Surprise Nr. 425

Page 1

Strassenmagazin Nr. 425 18. Mai bis 31. Mai 2018

CHF 6.–

davon gehen CHF 3.– an die Verkaufenden

Bitte kaufen Sie nur bei Verkaufenden mit offiziellem Verkaufspass

Pfingstkirchen

Halleluja!

Millionen Nigerianer beten um die Erlösung von ihrer Armut. Reich davon werden die Prediger. Seite 8


Kultur

Solidaritätsgeste

STRASSENCHOR

CAFÉ SURPRISE

Lebensfreude

Entlastung Sozialwerke

BEGLEITUNG UND BERATUNG

Unterstützung

Job

STRASSENMAGAZIN Information

Zugehörigkeitsgefühl Entwicklungsmöglichkeiten

STRASSENFUSSBALL

Erlebnis

Expertenrolle

SOZIALE STADTRUNDGÄNGE Perspektivenwechsel

SURPRISE WIRKT Surprise unterstützt seit 1998 sozial benachteiligte Menschen in der Schweiz. Unser Angebot wirkt in doppelter Hinsicht – auf den armutsbetroffenen Menschen und auf die Gesellschaft. Wir arbeiten nicht gewinnorientiert, finanzieren uns ohne staatliche Gelder und sind auf Spenden und Fördergelder angewiesen. Spenden auch Sie. surprise.ngo/spenden | Spendenkonto: PC 12-551455-3 | IBAN CH11 0900 0000 1255 1455 3

GESCHICHTEN VOM FALLEN UND AUFSTEHEN Kaufen Sie jetzt das Buch «Standort Strasse – Menschen in Not nehmen das Heft in die Hand» und unterstützen Sie einen Verkäufer oder eine Verkäuferin mit 10 CHF. «Standort Strasse» erzählt mit den Lebensgeschichten von zwanzig Menschen, wie unterschiedlich die Gründe für den sozialen Abstieg sind – und wie gross die Schwierigkeiten, wieder auf die Beine zu kommen. Porträts aus früheren Ausgaben des Surprise Strassenmagazins ergänzen die Texte. Der Blick auf Vergangenheit und Gegenwart zeigt selbstbewusste Menschen, die es geschafft haben, trotz sozialer und wirtschaftlicher Not neue Wege zu gehen und ein Leben abseits staatlicher Hilfe aufzubauen. Surprise hat sie mit einer Bandbreite an Angeboten dabei unterstützt: Der Verkauf des Strassenmagazins gehört ebenso dazu wie der Strassenfussball, der Strassenchor, die Sozialen Stadtrundgänge und eine umfassende Beratung und Begleitung. 156 Seiten, 30 farbige Abbildungen, gebunden, CHF 40 inkl. Versand, ISBN 978-3-85616-679-3 Bestellen bei Verkaufenden oder unter: surprise.ngo/shop

2

Weitere Informationen T +41 61 564 90 90 | info@surprise.ngo | surprise.ngo | Facebook: Surprise NGO

Surprise 423/18


TITELBILD: KOSTAS MAROS

Editorial

Mehr für alle oder mehr für mich? Kann man Unerfüllbares versprechen, sich damit dumm und dusselig verdienen und ein reines Gewissen behalten? Pastoren sogenannter Mega-Pfingstkirchen machen es vor: Sie bieten Heilung von Krebs und die Erlösung von Armut gegen Kollekte und Spenden an. Geschätzte 500 Millionen Anhängerinnen und Anhänger zählt die Pfingstbewegung weltweit, Tendenz steigend. In Nigeria ist die Bewegung besonders stark. Während die allgemeine Wohlfahrt ausbleibt, wächst der Reichtum und Einfluss der Kirchenoberhäupter. Kritik wird nur vereinzelt laut, obwohl oder gerade weil die Kirchen mit ihren rigiden Moralvorstellungen und dem Traum vom individuellen Glück ein Gesellschaftsbild vertreten, das wunderbar mit dem neoliberalen Wirtschaftsmodell vereinbar ist und die Ungleichheit zwischen Arm und Reich gar nicht erst infrage stellt. Warum, lesen Sie ab Seite 8.

Gesellschaft sich am Wohl ihrer Schwächsten bemisst. Dies riefen sich ein paar Engagierte in Rodersdorf im Kanton Solothurn in Erinnerung und stellten fest: Integration ist keine Einbahnstrasse. Was können wir tun, um es den in unserer Gemeinde untergebrachten Geflüchteten leichter zu machen mit dem Ankommen und Zurechtkommen in unserer Gesellschaft? Also haben sie Lücken gefüllt und Brücken gebaut zwischen einer überforderten Bürokratie und den Menschen, die sie verwaltet: Freiwillige gaben extra Deutschkurse und suchten gemeinsam Lehrstellen, mieteten ein Haus für alle mitten im Zentrum und boten Hilfe bei Ämterbesuchen. Alle Probleme haben die Rodersdorfer mit ihrem Einsatz nicht gelöst. Und doch lohnt es sich, sagen sowohl Neuankömmlinge als auch Alteingesessene ab Seite 16.

Der Glaube an individuellen Reichtum steht im krassen Gegensatz zur Idee vom Sozialstaat, bei welcher der Erfolg einer

4 Aufgelesen

SAR A WINTER SAYILIR Redaktorin

16 Rodersdorf

Wie ein kleiner Ort Flüchtlinge integriert

5 Vor Gericht

Kick durch Klicks 22 Bildrausch

Entdeckt Clio Barnard

6 Challenge League

28 SurPlus Positive Firmen 29 Wir alle sind Surprise Impressum Surprise abonnieren

Zuhause im Theater 30 Surprise-Porträt

«Der Abschied war unheimlich hart»

7 All Inclusive

Missbrauchsdebatte? Ja bitte!

26 Veranstaltungen 8 Nigeria

Beten in der Pfingstbewegung

Surprise 425/18

27 Fortsetzungsroman

Die Welt ist schlecht

3


Aufgelesen News aus den 100 Strassenzeitungen und -magazinen in 34 Ländern, die zum internationalen Netzwerk der Strassenzeitungen INSP gehören.

BILD: ANKERHERZ VERLAG

Als Obdachloser das Abitur gemacht Dominik Bloh, 29, wurde mit 16 Jahren von seiner Mutter aus der Wohnung geworfen und lebte danach elf Jahre in Hamburg auf der Strasse. Während dieser Zeit machte er 2011 sein Abitur. Von 2013 bis 2015 schlief er in einem öffentlichen Park mit stilisierten Palmen aus Stahl, seit zwei Jahren hat er eine Wohnung. Das Thema Obdachlosigkeit hat Bloh dennoch nicht losgelassen: Vor Kurzem ist das vielbeachtete Buch «Unter Palmen aus Stahl» erschienen, in dem Bloh über sein Leben schreibt, zudem verfasst er eine Kolumne über Obdachlosigkeit in einer Hamburger Tageszeitung.

HEMPELS, KIEL

Höherer Lohn

Innovative Dörfler

Nirgends in Kanada ist der Anteil von Working Poor höher als in British Columbia. Nun will der Bundesstaat den Mindeststundenlohn bis 2021 auf 15 kanadische Dollar erhöhen. Im Moment liegt er bei 11,35 Dollar. Übrigens: 82 Prozent derjenigen, die heute weniger als 15 Dollar pro Stunde verdienen, sind über 20 Jahre alt, 39 Prozent über 35. Rund 60 Prozent der Betroffenen sind Frauen, und 58 Prozent arbeiten Vollzeit.

Die Gemeinde Oberndorf bei Hamburg, 1465 Einwohner, trotzt der Landflucht. Nach der Schliessung der Schule vor vier Jahren gründeten Bewohner eine Aktiengesellschaft. Diese betreibt heute Biogasanlagen («Gülle haben wir im Überfluss», sagt ein Bewohner) und mit deren Abwärme eine grosse Fischzucht im Ort. Mit Erfolg: Diesen Sommer wird die Schule wiedereröffnet, und das Dorf träumt bereits von mehr. In den nächsten Jahren will man beginnen, Bananenbäume zu züchten. Der Kot der Fische wäre ein idealer Dünger.

MEGAPHONE, VANCOUVER

HINZ & KUNZT, HAMBURG

4

Surprise 425/18


ILLUSTRATION: PRISKA WENGER

Bedrohte Arten

Weil ihr Lebensraum schwindet, hat die Zahl der Igel in Grossbritannien seit 2000 stark abgenommen: In städtischen Gebieten ging sie um einen Drittel zurück, in ländlichen um 50 bis 75 Prozent. Gar um 90 Prozent gesunken ist in den letzten 30 Jahren die Zahl der Turteltauben. Ein anderer Vogel, der Papageientaucher, könnte bald vom Aussterben bedroht sein: In den letzten Jahren kamen viel weniger Jungtiere auf die Welt als früher. Grund dafür ist der Klimawandel, der Fischschwärme und damit die Nahrung der Vögel in andere Regionen ziehen lässt.

THE BIG ISSUE, LONDON

Obdachlose Aborigines

116 427 Menschen in Australien sind obdachlos, wie die neuste Volkszählung zeigt. Seit 2001 ist ihre Zahl um 13,7 Prozent gestiegen. 38 Prozent von ihnen sind unter 25 Jahre alt. Besonders betroffen sind die Aborigines: Auch wenn sie lediglich 2,8 Prozent der Bevölkerung stellen, beträgt ihr Anteil bei den Obdachlosen 20 Prozent.

THE BIG ISSUE, MELBOURNE

4000 Schwarzfahrer in Haft

Knapp die Hälfte der gefassten Schwarzfahrer in Deutschland ist mittellos. Ihnen drohen «Ersatzfreiheitsstrafen», wenn sie Geldstrafen nicht bezahlen können. Etwa 4000 Menschen sind wegen solcher Strafen in Haft, das ist fast ein Zehntel der Gefangenen in Deutschland.

BODO, BOCHUM UND DORTMUND

Surprise 425/18

Vor Gericht

Kick durch Klicks Kleine Vorwarnung: Es wird gleich anstössig, auf sehr beklemmende Weise. Der 30-jährige Beschuldigte hatte sich und seine Partnerin mehrfach beim Sex gefilmt. Ohne ihr Wissen. Als sie sein Tun entdeckte, trennte sie sich von ihm. Das war 2010. Fünf Jahre später kam ihr zu Ohren, dass Sexvideos von ihr im Netz kursierten. Ihr Ex, nun vor Gericht, hatte das Material auf einschlägigen Plattformen veröffentlicht. Er versah die Filmchen mit Kommentaren wie: «In den Arsch, Schlampe». Damit aber nicht genug: Auf verschiedenen seriösen Netzwerken wie Linkedin legte er in ihrem Namen Profile an und lud Standbilder aus den Videos hoch. Sie leidet bis heute an einer posttraumatischen Belastungsstörung. Auch die Nachbarin des Beschuldigten fand sich mit Klarnamen auf diversen Sexseiten wieder. Und Dutzende, heimlich an öffentlichen Orten geschossene Fotos von ihrem «perfekten Fickarsch». Einmal filmte sich der Beschuldigte, wie er auf eines ihrer Bilder ejakulierte. Auch für sie erstellte er Profile in sozialen Netzwerken, mit dem Motto: «Gerne lasse ich mich von hinten penetrieren». Der dritten Geschädigten, einer Kollegin des Angeklagten, knetete er die Brüste, als sie schlief. Auch davon stellte er ein Filmchen ins Netz. Das erfuhr die Frau von ihrem Verlobten. Die Gerichtsvorsitzende hat vor allem eine Frage: «Warum?» Darauf gibt der Beschuldigte eine verstörende Antwort: «Einfach so. Aus Langeweile.» Seine Stimme ist so schmächtig wie seine Statur. Er habe viel

gekifft zu jener Zeit, nuschelt er. Sei arbeitslos gewesen und unzufrieden. Es habe ihn wundergenommen, was für Reaktionen er auf die Filme bekommen würde. Der Staatsanwalt ist ratlos. Nichts von dem, was der Beschuldigte sage, ergebe Sinn. Er lüge, wenn er sage, er habe niemandem schaden wollen. Dass die Veröffentlichung der Klarnamen ein Versehen war. Dass es ihm nicht um die systematische Demütigung seiner Opfer ging. Die Taten seien von selten hässlicher Derbheit. Ganz anders der Verteidiger: Sicher, fein sei das Verhalten des Beschuldigten nicht gewesen. Pornografie sei das aber nicht – die Filme zeigten vielmehr den Austausch von Zärtlichkeiten. Überdies seien die Porno-Portale inzwischen ja salonfähig. Und die schlafende Frau: Wer sich nach dem Ausgang besoffen mit einem Mann aufs Sofa setze, müsse mit Intimitäten rechnen. Der Staatsanwalt fordert 26 Monate Gefängnis, sechs unbedingt. Der Verteidiger will nur sechs Monate bedingt. Ein Gefängnisaufenthalt würde den weiteren Weg des Beschuldigten unnötig erschweren. Das Gericht folgt den Strafanträgen des Staatsanwalts. Harmlose Liebesfilmchen seien das sicher nicht, sagt die Gerichtsvorsitzende. Es sei nicht mal nur das Bildmaterial, sondern vor allem die erniedrigenden Texte, welche die Sache zur schweren Straftat machten. Und wer andere so auf beruflichen Plattformen darstelle, könne nicht behaupten, er habe niemandem schaden wollen. Die Gerichtsvorsitzende veranschaulicht: «Stellen Sie sich vor, die anwesenden Medien würden Sie in ihrer Berichterstattung mit Namen und Wohnort nennen.» Zugegeben : Als Autorin ist das in diesem Fall wirklich verlockend. Y VONNE KUNZ ist Gerichtsreporterin in Zürich

5


Challenge League

Zuhause im Theater FOTO: ZVG

das Gespielte schön finden. Ich versuche, es mit Ehrlichkeit zu präsentieren, obwohl ich manchmal übertreibe und etwas mehr Dramatik hinzufüge. Ich glaube, dass Frauen beim Schauspielern talentierter sind. Sie lernen schneller und ahmen nach. Die Männer können ihre Gefühle nicht so gut zeigen wie Frauen. Als ich das unserer Lehrerin mitgeteilt habe, sagte sie: «Das kommt bei den Männern auch, es dauert einfach länger.» Einmal sollten wir einen Satz aus dem Antigone-Text auswendig lernen. Ich habe einen Satz von König Kreon gewählt, wo er den Boten fragt: «Was gibt’s, warum du so kleinmütig kommest?» Mein Satz hat vielen gefallen und ich war darüber so froh, dass ich mich selbst wie ein König gefühlt habe. Menschen aus verschiedenen Ländern, darunter Khusraw Mostafanejad (vorne, 2.v.r.), proben im Zürcher Maxim-Theater «Antigone» von Sophokles.

