kinder sind heute Seniorinnen, und viele von ihnen sind von ihren Erfahrungen gezeichnet. Käfigturm heisst auch das «Polit-Forum des Bundes» in der Berner Altstadt, das diesem dunklen Kapitel der Schweizer Geschichte eine mehrmonatige Ausstellung widmet. Herzstück sind die Bilder des Fotografen Peter Klaunzer, der in den vergangenen eineinhalb Jahren 25 ehemalige Heim- und Verdingkinder porträtiert hat und so einen Einblick in ihre heutigen Lebensumstände möglich macht. Die Ausstellung, organisiert von der Fotoagentur Keystone, entstand in enger Zusammenarbeit mit dem Verein Netzwerk-Verdingt, der sich für die Anliegen der Betroffenen einsetzt. Eine ganze Reihe von Veranstaltungen lädt ein zur Auseinandersetzung mit der Thematik. Ehemalige Verdingkinder erzählen über «Emotionale Entwurzelung und ihre Folgen» oder «Die Behörden als Übeltäter». Für Schulklassen wurde ein eigenes, umfangreiches Programm auf die Beine gestellt. Bleibt die Feststellung: Der jahrzehntelange Leidensweg hat die Verdingkinder ins offizielle Curriculum geführt. (ami)

«Route des Voix», Do, 8. Dezember, Do, 12. Januar,

Anzeigen:

Verdingkinder, Porträts von Peter Klaunzer, noch bis Fr, 17. März 2017, jeweils Mo bis Fr, 8 bis 18 Uhr, Sa, 10 bis 16 Uhr. Eintritt frei. Ruhetage und detailliertes Programm: www.kaefigturm.ch

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BILD: ISTOCKPHOTO

Anzeigen:

Kontaktaufnahme? Flüchtling auf der Balkanroute.

Auf Tour Nah trifft fern Kleines Gedankenspiel: Wie würden Sie beim Tabu-Spielen den Begriff «Flüchtlingskrise» umschreiben? Vielleicht so: Eine grössere Anzahl Menschen kommt aus verschiedenen Gründen von fern nach nah, wo sie leben wollen, was jene, die schon nah waren, problematisch finden. (Wobei anständige Spieleschreiber den Begriff «Mensch» natürlich zum Tabu erklärt hätten.) Behauptung: Zur «Krise» wird die Situation, weil sich jene von fern und jene von nah kaum in echt und auf Augenhöhe begegnen. Das ist durchaus so gewollt und gilt nicht nur für Journalisten, Politikerinnen und andere Normalbürger: Auch die Juristinnen in den Ämtern, die über rein und raus entscheiden, verkehren mit den Subjekten, die im Verfahren zu Objekten werden, vorwiegend schriftlich. Diese selbstauferlegte Sprachlosigkeit entlädt sich dann in Begriffen wie «Flüchtlingskrise», «-flut» oder «-welle» – Hauptsache, es klingt nicht nach Menschen. Lösung: Wenn sich nah und fern in der Realität nicht berühren können, dann wenigstens auf der Bühne, sagte sich der Theatermacher P. Vijayashanthan. Zusammen mit dem Dramaturgen und Autor Andri Perl hat er im Rahmen seines Projekts Experi Theater eine «experimentelle dokumentarische Theaterperformance» angelegt. In «Flüchtling» treffen vier Schauspieler mit ihren recherchierten und erarbeiteten Rollen auf drei geflüchtete «Zeugnisgeber» und ihre realen Lebensgeschichten – Ausgang offen. Zumindest auf der Bühne. (ami) «Flüchtling» – Premiere am Fr, 25. November, weitere Vorstellungen Sa, 26., Mo, 28., Di, 29., Mi, 30. November und Do, 1. Dezember, Kulturmarkt, Zürich. Di, 6. und Mi, 7. Dezember, Cabaret Voltaire, Zürich. Mi, 14. und Do, 15. Dezember, Fabrikkirche, Winterthur. Fr, 13. Januar, Lokremise, St. Gallen. Abendkasse jeweils 19 Uhr, Beginn jeweils 20 Uhr. www.experitheater.ch

