Surprise Nr. 413

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Strassenmagazin Nr. 413 17. bis 30. November 2017

CHF 6.–

davon gehen CHF 3.– an die Verkaufenden

Wohnen

Ungemütlich Vom ermüdenden Widerstand gegen eine Kündigung – und was es bewirkt, wenn man sich wehrt. Seite 8

Bitte kaufen Sie nur bei Verkaufenden mit offiziellem Verkaufspass


Kultur

Solidaritätsgeste

STRASSENCHOR

CAFÉ SURPRISE

Lebensfreude

Entlastung Sozialwerke

BEGLEITUNG UND BERATUNG

Unterstützung

Job

STRASSENMAGAZIN

Zugehörigkeitsgefühl Entwicklungsmöglichkeiten

STRASSENFUSSBALL

Erlebnis

Expertenrolle

SOZIALE STADTRUNDGÄNGE

Information

Perspektivenwechsel

SURPRISE WIRKT Surprise unterstützt seit 1998 sozial benachteiligte Menschen in der Schweiz. Unser Angebot wirkt in doppelter Hinsicht – auf den armutsbetroffenen Menschen und auf die Gesellschaft. Wir arbeiten nicht gewinnorientiert, finanzieren uns ohne staatliche Gelder und sind auf Spenden und Fördergelder angewiesen. Spenden auch Sie. surprise.ngo/spenden | Spendenkonto: PC 12-551455-3 | IBAN CH11 0900 0000 1255 1455 3

Helfen tut gut. Zeit, zuzuhören. Zeit, abzuwarten. Zeit für Rückschläge. Zeit, zu helfen. All das gibt es in der Sozialberatung und -begleitung, die Surprise an seinen drei Standorten in Basel, Bern und Zürich anbietet. Die Verkaufenden des Strassenmagazins sowie die Stadtführer, die Strassenfussballer und die Chorsängerinnen erhalten hier nicht nur ihre Hefte, gratis Kaffee oder Internetzugang, sondern wenden sich mit ihren Sorgen und Fragen an die Surprise-Mitarbeitenden.

Ob bei der Wohnungs- und Arbeitssuche, bei Schulden, beim Umgang mit Behörden und administrativer Korrespondenz, bei familiären Krisen oder Suchtproblemen – für rund 400 armutsbetroffene Menschen ist diese umfassende und niederschwellige Begleitung eine unentbehrliche Stütze im Alltag. Surprise hilft individuell und niederschwellig. Spenden Sie heute. Spendenkonto: PC 12-551455-3 | IBAN CH11 0900 0000 1255 1455 3 surprise.ngo/spenden 2

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Editorial

Sanierungswut Eingeschriebene Briefe von der Hausverwal­ tung sind mir unheimlich. Seit Jahren will sie den von uns genutzten Estrich zu einer Wohnung ausbauen. In jedem eingeschrie­ benen Couvert also erwarte ich die Ankündi­ gung, wir müssten nun einen neuen Platz für unsere Sachen finden. Umso erstaunter bin ich jedes Mal zu lesen, dass unsere Hausverwaltung aufgrund des tiefen Refe­ renzzinssatzes wieder einmal unaufgefor­ dert unsere Miete senkt. Glück gehabt. Was aber, wenn in einem dieser Couverts einmal Eigenbedarf angemeldet wird? Oder eine Sanierung angekündigt? Sinkt der Leerstand in einem Kanton unter 1 Prozent, spricht man von Wohnungsnot. Basel ist mit 0,5 Prozent schweizweit besonders schlecht dran – nur Zug hat noch weniger freien Wohnraum. Der Markt ist also derart angespannt, dass es uns im Falle einer Kündigung kaum möglich wäre, innert nütz­licher Frist etwas Vergleichbares zu

4 Aufgelesen 5 Hausmitteilung

Wie es weiter geht

bekommen. Zudem mag ich unsere Woh­ nung: Sie ist hell und schön geschnitten, Bad und Küche sind modern, und im Quar­ tier fühlen wir uns sehr wohl. Ich will da nicht raus. Die Bewohnerinnen und Bewohner der Mül­ hauserstrasse 26 haben erlebt, was ich bisher nur befürchte: Wegen einer tiefgrei­ fenden Sanierung wurde allen Mietern des Basler Mehrfamilienhauses im Frühjahr letzten Jahres gekündigt. Manche von ihnen lebten seit fast 50 Jahren in ihren Woh­ nungen, viele sind nicht mehr die Jüngsten. Sie protestierten, kämpften und mussten am Ende doch alle raus. Wir haben die letzten Verbliebenen beim Umzug begleitet (ab Seite 8). Ich wünsche Ihnen eine bleibende Lektüre SAR A WINTER SAYILIR Redaktorin

20 Integration

28 SurPlus Positive Firmen

Die neue Auszubil­dende

29 Wir alle sind Surprise Impressum Surprise abonnieren

6 Challenge League

Reisefreiheit 7 All Inclusive

Massstab Behinderung 8 Wohnen

Wer sich wehrt 14 Paramilitärs

24 Bildung

Importiertes Wissen 26 Veranstaltungen

30 Surprise-Porträt

«Ich hab keinen Chef ausgehalten»

27 Wörter von Pörtner

Alles nicht so schlimm

Im «Kämpfenden Polen»

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Aufgelesen

News aus den 100 Strassenzeitungen und -magazinen in 35 Ländern, die zum internationalen Netzwerk der Strassenzeitungen INSP gehören.

FOTOS: Z VG

Chinatown retten Im kanadischen Vancouver droht das Viertel der chinesischen Einwanderer zu verschwinden. Investoren wollen das Quartier mit Neubauten aufwerten, was dazu führt, dass die Mieten steigen und die altein­­gesessenen Bewohnerinnen und Bewohner ausziehen müssen. Diese wehren sich nun für die Erhaltung von Chinatown als Wohnort und als Kulturerbe.

Leichter lesen In Deutschland gibt es 7,5 Millionen ­sogenannte funktionale Analphabeten. Sie können zwar Buchstaben erken­nen und ein paar Wörter schreiben, ver­ stehen jedoch längere Texte nicht oder nur mit grosser Mühe. Laut dem ­deutschen Behindertengleichstellungsgesetz müssen Ämter und Behörden ab 2018 deshalb alle Formulare, Beschei­de und Schreiben in sogenannter Leichter Sprache ausfertigen, also kurze Sätze möglichst ohne Kommas, nur eine Information pro Satz, keine Fremdwörter.

BISS, MÜNCHEN

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Ein Kuss geht um die Welt Dieses Foto, das erstmals auf dem Cover der dänischen Strassenzeitung Hus Forbi erschienen ist, machte Gilbert und Cappella Fricke landesweit bekannt. Das obdachlose Paar gab sich vergangenes Jahr das Jawort. Mette Kramer Kristensen hat diesen Moment von Hoffnung, Freude und Liebe mit der Kamera eingefangen. Das Foto der beiden Hus-Forbi-Verkaufenden, die von ihren Freunden Teddy und Catfish genannt werden, war dieses Jahr beim inter­ nationalen Strassenzeitungstreffen in Manchester in der Kategorie «Bestes Foto des Jahres» nominiert.

HUS FORBI, KOPENHAGEN

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FOTO: MET TE KR AMER KRISTENSEN

MEGAPHONE, VANCOUVER


FOTO: TOBIAS SUT TER

Vom Sterben der Höfe Über 350 000 Bauernhöfe jährlich stellen in Europa den Betrieb ein, allein in Österreich sind es sechs Betriebe pro Tag. Die Gründe sind vielfältig und reichen von man­ gelnder Rentabilität bis zur fehlenden Nachfolge. Deshalb disku­ tierten Mitte Oktober Bauern, Architektinnen, Landschaftsplaner­ innen und andere Experten in ­Osttirol darüber, wie es gelingen kann, Orte und Regionen wieder zu beleben, zum Beispiel durch Umnutzungen von Bauernhöfen oder durch die Schaffung besserer Grundlagen für die Landwirtschaft. Laut den Experten kommt dabei insbesondere dem Tourismus eine wichtige Rolle zu.

AUGUSTIN, WIEN

Lasst die Schüler ausschlafen! Die US-amerikanische Bewegung «Start School Later» wirbt dafür, den Beginn des Schultages um eine Stunde nach hinten, auf 8.30 und 9 Uhr, zu verlegen. Laut einer Unter­ suchung an über 250 High Schools, die den Unterrichtsbeginn ver­ schoben haben, stieg bei 60 Prozent der Schülerinnen und Schüler die Anzahl der Schlafstunden auf mehr als acht. Leistung und Prüfungs­ ergebnisse verbesserten sich deutlich. Der Konsum von Marihuana, Alkohol und Zigaretten ging um 14 Prozent zurück, und die Anzahl derjenigen, die an Depressionen litten, sank um 11 Prozent.

SHEDIA, ATHEN/THESSALONIKI

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«Surprise ist auch ein Ausweg aus der Einsamkeit»: Paola Gallo.

Hausmitteilung

Liebe Leserin, lieber Leser Schauen Sie sich Ihr monatliches Lohnblatt genau an? Die meisten Erwerbstätigen haben nur eine ungefähre Ahnung davon, wie viel Sozialleistungen sie monatlich abgeben. Aber alle gehen davon aus: Wir zahlen regelmässig ein und haben somit Anspruch auf Unterstützung, wenn wir in Not geraten. Das ist unser Recht. Da ist es doch seltsam, dass die Sozialwerke unter Dauerbeschuss stehen und zudem immer mehr sparen sollen. Auf die Idee, dasselbe etwa von einer Haftpflichtversicherung zu verlangen, würde wohl niemand kommen. Jeder von uns kann plötzlich mit Krankheit oder einem Unfall konfrontiert sein und arbeitsunfähig werden. Und jeder kann seine Stelle verlieren. Einen neuen Job zu finden, wird immer schwieriger. Die Caritas schätzt die Zahl der armutsbetroffenen Menschen in der Schweiz auf eine Million. Sie zahlen also jahrelang, Monat für Monat Gelder für den Notfall ein. Nehmen Sie dann einmal Unterstützung in Anspruch – was bedeutet, dass Sie sich ohne­ hin schon in einer belastenden Situation befinden –, müssen Sie zuerst Tonnen von Formularen ausfüllen und sich bis aufs Hemd ausziehen. Viele unserer Surprise-­ Verkaufenden haben diese Prozedur hinter sich. Um zu beweisen, dass sie nicht

«schmarotzen». Derzeit beläuft sich die Zahl der Sozialhilfebezüger auf 260 000. 730 000 der Armutbetroffenen kommen demnach ohne staatliche Unterstützung aus. Dazu gehört auch rund ein Drittel unser fast 400 Verkaufenden. Diese Menschen möchten nicht vom Staat abhängig sein oder den als demütigend empfundenen Weg zur Sozialhilfe gehen. Sie verkaufen Surprise, um sich ihren Lebensunterhalt zu sichern. Mit dem Strassenmagazin können sie ein professionell gemachtes, journalistisch unabhängiges Produkt anbieten. Darüber hinaus gibt der Verkauf ihnen das Gefühl, gebraucht zu werden. Für viele ist Surprise auch ein Ausweg aus einem häufig unterschätzten Aspekt von Armut: der Einsamkeit. Die Verkaufenden freuen sich auf die Gespräche mit ihren Stammkundinnen. Bei uns findet jeder Mensch ein offenes Ohr, wir bieten mehr als einen Job: Wir helfen bei Schwierigkeiten im Alltag und ermöglichen soziale Kontakte, Ausflüge sowie sportliche oder kulturelle Aktivitäten. Empfehlen Sie uns weiter. Wir können noch viel mehr Menschen diese Chance bieten. Ihre PAOLA GALLO, Geschäftsführerin Surprise