Seit drei Monaten besuche ich ein Theaterprojekt am Maxim-Theater in Zürich. Das Ziel ist, das antike griechische Drama «Antigone» von Sophokles aufzuführen. Wir sind etwa 20 Personen aus verschiedenen Ländern von Asien bis Südamerika, darunter auch Schweizer. Anfangs bauten wir Eselsbrücken für unsere Namen: Kristina wie Krokodil oder Liza wie Löwe. Bei meinem Namen hatte die Lehrerin Schwierigkeiten, ein passendes Tier zu finden (dabei beginnt jedes Tier mit K- hierzulande mit dem geriebenen Ch-, mit dem auch mein Name beginnt: Chatz, Chue). Schliesslich gab meine Lehrerin mir den Namen Khusraw wie Chamäleon, auch wenn das nun gerade mit K- gesprochen wird. Lustig war zudem, dass ich selber lang nicht wusste, was für ein Tier das Chamäleon ist. Dann erklärte mir jemand, dass es ein Reptil ist und die Farben wechselt. «Diese Fähigkeit braucht ein echter Schauspieler ja auch», antwortete ich. Unsere Lehrerin weiss, dass wir wegen der Arbeit oder anderer Verpflichtungen nicht immer kommen können. «Versucht 6

innerhalb von zwei Wochen mindestens einmal vorbeizukommen», sagt sie uns. Ich versuche, immer dabei zu sein, da mir der Kurs sehr gefällt. Wir lernen viel voneinander. Mit Bewegungen, Verhalten und Sprache sollen wir Gefühle und Eigenschaften ausdrücken, wie Wut, Charme oder Angst – und das, obwohl nicht alle Deutsch beherrschen. Manches wirkt auf mich komisch, manches bedeutungsvoll. Einmal habe ich zugeschaut, während andere etwas spielen sollten, und fand es so lustig, dass ich laut sagte: «Ihr macht ein Kinderspiel.» Weil wir übertreiben, wirkt es manchmal, als verhielten wir uns wie Kinder. Ich finde die Ehrlichkeit und Offenheit toll, mit der wir uns begegnen. Sie hat dazu geführt, dass ich alle Teilnehmenden in kürzester Zeit sehr gut kennengelernt habe. Ich verhalte mich den anderen gegenüber, als ob ich sie seit Jahren kenne, und die anderen tun das ebenfalls. Ich versuche oft, Szenen aus meinem Leben zu spielen, auch wenn dieses bisher eher tragisch verlaufen ist. Ich fühle, dass die anderen

Nach dem Kurs sprechen wir mit viel Enthusiasmus über das Theater, im Tram hören uns andere Passagiere genau zu. Einmal fragte eine junge Frau von uns einen älteren Mann im Tram spontan, ob er einen Sohn habe. Die Frage war so überraschend, dass uns die Passagiere mit offenen Augen und Mündern anschauten. Der Angesprochene sagte, nein. Um die Spannung aufzulösen, sagte ich laut: «Wenn er einen Sohn gehabt hätte, wäre er auch so hübsch wie der Vater.» Da haben alle gelacht. Unter uns sind viele Migranten und ein paar Asylsuchende. Und es ist das erste Mal, dass ich mit Schweizern so gut befreundet bin. Offenbar findet im Kurs auch Integration statt. Richtige Integration: Wir lernen von den Schweizern und die Schweizer lernen von uns. Überall, wo ich vorher war, hat Integration fast immer Anpassung geheissen.

Der kurdische Journalist KHUSRAW MOSTAFANEJAD floh aus seiner Heimat Iran und lebt seit 2014 in der Schweiz.

Surprise 425/18


ILLUSTRATION: RAHEL NICOLE EISENRING

Da das neue Observationsgesetz für alle Sozialversicherungen gilt und damit die ganze Bevölkerung betrifft, ist die Empörung grösser im Vergleich zu damals, als beschlossen wurde, dass IV-Bezüger observiert werden dürfen. «Wer nichts zu verbergen hat, hat nichts zu befürchten» klang ganz gut, solange es einen selbst nicht betraf. Aber eine Versicherungsdrohne, die im Krankheitsfall ins Schlafzimmer guckt? Das möchte man doch lieber nicht. Zwar betonen Versicherungen und Lobbyistinnen, dass nur bei starkem Anfangsverdacht eine Überwachung angeordnet werde, doch auch dazu gibt es Zahlen: Pro Jahr werden 100 IV-Bezüger überwacht, denen kein Missbrauch nachgewiesen werden kann. Und: Der überwiegende Teil der Missbrauchsfälle wird ohne Observation aufgedeckt, beispielsweise durch eine erneute Begutachtung.

All Inclusive

Missbrauchsdebatte? Ja bitte! Ein Referendum gegen Versicherungsdetektive sei kaum zu gewinnen, liess SP-Präsident Christian Levrat Anfang April verlauten, und zudem böte man den Gegnern unnötigerweise eine Plattform, um eine aufgebauschte Sozialmissbrauchsdebatte zu führen. Unter dem Druck der Basis knickte die SPSpitze kurz darauf ein und gab bekannt, das von einer Bürgerbewegung gestartete Referendum nun doch zu unterstützen. Allerdings wenig enthusiastisch: Die SP-Oberen hatten sich für das Jahr vor den nationalen Wahlen prestigeträchtigere Themen auf die Agenda gesetzt als eine Diskussion über «Sozialschmarotzer», mit der aus ihrer Sicht kein Blumentopf und erst recht keine Wahlen zu gewinnen sein würden. Doch da könnten sie sich irren. Anders als vor 15 Jahren, als die SVP die Scheininvalidendebatte lancierte und von «grassierendem» Missbrauch sprach, existieren heute Zahlen aus zehn Jahren IV-Missbrauchsbekämpfung, Surprise 425/18

die zeigen, dass die Missbrauchsquote deutlich unter einem Prozent liegt. Die Gegner des Referendums erzählen zwar nun wie erwartet Anekdoten wie die von der angeblich schwer Gehbehinderten, die – kaum aus der Gutachterpraxis draussen – plötzlich wie ein junges Reh herumhüpft, doch die ganz grosse Empörung können sie damit nicht mehr generieren. Denn die Statistik zeigt: Es sind Einzelfälle. IV-Gesetzgebung und -Rechtsprechung wurden in den letzten Jahren massiv verschärft. Seit 2003 wurde die Zahl der jährlich neu zugesprochenen IV-Renten von 28 000 auf 14 000 halbiert. Deshalb erleben immer mehr Menschen in ihrem persönlichen Umfeld, wie die IV kranken Menschen Leistungen verweigert. Sie erfahren dadurch, dass das Versprechen, die Missbrauchsbekämpfung sei «im Sinne der wirklich Behinderten und Kranken», bloss eine dreiste Lüge war. Die effektiven Gewinner sind die Versicherungen.

Auch der Gesetzgebungsprozess erweckte den Unmut der Bevölkerung. In Rekordzeit wurde das von den Versicherungen teils gleich selbst formulierte Gesetz durchs Parlament gepeitscht. Die Parlamentarier (grösstenteils mit gutbezahlten Versicherungsmandaten ausgestattet) schlugen die Einwände renommierter Rechtsprofessoren in den Wind. Da die neue Vorlage – anders als etwa die Strafprozessordnung – kein Verwertungsverbot für illegal erhobene Beweise enthält, verkommt das Gesetz laut Staatsrechtsprofessor Thomas Gächter zur blossen Verhaltensempfehlung, deren Nichtbeachtung für die Versicherungen keine Konsequenzen hat. Niemand will Betrüger schützen. Aber was auch niemand will, sind gekaufte Parlamentarier sowie Versicherungen, die Versicherte grenzenlos bespitzeln können und im Schadensfall keine Leistungen zahlen. Wenn die SP-Spitze diese Themen nicht aufgreift und die «Missbrauchsdebatte» den Gegnern mit ihren anekdotischen Räubergeschichten überlässt, hat sie bald mehr als nur den Kontakt zur Basis verloren.

MARIE BAUMANN besitzt als Betreiberin des Blogs ivinfo.worldpress.com eine ganze Sammlung von Zahlen und Fakten, die es locker mit den Missbrauchsanekdoten der Befürworter des neuen Gesetzes aufnehmen können. Mehr zum Referendum: pledge.wecollect.ch

7


Reich durch Gott Christentum Die Pfingstbewegung wächst weltweit rasant und zieht auch in Nigeria Millionen

in ihren Bann. Die Kirchenoberhäupter versprechen einen Ausweg aus der Armut, Wohlstand und Erfolg. Vor allem sie selbst verdienen damit ein Vermögen. TEXT SIMON JÄGGI

FOTOS KOSTAS MAROS

Viel Platz für den «Wunderkreuzzug»: So nennt die Mega-Kirche Salvation Ministries ihre Grossveranstaltung auf dem Tafawa Bawela Square in Lagos.

MALI NIGER TSCHAD BURKINA FASO BENIN NIGERIA GHANA

Lagos

KAMERUN

8

Surprise 425/18


Superreich von Gottes Gnaden: Pastor David Ibiyeomie.

Heilung, Segen, Reichtum wünschen sich die Gläubigen.

Tausende Menschen stehen dicht gedrängt im Licht der Scheinwerfer auf dem Tafawa Bawela Square im Zentrum von Lagos. Kamerakräne schwenken über die Menge, Grossleinwände leuchten. Vorne auf der Bühne steht David Ibiyeomie. Strahlend weisser Anzug, charismatisches Lächeln, wuchtige Stimme. «Es ist vorbei mit Arbeitslosigkeit, vorbei mit Armut, vorbei mit Krankheiten!», ruft er ins Mikrofon. Lautsprecher tragen seine Versprechungen über den Platz. «Amen», antwortet das Publikum, Männer und Frauen strecken die Hände zum Himmel, werfen sich in Ekstase zu Boden. Pastor David Ibiyeomie ist Gründer und Oberhaupt von Salvation Ministries, einer der grossen Pfingstkirchen des Landes mit mehreren hunderttausend Anhängern, Surprise 425/18

eigenen Fernsehstationen und Ablegern in den USA und Kanada. Salvation Ministries behauptet von sich, die am schnellsten wachsende Pfingstkirche Nigerias zu sein. Gerade baut sie im Osten des Landes ein neues Auditorium: konstruiert in der Form von fünf Fingern, als Symbol für die Hand Gottes. Es soll Platz bieten für 90 000 Menschen und wäre damit das grösste Kirchengebäude der Welt. Derzeit zählt die Pfingstbewegung mehr als 500 Millionen Mitglieder weltweit, Tendenz schnell steigend. Gemäss Schätzungen von Sozialwissenschaftlern werden es jeden Tag 30 000 mehr. Ein Viertel der zwei Milliarden Christinnen und Christen gehören heute einer Pfingstkirche an, im Jahr 1980 waren es noch sechs Prozent. Die Kirchen boomen insbesondere in