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Verkäuferinnenporträt International «Ich habe immer einen Weg gefunden» Als Kind in Armut aufgewachsen, wurde Tania mit 15 zum ersten Mal Mutter. Heute verkauft sie in der kanadischen Stadt Montréal die Strassenzeitung L’Itinéraire. Jetzt ist ihr Ziel, der Not anderer zuzuhören. VON CHANTAL VANASSE (TEXT UND BILD)

Tania sieht man stets mit ihrem wunderbaren Lächeln und dem verspielten Blick, obwohl sie im Leben viele Verletzungen davongetragen hat. «Für mich sind das Erfahrungen, die mir den Menschen in meinem Innern bewusst machen», sagt sie. «Mit ihnen kann ich den Wert von allem schätzen, auch wenn ich nicht viel besitze. Sie machen mir deutlich, wie viel Glück ich habe. Trotz allem, was ich durchgemacht habe, weiss ich: Das Beste liegt noch vor mir.» Es fällt heute schwer, sich vorzustellen, wie schlecht es Tania gegangen sein muss, als sie im Oktober bei L’Itinéraire anfing. Sie ist in ihrem Leben immer wieder aufgestanden, nachdem sie gefallen war. Sie kämpfte gegen alles, was sich ihr in den Weg stellte – von der Armut in der Kindheit über die Erniedrigung durch die Menschen um sie herum bis zu Manipulation und Mobbing. Jedes Mal schaffte sie es, wieder auf die Beine zu kommen. Zweimal wurde Tania schwanger, mit 15 und mit 16. Das Sorgerecht für ihre Töchter wurde ihr weggenommen, aber sie gab die Hoffnung nie auf, arbeitete hart und führte mit 21 ihr eigenes Malerunternehmen. Nebenher arbeitete sie auf dem Bau, in Kneipen und in der Logistik. «Ich habe immer einen Weg gefunden, die Dinge ins Rollen zu bringen», sagt sie. Tania wurde so oft verletzt, dass sie misstrauisch wurde. Niemals hat sie ihre Wunden aus der Kindheit vergessen. «Die Leute dachten immer, ich hätte kein Selbstvertrauen, aber in Wirklichkeit hatte ich kein Vertrauen in andere», erläutert Tania. Eine plötzliche und unerwartete Einsicht brachte Tania zu L’Itinéraire. Sie kaufte die Zeitung regelmässig, hatte jedoch nie daran gedacht, sie selber zu verkaufen. Sie sah darin nichts, was sie irgendwie weiterbringen würde. Wenn, dann sah sie es als Job, den sie machen könnte, wenn gar nichts mehr geht. «Wenn du einmal in deinem Leben spürst, dass andere Menschen sich um dich kümmern, ändert sich deine ganze Perspektive», sagt Tania. «Als ich erkannte, dass die Hilfe der Leute von L’Itinéraire ehrlich und aufrichtig war, beschloss ich, mich mehr um mich selbst zu kümmern. Als ich merkte, dass sie mich für jemand Wertvolles hielten, begann ich, an mich selbst zu glauben.» Tanias Ziel ist es, der Not der anderen zuzuhören, sie möchte die richtigen Worte finden, wenn es Menschen ganz schlecht geht. Für sie ist L’Itinéraire wie eine Sauerstoffmaske: «Wenn ein Flugzeug abstürzt, setzt du sie zuerst dir selbst auf. Erst dann kannst dich um die Kinder neben dir kümmern.» Es dauerte nicht lange, bis Tania diesen Sauerstoff bei L’Itinéraire einatmete und ihre Lungen gut damit füllte. Tania ist nicht nur Verkäuferin der Strassenzeitung, sie schreibt auch für L’Itinéraire und nimmt aktiv am Vereinsleben teil. Tania zeigt ihre Lebensfreude auf verschiedene Weise und möchte ihre Kreativität einsetzen – Tanzen, Singen, Schreiben – um ihre Vergangenheit zu über-

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winden und ihren Lebenswillen auszudrücken. Sie möchte ihren Angehörigen, ihren Töchtern, ihrem Vater und ihrem Schwiegersohn etwas zurückgeben – sie möchte sich einfach nur revanchieren. Ihre Arme sind weit ausgestreckt für alles, was das Leben ihr zu bieten hat. ■ Aus dem Englischen von Daniel Gebauer.