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FOTO: KHUSRAW MOSTAFANEJAD

Challenge League

Von einem, der auszog Ich freue mich sehr, dass ich von der Schweiz einen Ausweis erhalten habe, mit dem ich reisen kann. Obwohl es kein ­richtiger Pass ist, da ich vom Staatssekre­ tariat für Migration nur vorläufig auf­ genommen wurde und einen F-Ausweis besitze. Ich habe im Iran nie einen ­Reisepass besessen. Erst jetzt kann ich ­legal reisen. Ich bin ein Reisetyp, und das seit meiner Kindheit. Ich habe anderen immer vom Weg berichtet, wenn ich von meinem Dorf in die Stadt und zurück fuhr. Ich erin­nerte mich immer daran, wo es unterwegs Steine, dichte Wälder oder grosse Bäume gab. Anfang Juli entschied ich mich, nach Skandinavien zu reisen. In Finnland und Schweden habe ich Freun­de, de­nen ich mein Kommen ankündigte. Ich stellte mir Schnee, Eis, Polarbären und Huskys vor. Ich dachte, im Norden müsse man immer eine dicke Jacke ­tragen, damit man sich nicht erkältet, wenn plötzlich Wol­ ken am Himmel ­erscheinen. Als ich in Tampere ankam, einer Stadt nördlich von Helsinki, konnte ich wider Erwarten zwei Stunden in T-Shirt und Shorts in der Stadt herumspazieren. An diesem Ort ist Skandi­navien flach, ohne Berge und Hügel. Das fand ich langweilig, wo ich doch aus dem Zagros-Gebirge komme und jetzt in der Schweiz nahe bei den Alpen lebe. Eines Abends rief mich mein Freund an. Ich spazierte gerade durch die Stadt. Er fragte: «Warum bist du noch nicht zu­ rück?» Die Sonne ging gerade unter und die Leute unterhielten sich vor den Bars auf der Strasse. Ich sagte: «Weil ich den Abend geniesse.» Und er erwi­ der­te: «Weisst du, dass es 23.30 Uhr ist?» Ich schaute auf mein Handy und stellte fest, dass es wirklich so spät war. Kaum zu glauben. Ich fand das viele Tageslicht so schön und genoss, dass es nur drei Stunden dunkel wurde. Aber ich konnte auch nicht richtig schlafen, weil ich die Nacht zum Tag machte. 6

Auf einer Fähre reiste ich von Helsinki nach Stockholm. In Stockholm war’s ein bisschen wärmer als in Finnland. An sonnigen Tagen badeten meine Freunde oft im Meer. Anfangs schauderte ich, wenn ich sie nur da sah, im kalten Wasser. Danach schwamm ich ebenfalls, aber meine Zähne klapperten. Schliesslich ge­ wöhnte sich mein Körper an die Kälte, und ich konnte ein paar Minuten im Was­ ser bleiben. Am Ende blieb ich so lange drinnen wie meine Freunde. Es ist span­ nend, dass das Wasser in Skandinavien schwarz ist, und zwar alle Seen und Meere, die ich sah. Einmal ass ich ein Wikinger-Gericht in einem finnischen Restaurant. Ich be­ suchte auch Museen zur Wikinger-­ Kultur. Ich hatte immer gedacht, dass die Wikinger sehr wild gewesen sein müssen, weil sie so viele Kriege geführt haben. Aber in den Museen stellte ich fest, dass die Wikinger auch zivilisiert waren, dass sie in Häusern gewohnt und Landwirtschaft betrieben haben. Die finnische Sprache ist sehr schwierig, ich konnte gar nichts verstehen. Aber die finnische Phonetik erschien mir schön, weil sie eine Harmonie in sich trägt. Im Gegensatz dazu ist Schwedisch ganz ähnlich wie Deutsch, und ich konnte die Schilder und Wegweiser gut verstehen. Wenn man Deutsch kann, ist man dort

zumindest nicht verloren. Von der Aus­ sprache allerdings konnte ich nur wenige Wörter verstehen. Das Merkwürdigste aber war, dass ich fast 5000 Kilometer gefahren bin und kein Polizist je nach meinem Reiseausweis gefragt hat. Nach circa 20 Tagen in Skan­ dinavien, wo ich viele Freunde besucht und viel Neues gelernt habe, stieg ich mit meinem Zürcher Reisebegleiter ins Auto und wir fuhren zurück in die Schweiz. Erst als wir in Konstanz ankamen und die Grenze überqueren wollten, hielt uns zehn Meter vor Kreuzlingen die deutsche Polizei an und kontrollierte unser Auto und die Reiseausweise.

Der kurdische Journalist KHUSRAW MOSTAFANEJAD floh aus seiner Heimat Iran und lebt seit 2014 in der Schweiz.

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ILLUSTRATION: RAHEL EISENRING

jetzt mit behinderten Politikern ausei­ nandersetzen? Können die Behinderten nicht einfach wie früher in geschützten Werkstätten Körbe flechten oder mundge­ malte Postkarten produzieren? Die emeritierte Rechtsprofessorin und ­liberale Alt-Nationalrätin Suzette Sandoz schrieb 2011 unter dem Titel «Die Anpassung an Bedürfnisse von Behinderten hat Grenzen» in der NZZ am Sonntag: «Der Presse ist zu entnehmen, dass im Tessin ein Blinder in den Regierungsrat möchte. (…) Ist das vernünftig? Meine Antwort ist ein entschiedenes Nein. (…) Mir bereiten solche Kandidaturen ­grosses Unbehagen. Wird damit nicht, aus rein taktischen Gründen, das Mitleid der Wähler ausgenützt? Ist das wirklich Nicht­ diskriminierung?»

All Inclusive

Können die das? Kurz nachdem der Tessiner Ignazio Cassis in den Bundesrat gewählt worden war, schrieb der Dachverband der Behin­derten-Selbsthilfeorganisationen Agile.ch in einer Medienmitteilung: «Die Zeit ist überreif für eine Bundesrätin, einen Bundesrat mit Behinderung!» Was im ersten Moment merkwürdig klingt, ist bei näherer Betrachtung nicht so abwegig: Schliesslich leben in der Schweiz 1,6 Millionen Menschen mit Behinderung, während der Kanton Tessin nur knapp 350 000 Einwohner zählt. Der Anspruch des Tessins auf einen Bun­ desratssitz schien unbestritten, bei der Vertretung von Menschen mit Behin­ derung in der Politik sieht es jedoch etwas anders aus. Im nationalen Parlament sitzt momentan nur ein einziger Politiker mit einer – sichtbaren – Behinderung: der Thurgauer CVP-Nationalrat Christian Lohr. Als Lohr 2003 zum ersten Mal kandidierte, schrieb die NZZ ausführlich darüber, dass sich niemand getraue, den behinder­ ten Kandidaten zu kritisieren: «Ein ‹netter Kerl› zwar, sicher, sehr sympathisch und zugänglich, aber leider fehle ihm die Erfahrung, das politische Profil. Offiziell Surprise 413/17

und mit Namen will hingegen niemand am Kandidaten Lohr rütteln: ‹Zu heikel, Sie verstehen›.» Man durfte vor lauter politischer Korrektheit «gar nichts sagen», aber die Kritik stand prominent in der NZZ. Anonym, versteht sich. 2011 wurde Lohr schliesslich in den Nationalrat gewählt und 2015 wiedergewählt. Als er sich 2012 im Parlament erfolgreich gegen radikale Sparmass­­nahmen bei der Invalidenversicherung­ ­aussprach, kommentierte die damalige NZZ- (und heutige Weltwoche-) Jour­ nalistin Katharina Fontana: «Man kann ­davon ausgehen, dass nicht alle CVPNationalräte aus Überzeugung für Lohrs Anträge gestimmt haben, sondern ‹weil man nicht anders konnte›, wie es ein Parlamentarier formuliert. Es sei rein emotional entschieden worden, heisst es, man habe dem behinderten Kollegen nicht in den Rücken fallen wollen. Lohr selber führt seinen Erfolg vor allem auf seine Glaubwürdigkeit zurück.» Da denkt der Behinderte doch tatsächlich, seine Argumentation sei glaubwürdig. Und überhaupt, warum müssen wir uns

Sandoz führte ins Feld, dass «ein blinder Exekutivpolitiker» – sie nennt den Kandidaten im ganzen Text konsequent nicht beim Namen – auf Unterstützung angewiesen wäre. Was ja bei nichtbehinderten Politikern ganz anders ist: Die schreiben selbstverständlich jede E-Mail oder Rede selbst. «Der Blinde» heisst übrigens ­Manuele Bertoli, ist Jurist und wurde 2011 in den Tessiner Regierungsrat gewählt. Und 2015 in seinem Amt bestätigt. Sollte also dereinst eine Kandidatin, ein Kandidat mit einer Behinderung für den Bundesrat kandieren, wird die NZZ vermutlich einmal mehr darüber schreiben, dass man den Kandidierenden ja gar nicht kritisieren dürfe – und dann genau das ausführlich tun. Und der betreffende Politiker, die betreffende Politikerin wird nach seiner oder ihrer Wahl einmal mehr beweisen: Yes, he or she can.

MARIE BAUMANN schreibt unter ivinfo. wordpress.com über die Invalidenversicherung und die mediale Darstellung von Menschen mit Behinderung.

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Enttäuscht, wie wenig der Protest bewirkt hat: Ursi Wiget hätte sich zwischenzeitlich am liebsten in Luft aufgelöst.

«Hätten wir von Anfang an Tamtam gemacht ...» Wohnen Mit ihrem Widerstand gegen die Sanierungspolitik der Pensionskasse Basel-Stadt

erstritten sich die Bewohnerinnen und Bewohner der Mülhauserstrasse 26 das Rückkehrrecht in ihre Wohnungen. Mühsam umziehen mussten sie trotzdem. TEXT  NICOLE GISLER FOTOS  TJEFA WEGENER

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Richtig gut schlafen kann hier schon lange keiner mehr.

Gartenfest mit den Nachbarn: Viele aus der Umgebung zeigten sich solidarisch.