Lateinamerika, Indien und in den afrikanischen Ländern südlich der Sahara. Die Wurzeln der Bewegung liegen in den USA. Seit dem Beginn des 20. Jahrhunderts verbreiteten sich von dort aus charismatische Glaubensgemeinschaften in alle Welt. Mit ihrem Glauben an das direkte Wirken des Heiligen Geistes, einer wörtlichen Auslegung der Bibel und rigiden Moralvorstellungen erreichen sie ein Millionenpublikum. Dabei sind Glaubensvorstellungen und finanzieller Reichtum eng miteinander verknüpft. Besonders in Subsahara-Afrika zählen die Gründer und Oberhäupter der grossen Kirchen zu den wohlhabendsten Männern des Kontinents, mit Vermögen von bis zu 100 Millionen Dollar. Sie residieren in Villen, reisen in Privatjets und prägen Gesellschaft und Politik. Beten für ein Wunder In Nigeria ist die Bewegung seit den Sechzigerjahren aktiv. In keinem anderen Land zählen die Pfingstkirchen heute mehr Anhänger als hier. Die Kirchen tragen Namen wie Redeemed Christian Church of God, Winners Chapel oder Christ Embassy und sind lose organisiert, Kreuze hängen in ihren Hallen keine. Aber es gibt drei wichtige Dogmen: Bete zu Jesus Christus, empfange den Heiligen Geist und bezahle deinen monatlichen Obolus. «Miracle Crusade» – Wunderkreuzzug. So nennt die Kirche Salvation Ministries ihre zweitägige Grossveranstaltung in Lagos. Der Name ist Programm, zahlreiche Besucherinnen und Besucher sind gekommen, weil sie auf ein Wunder hoffen. Ein weiteres Kind, eine Verbesserung der finanziellen Situation oder Heilung von Krankheit. «Ich habe genug von meiner Lebenssituation und wünsche mir von Gott eine ganz grundsätzliche Wende», sagt eine junge Frau im roten Kleid. Die Gospel-Band stimmt ein neues Lied an, tausendfach begleitet vom Gesang des Publikums. Wie alle Pastoren der Pfingstkirchen gilt auch Pastor David Ibiyeomie unter seinen Anhängern als Gesandter Gottes. Durch ihn soll der Heilige Geist seine Wirkung entfalten, Krankheiten heilen und das Leben der Menschen zum Besseren wenden. Auf der Bühne legt Ibiyeomie einer angeblich tauben Frau die Hand auf die Stirn, ruft: «Im Namen von Jesus Christus, du kannst 9


wieder hören». Die Frau taumelt rückwärts, wird von Ibiyeomies Mitarbeitern aufgefangen. Einen Augenblick später beginnt sie zu den Klängen der Gospel-Musiker zu tanzen. «Mein Sohn ist stumm», sagt eine Frau, die mit einem Teenager auf der Bühne steht. Abermals streckt der Pastor seine Hand aus, legt sie dem Jungen auf die Stirn. Ibiyeomie brüllt den Mann an, dieser taumelt zuerst, einen Moment später spricht er klar und deutlich ein «Amen» ins Mikrofon. So geht das während mehr als zwei Stunden, die Heilungen reihen sich aneinander. Nicht bei allen gelingt das Wunder. Doch davon lässt sich der Pastor nicht irritieren. «Ob ihr HIV habt, Krebs oder Muskelschmerzen, ihr seid geheilt im Namen von Jesus Christus», ruft er ins Publikum. Die Musik der Gospelband wogt wie Wellen über den Platz. Armut als Nährboden der Kirchen Bis zu einem Viertel von Nigerias Bevölkerung soll der Pfingstbewegung angehören, mehr als 40 Millionen Menschen. Armut, gesellschaftliche Ungleichheit und Globalisierung bilden den Nährboden, auf dem die Kirchen wachsen. Die reichen Ölvorkommen haben Nigeria in den vergangenen Jahrzehnten zu einem starken Wirtschaftswachstum verholfen. Trotzdem leben von den knapp 190 Millionen Menschen 70 Prozent in Armut, mehr als 42 Prozent sogar in extremer Armut, das heisst von weniger als 1,90 Dollar pro Tag. Die Arbeitslosigkeit hat sich in den vergangenen Jahren verdreifacht. Besonders Jugendliche sind betroffen: Ende 2017 waren 52 Prozent zwischen 15 und 35 Jahren arbeitslos oder stark unterbeschäftigt. Das sind 22 Millionen Menschen ohne nennenswerte Perspektive. Die Entwicklungsorganisation Oxfam nennt als Hauptgründe der steigenden Arbeitslosigkeit Korruption, das degressive Steuersystem (bei dem Reiche im Verhältnis weniger zahlen als Arme), die Unterdrückung der Frauen und ein schwaches Bildungswesen. Hinzu kommen eine teure öffentliche Verwaltung und eine Infrastruktur, die kaum Schritt halten kann mit dem starken Bevölkerungswachstum. Seit 1990 hat sich die Einwohnerzahl verdoppelt, Nigeria ist heute das bevölkerungsreichste Land des Kontinents. 10

Hinter der Bühne, auf der Pastor Ibiyeomie wirkt, nehmen Mitarbeiter des Medical Staff die Berichte der Gläubigen auf und bestätigen mit einem Attest die Heilerfolge. Dort steht auch die junge Frau, die sich eine grundsätzliche Wende in ihrem Leben wünschte. «Ich habe ein Wunder empfangen», sagt sie. Einer ihrer Arme sei seit ihrer Geburt kürzer gewesen als der andere. Nach dem Gebet des Pastors habe sie keinen Unterschied mehr feststellen können. Eine Schar von Mitarbeitern geht mit hohen Bastkörben durch das Publikum. Die Besucher stecken Geldscheine in bereitliegende Couverts und werfen diese in die Körbe. Wenig später kündigen Trompetenklänge das Ende des Gottesdienstes an. «Ich liebe euch!», ruft David Ibiyeomie. Er verlässt die Bühne und geht über den roten Teppich in Richtung der bereitstehenden Limousine. Sicherheitsmitarbeiter in schwarzen Anzügen halten die Menschen zurück, die in seine Richtung drängen. Ein Kleinkind wird über die Köpfe hinweg zum Pastor gereicht, der kurz seine Hand segnend auf dessen Stirn legt. Dann fährt der Konvoi, begleitet von zwei Pickups mit bewaffneten Sicherheitsleuten und Blaulicht, in die Nacht hinaus in Richtung Hotel Intercontinental. Dort hat der Pastor die Präsidentensuite gemietet und das gesamte Stockwerk mit dazu.

Die Pfingstbewegung Die Bezeichnungen Pfingstbewegung, Pfingstkirche oder Pfingstler weisen auf das christliche Pfingstfest hin. Dieses erinnert an die im Neuen Testament beschriebene Entsendung des Heiligen Geistes am Ende der Osterzeit. Das Empfangen des Heiligen Geistes durch die Gläubigen ist denn auch zentraler Bestandteil der pfingstkirchlichen Glaubenslehre, die den charismatischen Glaubensrichtungen zugerechnet wird. Hierbei gilt die sogenannte Zungenrede, also das Sprechen in unverständlicher Sprache, als Gnadengabe des Heiligen Geistes, wie auch Heilungskräfte und Prophetie. Es gibt zahlreiche verschiedene Varianten von Pfingstkirchen innerhalb der weltweit verbreiteten Bewegung. Entstanden ist die moderne Pfingstbewegung zu Beginn des 20. Jahrhunderts in den USA und war dort zu Beginn stark geprägt vom Evangelikalismus. SIM

Der Markt des Glaubens ist in Nigeria hart umkämpft. Der Vormarsch und der Einfluss der Kirchen gilt auch als ein Faktor für den Konflikt zwischen Christen und Muslimen im Norden des Landes. An fast jeder Strasse in der Megastadt Lagos steht eine Pfingstkirche, oft nur wenige hundert Meter von der nächsten entfernt. Die Grossen halten ihre Gottesdienste auf Plätzen und in modernen Hallen, die Kleinen in Garagen, Shops und Wellblechhütten. Der finanzielle Aufstieg ist zentral Anders als die Pastoren von Mega-Kirchen wie Salvation Ministries ist der Anführer einer kleineren Kirche zu einem Gespräch mit Journalisten bereit. Pastor Jude Utsche ist ein Mann um die 50 mit wuchtiger Figur und eng geschnittenem Anzug. Vor 15 Jahren hat er seine Kirche Deliverance Ministry gegründet. Sie befindet sich abseits des Stadtzentrums in einem unverputzten Backsteinbau. Rund 40 Menschen besuchen jeden Sonntag seine Predigt. «Ich habe meinen Auftrag von Gott erhalten», sagt Utsche auf die Frage, weshalb er sich für die Gründung einer Kirche entschieden habe. «Eine Stimme rief dreimal meinen Namen. Sie sagte mir, Gott habe mir eine Gabe geschenkt. Ich solle sie nützen und eine Kirche gründen.» Damals betrieb er ein kleines Geschäft für Elektrogeräte und führte ein bescheidenes Leben. Seither hat sich in seinem Leben einiges zum Besseren gewandelt: Heute besitzt er ein eigenes Haus und kann seine Kinder in eine gute Schule schicken. Der finanzielle Aufstieg ist der zentrale Leitsatz seiner Kirche. «Egal wie arm jemand ist, wir machen ihn mit Gottes Hilfe zu einem Mitglied der Oberschicht», sagt er. Ein Auftrag von Gott und die Kirche als Tor zum materiellen Paradies auf Erden: Das sind die wiederkehrenden Motive der nigerianischen Pfingstkirchen. Auch die Ziele von Pastor Utsche klingen vertraut: «Wir wollen unsere Kirche zu einer der führenden Kirchen im Land machen. Mit Ablegern auf der ganzen Welt!» Die Pfingstbewegung erhält nicht nur Zulauf aus der armen Bevölkerung. Trotz unverändert rigider Moralvorstellungen, wie der Ablehnung von Homosexualität, Abtreibungen oder ausserehelichem Geschlechtsverkehr, erreicht sie immer mehr junge Menschen der Mittelschicht. Ein Surprise 425/18


«Egal wie arm jemand ist, wir machen ihn mit Gottes Hilfe zu einem Mitglied der Oberschicht.»

Nicht nur Gott sieht alles.

PASTOR JUDE UTSCHE

Alkohol, Liebe, Erfolg: Das sind die Themen der Anhänger von Pastor Kingsley.

Surprise 425/18

11


Gläubige nehmen unter einer Autobahnbrßcke am Gottesdienst teil.

12

Surprise 425/18


Fast alles kann als Gotteshaus dienen.

Ort und Grösse der Gottesdienste variieren stark von Kirche zu Kirche.

Beispiel dafür ist das David Christian Centre. Einer der Ableger der Kirche befindet sich auf Victoria Island, jenem Stadtteil, wo die Wohlhabenden zuhause sind und gläserne Hochhäuser in den Himmel wachsen. Pastor Kingsley gilt als humorvoll und aufgeschlossen, die Themen seiner Predigten sind zugeschnitten auf das dortige Publikum: Alkohol, Liebe, Erfolg. Nach dem Gottesdienst stehen mehrere Dutzend junge Leute in modischer Kleidung auf dem gepflegten Rasen vor der Kirche, einer Leichtbauhalle mit verglaster Front. Ein Mann mit auffälliger Designersonnenbrille und gelbem Hemd stellt sich als Gabi vor. «Die Kirche hat mich vorwärts gebracht im Leben», sagt er. Er habe früher in einer Bank gearbeitet, aber immer von einem Leben als Unternehmer geträumt. Surprise 425/18

Seit 15 Jahren heilt Pastor Jude Utsche im Auftrag Gottes.

«Pastor Kingsley hat mir den Mut gegeben, diesen Schritt zu wagen.» Heute führe er ein Modeunternehmen mit Verkaufsstellen auf der halben Welt. Wer Kritiker sucht, die sich öffentlich gegen die Kirchen aussprechen, muss nach ihnen suchen. Nigerianische Theologen, die zur Bewegung forschen, gehören grösstenteils selbst einer Pfingstkirche an. Lediglich einzelne Journalisten, Radiomoderatoren und Aktivisten melden sich mit Kritik zu Wort. So wie Bisi Alimi. «Es gibt nur einen Begriff, der die Pfingstkirchen zutreffend beschreibt», sagt der 43-Jährige bei einem Treffen in einer Hotelbar auf Victoria Island, dem Wirtschaftszentrum von Lagos. «Sie sind Betrug!» Alimi ist ein international bekannter Aktivist für die Rechte von Homo-, Trans- und Bisexuellen

und Gastdozent an verschiedenen Universitäten in Europa. Er lebt heute in Grossbritannien und kehrt als Besucher regelmässig in sein Heimatland zurück. «Ein Grossteil der Menschen in Nigeria lebt in Armut. Wenn ein Mann Gottes in diesem Land eine Flotte von Privatjets besitzt, kann man das nur als Betrug bezeichnen!» Angst und Schuld Alimis Beziehung zur Pfingstbewegung ist eine sehr persönliche. Mit fünf Jahren nahm ihn seine Mutter in eine Pfingstkirche mit, die bald zum Mittelpunkt seines Lebens wurde. Er trat der Bibelgruppe bei, der Theatergruppe und dem Chor. «Mir wurde gesagt, ich würde das brauchen. Mein Leben sei ohne Religion nicht vollständig.» Er versuchte, sein ganzes Leben nach dem 13


seiner Homosexualität. Obwohl er um die weit verbreitete Homophobie im Land wusste, hatte Alimi nicht damit gerechnet, was sein Coming-out auslöste: Seine Rolle in einer laufenden Serie wurde gestrichen, er verlor seine Wohnung, Freunde und Familie wandten sich von ihm ab. Er wurde mehrfach massiv bedroht und von der Polizei schikaniert. Ein Jahr später entschloss Alimi sich zur Flucht nach Grossbritannien.

«Wenn ein Mann Gottes in Nigeria eine Flotte von Privatjets besitzt, kann man das nur als Betrug bezeichnen.» BISI ALIMI

14

Willen Gottes auszurichten. Rückblickend, sagt Bisi Alimi, sei er ab seinem sechsten Lebensjahr manipuliert worden. «Ich verstehe nicht, was die Menschen erzählen über das Glück, das sie in den Kirchen finden. Ich habe es selber erlebt, es geht nur um Angst und Schuld.» Bereits früh fühlte Alimi sich zu Männern hingezogen und geriet in einen schwerwiegenden inneren Konflikt. «Statt mich von der Kirche zu distanzieren, versuchte ich meine vermeintlichen Sünden zu kompensieren und tauchte immer tiefer in die Kirchenwelt ein.» Mit Ende 20, Alimi hatte es als Fernsehschauspieler zu einiger Bekanntheit gebracht, kamen Gerüchte um seine Homosexualität auf. Bisi Alimi entschied sich zur Flucht nach vorne und bekannte sich in einer Fernsehsendung zu

Keine Alternativen Seit seiner Flucht habe die Ablehnung gegenüber Homosexualität im Land weiter zugenommen, sagt Alimi. 2014 erliess die Regierung ein Gesetz, nach dem Homosexualität mit bis zu zehn Jahren Gefängnis bestraft werden kann. Für diese Entwicklung macht Bisi Alimi die Pastoren verantwortlich, die in ihren Gottesdiensten Homosexualität verteufelten und grossen Einfluss auf die Politik ausübten. «Die Pastoren und die Politiker sind eng miteinander verbandelt», sagt Alimi, der sich heute nur dank seiner britischen Staatsangehörigkeit wieder sicher fühlt in Nigeria. Als Beispiel für die enge Verflechtung von Staat und Religion nennt er den Vize-Präsidenten Nigerias, Yemi Osinbajo, der zugleich ein einflussreiches Mitglied einer der grössten Pfingstkirchen im Land ist. Wer ein politisches Amt bekleiden wolle und nicht zum muslimischen Bevölkerungsteil zähle, sagt Alimi, sei ohne Unterstützung durch die Kirchen chancenlos. Pastoren, die sich an den Armen bereichern und die Politik bestimmen: Es ist ein drastisches Bild, das Bisi Alimi zeichnet. Auf die Frage, weshalb dennoch jeden Sonntag Millionen von Menschen in die Kirchen strömen, antwortet er: «Die Menschen hoffen auf Gott und diese gierigen alten Männer, weil sie keine Alternativen haben.» Die Politik sei korrupt und biete keine Lösungen für die Probleme der Gesellschaft: die Armut, die Arbeitslosigkeit, den Verkehrskollaps auf den Strassen, die Stromausfälle und die medizinische Unterversorgung. «Die Menschen gehen in die Kirchen, weil sie auf ein Wunder hoffen, das nie geschehen wird.»