Mit freundlicher Genehmigung von L’Itinéraire/INSP.ngo SURPRISE 388/16


SurPlus – eine Chance für alle! Werden Sie Gotte oder Götti bei SurPlus Surprise kümmert sich um Menschen, die weniger Glück im Leben hatten. Menschen, die kaum Chancen auf dem ersten Arbeitsmarkt haben und ihr Leben in die eigenen Hände nehmen wollen. Mit dem Verkauf des Strassenmagazins Surprise überwinden sie ihre soziale Isolation. Ihr Alltag bekommt wieder Struktur und mehr Sinn. Sie gewinnen neue Selbstachtung und erarbeiten sich aus eigener Kraft einen kleinen Verdienst. Das verdient Respekt und Unterstützung. Das Spezialprogramm SurPlus ist ein niederschwelliges Begleitprogramm für ausgewählte Surprise-Verkaufende, die regelmässig das Strassenmagazin

verkaufen und hauptsächlich vom Heftverkauf leben. Diese Verkaufenden erhalten nur geringe soziale Ergänzungsleistungen und werden im Programm SurPlus gezielt vom Verein Surprise unterstützt: Sie sind sozial abgesichert (Ferien, Krankheit, Nahverkehrsabonnement) und werden bei Problemen im oft schwierigen Alltag begleitet. Mit einer Patenschaft leisten Sie einen wesentlichen Beitrag für die soziale Absicherung der Verkaufenden und ermöglichen ihnen, sich aus eigener Kraft einen Verdienst zu erarbeiten. Vielen Dank für Ihr Engagement!

Elsa Fasil Bern

Kostana Barbul St. Gallen

Ralf Rohr Zürich

Marlis Dietiker Olten

Negasi Garahassie Winterthur

Josiane Graner Basel

Tatjana Georgievska Basel

Emsuda Loffredo-Cular Basel

Anja Uehlinger Baden

Andreas Hossmann Basel

Haimanot Ghebremichael Bern

Roland Weidl Basel

Daniel Stutz Zürich

Markus Thaler Zürich

Ja, ich werde Gotte/Götti und unterstütze das SurPlus-Programm von Surprise! 1 Jahr: 6000 Franken

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388/16 Talon bitte senden oder faxen an: Verein Surprise, Administration, Spalentorweg 20, 4051 Basel, F +41 61 564 90 99, info@vereinsurprise.ch, PC-Konto 12-551455-3 SURPRISE 388/16

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Surprise – mehr als ein Magazin

Ich möchte Surprise abonnieren! 24 Ausgaben zum Preis von CHF 189.– (Europa: CHF 229.– ) (Verpackung und Versand bieten StrassenverkäuferInnen ein zusätzliches Einkommen.) Gönner-Abo für CHF 260.–

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Hilfe zur Selbsthilfe Surprise unterstützt armutsbetroffene Menschen – beim Strassenverkauf, Strassenchor oder Strassensport, dem Sozialen Stadtrundgang oder Café Surprise: Der Verein fördert die soziale Integration der Betroffenen. Surprise gibt das vierzehntägig erscheinende Strassenmagazin heraus. Eine professionelle Redaktion produziert das Heft zusammen mit freien Journalisten, Fotografen und Illustratoren. Das Magazin wird auf der Strasse verkauft. Über 350 armutsbetroffene Menschen, denen der Arbeitsmarkt verschlossen bleibt, erhalten über den Strassenverkauf eine Erwerbsmöglichkeit und eine Tagesstruktur. Die Hälfte des Magazinerlöses behalten die Verkaufenden.