Der Baum stand den bevorstehenden Sanierungsarbeiten im Weg, in Stücke zersägt liegt er seit einer Woche im Garten. Es ist einer dieser stickigen Basler Tage Ende August. Während draussen die Arbeiter ein Gerüst an der Fassade des Hauses in der Mülhauserstrasse 26 hochziehen, stapeln sich in Ursi und Urs Wigets 4,5-Zimmer-­ Wohnung die Umzugskisten. «Wir hatten Ihnen doch gesagt, es soll alles vorbereitet sein», sagt der Mann von der Umzugsfirma vorwurfsvoll zu Urs Wiget, der soeben die letzten Kleider eingepackt hat und den gros­ sen Schrank im Schlafzimmer zu demontieren beginnt. Derweil hat es sich der ­S­ecuritas-Angestellte, den die Hausver­ Surprise 413/17

waltung zur Unterstützung beim Umzug geschickt hat, in der Küche gemütlich gemacht, trinkt einen Kaffee und sagt, dass eine Nachbarin jetzt dann bald fertig sei. «Das bin ich auch, aber mit den Nerven», kommentiert die 75-jährige Ursi Wiget, während sie beginnt, das letzte Geschirr abzuwaschen. Mittendrin trocknet sie ihre Hände, zündet sie sich eine Zigarette an und macht sich auf den Weg ins Wohnzimmer, wo sie an der Türschwelle stehen bleibt. Laut sagt sie: «Ich glaube, ich würde nicht mehr kämpfen. Es hat ja doch nichts gebracht.» Eigentlich wollte man ja von Beginn weg an die Öffentlichkeit gehen. Im März 2016 lud die Pensionskasse Basel-Stadt (PKBS), der die Liegenschaft an der Mülhauserstrasse 26 gehört, ihre Mieterinnen und Mieter zum Apéro und Informationsgespräch ein. «Wir waren immer darauf gefasst, dass einmal Renovationen anstehen und wir mehr Miete zahlen müssen», sagt Margrit Benninger, die wie Ursi und Urs Wiget vor 50 Jahren in die damals neugebaute Stadtwohnung zog. Schliesslich sei über die Jahre hinweg wenig saniert worden und auch die Miete entsprechend günstig. Zuletzt bezahlte die 92-Jährige für ihre 3,5-Zimmer-Wohnung knapp 1000 Franken. Doch es kam anders als erwartet: Statt von Renovationsarbeiten sprach die PKBS von Totalsanierung und darüber, dass sämtlichen 22 Mietparteien gekündigt werde. «Das hat mich erschlagen. Ich dachte immer, dass man einem solchen Risiko in einem Haus der Pensionskasse nicht ausgesetzt ist», sagt Benninger. Auf den Schock folgte Kampfeswille. Doch der Basler Mieterinnen- und Mieterverband (MV Basel) riet den Betroffenen zunächst, Kündigungseinsprachen ein­ zureichen und die Verhandlung bei der Schlichtungsstelle für Mietstreitigkeiten abzuwarten. «Wir erleben diese Art von Massenkündigungen in allen Quartieren dieser Stadt», erläutert Beat Leuthardt, Co-Geschäftsleiter des MV Basel. Die Pensionskasse Basel-Stadt habe im Fall der Mülhauserstrasse klar aus einer renditeorientierten Motivation heraus gehandelt. «Durch eine Kündigung kann das Mieterschutzrecht umgangen und die Miete danach höher angesetzt werden.» Bei einer Sanierung in bewohntem Zustand darf hingegen nur der wertvermehrende Anteil auf die Miete umgelegt werden. Laut Bundesgericht ist es möglich, ein Mietverhältnis 9


«Ich glaube, ich würde nicht mehr kämpfen. Es hat ja doch nichts gebracht.» URSI WIGE T

Fast 50 Jahre lebten sie hier: Ursi und Urs Wiget in ihrem Wohnzimmer in der Mülhauserstrasse.

aufzulösen, wenn umfassende Sanierungsarbeiten durch den Auszug der Mietpartei einfacher, schneller und günstiger ausgeführt werden können. Irrelevant ist dabei, ob die geplanten Arbeiten notwendig sind oder ob der Mieter oder die Mieterin sich dazu bereit erklärt, die Sanierungsarbeiten zu dulden. Vorausgesetzt wird allerdings, dass der Mietpartei alle relevanten Informationen zur geplanten Sanierung zur Verfügung gestellt werden, damit diese inner­ halb der gesetzlichen Frist von 30 Tagen die Chancen einer Anfechtung abschätzen kann. Die Schlichtungsverhandlung im Sommer 2016 endete für die Mieterinnen und 10

Mieter der Mülhauserstrasse in einem­Fiasko: Es blieb bei den Kündigungen. Ein Termin zur Verhandlung weiterer Fristerstreckungen wurde für Frühjahr 2017 angesetzt. Nur zwei der zwölf Mietparteien waren Mitglied beim MV Basel und hatten somit Anspruch auf finanzielle und rechtliche Unterstützung. Sie zogen vor das ­Zivilgericht weiter, alle anderen mussten den Vergleich aus finanziellen Gründen akzeptieren. Nach und nach brach das über 40 Jahre gewachsene Beziehungsnetzwerk an der Mülhauserstrasse auseinander. Immer mehr Mietparteien gaben die Hoffnung auf und entschieden sich für den Umzug. Auch die beiden Personen, deren

Rekurse vor Zivilgericht hängig waren: Die Verfahren wurden fallengelassen. Ein Teil der Bewohnenden kämpfte ­jedoch mit Unterstützung aus der Nachbarschaft zäh weiter. Flyer wurden verteilt, Infonachmittage veranstaltet, zahlreiche Interviews gegeben und eine Petition mit dem Titel «Rettet die bezahlbaren Wohnungen im St. Johann» eingereicht, die von über 2500 Personen unterzeichnet wurde. Sie habe sich selber während der Proteste nicht wiedererkannt, sagt Margrit Benninger. «Uns wurde früher ja immer gesagt, dass man sowas nicht mache. Doch eines Tages muss man sich wehren, weil das ­alles so ungerecht ist.» Im Januar kam es Surprise 413/17


Ein Überbleibsel der Proteste.

Trotz der nahen Industrie wohnten sie gern hier: Das Haus an der Mülhauserstrasse 26.

Pflegten eine gute Nachbarschaft: Margrit Benninger und Eliette Pillonel.

sogar zu einer Demonstration gegen die Massenkündigung, rund 500 Personen nahmen teil. Noch im Mai 2017 gaben die verbliebenen Widerständigen eine Expertise in Auftrag. In dieser sollte die im Bauplan aufgeführte Massnahme zur Erdbeben­sicherung untersucht werden, laut dem MV Basel einer der Hauptgründe für die tiefgreifende Sanierung. Die Expertise zeigte mittels eines konkreten Vorschlags auf, dass Massnahmen zur Erdbebenertüchtigung auch in bewohntem Zustand hätten durchgeführt werden können, was zudem noch kostengünstiger gekommen wäre. «Zu diesem Zeitpunkt hat uns das aber nichts mehr Surprise 413/17

gebracht», erinnert sich der 74-jährige Urs Wiget, da die Expertise an einer weiteren Schlichtungsverhandlung im selben Monat nicht mehr behandelt worden sei. Stattdessen wurden lediglich die Fristerstreckungen von einem und zwei Jahren verhandelt und teils stattgegeben. An einer Stelle war der Mieterverband Basel immerhin erfolgreich: Auf dessen Druck hin bot die PKBS den verbliebenen Parteien an, für die geplante Sanierungsdauer in eine andere Liegenschaft zu ziehen und danach in die sanierten Wohnungen zurückkehren zu können. Über die Mietpreise wurde Stillschweigen vereinbart. «Viele Leute sind enttäuscht, dass wir

das annahmen und nicht weiterprotestierten», sagt die 80-jährige Eliette Pillonel, deren Umzug in die Übergangswohnung bereits etwas zurückliegt. «Doch wir waren wirklich sehr müde.» Obwohl er selbst in den Verhandlungen sass, bezeichnet Beat Leuthardt vom MV Basel die getroffene Vereinbarung als «faulen Kompromiss». Ältere und betagte Mietparteien seien hier an ihre psychischen und physischen Grenzen getrieben worden. «Unser Ziel, die Sanierung in bewohntem Zustand durchzuführen, haben wir nicht erreicht», so Leuthardt. Ursi Wiget erscheint die Vorgehensweise der PKBS undurchsichtig. Denn die 11


«Durch eine Kündigung kann das Mieterschutzrecht umgangen und die Miete danach höher angesetzt werden.» BEAT LEUTHARDT, MV BASEL

«Viele Leute waren enttäuscht, dass wir nicht weiterprotestierten»: Eliette Pillonel.

Übergangswohnungen in der Mörsbergerstrasse, in die sie nun zögen, seien doch im selben Zeitraum wie die Mülhauserstras­­se gebaut und ebenfalls saniert worden, erzählt sie – in bewohntem Zustand. «Weshalb konnte da eine solche Sanierung vorgenommen werden und bei uns nicht?» Barbara Neidhart ist Kommunikationsund Marketingleiterin von Immobilien Basel-­Stadt, welche die Liegenschaften der Pensionskasse Basel-Stadt verwaltet. «Saniert wurde auch die Liegenschaft an der Mörsbergerstrasse», bestätigt sie, «jedoch nicht so umfassend wie diejenige an der Mülhauserstrasse.» In der Mörsbergerstrasse seien beispielsweise keine Grundrisse 12

angepasst worden. Gerade diese hätten aber in der Mülhauserstrasse nicht mehr den heutigen Anforderungen entsprochen. «Das Ziel der Sanierung ist, die Liegenschaft wieder für die nächsten 30 bis 40 Jahre bereitzustellen», sagt Neidhart mit Verweis auf die treuhänderische Funktion der Pensionskasse. Dass dies im konkreten Fall auch eine Verteuerung der Mieten an der Mülhauserstrasse bedeutet, sieht sie gelassen: «Der teure Wohnraum von heute ist der günstige Wohnraum von morgen.» Margrit Benninger kann sich über solche Aussagen nur wundern: «Man weiss mit der Zeit ja gar nicht mehr, wo man wohnen soll, wenn man kein grosses Einkommen hat.»

Vier Tage nach dem Umzug ist Ursi und Urs Wigets neue 3-Zimmer-Wohnung fast vollständig eingerichtet. Die Umzugskisten sind weggeräumt, Tochter und Schwie­ gersohn halfen beim Einrichten. Lediglich die Bilder müssen noch aufgehängt werden. «Es ist schon schwierig, sich nach fast 50 Jahren auf eine neue Wohnung einzustellen», sagt Ursi Wiget und erzählt von der neuen Kücheneinrichtung, dem fehlenden Griff in der Badewanne, ihrer Suche nach einem Parkplatz. Margrit Benninger sieht das anders. «Meiner Meinung nach gibt es nichts zu reklamieren», sagt sie, die eine Woche vor den Wigets zwei Stockwerke höher ins selbe Haus gezogen ist.


Ausgezogen und doch noch nicht ganz weg: Nach der Sanierung werden alle Spuren getilgt sein.

Mit gemischten Gefühlen blickt sie auf die letzte Zeit zurück. Kämpfen würde sie wieder: «Wir hatten ja nichts zu verlieren!» Zudem könne man jetzt ja auch wieder in die Mülhauserstrasse zurückkehren. «Wären mehr Leute in ihren Wohnungen geblieben, hätten wir vielleicht auch mehr Chancen gehabt», ergänzt Ursi Wiget. Sie sind sich einig, dass es ein Fehler war, nicht von vornherein an die Öffentlichkeit zu gehen. «Hätten wir von Anfang an Tamtam gemacht, hätte das denen vielleicht ein bisschen mehr Feuer unter dem Hintern gemacht», so Margrit Benninger. Schliesslich hätten sich viele solidarisch gezeigt: «Die Leute haben gemerkt, dass es nicht nur um uns geht, sondern dass auch sie davon betroffen sind.» Kurz nachdem die Verhandlungen um die Mülhauserstrasse abgeschlossen waren, teilten die Pensionskasse Basel-Stadt und das Finanzdepartement überraschend eine Veränderung ihrer Mietpolitik mit: Mieter von Immobilien Basel-Stadt können neu nach Sanierungen, die aufgrund der Eingriffstiefe unbewohnt durchgeführt werden müssen, zu denselben Konditionen in die Liegenschaft zurückkehren, wie wenn die Sanierung bewohnt durchgeführt worden wäre. Für Beat Leuthardt wird damit einer grundsätzlichen Sanierungsdebatte ausgewichen: «Immer noch sind es einsame Investorenentscheide, die darüber bestimmen, was und wie saniert wird.» Ein Umstand, den der Mieterinnenund Mieterverband unter anderem mit der «Wohnschutzinitiative» zu ändern versucht: Der Vorstoss sieht vor, dass Umbau, Renovation oder Abbruch bei einem Leerwohnungsbestand von weniger als 1,5 Prozent bewilligungspflichtig werden.