Dieser Artikel wurde finanziell durch den Medienfonds «real21 - die Welt verstehen» unterstützt.

Surprise 425/18


«Wohlstandsprediger sind Vorbilder für den gesellschaftlichen Aufstieg» Interview Der Basler Theologe Andreas Heuser sieht in der afrikanischen Pfingstbewegung

auch einen Widerstand gegen die herrschenden Machtstrukturen. INTERVIEW SIMON JÄGGI

In dieser Generalisierung bin ich nicht damit einverstanden. Die Ernsthaftigkeit ihrer Bemühungen, auch ihres spirituellen Anspruchs, muss man anerkennen. Es gibt jedoch auch schwerwiegende Korruptionsanklagen, insbesondere gegen einige der Stars unter diesen Mega-Kirchen. Diese Figuren haben Imperien des Geldes aufgebaut, die sie in Alleinherrschaft verwalten. Die Gesamtbewegung kann man aus meiner Sicht jedoch nicht derart verunglimpfen. Korruption ist in manchen Ländern ein Krake, der das gesamte politische Leben umgreift. Manche Kirchen nehmen sich sogar des Antikorruptionskampfes an.

Andreas Heuser, worum geht es den Anhängern der Pfingstbewegung: um Spiritualität oder materiellen Reichtum? Es geht eigentlich immer um beides, das lässt sich nicht voneinander trennen. Im Mittelpunkt steht die Alltagstauglichkeit und die Frage, wie der Glaube das eigene Leben verbessern kann. Welche Rolle spielen Armut und Ungleichheit für den Erfolg dieser Kirchen? Eine grosse Rolle. Viele Anhänger sind von Armut betroffen und müssen sozusagen um das tägliche Überleben kämpfen. In der Kirche finden sie Halt und Hoffnung, aber auch starke Netzwerke der gegenseitigen Hilfe.

Und die Versprechungen der Pastoren, dass sie Krankheiten heilen oder die Armut beenden: Was ist davon zu halten? Auch das kommt auf die Perspektive an. Die Mega-Stars innerhalb der Szene nehmen für sich in Anspruch, besondere Gnadengaben zu haben. Sie sehen sich als neue Apostel und Avantgarde einer neuen Verchristlichung der Welt und häufen grosse Ressourcen an, um Dinge zu verändern. In dieser Aura erleben sich die Gläubigen. Es geht um Partizipation, Handlungsmacht und vielfach um die langfristige Perspektive, nicht unbedingt um eine unmittelbare Heilung oder Besitz.

Was zeichnet die Pfingstbewegung auf dem afrikanischen Kontinent aus? Die Bewegung dort ist sehr stark öffentlichkeitswirksam. Sie möchte Einfluss auf die Gesellschaft ausüben. Die Pfingstkirchen haben früh auf neue Medien gesetzt. Zuerst auf das Fernsehen und Radio, heute stark auf die Sozialen Medien. Und Musik spielt eine wichtige Rolle; die Bewegung beeinflusst mit dem Praiseco – einer Mischung aus Gospel und Hiphop mit westafrikanischem Jazz – die populäre Kultur.

Es gibt ja auch dezidierte Kritik an den Kirchen. Manche werfen ihnen Betrug vor. Teilen Sie diese Meinung? Surprise 425/18

Was wollen die Kirchen verändern? Kleinere Kirchen gründen beispielsweise Hilfsvereine, die sich der Armutsthematik stellen. Es gibt Fundraising-Programme oder Kollektenerträge, die dafür bestimmt werden. Hier geht es um eine praktische

FOTO: ZVG

Worauf möchte die Pfingstbewegung Einfluss ausüben? Meines Erachtens formuliert die afrikanische Pfingstbewegung eine postkoloniale Kritik an bestehenden Entwicklungen in der Politik. Darin zeigt sich ein solides Misstrauen gegenüber gesellschaftlichen Institutionen. Die Pfingstbewegung antwortet darauf, indem sie sich politisiert und einen «geistlichen Kampf» anstrebt. Dies ist Ausdruck eines Widerstands gegen bestehende Machteliten und auch der Hoffnung auf eine bessere Zukunft.

Andreas Heuser (geb. 1961) ist Professor für aussereuropäisches Christentum mit dem Schwerpunkt Afrika an der Universität Basel.

Theologie des Überlebens, vorwiegend adressiert an Kirchenmitglieder selbst. Andere Kirchen entdecken zunehmend diakonische Aspekte. Hier geht es darum, soziale Nachbarschaftsprojekte aufzugleisen, die sich überkirchlich verstehen. Das kann die Etablierung von Waisenhäusern sein, die Arbeit mit Strassenkindern oder auch ökologische Projekte, zum Beispiel zur sauberen Trinkwasserversorgung. Andere Mittelschichtskirchen fokussieren sich auf Ausbildungsprojekte. Worin sehen Sie das grösste Problem der Bewegung? Es wird wenig Wert gelegt auf Institutionalisierung innerhalb der Kirche, alles hängt von der Gründerfigur ab. Das bietet natürlich offene Türen für Missbrauch und Korruption. Manche Kirchen haben inzwischen die Problematik erkannt. Prinzipiell aber wird institutionelle Kontrolle in einer Bewegung, die dynamisch, flexibel, unangepasst sein möchte und die sich um die charismatische Autorität eines Propheten organisiert, nicht gern gesehen. Viele Pastoren wohnen in Villen, fahren teure Autos. Weshalb sind die Menschen bereit, dafür einen Teil ihres Einkommens abzugeben? Die Gläubigen geben deshalb, weil sie selber teilhaben möchten an den göttlichen Gaben, welche die Kirchenführer für sich beanspruchen. Die Wohlstandsprediger sind dabei auch Adepten eines sehr neoliberalen Wirtschaftskonzeptes. Sie haben kein Problem, wenn sie Paläste bauen und um sie herum die Menschen in Armut leben. Ich habe mich häufig gewundert, weshalb sie dabei kein schlechtes Gewissen verspüren. Dabei gelten sie eben als Vorbilder für den gesellschaftlichen Aufstieg. Die Orientierung am materiellen Reichtum ist eine der Triebfedern dieser Bewegung. Sie übt damit einen ungeheuren Einfluss auch auf andere Kirchen und sogar auf andere Religionen aus. 15


Maya Rechsteiner und andere Rodersdorfer mieteten ein Haus im Dorfkern, um die Geßchteten in die Gemeinschaft zu holen.


Operation «Kontakt aufnehmen» Integration In Rodersdorf beteiligt sich die Dorfbevölkerung

aktiv am Integrationsprozess der ihnen zugeteilten Geflüchteten. Das ist anstrengend, führt aber zu Erfolg. TEXT SAMANTA SIEGFRIED

FOTOS LUCIAN HUNZIKER

DEUTSCHLAND

Rodersdorf BS

FRANKREICH

BL

AG

JU SO

BE

«Bitte alle aufstehen, die nicht in der Schweiz geboren sind.» Maya Rechsteiner spricht langsam, betont jede Silbe. Ein älterer Mann und eine ältere Frau erheben sich, zaghaft schliessen sich ihnen 17 dunkelhäutige Männer an. Es ist ein Montagabend um halb acht im März, im Mehrzweckgebäude von Rodersdorf im Kanton Solothurn versammelt sich die Kontaktgruppe Asyl. Rund 30 Dorfbewohner zwischen 40 und 70 Jahren, Lehrerinnen, Sozialarbeiter, Psychologinnen, viele sind bereits pensioniert. Und 15 Eritreer und zwei Somalier zwischen 18 und 30 Jahren, geflohen, weil sie in ihrer Heimat keine Zukunft mehr sahen. Rechsteiner leitet durch den Abend, die Übungen dienen der Auflockerung. «Als Nächstes stellen wir uns der Reihe nach auf, wer seit wie lange in Rodersdorf lebt.» Sie selbst stellt sich in das Eck bei der Wandtafel: mehr als 15 Jahre. Die Geflüchteten reihen sich alle am unteren Ende der Reihe ein: drei Monate, acht Monate, zweieinhalb Jahre. Die einen kamen freiwillig, die anderen zufällig nach Rodersdorf – eine Gemeinde mit 1300 Einwohnern, gelegen im idyllischen Leymental, direkt an der Grenze zu Frankreich und vor Surprise 425/18

LU

den Toren Basels. Ein beliebtes Naherholungsgebiet, eingebettet in grüne Hügel und bekannt für seine Ruinen, Klöster und Naturlandschaften. Seit drei Jahren kann man hier beobachten, wie die Integration von Flüchtlingen aussieht, wenn sie nicht allein den Behörden überlassen wird, sondern alle in die Verantwortung miteinbezieht. Welche Erwartungen und Wünsche dabei entstehen und wie mit Enttäuschungen umgegangen wird. Treibende Kraft ist Maya Rechsteiner, 56 Jahre alt, integrative Therapeutin in freier Praxis, Gymnasiallehrerin und SP-Politikerin. Sie ist der Überzeugung, dass der Geburtsort eines jeden Menschen willkürlich darüber entscheidet, wie viel Wohlstand einem im Leben zufällt. Und dass jene, die es besonders gut haben, eine gewisse Verantwortung tragen. So wie sie. Deswegen steht sie jetzt im Gemeindezentrum und fragt die Flüchtlinge einmal mehr: «Was sind eure Bedürfnisse, was braucht ihr von uns?» Auch Alex G. ist gekommen, 27 Jahre alt, direkt von der Arbeit. Er trägt schwarzverschmierte Arbeitshosen, in seiner Hosentasche stecken Werkzeuge. Seit wenigen Monaten macht er eine 17


In der Küche treffen sich die Bewohner bei der Zubereitung von Injera, traditionellen eritreischen Hirsemehlfladen.

«Integration muss von beiden Seiten kommen. » MAYA RECHSTEINER

Im Haus an der Biederthalstrasse 39 sind die Geflüchteten automatisch näher am Dorfleben.

Früher auf dem Chrüttlihof waren die Geflüchteten meist sich selbst überlassen.

18

Surprise 425/18


Lehre als Heizungsmonteur. Dass er das kann, verdankt er der Kontaktgruppe Asyl. Wie so vieles seit seiner Ankunft. Deswegen weiss er auch, wie wichtig es ist, an diesem Treffen teilzunehmen. Gleichzeitig hat er im Hinterkopf, dass er morgen um fünf Uhr aufstehen und einen Test schreiben muss. «Über Gefühle reden ist gut», sagt Alex, sein Deutsch ist bereits weit fortgeschritten. «Aber meine Lehre ist auch wichtig.» Endstation Chrüttlihof Alex G. ist der Überzeugung, dass das Drehbuch eines jeden Menschen bei der Geburt bereits geschrieben ist. Und dass es seine Aufgabe im Leben ist, das Beste daraus zu machen. Seine Geschichte beginnt in Asmara, der Hauptstadt Eritreas, 800 000 Einwohner. Nachdem er dem Gefängnis entkommen war, in dem er wegen Verweigerung des Militärdienstes einsass, versuchte er sein Glück zuerst in Äthiopien, dann im Sudan, bis er schliesslich vor der Küste Libyens in ein Boot stieg und das Mittelmeer überquerte. Über Italien schaffte er es nach Kreuzlingen und wurde im Jahr 2015 per Verteilschlüssel der Gemeinde Rodersdorf zugewiesen. Wie alle Flüchtlinge kam Alex G. zuerst auf den Chrüttlihof, ein altes Bauernhaus, das seit 2012 als Asylzentrum fungiert. Es liegt direkt am Waldrand, rund eine halbe Stunde Fussmarsch vom Ortskern entfernt. Dort warteten die Geflüchteten auf ihren Asylentscheid, mehrere Monate, manchmal sogar Jahre. Anfangs gab es keine Fahrräder, keinen Internetzugang, die Bewohner teilten sich zu fünft ein Abo für den öffentlichen Nahverkehr. Pro Jahr erhielt jeder ganze 30 Lektionen Deutschunterricht. «Der Chrüttlihof war mein Albtraum», sagt Alex G. Aufgewachsen in einer lebendigen Metropole, wirkte das Häuschen am Waldrand auf ihn wie die Endstation. Er wollte Deutsch lernen, arbeiten. Doch weit und breit waren weder andere Menschen noch Arbeit in Sicht. Maya Rechsteiner beobachtete die Situation mit zunehmendem Unbehagen. Als Vorstandsmitglied der örtlichen SP hatte sie sich in der Vergangenheit immer wieder für die Rechte der Geflüchteten eingesetzt. Auch deswegen ist Rodersdorf die einzige von zwölf Gemeinden im Bezirk Dorneck, die derzeit über eine aktive Asylkommission verfügt, eine Fachstelle, die für die Ankommenden zuständig ist, solange sie auf ihren Asylentscheid warten. Bereits seit einigen Jahren beklagte Rechsteiner die Abgeschiedenheit des Chrüttlihofes sowie die dortige Mäuseplage und die desolaten sanitären Einrichtungen. «Die Schutzsuchenden wurden weitgehend sich selbst überlassen.» Und je mehr dem Dorf zugeteilt wurden, desto mehr verspürte sie Scham. Für die Untätigkeit der Behörden, die Gleichgültigkeit mancher Dorfbewohner, ihre eigene Handlungsunfähigkeit. Es war bei einem Spaziergang mit einer Freundin, dass sie sich die Frage stellte: Was kann unser Dorf tun, um die Situation menschenwürdiger zu gestalten? Wie könnte man eine Kultur des Vertrauens und der gegenseitigen Begegnung schaffen? Surprise 425/18