Stärken. Bewegen. Integrieren. Surprise fördert die Integration mit Sport. In der Surprise-Strassenfussball-Liga spielen Teams aus der Deutschschweiz um den Titel des Schweizermeisters. Einige Spieler nehmen am Homeless World Cup teil. Seit 2009 hat Surprise einen eigenen Strassenchor. Gemeinsames Singen und Auftritte ermöglichen Glücksmomente für Menschen, für die der gesellschaftliche Anschluss erschwert ist. Café Surprise schenkt Menschen mit wenig Geld einen Kaffee in einer Bar oder einem Café. So können sie am sozialen Leben teilnehmen. Für Gäste ist es eine charmante Gelegenheit, sich sozial zu engagieren: Sie bezahlen ihren Kaffee und spendieren einen weiteren.

Eine Stimme für Benachteiligte Surprise verleiht sozial ausgegrenzten Menschen eine Stimme und sensibilisiert die Öffentlichkeit z.B. mit dem Sozialen Stadtrundgang in Basel und Zürich. Die Surprise-Stadtführer sind Armutsbetroffene, Ausgesteuerte und Obdachlose. Sie erzählen aus ihrem Alltag in ihrer Stadt und zeigen Orte, an denen man sonst vorübergeht. Gemeinsam wollen sie Vorurteile abbauen.

Über Surprise Der Verein Surprise unterstützt Armutsbetroffene ohne staatliche Gelder. Das Strassenmagazin wird mit dem Erlös aus dem Heftverkauf und mit Inseraten finanziert. Für alle Angebote ist Surprise auf Spenden, Sponsoren und Stiftungen angewiesen. Surprise ist Mitglied des internationalen Netzwerkes der Strassenzeitungen (INSP), dem über 120 Magazine in über 40 Ländern angehören.

Impressum Herausgeber Verein Surprise, Spalentorweg 20, 4051 Basel www.vereinsurprise.ch Öffnungszeiten Sekretariat 9 – 12 Uhr, Mo – Fr T +41 61 564 90 90, F +41 61 564 90 99 Nicole Mathys, Thomas Oehler, info@vereinsurprise.ch Geschäftsleitung Paola Gallo (Geschäftsleiterin), Sybille Roter (Mitglied der Geschäftsleitung), Jannice Vierkötter (Mitglied der Geschäftsleitung) Anzeigenverkauf T +41 61 564 90 90, M +41 76 325 10 60 anzeigen@vereinsurprise.ch Redaktion T +41 61 564 90 70, F +41 61 564 90 99 Amir Ali (ami), Beat Camenzind (bc), Diana Frei (dif), Simon Jäggi (sim), Thomas Oehler (toe), Sara Winter Sayilir (win, verantwortlich für diese Ausgabe), redaktion@vereinsurprise.ch, leserbriefe@vereinsurprise.ch Ständige Mitarbeit Rosmarie Anzenberger (Korrektorat), Florian Burkhardt, Rahel Nicole Eisenring, Carlo Knöpfel, Yvonne Kunz, Khusraw Mostafanejad, Fatima Moumouni, Stephan Pörtner, Isabella Seemann, Sarah Weishaupt, Priska Wenger, Tom Wiederkehr, Christopher Zimmer Mitarbeitende dieser Ausgabe David Baltzer, Monika Bettschen, Geri Born, Basile Bornand, Elif, Daniel Gebauer, Tanja Mändli, René Ruis, Chantal Vanasse, Mara Wirthlin Gestaltung WOMM Werbeagentur AG, Basel Druck AVD Goldach Auflage 23 300, Abonnemente CHF 189, 25 Ex./Jahr Marketing, Fundraising, Kommunikation T +41 61 564 90 50 Svenja von Gierke (Leitung), Zaira Esposito, Katrin Pilling Wiedergabe von Artikeln und Bildern, auch auszugsweise nur mit Genehmigung der Redaktion. Für unverlangte Zusendungen wird jede Haftung abgelehnt.