Mehr Sanierungen schweizweit Laut Schweizerischem Mieterinnen- und Mieterverband haben Sanierungskündigungen in den letzten 15 Jahren im ganzen Land zu­genommen. Dabei wird vor allem in städtischen Zentren massiv saniert, werden Kündigungen ausgesprochen und dadurch Mietpreis­ erhöhungen erzielt. Kollektiver Widerstand gegen Kündigungen führt auch andernorts häufig zu Rückkehrangeboten, wie im Falle der Wohnsiedlung «Züri 50» in Neu-Oerlikon, der 2014 für Streit zwischen Mietparteien und der Verwaltung Wincasa sorgte. Für den Hauseigentümer eine attraktive Art der Schlichtung: «Nehmen die betrof­ fenen Mieter ein Rückkehrangebot an, dann verzögert sich das Bau­projekt ja nicht», erklärt Walter Angst vom MV Zürich. Aus Mietersicht stellt ein Rückkehrrecht jedoch nur dann einen möglichen Kom­promiss dar, wenn auch die Höhe des Mietzinses festgelegt und keine Maximalmiete verlangt wird.

Mieter raus, Storen runter. Surprise 413/17

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Bis zum ersten Schuss Paramilitärs In Polen üben zehntausende Zivilisten in ihrer Freizeit den Krieg,

und es werden immer mehr. Ihre Bedrohung Nummer eins: Russland. TEXT  PATRICK WITTE FOTOS  PATRICK TOMBOLA

WEISSRUSSLAND DEUTSCHLAND

POLEN

Trybsz TSCHECHIEN

UKRAINE

SLOWAKEI

An einem Sonntagmorgen um 9.53 Uhr steigt Aleksander Dybiec aus seinem dunkelgrünen Mercedes Benz 230 auf eine Kuhwiese im südpolnischen Nirgendwo aus und probt den Krieg. Dybiec – ein sportlicher Mann mit dunklem, kurzem Haar, den nur sein Bartschatten 32 Jahre alt aussehen lässt – ist im normalen Leben Ehemann, frischgebackener Vater einer Tochter und Händler von Autoteilen. Doch zweimal im Monat wird er zum Kämpfer in Camouflage. Dybiec stapft durch das nasse Gras zum Kofferraum, räumt eine Wolldecke und einen Rucksack zur Seite und greift nach seiner Pistole und der AK47 mit braunem Holzschaft. Er wäre so weit. Hügelige Weiden ziehen sich bis zum Horizont, braunweiss gescheckte Kühe grasen vor altersschwachen ­Fichten. Polnische Landidylle. Auf der einzigen Strasse rollen im Minutentakt weitere Autos durch das 800-Seelen-­ Dorf Trybsz in Richtung Dybiec. Die Kameraden sind pünktlich. Dybiec, Anführer der Lekka Piechota Obrony ­Terytorialnej, der Leichtinfanterie-Landesverteidigungsgruppe, mag Pünktlichkeit. Der Krieg kann beginnen. Allerdings gibt es keine Front, keinen Gegner, kein Gefecht. Dafür neun Grad und Dauerregen. Der Rest des Landes kniet noch auf katholischen Kirchenbänken, frühstückt 14

bei heissem Tee oder dreht sich, verkatert vom Samstagabend, im Bett herum. Aleksander Dybiec und 14 weitere Männer dagegen stehen in kompletter Kampfmontur zwischen badewannengrossen Pfützen und aufgeweichten Kuhfladen. Die Männer aus Dybiecs Gruppe treffen sich zweimal im Monat, fast immer am Wochenende – so wie geschätzt 80 000 weitere Freizeitsoldaten in Polen. Und jeden ­Monat werden es mehr. «Wer Frieden will, muss auf den Krieg vorbereitet sein», sagt Dybiec. Dabei verfügt Polen natürlich über reguläre Streitkräfte, eine Berufsarmee mit 200 000 Soldaten. Marine, Heer, Luft, dazu Spe­zial­ einheiten und eine nationale Reservearmee von 40 000 Mann. Aus­serdem ist Polen Mitglied in der Nato. Doch Dybiec und seinen Kameraden reicht das nicht. Sie denken: Im Ernstfall könnte die polnische Armee kapitulieren oder den Rückzug antreten. Und zu oft in der Geschichte hätten Polens Verbündete das Land im Notfall alleingelassen. Die Freizeitsoldaten begrüssen einander per Fistbump und Handschlag. Ausserhalb des Trainings sind sie Freun­ ­de, treffen sich in der Kneipe, arbeiten zusammen. Doch während der Übungen werden aus Tierärzten, Anwälten Surprise 413/17


FĂźr Vaterland und Tochter: Aleksander Dybiec will den Ernstfall nicht allein dem Staat Ăźberlassen.

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Die Sorge um Polen treibt sie um: Arzt, Anwalt und Bäcker üben das Kämpfen.

oder Bäckern harte Kämpfer. Die Gruppe, gegründet über eine Anzeige auf Facebook, besteht seit gut anderthalb Jahren. Am Anfang waren sie zu siebt: junge Männer zwischen 25 und 35 Jahren, Dybiec kannte fast alle privat. Mund-zu-Mund-Propaganda, Facebook und die Sorge um Polen liessen die Gruppe wachsen. Bald kamen 15, dann 30 zu den Übungen. Inzwischen sind es 40. In sechs Monaten sollen sie kämpfen können Die Hobbysoldaten reihen sich von selbst auf, ganz ohne Befehle. Dybiec wird respektiert, da braucht es keine gebrüllten Kommandos. Eine kurze Ansage, und aus einem Haufen rauchender Freunde wird eine schnurgerade Linie aus 14 Uniformierten – in Kampfhelm und Sturmhaube, mit echten Kalaschnikows für die Männer mit Waffenschein und täuschend echten Airsoftguns für die anderen. An ihren Gürteln baumeln Messer, Munitionsmagazine und Taschen für die Handgranaten. Die Ausrüstung kaufen sie vom eigenen Geld, mal im Internet, mal in Militärshops. Niemand bekommt einen Sold. Treffen sie sich zu längeren Manövern, die bis zu 48 Stunden dauern können, nehmen sie Sonderurlaub. 16

Das Programm für heute: Auffinden und Festnehmen fremder Kämpfer «hinter den Linien», wie Dybiec es nennt. Taktik also. Schiessübungen, der Favorit fast aller Teilnehmer, gibt es erst wieder in zwei Wochen. Ein halbes Jahr lang brachte Dybiec seinen Männern die Grundlagen der Infanterie bei: das Bewegen zwischen den Linien, das Bergen von Verwundeten, Pflegen der Ausrüstung, Navigieren, Karten lesen, Funken. Seit gut einem Jahr lässt er auch anspruchsvollere Schiess- und Navigationsübungen trainieren. Denn in sechs Monaten sollen die Freiwilligen wie richtige Soldaten kämpfen können. Richtige Soldaten, wie Dybiec selbst einer war: erst in der polnischen Armee, dann in der nationalen Reserve. Doch im Gefecht war er nie. Zu seiner Armeezeit stellte Polen von Wehrpflicht auf eine reine Berufsarmee um. Keine Einsätze für Dybiec also. Er bereut das: «Ein Handwerker will nach der Ausbildung sein Können zeigen. Und ich wollte das auch.» Mit seiner Frau und der Neugeborenen ist er aus seiner Geburtsstadt Katowice, Polens versmogtem Zentrum der Kohleindustrie, der sauberen Luft wegen in die hochgelegene Stadt Nowy Targ gezogen. Sie wohnen im ­fünften Surprise 413/17


Stock einer Wohnblocksiedlung. Drei kleine Zimmer, Küche, Bad, Panoramablick auf die Berge. Die Kleinfamilie träumt von einem eigenen Haus. Kriege kennt man in der Nachbarschaft höchstens aus Geschichtsbüchern oder aus den Acht-Uhr-Nachrichten im Fernsehen.

Die Ausrüstung kaufen sie selbst. Manche erhalten auch Material von der regulären Armee.

Eindeutige Zeichen aus dem Osten Doch Dybiec ist ständig auf der Hut. Er sagt: «Wenn du eine grosse Armee hast, dann willst du sie auch irgendwann nutzen.» Und meint damit natürlich Putin. Er zählt auf: Kaukasuskrieg 2008, russische Truppen rückten in Georgien ein. Die Aufrüstung der russischen Streitkräfte. Putins Rhetorik. Die Annexion der Krim. Der Krieg im Osten der Ukraine. Die Verlegung russischer Atomraketen in die Enklave Kalinin­ grad, keine 80 Kilometer von der polnischen Grenze entfernt. Für Aleksander D ­ ybiec sind das eindeutige Zeichen. Viele andere sehen das genauso. Im ganzen Land treffen sich regelmässig Freizeitkämpfer und proben das Gefecht; mittlerweile existieren mehr als 120 verALEKSANDER DYBIEC, schiedene Gruppen. Sie üben das Schiessen mit Gewehr MILIZ-KOMMANDANT und Pistole, trainieren mit Nachtsichtgeräten oder Infrarot in Wäldern oder mit Blendgranaten den Häuserund Strassenkampf. Es ist fast eine Art Volkssport ge­ worden. Das Manöver ist jetzt in vollem Gang. Dybiecs Knie drückt zwischen die Schulterblätter von Radek, einem 39 Jahre alten Mann mit bulliger Statur, der im normalen Leben Waisenkinder betreut. Jetzt liegt Radek mit dem Gesicht im Matsch, die Hände sind auf den Rücken gedreht, sein Kampfhelm mit dem grünen Tarnschleier und sein schwarzes Airsoftgewehr liegen weit neben ihm. Aleksander Dybiec erteilt Anschauungsunterricht im Entwaffnen und Festsetzen: «Lasst ihn bis hundert zählen, so kommt er auf keine falschen Gedanken. Zieht ihm die Stiefel aus – so gross der Gefangene auch sein mag, ohne Schuhe kann niemand weit flüchten. Bindet die Hände mit Kabelbindern, aber achtet auf die Blutzufuhr», ruft Dybiec seinen Kameraden zu. Die nicken und reissen Scherze über Radeks Lage im Dreck. Mehr als zwei Stunden lang trainiert die Leichtinfanterie die Festnahmen, dazu Übungen im Nahkampf, das stumme Bewegen durch Gelände per Handsignal, das Sichern von Positionen. Die Männer stürmen den steilen Hügel hinauf, der Regen in ihren Gesichtern mischt sich mit Schweiss. Sie robben über Baumwurzeln und durch Pfützen, einige müssen tief ein- und ausatmen. Kein Zweifel: Die Männer meinen es ernst. Aber was könnten sie so in einem Krieg ausrich­ten, der wohl mit hochmodernen Waffen geführt würde?

«Wer Frieden will, muss auf den Krieg vorbereitet sein.» Leichtinfanterie-Landesverteidigungsgruppe heisst Dybiecs Einheit.

Wer keinen Waffenschein hat, übt mit dem Airsoftgewehr.

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Klassentreffen der Tapferen: Erinnerungsfoto fĂźrs Familienalbum.

Die Idylle nutzen, um sich auf den Ernstfall vorzubereiten.

Seit der Ukrainekrise hat sich die Zahl der Freitzeitsoldaten mehr als verdreifacht.