Also organisierte Rechsteiner im Frühjahr 2015 mit der SP einen öffentlichen Informationsanlass im Dorf, an dem auch einige Eritreer und ein eritreischer Kulturvermittler anwesend waren. Der Anlass sollte einerseits den Asylsuchenden helfen, Kontakt zur Dorfbevölkerung zu bekommen, und andererseits die Dorfbewohner dazu anregen, ihre Scheu vor den «Neuen» abzubauen. Denn Integration, so Rechsteiners Annahme, muss von beiden Seiten kommen. Zentrales Argument, das auch jenseits linker Kreise zieht: Je schneller wir sie integrieren, desto eher sind sie von der Sozialhilfe befreit. Wenige Wochen später wurde die Kontaktgruppe Asyl gegründet. Anfangs leisteten die Mitglieder herkömmliche Integrationsarbeit, organisierten Fussballspiele oder gemeinsame Abendessen. Gleichzeitig brachte die SP bei der Gemeinde das Anliegen durch, die immerhin mit Sitzungsgeldern ausgestattete Asylkommission von drei auf fünf Personen aufzustocken. Damit sie besser gerüstet war, sich um die Leute auf dem Chrüttlihof zu kümmern. Die so vergrösserte Kommission, der auch zwei Mitglieder

ANZEIGE

19


der neuen Kontaktgruppe angehörten, teilte die Aufgaben in Ressorts auf: Haus, Bildung, Gesundheit, Finanzen und Präsidium. Als Erstes sammelten sie alte Fahrräder, finanzierten einen Internetanschluss und mehr Abos für den öffentlichen Nahverkehr. Derweil fingen einige der Dorfbewohner an, regelmässigen Deutschunterricht anzubieten. «So ist es uns gelungen, den Geflüchteten ab Ankunft eine Tagesstruktur zu bieten», sagt Rechsteiner. Als die ersten Männer ihren Asylentscheid bekamen – vorläufig aufgenommen (F) oder anerkannt (B) –, taten sich weitere, grössere Lücken auf. Denn sobald das Asylverfahren abgeschlossen ist, wechselt die Zuständigkeit von der Gemeinde zum Kanton, in diesem Fall zur Sozialregion Dorneck. «Und dort gibt es eine einzige Leitung, die für alle elf Gemeinden zuständig ist», empört sich der Rodersdorfer Thomas Labhardt, Präsident der Asylkommission und Mitglied der Kontaktgruppe. Hinzu kämen zwei Angestellte in Teilzeit für den Bereich Asyl und einige Sozialarbeiterinnen. Manche seien zwar sehr engagiert, aber «es fehlt an Zeit, sich angemessen zu kümmern», so Labhardt. Lediglich 15 Minuten pro Monat stünden einem Geflüchteten im Schnitt bei der Sozialregion zur Verfügung, ohne Übersetzer. Die Kontaktgruppe entschied einmal mehr, die Zügel selbst in die Hände zu nehmen. Von nun an wurde jedem Geflüchteten eine Begleitperson aus der Kontaktgruppe zugeteilt, eine Art Mentor. Jemand, der dabei unterstützt, eine Ausbildung zu finden, eine Lehrstelle, eine Wohnung. Die erklärt, zu welchem Arzt sie gehen dürfen, damit die Krankenkasse die Kosten übernimmt, die sie auf die Ämter begleitet und Rekurs einlegt, wenn das Asylgesuch abgelehnt wird. Viel Arbeit für die ehrenamtlich arbeitenden Laien. «Es ist schwierig, immer auf dem neusten Stand

Die Geflüchteten gelten als «aged-out-minors»: Zu alt für umfassende Betreuung, zu jung, um ohne auszukommen. 20

der Regelungen zu sein», sagt Catherine Meyer, Lehrerin und im Ressort Bildung der Asylkommission tätig. Abends nach der Arbeit oder am Wochenende sitzen die Begleitpersonen mit ihren Schützlingen zusammen und scrollen die Webseiten nach Lehrstellen ab. Was gefällt dir? Was möchtest du machen? «Die meisten von ihnen haben diese Frage noch nie gehört», sagt Thomas Labhardt. Erwartungen aushandeln, Konflikte ansprechen, Wünsche artikulieren – das alles sei Neuland für Eritreer, die einer brutalen Diktatur entflohen sind, so die Überzeugung vieler Kontaktgruppenmitglieder. Und Alex G. bestätigt: «Mir war egal, was, ich wollte einfach arbeiten.» Haben Mentor und Mentee einmal etwas gefunden, wenden sich die Mentoren an die ausgewählte Stelle: Nehmt ihr meinen Mentee? Bei positivem Entscheid fragen sie dann den Kanton: Finanziert ihr das? Bei unbegleiteten minderjährigen Asylsuchenden, den sogenannten UMAs, kümmern sich Vormund und Sozialarbeiter um diese Schritte. Die Eritreer und Somalier von Rodersdorf fallen jedoch alle in die Kategorie der sogenannten «aged-out minors». Zu alt, um umfassende Betreuung zu erhalten. Zu jung, um ohne auszukommen. «Das Recht auf Bildung sollte unbedingt auf mindestens 25 Jahre ausgedehnt werden, so wie sich auch für die hiesige Jugend die Bildungszeit verlängert hat», findet Maya Rechsteiner. Ins Dorf geholt Ein weiteres Problem war der fehlende Wohnraum. Wer nach dem Asylentscheid in der Sozialregion Dorneck registriert wird, darf nur innerhalb der elf zum Bezirk Dorneck gehörenden Gemeinden nach einer Bleibe suchen. «Hier gibt es fast nur Einfamilienhäuser, kaum Studios oder Wohngemeinschaften», sagt Rechsteiner. Sie selbst hatte bereits einen Eritreer bei sich einquartiert, auch andere Leute im Dorf hatten die Zimmer ihrer ausgeflogenen Kinder zur Verfügung gestellt. Als das nicht mehr reichte, suchten sie nach einem passenden Haus. Die Wahl fiel auf ein dreistöckiges Gebäude an der Biederthalstrasse 39, mitten im Dorf. Die Fassade holzvertäfert mit langen Fenstern, die Küche neu saniert. In der Stube steht ein grosser Esstisch mit grüner Plastikdecke und eine Sofaecke aus zusammengewürfelten Möbeln. Um die Finanzierung zu sichern und den Vermieter günstig zu stimmen, trugen einige der Dorfbewohner zinslose Darlehen in Höhe von 25000 Franken für Mietzinsdepot, Renovierungen und Unterhalt zusammen, das finanzielle Risiko für das Projekt liegt bei dem eigens dafür gegründeten Verein «Haus 39». Schliesslich konnten sie die Sozialregion davon überzeugen, die Mieten für die sechs eritreischen Bewohner zu übernehmen, darunter Alex G. Doch mit dem Haus kamen auch neue Aufgaben hinzu. Ämtli, Unterhalt, Energiesparregeln. Und Erwartungen. «Wir haben uns vorgestellt, dass die jungen Männer eine Gemeinschaft bilden, zusammen kochen und sich austauschen», sagt Maya Rechsteiner. Auf der Terrasse erinnert etwa ein Töggelikasten an diese Möglichkeit. Doch dies blieb weitgehend Wunschdenken. Alex Surprise 425/18


Im Haus des Vereins Haus 39: Thomas Lanhardt gibt den Bewohnern ehrenamtlich Deutschunterricht.

«Was möchtest du machen?» Vielen Geflüchteten fällt die Beantwortung dieser Frage schwer.

G. ist dankbar für das Haus, würde aber noch lieber alleine wohnen. «Ich brauche meine Ruhe, um mich auf die Lehre zu konzentrieren», sagt er. Das Lernen verlange ihm viel ab, und obwohl er schon viel geschafft habe, werde ihm zunehmend bewusst, was er noch vor sich habe. «In Eritrea ist man sich eher gewohnt, einander zu misstrauen», erklärt sich Maya Rechsteiner das fehlende Gemeinschaftsgefühl. Bespitzelung und Einschüchterungen seitens des Staatsapparats hinterlassen Spuren. Rechsteiner weiss, sie darf nicht zu viel erwarten. Doch die Integration, die ihr vorschwebt, soll ja nicht nur den Flüchtlingen helfen, sondern auch dem Dorf. Nur in der direkten Begegnung gelinge es, Vorurteile und Projektionen abzubauen, so Rechsteiner. Die unterschiedlichen Potenziale der sich Begegnenden sollen das Dorf bereichern, es lebendig halten. Besonders für die pensionierten Ehrenämtler wirkt die Arbeit in der Kontaktgruppe sinnstiftend und begegnet den Schuldgefühlen, auf der reichen Seite des Globus geboren zu sein. Trotz allen Problemen: Die Bewohner von Rodersdorf Surprise 425/18

Gemeinschaftsgefühl durch Töggelikasten: So dachten es sich zumindest die Rodersdorfer.

sind stolz auf das Erreichte. Besonders durch das System der Begleitpersonen und die breite Vernetzung im Dorf ist es ihnen gelungen, für die meisten der Geflüchteten eine Lehrstelle oder weiterführende Ausbildung zu finden, als Heizungsmonteur, als Krankenpfleger, auf einem Bauernhof. Wer nicht im «Haus 39» wohnt, kommt privat unter oder hat ein Studio gefunden. Sogar von der Polizei kam die Rückmeldung, dass ihre Einsätze stark zurückgegangen seien. Beim Treffen der Kontaktgruppe fragt Rechsteiner die jungen Männer: «Wollt ihr diese Treffen noch? Und wenn ja, könnt ihr euch vorstellen, sie künftig gemeinsam zu organisieren?» Es folgen Gespräche in Kleingruppen, auch der eritreische Kulturvermittler ist wieder angereist, mittlerweile ein enger Vertrauter der Kontaktgruppe. «Erwartungen aushandeln, Verbindlichkeit, Konflikte direkt ansprechen, das sind sich die Männer aus Eritrea nicht gewohnt», vermuten einige der Rodersdorfer. Doch nach langer Diskussion sagen die Asylsuchenden schliesslich: «Okay». Wir wollen das. Kein grosser Enthusiasmus, aber immerhin. Die Dorfbewohner sind zufrieden. 21


Clio Barnard erforscht die unerbittliche Schicksalhaftigkeit ihrer Heimat Yorkshire mit semidokumentarischem Blick.

Die Seelenlandschaften Nordenglands Bildrausch Paul Schrader kommt nach Basel – der Mann, der Richard Gere 1980

zum «American Gigolo» machte. Es lassen sich aber auch weniger bekannte Namen entdecken. Zum Beispiel die Britin Clio Barnard. TEXT DIANA FREI

Das Bildrausch Film Fest schafft es seit der Gründung 2011, Jahr für Jahr grosse Kaliber nach Basel zu bringen. Dieses Jahr ist Paul Schrader persönlich zu Gast, ein Vertreter von New Hollywood – der Ära, die mit dem klassischen Hollywood-Kino brach. Nun standen Aussenseiter im Zentrum, Einsame und Suchende, die klassischen Erzählmuster wurden über Bord geworfen und filmästhetische Experimente kamen auf die Leinwand. Schrader schrieb die Drehbücher zu berühmten Filmen wie Martin Scorseses «Taxi Driver» und «The Last Temptation of Christ», «Raging Bull» verfasste er als Co-Autor. Über 20 Filme hat er selbst realisiert, darunter «Blue Collar», 22

«American Gigolo» und «Light Sleeper». Dabei geht es beim Bildrausch nicht in erster Linie darum, einfach möglichst schillernde Celebritys einzufliegen, sondern darum, in fünf dichten Tagen Filme zu zeigen, die die Möglichkeiten des Kino voll ausschöpfen, in Bildsprache und Erzählweisen eine eigene Welt kreieren und mit filmischen Mitteln spielen. Die Filme am Bildrausch sind daher oft näher an der Kunst als am klassischen Erzählkino angesiedelt und verstehen Kino – eben – als Bild- (und Ton-) Rausch. Im internationalen Wettbewerb des Festivals ist Paul Schraders neuster Film «First Reformed» vertreten, aber auch ein Surprise 425/18


den Stoff und setzt ihn neu zusammen. Sie lässt reale Interviews mit Familienmitgliedern von Schauspielerinnen lippensynchron nachsprechen. Wir sehen sorgfältig gestaltete Bilder. Da ist etwa ein aufgeräumtes Kinderzimmer, im Hintergrund allerdings lodert ein Feuer. Weitere Figuren im Film flicken ihr Auto oder räumen die Küche auf, während Interview-Sätze aus ihnen herausreden. Das wirkt realistisch und puppenhaft zugleich, ihre Reden wirken seltsam hilflos und durch die Enge der Verhältnisse bestimmt.