Vertriebsbüro Basel T +41 61 564 90 83/85 Thomas Ebinger, Anette Metzner, Spalentorweg 20, 4051 Basel, basel@vereinsurprise.ch Vertriebsbüro Zürich T +41 44 242 72 11, M +41 79 636 46 12 Sara Huber, Christian Sieber, Kanzleistr. 107, 8004 Zürich, zuerich@vereinsurprise.ch Vertriebsbüro Bern T +41 31 332 53 93, M +41 79 389 78 02 Barbara Kläsi, Alfred Maurer, Fabian Steinbrink Scheibenstrasse 41, 3014 Bern, bern@vereinsurprise.ch Café Surprise T +41 61 564 90 50 Zaira Esposito (Leitung), z.esposito@vereinsurprise.ch Strassenchor T +41 61 564 90 40 Paloma Selma (Leitung), p.selma@vereinsurprise.ch Strassenfussball T +41 61 564 90 10 Lavinia Besuchet (Leitung), l.besuchet@vereinsurprise.ch, David Möller (Sportcoach), d.moeller@vereinsurprise.ch Sozialer Stadtrundgang Basel T +41 61 564 90 40 Sybille Roter (Leitung), s.roter@vereinsurprise.ch, Paloma Selma (Koordination), rundgang@vereinsurprise.ch Sozialer Stadtrundgang Zürich T +41 44 242 72 14 Sybille Roter (Leitung), s.roter@vereinsurprise.ch, Carmen Berchtold (Koordination), rundgangzh@vereinsurprise.ch Vereinspräsident Beat Jans Surprise behält sich vor, an Verkaufende gerichtete Postsendungen zu öffnen. Barspenden an namentlich bezeichnete Verkaufende können nur bis zu einem Betrag von CHF 100.– weitergeleitet werden. Darüber hinausgehende Beträge sollen – im Einverständnis mit der Spenderin oder dem Spender – allen Verkaufenden zugute kommen. Helfen macht Freude, spenden Sie jetzt: Spendenkonto PC 12-551455-3 SURPRISE 388/16


Gutes tun – sinnvoll schenken!

Surprise bietet armutsbetroffenen Menschen Hilfe zur Selbsthilfe. Mit Geschenken von Surprise unterstützen Sie uns dabei.

Gibt neue Perspektiven: ein Sozialer Stadtrundgang Die Surprise Stadtführer erzählen persönliche Geschichten aus ihrem Alltag als Obdachlose und Armutsbetroffene in ihrer Stadt. Verschenken Sie einen anderen Blick auf Basel oder Zürich. Geben einen coolen Look: eine Tasche, eine Mütze, ein Cap oder ein Handtuch Eine Mütze oder ein Cap für jede Jahreszeit, eine Tasche mit schönem Design oder ein farbenfrohes Handtuch – schenken Sie Mehrwert von Surprise. Unsere Mützen, Taschen und Caps gibt es in diversen Farben.

Gibt Gesprächsstoff: ein Surprise Jahresabo Das Surprise Strassenmagazin liefern wir gerne alle zwei Wochen in den Briefkasten. Auch im Abo unterstützen Sie unsere Arbeit. Gibt Einblicke: das Buch «Standort Strasse» Das Buch «Standort Strasse – Menschen in Not nehmen das Heft in die Hand» porträtiert zwanzig Surprise-Verkaufende und zeigt eindrücklich, wie unterschiedlich die Gründe für den sozialen Abstieg sind – und wie gross die Schwierigkeiten, wieder auf die Beine zu kommen.

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Sozialer Stadtrundgang Basel: pro Person CHF 15, Anzahl ______ Gruppe bis 20 Personen CHF 250 Zürich: pro Person CHF 30, Anzahl ______ Gruppe bis 20 Personen CHF 300 (Rabatt für Lernende und Auszubildende)

Surprise Tasche CHF 45, Taschenfarbe: schwarz orange grün blau rot Farbe Surprise-Schriftzug: schwarz weiss silber Farben solange vorrätig. Wir sind dabei unser Sortiment umzustellen!

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