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den ruhigen, bedächtigen Mann Ende vierzig sind die polnischen Paramilitärs alles andere als schiesswütige Hinterwäldler. Im Übrigen sei Landesverteidigung keineswegs deren einzige Aufgabe: «Wir helfen auch in Katastrophenfällen, bei Erdrutschen oder Überschwemmungen, und sichern strategische Punkte wie Kraftwerke.» Und ja, die Zahl der Mitglieder habe sich seit der Ukrainekrise mehr als verdreifacht. «Die Sehnsucht nach Sicherheit ist in Polen drastisch gestiegen. Aber deshalb haben wir keine Paranoia, die Sorge ist nachvollziehbar.» Für Makowiec ist klar: Ein möglicher Krieg zwischen West und Ost würde konventionell geführt, also mit Panzern, Raketen und Soldatengefechten. Nur in diesem Szenario können seine Paramilitärs überhaupt eine Rolle spielen. Kommt es zum Krieg, «müssen wir in den Guerillamodus schalten». Und zwar mit gut geschulten Männern, «die im Leben stehen», wie er es formuliert. Makowiecs Verein wählt aus. Mindestalter 18, besser noch 25 Jahre, dann seien die Männer «mental stabiler». Keinesfalls wolle man Extremisten in den eigenen Reihen – egal, ob rechts oder links. Makowiec zählt auf die traditionelle patriotische Erziehung in Polen: Familie, Kirche, Heimat. Sie allein sorge für Nachwuchs. Dass viele Paramilitärs ihre Ausrüstung und Uniformen auch von der regulären Armee erhalten, erwähnt er nicht. Ebenso wenig, dass einige Gruppen rechtsnationalen Parteien nahestehen. Entwaffnen und festsetzen: Den Umgang mit Gefangenen trainieren die Kämpfer im Rollenspiel.

­ ybiecs Leute setzen auf Guerillataktik, zusammen mit D anderen paramilitärischen Gruppen im ganzen Land. Familie, Kirche und Heimat sorgen für Nachwuchs Koordiniert wird die Strategie der Freizeitsoldaten von Dachvereinen, grösseren Netzwerken und Thinktanks. Einer von ihnen ist die Obrona Narodowa, polnisch für «Nationale Verteidigung». Der Verein vertritt sechs Einheiten mit insgesamt über 800 Mitgliedern. Der Hauptsitz liegt in Warschau, Vizepräsident Pawel Makowiec empfängt in einem italienischen Restaurant in einer Shoppingmall am Rande der Stadt. Er bestellt Espresso; es bleibt unklar, ob der Verein kein eigenes Büro hat oder ob Makowiec es vorzieht, in anonymer Umgebung interviewt zu werden. Er vermutet, dass sich russische Agenten in Polen auch für die Paramilitärs interessieren. Makowiec trägt ein kariertes Hemd und sieht mit seinen grauen ­Haaren und der schmalen Brille aus wie der Geschichtsund Erdkundelehrer, der er im Alltag ist. Allerdings ist Makowiec auch Autor des «Taktikhandbuchs für den Häuserkampf» und Lobbyist der «Nationalen Verteidigung». Und natürlich betätigt auch er sich als Freizeitsoldat. Für Surprise 413/17

Hobby-Kämpfer beim NATO-Manöver Schon bevor 2015 die nationalistische PiS-Partei in Polen an die Regierung kam, gab es offiziellen Rückenwind für die Bürgerwehren. Der frühere Verteidigungsminister Tomasz Siemoniak etwa ermunterte seine Landsleute dazu, sich freiwillig militärisch ausbilden zu lassen – «um das Vaterland gegen Russland zu verteidigen», wie er damals gegenüber Medien sagte. Der Patriotismus zeigt sich im ganzen Land. Überall sieht man Anker, aus deren Spitze sich ein «P» formt: auf Jacken, Mützen, Tassen, Postern, Aufklebern, selbst auf Unterwäsche prangt diese Abkürzung, die für Polska Walczaça steht, «Kämpfendes Polen». Ursprünglich war dieser Anker das Symbol des polnischen Widerstands gegen die deutsche Besatzung, heute ist vor allem Russland gemeint. Die Regierung will, ähnlich wie bereits ihre Vorgänger, die zivilen Freizeitkämpfer in die regulären Streitkräfte integrieren und sie dem Verteidigungsministerium unterstellen. Selbst an den alljährlichen Manövern der NATO in Polen nahmen paramilitärische Einheiten teil. «Abwarten», meint Aleksander Dybiec dazu nur. Das Interesse der Regierung mache ihn zwar stolz. Gleichzeitig ist ihm die staatliche Vereinnahmung der Freizeitsoldaten nicht ganz geheuer: «Alle in meiner Gruppe mussten zustimmen, dass es ihnen nicht um Politik geht.» Schliesslich kämpfe man nicht für eine Partei, sondern «für unsere Heimat». Zwei Stunden dauert der Krieg an diesem Sonntag für Dybiec und seine Kameraden von der Lekka Piechota ­Obrony Terytorialnej, dann zerstreut sich die Gruppe wieder binnen weniger Minuten. Immerhin warten zuhause die Familien mit dem Mittagessen. 19


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Ankommen im Glarnerland Integration Vor zwei Jahren kam die 21-jährige Selav Arab in die Schweiz. Ausgerechnet im

konservativen Kanton Glarus hat sie die Chance bekommen, die sich viele wünschen. TEXT  SIMON JÄGGI FOTOS  MIRIAM KÜNZLI

Die Morgendämmerung schiebt sich langsam über die Alpengipfel, als Selav Arab ins Freie tritt. Die dunklen Haare zu einem Pferdeschwanz gebunden, in eng geschnittenen Jeans und himbeerroten Turnschuhen geht sie zielstrebig durch die beleuchtete Strasse in Richtung Bahnhof. In der Bäckerei, die am Weg liegt, schaltet gerade jemand das Licht an, die Turmuhr zeigt kurz nach sechs. Von einer Hausfassade hängt eine grosse Schweizer Fahne still in der kühlen Morgenluft von Schwanden, einem Dorf mit knapp 3000 Einwohnern im Glarner Hinterland. Selav Arab ist nicht von hier. In Syrien geboren, flüchtete sie mit ihrer Familie aus Damaskus erst in den Irak, dann weiter in die Türkei, und kam vor zwei Jahren in die Schweiz. Empfangszentrum Kreuzlingen, dann Transfer ins Glarnerland. Seither lebt sie hier in den Schweizer Bergen, die sie zuvor nur aus indischen Filmen kannte. ­Gemeinsam mit ihrer Mutter, den vier Geschwistern und dem Vater, der bereits einige Jahre zuvor in die Schweiz gekommen war. Selav Arabs Ziel an diesem Morgen ist der Dorfladen von Näfels, wo sie vor einem Jahr ein Praktikum und vor wenigen Wochen eine Lehre als Verkäuferin begonnen hat. Während der Zugfahrt erzählt sie von ihren ausgefüllten Wochen: An Arbeitstagen steht sie morgens um fünf Uhr auf und kommt abends gegen acht Uhr nach Hause. Am Dienstagabend besucht sie einen Deutschkurs, am Mittwoch hat sie Schule, lernt Mathematik, Englisch, Buchhaltung, Staatskunde. Das alles erzählt Arab mit einem Lächeln und in fast fliessendem Deutsch. Die Sprache falle ihr leicht, sagt sie, aber noch lieber würde sie Schweizerdeutsch sprechen. «Morn hani frii», sagt sie, klinge doch viel schöner als «Morgen habe ich frei». Als Selav Arab in Näfels aus dem Zug steigt, ist es Tag geworden im Glarnerland. Unterwegs zum Geschäft nickt ihr eine Passantin freundlich zu. Hundert Meter weiter klopft sie an das Fenster einer Schreinerei, hinter der Glasscheibe winkt ein älterer Surprise 413/17

Mann zurück. «Das ist Peter, ich muss ihm jeden Morgen Hallo sagen», sagt sie und lacht. Der Dorfladen ist bereits hell erleuchtet, eine Mitarbeiterin ist dabei, die Gemüseregale abzudecken. «Guten Morgen, Vreni», grüsst Selav Arab, dann verschwindet sie in der Garderobe. Zwei Minuten später steht sie vor dem Kühlregal, auf dem T-Shirt das Logo des Geschäfts, und kontrolliert die Ablaufdaten der Milchprodukte. Die zweite Lehrtochter kommt aus dem Lagerraum, bringt in Harassen weitere

«Es dauerte zwei Wochen, bis ich mich traute, zum ersten Mal mit einer Kundin zu sprechen.» SEL AV AR AB

­ ebensmittel mit. Joghurt, Milch, Käse. L Schweigend und konzentriert räumen die beiden jungen Frauen die Regale ein. «Mir gefällt diese Ruhe am Morgen», sagt Arab. Dann kommen die ersten Kunden grüssend durch die Tür. Handwerker auf dem Weg zur Baustelle kaufen ihr Frühstück, eine ältere Frau macht den Wocheneinkauf. Näfels erwacht. Kurz nach neun betritt Geschäftsführer Bruno Weber den Laden. Ein grossgewachsener Mann mit kurz geschnittenen Haaren, verspiegelter Brille und grauem Po­ lohemd. Freundlich begrüsst er seine Mit­ar­beiterinnen und macht einen Rundgang, bevor er für die Bestellungen in seinem Büro verschwindet. Aufgewachsen im

Zürcher Oberland, übernahm Weber vor sechs Jahren die Leitung des Näfelser Dorf­ ladens und siedelte in den Kanton Glarus über. Weber bezeichnet sich selbst als stolzen Patrioten. «Politisch bin ich klar rechts zuhause», sagt er. Dass er einer jungen Frau aus Syrien eine Arbeitsstelle verschafft, steht für ihn in keinem Widerspruch dazu. Anfang 2016 erhielt Bruno Weber Post vom Kanton. Absender: Koordinationsstelle Integration Flüchtlinge. Betreff: Kantonales Berufseinführungsprogramm. Der Kanton suchte nach Betrieben, in denen junge Geflüchtete ein einjähriges Praktikum absolvieren könnten, mit Aussicht auf eine anschliessende Berufslehre. Das erste Schreiben landete ungelesen im Papierkorb. Er habe es übersehen, sagt Weber. Als der Kanton ein paar Monate später nochmals nachhakte, wurde er hellhörig. Im Angebot des Kantons erkannte er seine eigenen Vorstellungen wieder, wie das Zusammenleben mit Geflüchteten gelingen kann. «Ich erwarte von Menschen mit Mi­ grationshintergrund, dass sie sich unseren Verhältnissen anpassen. Ich erwarte aber auch von uns, dass wir den Menschen die Möglichkeit geben, an unserem Leben teilzunehmen.» Weber bekundete der Behörde gegenüber sein Interesse, drei Wochen später bekam er die ersten Bewerbungsdossiers zugeschickt, darunter jenes von Selav Arab. Er lud die junge Frau zum Vorstellungsgespräch ein, bereits nach einer Viertelstunde war für ihn klar: Das passt. «Wir hatten den Eindruck, dass sie motiviert ist und Interesse an der Arbeit mitbringt. Ich wollte ihr eine Chance geben.» Webers einzige Sorge: Wie würden die Kunden reagieren? Im Juli vor einem Jahr erschien Selav Arab zum ersten Arbeitstag ihres Praktikums, sie war damals gerade einmal neun Monate in der Schweiz. Für die junge Frau war es die erste Arbeitsstelle ihres Lebens, ihr Deutsch noch unsicher, die Nervosität gross. Auf einer Schiefertafel vor dem Laden stand: «Wir begrüssen unsere neue 21