Die Geschwister Joe und Alice leiden in Clio Barnards Film «Dark River» aneinander und miteinander.

paar alte Bekannte trifft man wieder, die schon in vergangenen Jahren ihre Filme in Basel zeigten. Ruth Beckermann zum Beispiel, die den Briefwechsel zwischen Paul Celan und Ingeborg Bachmann auf eigenwillige Weise verfilmte («Die Geträumten», 2016). Oder der Philippine Lav Diaz, der sich etliche Stunden Zeit nimmt, um die politisch-historische Dramen seines Heimatlandes auf die Leinwand zu bannen. Für Bildrausch hat er nun aber auch etwas ganz Kurzes geschaffen: den Festivaltrailer nämlich. Im Wettbewerb läuft sein «Season Of The Devil», angesiedelt in den Siebzigerjahren, als während der Marcos-Diktatur das Kriegsrecht verhängt wurde und Zehntausende Menschen in Militärlagern interniert wurden. Dreizehn Wettbewerbsfilme sind insgesamt zu entdecken (siehe S. 25). Interviews, während das Feuer lodert Eines der Spezialprogramme ist der britischen Regisseurin Clio Barnard gewidmet. 2010 brachte sie mit «The Arbor» einen formal überraschenden Film über die englische Theaterautorin Andrea Dunbar heraus. Dunbar entstammte schwierigen sozialen Verhältnissen und war alkoholabhängig, hatte drei Kinder von drei verschiedenen Vätern und verstarb jung, aber brachte es in ihrer Heimat zu grosser Bekanntheit. «The Arbor» hiess auch das erste Theaterstück von Andrea Dunbar. Nun zerlegt Clio Barnard Surprise 425/18

Verstörendes Nordengland Auszüge aus Dunbars Theaterstück werden auf Sofas draussen auf der Wiese bei der Strassenkreuzung neu gespielt, und die Schauspielerin, die die Tochter spielt, schaut sich am Fernsehen reale BBC-Dokus über die Familie Dunbar an. Wir sehen Textauszüge aus Andrea Dunbars Theaterstück und Ausschnitte aus ihrem verfilmtem Stück «Rita, Sue and Bob Too» (1987). Bilder der Erinnerung, die an die Mikroebene der unmittelbaren Wahrnehmung rühren, kommen dazu: Ein Türknauf dreht sich, während der Zimmerbrand weiterlodert, und wir wissen, hier wird gerade jemand ganz heftig im Stich gelassen. Barnard hievt die Unterschichts-Familiengeschichte auf vielfältige Zeit-, Erzähl- und Abstraktionsebenen, sie schichtet Spielszenen, Theatertexte, Fernsehbilder, Filmausschnitte. Die Aufmerksamkeit liegt auf der formalen Struktur und gleichzeitig auf dem Geflecht der Menschen in dieser Geschichte. Es sind ihre Sätze, die die Geschichte entstehen lassen. Barnard rekonstruiert die Verhältnisse, während sie die Beziehungen und Abhängigkeiten in dieser Familie dekonstruiert. Clio Barnards Kinofilme umfassen bislang drei Werke, denen die nordenglischen Landschaften und eine verstörende Grundstimmung gemeinsam sind. Auch das Sozialdrama «The Selfish Giant» von 2013 spielt in der Unterschicht. Zwei Jungen klauen Elektroschrott und

Alice sieht den verstorbenen Vater in der Ecke stehen und hört ihn gleichzeitig hinter ihr atmen wie ein Gespenst. 23


Im aufgeräumten Kinderzimmer lodert das Feuer: «The Arbor» von 2010.

Kupferkabel zusammen, um damit beim Schrotthändler etwas Geld zu machen. Doch ist es ein Überleben in perspektivenlosem Umfeld. Der Umgangston mit den Erwachsenen hat sich bei einem gegenseitigen Anbrüllen eingepegelt. Es gibt zwar heimelige Wiesen und pittoreske Pferdewagen, doch das Gestrüpp der Kabelmasten in der Industriegegend legt sich dann doch wie ein Gitter vor den freien Himmel. Ein unwirtliches Gebiet für die menschliche Seele. In Barnards neuem Film «Dark River» (2017) sind die Landschaften weit, und die Gesichter auf der Leinwand gross. Klar ist: Sie haben etwas miteinander zu tun, dieser Boden mit seinem Gras, der Himmel ohne Ende und die Seelenlandschaften von Alice und Joe. Die Geschwister sehen sich nach dem Tod des Vaters zum ersten Mal wieder auf dem Hof. Alice ist nach 15 Jahren zurückgekehrt, doch die Erinnerungen erscheinen hier wie Heimsuchungen aus einem vergangenen Leben, das am besten nie stattgefunden hätte: Sie sieht den verstorbenen Vater in der Ecke stehen und hört ihn gleichzeitig hinter ihr atmen wie ein Gespenst. Die Erinnerungen werden fast zu Halluzinationen, Vergangenheit und Gegenwart sind im fliessenden Wechsel. Das Licht- und Schattenspiel hinter dem Türspalt evoziert, dass da der Vater lauert, der jederzeit eindringen könnte. Der Hof ist heruntergewirtschaftet, es muss Ordnung in die Verhältnisse gebracht werden –in 24

die Besitzverhältnisse wie in die emotionalen. Alice kehrt im Zustand der Anspannung zurück, mit wachsamem Blick, vielleicht ist es auch Feindseligkeit oder Furcht. Es sind Belastungen und Verletzungen, es sind Verantwortung und Schuldgefühl, die sich innerhalb der Familie weiterfressen. Die Schuld steht zwischen Vater und Tochter, als realer Missbrauch und als ihr eigenes Gefühl als Opfer. Die Schuld steht aber auch zwischen Bruder und Schwester, weil er ohnmächtiger und untätiger Mitwisser war und weil sie ihn wiederum später mit dem Hof im Stich gelassen hat. Die düsteren Gefühle sind bereits eingeschrieben in diese Familie, und nun verliert man auch noch den Boden unter den Füssen, auf dem man aufgewachsen ist und mit dem man verwurzelt war. Die Frage stellt sich, ob die beiden das Grundstück verpachten und die Schafe versteigern müssen. Und durch den Türrahmen des Steinhäuschens blickt man auf die grünen Wiesen hinaus, als ob sie ein Trompe l’Oeil wären.

Bildrausch Film Fest Basel, rund ums Stadtkino am Theaterplatz, 30. Mai bis 3. Juni, www.bildrausch-basel.ch

Surprise 425/18

BILDER (1+3): ZVG, BILD(2): DEAN ROGERS, BILD(4): AGATHA A. NITECKA

«The Selfish Giant»: Ein Alltag zwischen Schrott und Pferdewärme.


BILDER (ALLE AUSSER 4, 7, 13 ): ZVG, BILD(4): DEAN ROGERS, BILD(7): IDIOM FILMS, RAMELL ROSS, BILD(13): 1906 VADUÉ

Internationaler Wettbewerb «Cutting Edge» Nominierungen Am Bildrausch Film Fest in Basel wird von 13 Produktionen

eine mit dem Bildrausch-Ring der Filmkunst ausgezeichnet.

In der Jury des Internationalen Wettbewerbs «Cutting Edge» sitzen dieses Jahr der Autor, Filmdozent und Kurator Simon Field, die griechische Regisseurin und Produzentin Athina Rachel Tsangari und die portugiesische Regisseurin Teresa Villaverde, selbst Preisträgerin des Bildrausch-Ring der Filmkunst 2017.

Surprise 425/18

RaMell Ross: «Hale County this Morning, this Evening» (USA 2018) Der Fotograf RaMell Ross arbeitete im Süden der USA fünf Jahre an seinem Filmdebüt, das zwei junge Männer im Alltag begleitet. Ein lyrischer Dokumentarfilm, der jenseits aller Stereotypen die Befindlichkeit der Afroamerikaner zu fassen versucht.

Lav Diaz: «Ang Panahon ng Halimaw» («Season of the Devil», Philippinen 2018) Diktator Ferdinand Marcos verhängt auf den Philippinen in dean Siebzigerjahren das Kriegsrecht. Schon bald sucht ein Dichter verzweifelt nach seiner verschwundenen Liebsten.

Ramon Salazar: «La enfermedad del domingo» («Sunday’s Illness», Spanien 2018) Vor langer Zeit trennten sich die Wege von Chiara und ihrer Mutter, nun soll ein abgelegenes Haus in den Bergen sie zusammenführen. Ein Kammerspiel mit Schmerz und Schönheit in radikalen Bildkompositionen.

Emma Davie und Peter Mettler: «Becoming Animal», (Schweiz/Grossbritannien 2018) Das Regieduo begibt sich mit dem Kulturökologen und Autor David Abram auf eine philosophische Expedition in den Grand Teton National Park in Wyoming. Ein subversiver Naturfilm über die Deutung des Menschen als Tier.

Joanna Kos-Krauze und Krzysztof Krauze: «Ptaki Spiewaja w Kigali» («Birds Singing in Kigali», Polen 2017) Ruanda 1994: Die Ornithologin Anna rettet Claudine vor den Hutu-Extremisten und nimmt sie mit nach Polen. Doch das Trauma des Völkermordes folgt den Überlebenden überallhin.

Nanouk Leopold: «Cobain» (Niederlande 2018) «Niemand stirbt jungfräulich, denn das Leben fickt uns alle.» Gerade 15 Jahre alt ist Cobain, aber bereits scheint seine Existenz ein Zitat des berühmten Namensvetters zu sein. Bis er die Initiative ergreift und seine drogensüchtige Mutter aus der Gosse holt.

Naeem Mohaiemen: «Tripoli Cancelled» (Bangladesch 2017) Auf einem verlassenen Flughafengelände überlässt sich ein Mann der gespenstischen Leere der Zeit. Imaginäre Liebesbriefe und das Sinnieren über die menschliche Natur erfüllen einen verlorenen Moment des Lebens.

Clio Barnard: «Dark River» (Grossbritannien 2017) Der Vater ist gestorben, die Mutter war gar nie da und der Bruder blockt. Das Geschwisterdrama verbindet Realismus mit symbolischer Überhöhung (siehe Kritik auf Seite 24).

Ruth Beckermann: «Waldheims Walzer» (Österreich 2018) Die Waldheim-Affäre liegt 30 Jahre zurück und ist doch aktueller denn je. Ein kritisches Lehrstück über das Schüren von Emotionen, die Konstruktion von Feindbildern, das Zeitalter der «alternativen Fakten» und die Stärke der Zivilgesellschaft.

Joao Canijo: «Fátima» (Portugal 2017) Elf Frauen marschieren eine Strasse entlang. 430 Kilometer in neun Tagen wollen sie auf ihrer Wallfahrt nach Fátima schaffen. Ein quasi-dokumentarisches Roadmovie über das Herdentier Mensch.

Lucretia Martel: «Zama» (Argentinien 2017) Ende des 18. Jahrhunderts, Asunción in Paraguay, ein kolonialer Aussenposten inmitten der Wildnis: Don Diego de Zama will nur noch weg. Ein kafkaesker Anti-Kostümfilm über Status und Verlust.

Paul Schrader: «First Reformed» (USA 2017) Pastor Tollers Neuanfang in einer kleinen New Yorker Gemeinde will nicht recht gelingen. Die Vergangenheit lastet schwer, und seine innere Isolation nimmt täglich zu. Calvinistische Meditation von schmerzlicher Schönheit, Menschlichkeit und Härte. Mit Ethan Hawke.

Johann Lurf: «*» (Österreich 2018) Der Himmel über dem Kino: Der Experimentalfilmer Johann Lurf arbeitet sich für seinen ersten Langfilm durch die Kinogeschichte der Sternbilder, von der Stummfilm-Ära bis zur Science Fiction.

25


Bern «Südsicht 18: Menschenbilder», bis So, 10. Juni, Klinik Südhang, Kirchlindach BE. suedhang.ch

Die Klinik Südhang ist eine Suchtklinik, und wenn eine solche eine Kunstausstellung organisiert, dann hat das einen tieferen Sinn: Die Kunst unterstützt die Ziele der therapeutischen Arbeit. Denn grundsätzlich hat der Mensch schon immer versucht, mit den Mitteln der Kunst darzustellen, was ihn im Innersten bewegt. An der «Südsicht 18» sind Kunstschaffende vertreten, die einen genauen Blick auf die Menschen und ihr Treiben werfen: Pat Noser mit Porträts mit unmittelbarer Kraft, die einen Moment einzufangen vermögen. Urs Brunner mit seinen fast schon hyperrealistisch surrealistischen Szenen. Urs Stooss, dessen Menschengruppen im flirrenden Sonnenlicht verloren wirken, einzig begleitet von ihrem Schatten. Und die Bildhauerin Christina Wendt mit ihren knorrigen Figuren, die immer recht intensiv miteinander im Gespräch zu sein scheinen. DIF

Zürich Videoex Festival, Sa, 26. Mai, bis So, 3. Juni, Kunstraum Walcheturm, Kanonengasse 20, Zürich. videoex.ch

Das Kunst- und Experimentalfilmfestival Videoex wird 20 Jahre alt, deshalb gibt’s ein Best-of-Programm der vergangenen Jahre, und die Gewinnerfilme des Schweizer Wettbewerbs erscheinen auf DVD mit Booklet. Dazu im Gastprogramm: African Metropolises und als Spezialprogramme unter anderem Afrofuturismus, 1968 – What

26

you imagined it to be. Im Schweizer Fokus werden Werke des Künstlerduos Pauline Boudry/Renate Lorenz gezeigt, die auch international unterwegs sind. Dazu Live-Performances, Kinder- und DIY-Workshops: Hingehen. Denn Experimentelles läuft nicht jeden Tag im DIF Kino.