Praktikantin!» Die erste Zeit verbrachte Arab fast ausschliesslich im Lagerraum: «Ich war den ganzen Tag im Keller. Es dauerte zwei Wochen, bis ich mich traute, zum ersten Mal mit einer Kundin zu sprechen.» Selav Arab war im Sommer 2016 eine von zwölf Asylsuchenden, die im Kanton Glarus im Rahmen des kantonalen Berufseinführungsprogramms ein Praktikum ­begannen. Ausgereift war die Idee zum Programm in der Hauptabteilung Soziales unter der Regie von Leiter Andreas Zehnder. «Wir hatten gesehen, dass es viele junge Menschen mit Bleiberecht gibt, die man integrieren muss. Dafür wollten wir etwas tun.» Der Kanton Glarus ist bürgerlich geprägt, im Regierungsrat sitzt kein linker Politiker, auch den Landrat dominieren die bürgerlichen Parteien. Zehnder sah darin kein Hindernis: «Das Programm kann verhindern, dass die Leute zur Sozialhilfe müssen, und ermöglicht im besten Fall ein selbständiges Leben. Dafür findet sich auch in einem bürgerlichen Kanton eine Mehrheit. Da denkt man im Kanton Glarus pragmatisch.» Es mag geholfen haben, dass das Programm den Kanton finanziell kaum belastet. Den grössten Teil der Kosten tragen die Arbeitgeber. Sie bezahlen den Praktikanten einen Monats-

lohn von mindestens 400 Franken und beteiligen sich zusätzlich mit 300 Franken monatlich am Schulunterricht, den die Prak­ti­kanten einen halben Tag pro Woche besuchen. «Es brauchte einiges Klin­ken­ putzen», sagt Zehnder. Die Kantons­mit­ arbeiter stellten das Programm beim Gewerbeverband vor, schrieben zahlreiche E-Mails, fragten manche Arbeitgeber persönlich an. Bis schliesslich ausreichend Betriebe zusammen waren. Im Dorfladen in Näfels ist es inzwischen kurz nach zehn Uhr. Die Mitarbeiter­ innen stellen im Hinterraum einen kleinen Tisch neben den Warenlift und versammeln sich zur Znüni-Pause. Vreni, Moni und Selav. Die Frauen sprechen über eine Nachbarin, über das vergangene Wochenende, machen Witze. Als eine Kundin den Laden betritt, ist Selav Arab die Erste, die aufsteht und zur Kasse geht. Von ihrer anfänglichen Scheu ist ihr kaum noch e­ twas anzumerken, und auch die anfänglichen Befürchtungen von Geschäftsleiter Bruno Weber haben sich nicht bestätigt. Er sagt, dass die Kunden über alle politischen Lager hinweg die neue Mitarbeiterin schätzten. Bis auf eine ältere Frau, die von Anfang an dagegen gewesen sei, dass Arab hier arbeitet. Auch damit geht Weber pragma-

Berufsintegration fördern Der Bundesrat hat Ende 2015 ein vierjähriges Pilotprogramm beschlossen, das die Erwerbsintegration von anerkannten Flüchtlingen und vorläufig aufgenommenen Personen nachhaltig verbessern soll. Das Pilotprogramm sieht insbesondere eine «Inte­grationsvorlehre» vor: eine einjährige, praxisorientierte Ausbildung, die auf eine berufliche Grundbildung und den Arbeitsmarkt vorbereitet. Der Bund gibt dafür während vier Jahren 54 Millionen Franken aus und will so das Potenzial der teilnehmenden Geflüchteten besser ausschöpfen und ihre Abhängigkeit von der Sozialhilfe senken. Die Integrationsvorlehre soll, gemäss dem Staatssekretariat für Migration, den Teilneh­menden die notwendigen grundlegenden Kompetenzen im Hinblick auf eine mögliche Berufslehre vermitteln und auf das Schuljahr 2018/19 starten. Der Bund möchte in der ganzen Schweiz rund 800 bis 1000 Personen pro Jahr in eine solche Integrationsvorlehre schicken. Geplant ist, dass die Vorlehrlinge eine Ent­schädigung von 200 bis maximal 360 Franken pro Monat erhalten. Die Verantwortung für die Durchführung der einzelnen Programme liegt bei den Kantonen. Der Bund unterstützt jeden Ausbildungsplatz pauschal mit 13000 Franken pro Jahr.

Keine Scheu mehr: Selav Arab fühlt sich wohl im Näfelser Dorfladen.

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Als «klassische Win-win-Situation» sieht Geschäfts­ führer Bruno Weber das Verhältnis zu seiner Lehrtochter.

tisch um: «Wenn diese Dame zum ­Einkauf kommt, schauen wir einfach, dass jemand anders an der Kasse steht.» Damals in Syrien, bevor der Krieg ausbrach, hatte Selav Arab noch ganz andere Vorstellungen von ihrer Zukunft. Ihr Vater verdiente sein Geld als Taxifahrer, ihre Mutter kümmerte sich um die Familie, und Arab träumte von einer Zukunft als Französischlehrerin. Dennoch sagt sie: «Für mich ist es gut hier. Mir gefällt die Arbeit, das Gespräch mit den Kunden, und dass ich mein Deutsch verbessern kann.» Arbeit und Schule füllen einen grossen Teil von Arabs Leben aus. Hat sie freie Zeit, trifft sie sich mit einer jungen Frau aus Syrien, die gleich alt ist wie sie und seit Kurzem ebenfalls im Kanton Glarus lebt. Oder sie streift mit ihrem Bruder auf der Suche nach ­Pokémons durch das Glarnerland. Und oft zieht es sie nach Zürich, Basel oder nach Bern, wo eine Tante von ihr lebt, bei der sie kürzlich während ihrer Ferien eine ganze Woche verbrachte. Das Pilotprojekt Berufseinführungsprogramm ist seit diesem Sommer ab­ geschlossen. Andreas Zehnder, der Leiter des Sozialamtes, ist zufrieden mit dem Surprise 413/17

­ rreichten: Er habe von allen Betrieben E posi­tive Rückmeldungen erhalten, von den zwölf Teilnehmenden hätten sechs eine Anschlusslösung gefunden, sagt Zehnder. Etwa in Form eines weiteren Praktikums oder einer Schnupperlehre. Für eine anschliessende Berufslehre hat es jedoch nur bei Selav Arab gereicht. «Wir hatten etwas unterschätzt, wie gross die Bildungsrückstände bei manchen der Teilnehmenden sind.» Seit dem Sommer läuft im Kanton Glarus die zweite Phase des Programms, der Unterrichtsanteil ist nun doppelt so gross wie im ersten Jahr. Ab 2018 hofft der Kanton zudem auf Unterstützung des Bundes. Dieser startet ab dem kommenden Jahr mit dem Projekt Integrationsvorlehre (siehe Box) und fordert damit die Kantone auf, einjährige Berufsausbildungen für anerkannte Flüchtlinge anzubieten. Dies mit dem Ziel, dass diese einen besseren Zugang zum Arbeitsmarkt erhalten. Insgesamt 54 Millionen Franken will der Bund in den nächsten vier Jahren dafür zur Verfügung stellen. Ein Teil davon könnte auch ins Glarnerland fliessen. Als das Praktikum von Selav Arab im vergangenen Frühling seinem Ende entge­

genging, war es für Geschäftsführer Bruno Weber keine Frage: Wenn sie hier eine Lehre absolvieren will, dann noch so gerne. Arab wollte und begann direkt im Anschluss an das Praktikum die dreijährige Ausbildung zur Detailhandels-Fachangestellten. Sein Bauchgefühl aus dem Bewerbungsgespräch habe sich bestätigt, sagt Weber. Die Zusammenarbeit funktioniere ausgezeichnet. Es sei eine «klassische Win-win-Situation, wie man heute so schön sagt». Denn es sei auch für ihn nicht immer einfach, gute Lernende zu finden. «Dass Selav heute bei uns die Lehre macht und so gut Deutsch spricht, verdankt sie weder mir noch dem Programm des Kantons. Sondern alleine ihrem grossen Willen», lobt Weber. Es ist bereits am Eindunkeln, als Selav Arabs Arbeitstag zu Ende geht. Sie schliesst den Laden, versorgt die Kasse und macht sich gemeinsam mit Vreni auf den Weg Richtung Bahnhof. Ihr neues Leben geht sie in kleinen Schritten an: Schweizerdeutsch lernen, in der Schule mithalten, die Lehre abschliessen. Und sie freut sich auf das kommende Wochenende. «Dann kann ich endlich wieder richtig ausschlafen.» 23


Musiker und Bauingenieur Kamran Mohammadi fordert die Teilnehmenden: Mal spielt er auf der Oud, mal erklärt er das System der Vierteltöne, dann lädt er ein zum Tanz.

Von Langhalslauten und indischen Revolutionären Bildung Vom Ackerbau bis zur Musiktheorie: Die «Abendschule Import» macht

es sich zunutze, dass Geflüchtete über spezifisches Fachwissen verfügen. TEXT  EVA HEDIGER FOTOS  MILAD AHMADVAND