Zürich 5. Schweizer Theatertreffen, Mi, 23. bis So, 27. Mai, Bernhard Theater und Schauspielhaus/Pfauen/Schiffbau, Rahmenprogramm Theater Neumarkt, Kulturhaus Helferei, Zürich. schweizertheatertreffen.ch Gutes Theater ist gross. Nicht nur, damit man Gesten und Handlung auch in der hintersten Reihe noch mitkriegt. Sondern gross sind oft

die Themen: Gesellschaftliche Grundgefühle werden konsequent lustvoll ausgeleuchtet und durchprobiert – so heisst bereits der Eröffnungsvortrag des Schweizer Theatertreffens «Das Theater, der Populismus und die Moral». Danach kümmern sich sieben Produktionen um politische Gesellschaftsthemen wie Verlust, Wahrheit, Exil, ökologische, ökonomische und demografische Herausforderungen. Mittels ScienceFiction-Drama, visuellem Gedicht, grimmigem Märchen, schwarzer Action-Komödie und trojanischem Krieg. Und immer gilt dabei: Kunst muss radikal sein, sonst wäre sie Konsum. DIF

Zürich Ginmaku Japanese Film Festival, Mi, 23. bis So, 27. Mai, Kinos Houdini und Riffraff, Zürich. ginmaku-festival.com

Wer sich seine Japan-Reise dieses Jahr nicht leisten kann, geht ans Ginmaku: Das kleine Filmfestival hat sich zum Ziel gesetzt, den kulturellen Austausch zwischen der Schweiz und Japan zu fördern. Eröffnet wird mit «Summer Blooms», in dem eine Studentin einen Brief von ihrem Freund bekommt, was deshalb spannend ist, weil der schon drei Jahre tot ist. Im Programm sind vor allem Spielfilme der jungen Generation japanischer Filmemacher. Gezeigt wird mit

«Ryuichi Sakamoto: Coda» aber auch ein Porträt über den weltbekannten Komponisten. Als Schweizer Premiere zu sehen sein wird der preisgekrönte Dokumentarfilm «Of Love & Law». Er erzählt die Geschichte von Masafumi Yoshida und Kazuyuki Minami. Die beiden Männer sind ein Liebespaar und haben zusammen eine Anwaltspraxis eröffnet – die erste überhaupt in Japan, die von offen zu ihrer Homosexualität stehenden Männern geführt wird. Das Paar zieht damit Klienten an, die ein ganz anderes, hierzulande unbekanntes Bild des Landes zeigen, in dem sonst Konformität die Regel ist. Der Film zeigt zudem den Kampf dieser Menschen gegen die strengen Regeln und Sitten, die in Japan herrschen. Im Kurzfilmblock des Ginmaku Festivals mit Animationsfilmen sind neuste Arbeiten der Tama Art University in Tokio zu entdecken. DIF

Muttenz «Naama Tsabar, Rossella Biscotti, Rochelle Feinstein», bis 16. Juli, Kunsthaus Baselland, St. JakobStrasse 170, Muttenz/Basel. kunsthausbaselland.ch Die Italienerin Rossella Biscotti nimmt soziale und politische Ereignisse aus der Vergangenheit unter die Lupe, um herauszufinden, was unsere Identität und unser kollektives Gedächtnis ausmacht. Sie taucht in eine Welt von historischen Dokumenten und Tonaufnahmen ein und setzt sie zu Werken zusammen, die sich zwischen Film, Performance und Skulptur bewegen. Die Israelin Naama Tsabar spielte in einer Punkband und war Bartender, nun lebt das Nachtleben in sinnlichen Installationen und Performances weiter, wo sich plötzlich neue Zusammenhänge zwischen Fantasie und Gefahr, zwischen Sexualität und Subversion auftun. Und die 71-jährige New Yorkerin Rochelle Feinstein setzt sich seit 30 Jahren mit dem Medium Malerei im gesellschaftlichen Umfeld auseinander. DIF

Surprise 425/18

BILD(1): URS STOOS, BILD(2): LORENZ BOUDRY, BILD(3): INGO HÖHN, BILD(4): ZVG, BILD(5): ROSSELLA BISCOTTI

Veranstaltungen


ILLUSTRATION: SARAH WEISHAUPT

Agglo-Blues

Folge 10

Die Welt ist schlecht Was bisher geschah: Am Schnabelweiher wurde ein Jogger umgebracht. Die in der Nähe des Tatorts lebende Kommissarin Vera Brandstetter hadert damit, dass ihr dieser Fall zugeteilt wurde. Er würde ihrer Karriere, die so vielversprechend begonnen hatte, nicht weiterhelfen. Während sie in ihrem Büro sass und auf die Witwe des Opfers wartete, dachte Vera Brandstetter über die Waffen nach, die Reto Schwander gehortet hatte. Wie kam ein Durchschnittsbürger in einem der sichersten Länder der Welt dazu, sich zu bewaffnen, als lebe er mitten in einem Kriegsgebiet? Die Wahrscheinlichkeit, eines gewaltsamen Todes zu sterben, war in der Schweiz noch nie so tief gewesen wie heute. Von den 45 Menschen, die 2016 umgebracht wurden, waren 19 Opfer häuslicher Gewalt geworden, bis auf eine Ausnahme alles Frauen. Die Menschen schätzten Gefahren völlig falsch ein. Sie fürchteten den fremden Vergewaltiger in der dunklen Gasse, während sie mit ihrem zukünftigen Mörder im Bett lagen. Das Gefühl, bedroht, von Feinden umzingelt, ihnen ausgeliefert zu sein, sich verteidigen zu müssen, verbreitete sich immer mehr. Die Leute waren nicht etwa beruhigt, wenn sie mit Kriminalstatistiken konfrontiert wurden, die einen Rückgang der Verbrechen, insbesondere jener gegen Leib und Leben, nachwiesen. Nein, sie reagierten misstrauisch. Sie hielten an ihrer schlechten Welt fest und waren überzeugt, dass es immer schlimmer würde. Während im richtigen Leben die Gefahr sank, Opfer eines Verbrechens zu werden, wurden brutale, blutrünstige Krimis immer populärer. In der S-Bahn fielen ihr jeweils die Frauen auf – es waren meist Frauen – die von ihrem netten Arbeitsplatz in ihr schnuckliges Heim fuhren und dabei Thriller lasen, in denen Frauen oder gar Kinder auf brutale Weise gequält und abgeschlachtet wurden. Die erfolgreichsten dieser Romane kamen aus Skandinavien, also aus den Ländern mit den weltweit tiefsten Mordraten. Die Serien, die Brandstetter auf ihrem Tablet schaute, waren nach demselben Muster gestrickt. Oft waren es sogar Polizistinnen, die ins Visier sadistischer Verbrecher gerieten. Auch Brandstetter genoss den elektrisierenden Schauer, den Gewalt und Terror auslösten, wenn man aus sicherer Distanz zuschauen konnte. Sie traute sich jedoch zu, zwischen Fiktion und Realität Surprise 425/18

unterscheiden zu können. Im Beruf trug sie eine Waffe, trainierte Nahkampf, wusste, wie reagieren. Bei gefährlichen Einsätzen hielt sie sich an die vorgegebenen Abläufe und ging keine unnötigen Risiken ein. Im Privatleben hatte sie keine Angst. Reto Schwander hingegen hatte Angst gehabt und sich auf einen bewaffneten Angriff in den eigenen vier Wänden vorbereitet. Umgebracht worden war er jedoch im Freien und mit blossen Händen. Bedeutete das, dass er sich zu Recht gefürchtet, sich zu wenig gut geschützt hatte? Wenn das der Fall war, hatte er gefährliche Feinde. Dann musste es in seinem Leben etwas geben, das nicht zu der schönen Fassade passte. So wie der Umschlag voller Bargeld nicht dazu passte. Denkbar war aber auch, dass er einer Situation zum Opfer gefallen war, die gar nichts mit ihm persönlich zu tun hatte. Dass er als Jogger einem Hündeler oder Mountainbiker in die Quere gekommen und der Streit eskaliert war. Die Leute gerieten im Naherholungsgebiet immer wieder aneinander. Der Stresslevel in der optimal zu nutzenden Freizeit war hoch. Tote hatte es bisher allerdings noch nie gegeben, Verletzte durch Hundebisse, Stürze, Schläge, Tritte immer wieder. War Reto Schwander schlicht zur falschen Zeit am falschen Ort gewesen? Sie hoffte es nicht, weil solche Fälle schwer zu lösen waren. Ein unaufgeklärter Mord warf immer ein schlechtes Licht auf die Arbeit der Polizei im Allgemeinen und auf jene der leitenden Ermittlerin im Speziellen. Um Viertel vor zehn ging sie in die Asservatenkammer hinunter und liess sich den Umschlag mit dem Geld geben. Geld war das zweithäufigste Motiv bei Tötungsdelikten. Die Scheine waren gezählt, ihre Seriennummern kontrolliert worden, sie stammten nicht aus einem Überfall und waren nicht Teil eines Lösegeldes gewesen. Zumindest nicht eines gemeldeten. Es waren 21 580 Franken. In ihrem Büro legte Brandstetter die Notenbündel auf den Schreibtisch und wartete auf Frau Schwander. Sie blieb die Hauptverdächtige. Das häufigste Mordmotiv war immer noch Liebe. Genauer gesagt, das Erkalten derselben.

STEPHAN PÖRTNER schreibt Romane und Theaterstücke. Wer eine oder mehrere Folgen seines Krimis «Agglo-Blues» verpasst hat, kann sie auf unserer Webseite nachlesen oder auch hören, gesprochen vom Autor selbst oder von prominenten Gastlesern wie Andrea Zogg: www.surprise.ngo|krimi

27


IND 0.– S AB 50 ABEI! SIE D

Die 25 positiven Firmen Unsere Vision ist eine solidarische und vielfältige Gesellschaft. Und wir suchen Mitstreiterinnen, um dies gemeinsam zu verwirklichen. Übernehmen Sie als Firma soziale Verantwortung. Unsere positiven Firmen haben dies bereits getan, indem sie Surprise mindestens 500 Franken gespendet haben. Mit diesem Betrag unterstützen Sie Menschen in prekären Lebenssituationen dabei auf ihrem Weg in die Eigenständigkeit. Die Spielregeln: 25 Firmen oder Institutionen werden in jeder Ausgabe des Surprise Strassenmagazins sowie auf unserer Webseite aufgelistet. Kommt ein neuer Spender hinzu, fällt jenes Unternehmen heraus, das am längsten dabei ist. 01

Echtzeit Verlag, Basel

02

Maya-Recordings, Oberstammheim

03

Gemeinnütziger Frauenverein, Nidau

04

Scherrer & Partner GmbH, Basel

05

Madlen Blösch, GELD & SO, Basel

06

Velo-Oase, Erwin Bestgen, Baar

07

Lotte’s Fussstube, Winterthur

08

Cantienica AG, Zürich

09

Arbeitssicherheit Zehnder GmbH, Zürich

10

Brother (Schweiz) AG, Dättwil

11

Kaiser Software GmbH, Bern

12

Coop Genossenschaft, Basel

13

Fischer + Partner Immobilien AG, Otelfingen

14

Proitera betriebliche Sozialberatung, Basel

15

Praxis PD Dr. med. Uwe Ebeling, Bern

16

VXL gestaltung und werbung AG, Binningen

17

Burckhardt & Partner AG, Basel

18

Schluep & Degen Rechtsanwälte, Bern

19

SM Consulting, Basel

20

Holzpunkt AG, Wila

21

Praxis Colibri, Murten

22

Sublevaris GmbH, Brigitte Sacchi, Birsfelden

23

SBB Angebotsgestaltung Langstrasse, Zürich

24

AnyWeb AG, Zürich

25

Hervorragend AG, Bern

Möchten Sie bei den positiven Firmen aufgelistet werden? Mit einer Spende ab 500 Franken sind Sie dabei. Spendenkonto: PC 12-551455-3 IBAN CH11 0900 0000 1255 1455 3 Surprise, 4051 Basel Zahlungszweck: Positive Firma und Ihr gewünschter Namenseintrag Sie erhalten von uns eine Bestätigung. Kontakt: Nicole Huwyler Team Marketing, Fundraising & Kommunikation T +41 61 564 90 50 I marketing@surprise.ngo

SURPLUS – DAS NOTWENDIGE EXTRA Das Programm

Wie viele Surprise-Hefte müssten Sie verkaufen, um davon in Würde leben zu können? Hätten Sie die Kraft?

Wussten Sie, dass einige unserer Verkaufenden fast ausschliesslich vom Heftverkauf leben und keine Sozialleistungen vom Staat beziehen? Das fordert sehr viel Kraft, Selbstvertrauen sowie konstantes Engagement. Und es verdient besondere Förderung. Mit dem Begleitprogramm SurPlus bieten wir ausgewählten Verkaufenden zusätzliche Unterstützung. Sie sind mit Krankentaggeld und Ferien sozial abgesichert und erhalten ein Nahverkehrsabonnement. Bei Problemen im Alltag begleiten wir sie intensiv.

Eine von vielen Geschichten Josiane Graner, Juristin, wurde in ihrem Leben von schweren Schicksalsschlägen getroffen. Sie kämpft und steht immer wieder auf. Ein Geschäftsprojekt, das sich zum Flop entwickelte, führte sie 2010 zu Surprise. Ihr Geschäftspartner hatte sich ins Ausland abgesetzt und sie mit dem Schuldenberg allein gelassen. Um ihren Lebensunterhalt aus eigener Kraft zu bestreiten, verkauft Josiane Graner in Basel das Strassenmagazin. Zudem ist sie für den Aboversand zuständig. Dank des SurPlus-Programms erhält sie ein ÖVAbonnement und Ferientaggeld. Diese Zusatzunterstützung verschafft der langjährigen Surprise-Verkäuferin etwas mehr Flexibilität im knappen Budget.

Die ganze Geschichte lesen Sie unter: surprise.ngo/surplus

Unterstützen Sie das SurPlus-Programm mit einer nachhaltigen Spende Derzeit unterstützt Surprise 14 Verkaufende des Strassenmagazins mit dem SurPlus-Programm. Ihre Geschichten stellen wir Ihnen hier abwechselnd vor. Mit einer Spende von 6000 Franken ermöglichen Sie einer Person, ein Jahr lang am SurPlusProgramm teilzunehmen.

Unterstützungsmöglichkeiten: · 1 Jahr: 6000 Franken · ½ Jahr: 3000 Franken · ¼ Jahr: 1500 Franken · 1 Monat: 500 Franken · oder mit einem Beitrag Ihrer Wahl.