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Kamran Mohammadi zeichnet Saiten auf die schwarze Tafel. Mit ­Autonomen Schule Zürich – die bereits als etabliertes, selbstor­ Strichen markiert er die Vierteltöne, die es nur in der orientali­ ganisiertes migrantisches Bildungsprojekt bekannt ist. Es ist den schen Musik gibt. Seine Klasse macht sich Notizen. Mehrere Per­ Organisatoren wichtig, dass die Lehrpersonen der Abendschule sonen unterschiedlichen Alters haben sich für den Kurs «Theorie wechseln: «Wir wollen keine Vetterli-Wirtschaft betreiben», so und Praxis orientalischer Musik» der Abendschule Import in Andreas Liebmann. Jeder und jede Interessierte müsse sich offi­ Zürich eingeschrieben. «Die Musik ist euch fast unbekannt», so ziell bewerben. «Macht jemand diesen Aufwand, so ist es ihm auch ernst.» Danach finden ein Coaching sowie eine Hauptprobe der Kurde zu den Anwesenden. Und die Theorie sei kompliziert. statt. «Wir wollen einen interessanten Unterricht bieten. Die Leute «Es gibt etliche Ausnahmen – so wie in der deutschen Gramma­ tik.» Alle lachen. Immer wieder greift Mohammadi zu seiner Saz, kommen zu uns, weil sie etwas Neues erfahren möchten – und einer Langhalslaute, und spielt. Der studierte Musiker und Instru­ nicht aus Mitleid mit den Geflüchteten.» mentenbauer sagt, der Abend habe eher eine «symbolische Kraft». Thematisch ist die Abendschule Import offen. Es gibt Sprach­ Schliesslich könne er sein Wissen nicht in eineinhalb Stunden kurse, aber auch geisteswissenschaftliche, technische, wirt­ vermitteln. schaftliche sowie kulturelle Themen. Sie reichen von Gandhi Dass man an einem einzelnen Abend nicht viele Lernfort­ und den indischen Revolutionär Bhagat Singh über Flugzeug­ schritte erzielt, weiss auch Andreas Liebmann: «Ich müsste sicher montage und Ackerbau bis hin zur Literatur. «Die Themen gehen ein halbes Jahr üben, um ein neues Instrument spielen zu kön­ uns alle an, und die Experten kommen von überall», sagt Lieb­ nen.» Der Zürcher Theatermacher ist Mitgründer der Abendschule mann. Noch werde das Wissen der Geflüchteten in der Schweiz Import. Die Idee: Geflüchtete vermitteln ihr Wissen an Interes­ viel zu wenig geschätzt. «Oder es wird überhaupt nicht wahr­ sierte. Das Projekt ist seinem Namen zum Trotz nicht mit einer genommen», sagt der Organisator. Dabei könnten alle vom Schule zu vergleichen – sondern eher mit ei­ Know-how dieser Menschen profitieren. Liebmann nem Theaterstück, einer Performance. «Man selbst hat zwar eine musikalische Ausbildung ab­ erlebt während knapp 90 Minuten etwas und solviert und spielt Cello. Doch beim Unterricht von geht dann mit neuen Erlebnissen und Ein­ ­Mohammadi habe er ein völlig anderes Musiksystem drücken nach Hause. Diese haben mit dem kennengelernt, sagt er. Lernstoff zu tun, aber auch mit den Personen Der studierte Bauingenieur und Musiker Kamran und Kulturen, die man kennengelernt hat. Mohammadi ist 2014 aus dem iranischen Kurdistan Das ist die Essenz der Abendschule Import.» in die Schweiz geflüchtet (siehe «Der Saz-Sozialist» Nach dem Kurs bleiben die Teilnehmerinnen, aus Surprise Nr. 403). Bereits als Kind sang er, und trinken Tee, essen Gebäck, führen Gespräche sein Bruder Fazel unterrichtete ihn in den Saitenin­ und lernen sich kennen. Es geht nicht nur um strumenten Divan Sazı und Oud. Später studierte Wissensaustausch. Mohammadi Musiktheorie und Bauingenieurwesen. Letztes Jahr noch war die Abendschule Seit vergangenem Jahr ist er nun Dozent an der Import Teil des Rahmenprogramms der Per­ Abendschule Import. Er kann sich vorstellen, im formance «Exodus». Für die Recherchen zum nächsten Quartal über das Bauwesen zu reden. 2018 Stück war Andreas Liebmann mit der Perfor­ möchte der 33-Jährige ein Bachelor-Studium be­ mancekünstlerin Cecilie Ullerup Schmidt ginnen – sein Master wird in der Schweiz nicht an­ nach Sizilien in ein Auffanglager gefahren. ANDREAS LIEBMANN erkannt. «Das war noch vor der grossen Flüchtlings­ Der Unterricht ist fast zu Ende. Mohammadi fal­ welle», sagt Liebmann. Das Künstlerduo hat tet die Hände ineinander, räuspert sich und singt. sich eingehend mit dem Bild auseinander­ Nach der letzten Strophe applaudieren die Teilneh­ gesetzt, welches die Medien von den Geflüchteten zeichnen. «In menden. Eine fragt: «Worum geht es in diesem Lied?» «Es er­ zählt eine Liebesgeschichte.» Der Lehrer denkt einen Moment den Zeitungen standen meist nur Opfergeschichten, welche die gewaltsamen Erlebnisse dieser Menschen beschrieben», sagt nach und fügt an: Wie die meisten anderen kurdischen Lieder Liebmann und kritisiert weiter: «So, als müssten wir die Geflüch­ sei auch dieses ein trauriges. «Es geht um Trennung. Viele Musik­ teten nur bemitleiden, aber nicht ernst nehmen. Für viele Schwei­ stücke behandeln solche Themen. Das hängt auch mit unserer zer sind diese Menschen einfach nur Flüchtlinge. Das ist aber Geschichte zusammen. Wir wurden oft vertrieben. Aber ich eine Reduktion auf die Opferrolle.» möchte eigentlich nicht politisch werden.» Stattdessen bittet er Die Abendschule Import will diesen Blick ändern. In den Kur­ die Anwesenden, die Stühle wegzuräumen. Alle nehmen sich an sen sollen die Geflüchteten ausschliesslich als Profis wahrgenom­ den Händen. M ­ ohammadi macht eine einfache Schrittfolge vor. men werden – indem sie Leute in ihren Fachgebieten unterrich­ Jetzt wird getanzt. ten. «Ein normales Dozenten-Studenten-Verhältnis also», so Abendschule Import, nächste Kurse vom 5. bis 7. Dezember jeweils um Liebmann. Diese Möglichkeit des Austauschs ist sonst selten.

«Die Themen gehen uns alle an, und die Experten kommen von überall»

Nächstes Jahr folgt das Bauingenieurwesen 2016 fanden die Kurse an wenigen Abenden in Folge statt. Jetzt haben sich die Organisatoren entschieden, das Angebot über das Jahr zu verteilen. So soll es sich noch besser etablieren. Liebmann und sein Team finden die Dozentinnen und Dozenten über ihre eigene Internetseite und die Sozialdienste, aber auch an der Surprise 413/17

19 Uhr, Fabriktheater, Rote Fabrik Zürich. Das neue Programm ist ab Mitte November online. www.abendschule-import.ch

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Strandurlaub in Palästina? Wohl kaum. Vielleicht aber ein wenig übers Wasser gehen. Ist ja so die Gegend dafür. Heute allerdings eher bekannt als Austragungsort eines scheinbar ewigen Konflikts, Schauplatz eher unchristlicher Szenen. In der Ausstellung «880 m ü. M.» spielen Meer und Wasser eine heimliche Hauptrolle. Alltägliche und existenzielle Fragen sind damit verknüpft, zu sehen in den Arbeiten von Jumana E. Abboud, Alaa Abu Asad, Inas Halabi, Suhair Jarayseh, Wafa Mari und Ruba ­Salameh. WIN

Basel Eutopia, Theater, 21. November, 20 Uhr, Kaserne Basel, Klybeck­strasse 1b, in englischer Sprache. www.kaserne-basel.ch

Treffen sich Europa-Unternehmer Jean Monnet, Einheitskanzler ­Helmut Kohl, sein französisches Pendant François Mitterrand sowie dessen Astro­ login Elizabeth Teissier und diskutieren über Europa: Wie können wir die Gründungsfehler der EU rückgängig machen? Wie können wir fehlerhafte Ziele herausfinden und beheben? Gibt es eine Zukunft für die EU? Was sagen die Sterne? Verkörpert werden die Diskutanten durch europäische Bürger, es moderiert der griechische Künstler und Kurator Poka-Yio. WIN

Winterthur «Cupboard Love»: Der Schrank, die Dinge und wir, 3. Dezember 2017 bis 22. April 2018, Gewerbe­ museum Winterthur, Kirchplatz 14, Winterthur. www.gewerbemuseum.ch Die Ausstellung «Cupboard Love» zeigt die facettenreichen Eigenschaften eines verkannten Möbelstücks. Denn der Schrank dient nicht nur als Ort der Aufbewahrung. In Kunst, Film und Literatur wird er zum Versteck für Liebende oder

dient als Übergang in andere Welten. Die Ausstellung betrachtet das sperrige Möbel genauer und zeigt ausgewählte Stücke – Designklassiker wie Raum­skulptur – sowie Kunstwerke, Filme und Geschichten rund um den Schrank. GG

Bern «Das Museum neu erfunden», Di bis So, 10 bis 17 Uhr, Museum für Kommunikation, Helvetiastrasse 16, Bern. www.mfk.ch

Kommunikation ist in den letzten Jahrzehnten komplizierter geworden. Das Museum für Kommunikation hat deshalb seine Kernausstellung erneuert und geht den nötigen Grundsatzfragen nach: Warum kommuni­zieren wir überhaupt? Und mit wem? Was braucht es, damit wir uns verstehen? Es sind zahlreiche Erlebnisstationen aufgebaut: Im Filmkaraoke darf man berühmte Film­szenen nachspielen, im Fire­­wall-­­Game den Spielpartner hacken oder einer Datenkrake auf die Spur kommen. Grundsätzlich neu ist, dass Menschen aus Fleisch und Blut zur Ausstellung gehören, die die Besucher als Kommunikatorinnen und Kommunikatoren begleiten. DIF

Niederwangen «Dave the Chimp – Sh!t Is Getting Real», bis 16. Februar 2018, Mo bis Fr, 7.30 bis 12 Uhr und 13.30 bis 17.45 Uhr, Sa, 7.30 bis 12 Uhr, zone contemporaine, Freiburgstrasse 580, Niederwangen bei Bern. www.zonecontemporaine.ch Bekannt ist Dave the Chimp für seine menschenähnlichen Bohnen, die mit viel Ironie unterwegs sind und oft auch eine politische oder gesellschaftskritische Note haben. Die Bohnen waren schon überall, auf der Strasse, im Museum, Seite an Seite mit Künstlern wie Bansky oder Space Invader. Dave the Chimp ist aber nicht nur Künstler, sondern auch Skateboarder. Der Kunst­raum «zone contemporaire» wird denn auch gleich zum künstlerischen Skaterpark. Halfpipes und Skulp­ turen – beide zusammenzubringen, ist gar nicht so abwegig. DIF

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FOTO (1): INAS HALABI, FOTO (2): PETROS KOLOTOUROS

Aarau «880 m ü. M. – Zeitgenössische Kunst aus Palästina», Ausstellung, noch bis 14. Januar 2018, jeweils Mi, Fr und Sa, 12 bis 17 Uhr; Do, 12 bis 20 Uhr; So, 11 bis 17 Uhr, Forum Schlossplatz, Schlossplatz 4, Aarau. www.forumschlossplatz.ch, www.treibsand.ch


ILLUSTRATION: SARAH WEISHAUPT

Wörter von Pörtner

Zuversicht Mit der Welt geht es bergab. Hunger, Kriege, Verbrechen, noch nie war es so schlimm wie heute, wo soll das alles hinführen? Das Problem an diesem allgemein akzeptierten Szenario ist, dass es nicht stimmt. Das Gegenteil ist der Fall. Die aufgezählten Geisseln der Menschheit gehen stetig zurück. Und trotzdem: Laut einer Umfrage in Grossbritannien empfinden die Menschen die Gefahr, gewaltsam ums Leben zu kommen, in der heuti­gen Zeit um 14 Prozent höher als im 14. Jahrhundert. Tatsächlich ist sie 95 Prozent tiefer. Stehen wir nicht gerade vor einem möglichen Atomkrieg? So beunruhigend die Gefahr ist, die vom Konflikt der USA mit Nordkorea ausgeht, so ist sie doch nicht zu vergleichen mit der Situation vor 30 Jahren, als in Europa mit atomaren Spreng­ köpfen versehene Kurzstreckenraketen aufgestellt wurden. Wer hätte damals gedacht, dass sich die UdSSR friedlich auflöst, Ostblockstaaten wie Polen, Tschechien, Ungarn und Rumänien sich ohne Blutvergiessen einer Europäischen Union anschlies­ sen würden? Soll das heissen, dass alles in Ordnung ist und dass man sich keine Gedanken mehr zu machen braucht? Natürlich nicht, es bleibt noch viel zu tun. Die Erkenntnis aber, dass sich die Le­ bensbedingungen vielerorts verbessert haben, sollte zuver­ sichtlich stimmen. Die Anstrengungen, das Los der Menschheit zu verbessern, wa­ ren nicht sinn- und wirkungslos. Vor allem die Staatenbildung hat viel zur Befriedung und Sicherheit beigetragen, das Gewalt­ Surprise 413/17

monopol des Staates, wenn auch oft missbraucht, ist in den ­allermeisten Fällen besser als das Faustrecht marodierender Banden. Die Kämpfe gegen Ausbeutung und Gewalt, für soziale Gerechtigkeit, für Renten und Bildung haben sich nachweisbar gelohnt. Das sollte einem Mut machen, sich zu engagieren, auch wenn die Fortschritte mitunter klein sind und die Rück­ schläge zahlreich. Die Richtung stimmt. Trotzdem punkten zurzeit jene, die Angst schüren, die behaup­ ten, wir lebten in der gewalttätigsten aller Zeiten, als seien die erzielten Fortschritte und Errungenschaften lächerlich, als stünde die Menschheit kurz vor dem Abgrund. Ob machthung­ rige Milliardäre oder religiöse Fanatiker, sie verklären die Vergan­ genheit, schwärmen von ehemaliger Grösse, lehnen bewährte Institutionen ab, suggerieren, dass wir unbeherrschbaren Kräf­ ten ausgesetzt sind. Dadurch wird ein Gefühl der Ohnmacht ­erzeugt. Einziger Ausweg scheint zu sein, unser Schicksal in ihre Hände zu legen. Seien es die eines starken Mannes oder eines Gottes. Interessant, dass sich genau diese Kräfte der Lösung dring­licher Probleme, wie zum Beispiel des Klimawandels, hartnäckig verweigern. Ohne in eine blauäugige Think-positive-Euphorie zu verfallen, lassen sich die handfesten Probleme, die es auf der Welt gibt, mit angemessener Zuversicht besser lösen. Ein entspannteres Dasein gibt’s umsonst obendrauf.