Spendenkonto: PC 12-551455-3 IBAN CH11 0900 0000 1255 1455 3 | Vermerk: SurPlus Oder Einzahlungsschein bestellen: T +41 61 564 90 90 info@surprise.ngo | surprise.ngo/spenden Herzlichen Dank!


Wir alle sind Surprise

BILD: ZVG

Auszeichnung

#422: Strassenmagazin

Heiter und stachelig

«Normale Zeitschrift»

Wir gratulieren der Berner Surprise-Verkäuferin Lisbeth Schranz und dem Surprise-Stadtführer Roger Meier: Ihnen wurde Ende April der Goldene Kaktus verliehen, ein Preis für bereicherndes Wirken und Sein des Vereins Heitere Fahne in Bern. Ausgezeichnet wurden acht Projekte, sieben Persönlichkeiten und drei Initiativen für eine vielfältige Gesellschaft und Engagement jenseits von Konsum und Kommerz. Nominiert waren über 200 Menschen, Projekte und Orte – von der eigenen Mutter über die Lieblingstankstelle bis hin zum Trammusikanten.

Leider wird Surprise immer mehr zu einer normalen Zeitschrift. Der lange Artikel über Menziken war recht interessant, aber er könnte in vielen andern Zeitschriften stehen. Das Gleiche gilt für den Artikel über die Ukraine und denjenigen über das selbstfahrende Postauto. Dafür brauchen wir das Surprise nicht. Früher gab es mehr Artikel über Leute, die es schwer haben, auch solche, die es trotz allem geschafft haben.

Impressum

Geschäftsstelle Basel T +41 61 564 90 90 F +41 61 564 90 99 Mo–Fr 9–12 Uhr info@surprise.ngo, surprise.ngo

Ständige Mitarbeit Rosmarie Anzenberger (Korrektorat), Marie Baumann, Florian Burkhardt, Rahel Nicole Eisenring, Carlo Knöpfel, Yvonne Kunz, Khusraw Mostafanejad, Fatima Moumouni, Stephan Pörtner, Isabella Seemann, Sarah Weishaupt, Priska Wenger, Christopher Zimmer

Regionalstelle Zürich Kanzleistrasse 107, 8004 Zürich T  +41 44 242 72 11 M+41 79 636 46 12

Mitarbeitende dieser Ausgabe Lucian Hunziker, Kostas Maros, Samanta Siegfried

Herausgeber Surprise, Spalentorweg 20 CH-4051 Basel

Regionalstelle Bern Scheibenstrasse 41, 3014 Bern T  +41 31 332 53 93 M+41 79 389 78 02 Soziale Stadtrundgänge Basel: T +41 61 564 90 40 rundgangbs@surprise.ngo Bern: T +41 31 558 53 91 rundgangbe@surprise.ngo Zürich: T +41 44 242 72 14 rundgangzh@surprise.ngo Anzeigenverkauf Stefan Hostettler, 1to1 Media T  +41 61 564 90 90 M+41 76 325 10 60 anzeigen@surprise.ngo Redaktion Verantwortlich für diese Ausgabe: Sara Winter Sayilir (win) Diana Frei (dif), Georg Gindely (gg) Reporter: Simon Jäggi (sim) T +41 61 564 90 70 F +41 61 564 90 99 redaktion@strassenmagazin.ch leserbriefe@strassenmagazin.ch

Surprise 425/18

Wiedergabe von Artikeln und Bildern, auch auszugsweise, nur mit Genehmigung der Redaktion. Für unverlangte Zusendungen wird jede Haftung abgelehnt. Gestaltung und Bildredaktion Bodara GmbH, Büro für Gebrauchsgrafik Druck AVD Goldach Papier Holmen TRND 2.0, 70 g/m2, FSC®, ISO 14001, PEFC, EU Ecolabel, Reach

M. LENZLINGER, Winterthur

Sozialer Stadtrundgang

Sozialer Stadtrundgang

«Kenntnisreich»

«Kompetent»

Die Führung war sehr gut organisiert, zeitlich gut abgestimmt. Und ganz speziell ist hervorzuheben: Lilian Senn. Sie war ein ausgezeichneter Guide: sehr kenntnisreich, sprachgewandt, schlagfertig, sympathisch. Sie hat ein grosses Dankeschön verdient.

Unsere Konfirmandengruppe erlebte Stadtführerin Lilian Senn als kompetent und beredt. Ihre Lebensgeschichte berührte und beschäftigte uns sehr. Die Konfirmanden waren bis zum Schluss sehr aufmerksam.

CH. HUG, Basel

Kirchgemeinde Saanen-Gsteig

P. KLOPFENSTEIN,

Ich möchte Surprise abonnieren 25 Ausgaben zum Preis von CHF 189.– (Europa: CHF 229.–) Verpackung und Versand bieten StrassenverkäuferInnen ein zusätzliches Einkommen Gönner-Abo für CHF 260.– Geschenkabonnement für: Vorname, Name

Strasse

PLZ, Ort

Rechnungsadresse: Vorname, Name

Strasse

PLZ, Ort

Telefon

Auflage 23 300

E-Mail

Abonnemente CHF 189, 25 Ex./Jahr

Datum, Unterschrift

Helfen macht Freude, spenden Sie jetzt. Spendenkonto: PC 12-551455-3 IBAN CH11 0900 0000 1255 1455 3

425/18

Bitte heraustrennen und schicken oder faxen an: Surprise, Spalentorweg 20, CH-4051 Basel, F +41 61 564 90 99, info@surprise.ngo

29


FOTO: LUCIAN HUNZIKER

Surprise-Porträt

«Der Abschied war unheimlich hart» «Vor eineinhalb Jahren verlor ich meine Arbeit als Küchenhilfe in einem Restaurant. Seither bin ich auf der Suche nach einer neuen Stelle. Einfach ist das nicht: Ich bin 56 Jahre alt und spreche nicht besonders gut Deutsch. Auch wenn ich immer wieder einen Anlauf nehme, macht mir das Lernen der Sprache grosse Mühe. Meine Heimat Pakistan verliess ich 1999. Ich war Mitglied der Muslim League, die das Land bis dahin regiert hatte. Nach der Machtübernahme durch die Militärs fürchtete ich mich vor Verfolgung, Haft oder noch Schlimmerem. Der Abschied war unheimlich hart. Meine Töchter waren sieben und fünf Jahre alt, meine Frau war schwanger mit unserem Sohn. Ich konnte ihn erst vor drei Jahren zum ersten Mal überhaupt in die Arme schliessen, als er zu mir in die Schweiz kam. Heute macht er eine Malerlehre in Biel. Er ist ein guter Junge und sehr fleissig. Meine Frau habe ich nie mehr in die Arme schliessen können. Sie starb 2014 bei einem Unfall. In unserem Haus in Islamabad war Gas ausgetreten, und als meine Frau den Herd anzünden wollte, kam es zu einer Explosion. Meine jüngere Tochter war auf dem Heimweg von der Schule, als sie das Feuer sah. Sie rannte heim und versuchte, ihre Mutter zu retten. Es muss schrecklich gewesen sein. Meine Frau wurde mit starken Verbrennungen ins Spital gebracht. Ich konnte am Telefon noch mit ihr sprechen, aber 14 Stunden nach dem Unglück starb sie. Ich bin heute noch unendlich traurig deswegen. Sie war eine wunderbare Frau. Jahrelang wartete sie auf mich und zog unsere Kinder gross, ohne sich zu beklagen. Ich hätte meine Familie ab 2012 in die Schweiz holen können, weil ich die erforderliche Bewilligung hatte, aber ich wollte noch ein bisschen warten und mehr Geld verdienen, um ihnen ein gutes Leben zu ermöglichen. Heute denke ich: Hätte ich sie doch gleich zu mir geholt, dann würde meine Frau noch leben. 30

Amin Mohammad, 56, verkauft Surprise in Magden AG und hofft, seine Töchter nach 19 Jahren Trennung bald wiederzusehen.

Mit meinen Töchtern, die immer noch in Pakistan sind, telefoniere ich täglich. Die Jüngere ist Medizinstudentin, die Ältere studiert Rechtswissenschaften und will Anwältin werden. Wenn alles klappt, wird sie ab nächstem Jahr in Basel weiterstudieren. Für mich wäre es ein grosses Glück, wenn sie hierherkommen würde, und später ihre jüngere Schwester auch. Ich habe die beiden nicht mehr gesehen, seit ich Pakistan verlassen habe. Ich möchte meinen Kindern aber auch etwas bieten können. Um trotz meiner Arbeitslosigkeit Geld zu verdienen, verkaufe ich seit letztem Oktober Surprise. Meist stehe ich an meinem Wohnort Magden AG vor der Migros. Der Kontakt mit den anderen Menschen tut mir gut, und wenn ich im Verkauf einen guten Tag habe, ist das ein schönes Gefühl. Ich arbeite gerne und will nicht von der Sozialhilfe abhängig sein. Im Moment sieht es übrigens gut aus, dass ich eine neue Stelle finde. Ich kann in den nächsten Tagen in der Küche eines Restaurants in Basel Probe arbeiten und hoffe, dass sie mich behalten werden.

Aufgezeichnet von GEORG GINDELY

Surprise 425/18


IST GUT. KAUFEN! Machen Sie sich selbst eine Freude oder überraschen Sie jemanden mit einem passenden Geschenk. Sie unterstützen damit eine gute Sache.

SURPRISE-RUCKSACK CHF 99.– (exkl. Versandkosten) Modell Ortlieb-Velocity, 24l, wasserfest. Hergestellt in Deutschland. Erhältlich in rot, schwarz und ultramarin.

SURPRISE-GYMBAG CHF 20.– (exkl. Versandkosten) 100% Baumwolle, hergestellt in Handarbeit in Griechenland. Erhältlich in rot und schwarz.

SURPRISE-ETUI CHF 27.– (exkl. Versandkosten) Hergestellt von JLTbag in Altdorf, Uri. JLTbag beschäftigt in der Produktion anerkannte Flüchtlinge und fördert damit deren Ausbildung und Integration. Erhältlich in rot und schwarz.

Weitere Informationen und Online-Bestellung T + 41 61 564 90 90 | info@surprise.ngo surprise.ngo/shop

BESTELLFORMULAR Ja, ich bestelle gegen Rechnung folgende/n Artikel SURPRISE-RUCKSACK rot

schwarz

SURPRISE-GYMBAG ultramarin

rot

schwarz

SURPRISE-ETUI rot

schwarz

NAME, VORNAME

TELEFON

ADRESSE

E-MAIL

PLZ, ORT

DATUM, UNTERSCHRIFT

Talon heraustrennen Surprise 423/18 und schicken oder faxen an: Surprise | Spalentorweg 20 | CH-4051 Basel | F +41 61 564 90 99 | info@surprise.ngo

31


Café Surprise – eine Tasse Solidarität Zwei bezahlen, eine spendieren. BETEILIGTE CAFÉS IN BASEL BackwarenOutlet, Güterstr. 120 | Café Bohemia, Dornacherstr. 255 | Café-Bar Elisabethen, Elisabethenstr. 14 | Flore, Klybeckstr. 5 | Café Restaurant Haltestelle, Gempenstr. 5 | Kiosk Amann, Claragraben 101 | Oetlinger Buvette, Unterer Rheinweg | Quartiertreffpunkt Kleinhüningen, Kleinhüningerstr. 205 Quartiertreffpunkt Lola, Lothringerstr. 63 | Les Gareçons to go, Badischer Bahnhof | Restaurant Manger et Boire, Gerbergasse 81 | Trattoria Bar da Sonny, Vogesenstr. 96 | Didi Offensiv, Erasmusplatz 12 | Radius 39, Wielandplatz 8 IN LUZERN Jazzkantine zum Graben, Grabenstr. 8 | Meyer Kulturbeiz, Bundesplatz 3 | Blend Teehaus, Furrengasse 7 | Quai4-Markt Baselstrasse, Baselstr. 66 | Restaurant Quai4, Alpenquai 4 | Quai4-Markt Alpenquai, Alpenquai 4 Pastarazzi, Hirschengraben 13 | Netzwerk Neubad, Bireggstr. 36 | Sommerbar Volière, Inseli Park IN STEIN AM RHEIN Raum 18, Kaltenbacherstr. 18 IN RAPPERSWIL Café good, Marktgasse 11 IN SCHAFFHAUSEN Kammgarn-Beiz, Baumgartenstr. 19 IN BERN Café Kairo, Dammweg 43 | Café Marta, Kramgasse 8 | Café Tscharni, Waldmannstr. 17a | Café-Bar das Lehrerzimmer, Waisenhausplatz 30 | LoLa Lorraineladen, Lorrainestr. 23 | Luna Llena Gelateria Restaurant Bar, Scheibenstr. 39 | Restaurant Genossenschaft Brasserie Lorraine, Quartiergasse 17 | Restaurant Löscher, Viktoriastr. 70 | Restaurant Sous le Pont – Reitschule, Neubrückstr. 8 | Rösterei Kaffee und Bar, Güterstr. 6 | Treffpunkt Azzurro, Lindenrain 5 | Zentrum 44, Scheibenstr. 44 | Café Paulus, Freiestrasse 20 IN BIEL Treffpunkt Perron bleu, Bahnhofplatz 2d IN ZÜRICH Café Zähringer, Zähringerplatz 11 | Cevi Zürich, Sihlstr. 33 | Flussbad Unterer Letten, Wasserwerkstr. 141 IN WINTERTHUR Bistro Dimensione, Neustadtgasse 25 IN OBERRIEDEN Strandbad Oberrieden, Seestrasse 47

Weitere Informationen: surprise.ngo/cafesurprise 32

Surprise 423/18


Turn static files into dynamic content formats.

Create a flipbook
Issuu converts static files into: digital portfolios, online yearbooks, online catalogs, digital photo albums and more. Sign up and create your flipbook.