STEPHAN PÖRTNER Der Zürcher Autor Stephan Pörtner hält nichts von lauten Unkenrufen. Vielstimmiges Gequake ist ihm lieber.

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IND 0.– S AB 50 ABEI! SIE D

Die 25 positiven Firmen Unsere Vision ist eine solidarische und vielfältige Gesellschaft. Und wir suchen Mitstreiterinnen, um dies gemeinsam zu verwirklichen. Übernehmen Sie als Firma soziale Verantwortung. Unsere positiven Firmen haben dies bereits getan, indem sie Surprise mindestens 500 Franken gespendet haben. Mit diesem Betrag unterstützen Sie Menschen in prekären Lebenssituationen dabei auf ihrem Weg in die Eigenständigkeit. Die Spielregeln: 25 Firmen oder Institutionen werden in jeder Ausgabe des Surprise Strassenmagazins sowie auf unserer Webseite aufgelistet. Kommt ein neuer Spender hinzu, fällt jenes Unternehmen heraus, das am längsten dabei ist. 01

Coaching Zürich, Petra Wälti

02

Kaiser Software GmbH, Bern

03

Zehnder Arbeitssicherheit, Zürich

04

Klinik Sonnenhalde AG, Riehen

05

Thommen ASIC-Design, Zürich

06

bewegstatt.ch, Janine Holenstein, Frauenfeld

07

Naef Landschaftsarchitekten GMBH, Brugg

08

Yogazeitraum, Wädenswil

09

Echtzeit Verlag, Basel

10

Schweizerisches Tropeninstitut, Basel

11

Iten Immobilien AG, Zug

12

AnyWeb AG, Zürich

13

Stoll Immobilientreuhand AG, Winterthur

14

Madlen Blösch, GELD & SO, Basel

15

Praxis PD Dr. med. Uwe Ebeling, Bern

16

Proitera Betriebliche Sozialberatung, Basel

17

Gemeinnütziger Frauenverein Nidau, Nidau

18

VXL gestaltung und werbung ag, Binningen

19

Hervorragend AG, Bern

20

Lisa Stettler Körpertherapie, Bäch

21

Coop Genossenschaft, Basel

22

Velo-Oase, Erwin Bestgen, Baar

23

Maya-Recordings, Oberstammheim

24

Scherrer & Partner, Basel

25

Fischer + Partner Immobilien AG, Otelfingen

Möchten Sie bei den positiven Firmen aufgelistet werden? Mit einer Spende ab 500 Franken sind Sie dabei. Spendenkonto: PC 12-551455-3 IBAN CH11 0900 0000 1255 1455 3 Surprise, 4051 Basel Zahlungszweck: Positive Firma und Ihr gewünschter Namenseintrag Sie erhalten von uns eine Bestätigung. Kontakt: Nicole Huwyler Team Marketing, Fundraising & Kommunikation T +41 61 564 90 50 I marketing@surprise.ngo

SURPLUS – DAS NOTWENDIGE EXTRA Das Programm

Wie viele Surprise-Hefte müssten Sie verkaufen, um davon in Würde leben zu können? Hätten Sie die Kraft?

Wussten Sie, dass einige unserer Verkaufenden fast ausschliesslich vom Heftverkauf leben und keine Sozialleistungen vom Staat beziehen? Das fordert sehr viel Kraft, Selbstvertrauen sowie konstantes Engagement. Und es verdient besondere Förderung. Mit dem Begleitprogramm SurPlus bieten wir ausgewählten Verkaufenden zusätzliche Unterstützung. Sie sind mit Krankentaggeld und Ferien sozial abgesichert und erhalten ein Nahverkehrsabonnement. Bei Problemen im Alltag begleiten wir sie intensiv.

Eine von vielen Geschichten Roger Meier hat in seinem Berufsleben schon den Beton des AKW Mühleberg saniert und am Berner Münsterspitz Gerüste gebaut. Seit einem Unfall kann er nicht mehr voll arbeiten. Der 56-jährige Vater von vier Kindern erlitt nach dem Auseinanderbrechen der Familie einen Nervenzusammenbruch und musste die Fremdplatzierung der Kinder verkraften. Heute lebt er fast vollständig vom Surprise-Verkauf in der Berner Marktgasse. SurPlus ermöglicht Roger ab und zu Ferien vom anstrengenden Alltag. «Als Obdachloser war auch das ÖV-Abo elementar», sagt der Überlebenskünstler: «Wenn es zu kalt wurde, drehte ich zwei Runden im Tram und war wieder aufgewärmt.»

Die ganze Geschichte lesen Sie unter: surprise.ngo/surplus

Unterstützen Sie das SurPlus-Programm mit einer nachhaltigen Spende Derzeit unterstützt Surprise 14 Verkaufende des Strassenmagazins mit dem SurPlus-Programm. Ihre Geschichten stellen wir Ihnen hier abwechselnd vor. Mit einer Spende von 6000 Franken ermöglichen Sie einer Person, ein Jahr lang am SurPlusProgramm teilzunehmen.

Unterstützungsmöglichkeiten: · 1 Jahr: 6000 Franken · ½ Jahr: 3000 Franken · ¼ Jahr: 1500 Franken · 1 Monat: 500 Franken · oder mit einem Beitrag Ihrer Wahl.

Spendenkonto: PC 12-551455-3 IBAN CH11 0900 0000 1255 1455 3 | Vermerk: SurPlus Oder Einzahlungsschein bestellen: T +41 61 564 90 90 info@surprise.ngo | surprise.ngo/spenden Herzlichen Dank!


Wir alle sind Surprise Ausgabe 411

«Mehr Männer als Frauen» Sehr erfreut habe ich Ihre aktuelle Ausgabe zur Hand genommen, voller Wohlwollen und Neugier auf die Texte von Schülerinnen und Schülern. Während des Lesens ist mir aufgefallen, dass mehrere Texte nacheinander von jungen Männern geschrieben waren. Als ich mal durchgezählt habe, waren es 14 Texte von Männern und 5 Texte von Frauen. Das verstehe ich nicht. Nach welchen Kriterien wurden die Texte ausgesucht?

Antwort der Redaktion

Stadtrundgang

Wir haben bei der Auswahl auf die Erzählqualität, die Nachvollziehbarkeit sowie ein überraschendes Moment der Gedankengänge geachtet. Für die Zusammenstellung war uns die Themenvielfalt wichtig, und so haben wir von mehreren guten Texten etwa zum Thema Freiheit oder Erfolg nur jeweils einen gebracht. Wir haben in der Tat keine Mädchenquote durchgesetzt, sondern haben die Texte anonymisiert gelesen. Wir bedauern, wenn der Jungen- und Mädchen-Anteil der Texte im Schulheft als inhaltliche Aussage verstanden wird: Beabsichtigt ist dies nicht.

Stadtführer Hans Rhyner zeigte uns sein Zürich und erzählte offen und authentisch von seinem eigenen Werdegang, von Schicksalsschlägen und seinem langen Weg zu einem heute für ihn stimmigen Leben. Mit vielen Ein­drücken liessen wir den Abend im Restaurant ausklingen. Solche Erlebnisse bleiben in Erinnerung. Bestimmt wird nächstes Mal keine von uns tatenlos am Surprise-­Verkäufer vorbeigehen.

«Nicht mehr vorbeigehen»

S. SPYCHER UND DAS TEAM DER R. MÜLLER, Basel

SPIELGRUPPE FLOHSACK, Dottikon AG

Ausgabe 411

Ausgabe 410

«Farbig» Mit diesem Heft haben Sie ein farbiges Bild gestaltet!

«Eine Geschmack­losigkeit»

M. JECKELMANN HAYOZ, Bern

HANS-JOACHIM BENDER, Thun

Ich kaufe das Strassenmagazin regelmässig, das meist eine gute Mischung darstellt und immer wieder interessante Artikel enthält. Nun habe ich mich aber über den Artikel «Das letzte Gericht» total geärgert. Ich empfinde diesen Bericht als eine Zumutung und eine Geschmacklosigkeit. Haben Sie keine wichtigeren Themen als Henkersmahlzeiten? Das dann noch an die Debatte um die Todesstrafe dranzukleben – zusammen mit den «hübschen» Bildern –, ist der Hammer. Trotzdem werde ich den Strassenverkäufer in Hünibach nicht hängen lassen, weil die Redaktion des Magazins diesen Mist publiziert hat.

Impressum Herausgeber Surprise, Spalentorweg 20 CH-4051 Basel

Ständige Mitarbeit

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Rahel Nicole Eisenring, Carlo Knöpfel,

Regionalstelle Zürich Kanzleistrasse 107, 8004 Zürich T  +41 44 242 72 11 M+41 79 636 46 12 Regionalstelle Bern Scheibenstrasse 41, 3014 Bern T  +41 31 332 53 93 M+41 79 389 78 02 Soziale Stadtrundgänge Basel: T +41 61 564 90 40 rundgangbs@surprise.ngo Zürich: T +41 44 242 72 14 rundgangzh@surprise.ngo Anzeigenverkauf Stefan Hostettler, 1to1 Media T  +41 61 564 90 90 M+41 76 325 10 60 surprise@1to1media.ch Redaktion
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Rosmarie Anzenberger (Korrektorat), Marie Baumann, Florian Burkhardt, Yvonne Kunz, Khusraw Mostafanejad,

25 Ausgaben zum Preis von CHF 189.– (Europa: CHF 229.–) Verpackung und Versand bieten Strassen­verkäuferInnen ein zusätzliches Einkommen

Fatima Moumouni, Stephan Pörtner,

Gönner-Abo für CHF 260.–

Isabella Seemann, Sarah Weishaupt, Priska Wenger, Christopher Zimmer Mitarbeitende dieser Ausgabe Milad Ahmadvand, Nicole Gisler, Eva Hediger, Miriam Künzli, Patrick Tombola, Tjefa Wegener, Patrick Witte

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Wiedergabe von Artikeln und Bildern, auch auszugsweise, nur mit Geneh­ migung der Redaktion. Für unverlangte Zusendungen wird jede Haftung abgelehnt. Gestaltung und Bildredaktion Bodara GmbH, Büro für Gebrauchsgrafik

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FOTO: MARIO LANG

Internationales Verkäufer-Porträt

Selbstdiagnose: Unterordnung­s­ phobie Ich wurde 1964 geboren. Meine Eltern stammten aus dem Waldviertel, zogen aber dann nach Salzburg, wo mein Vater, der beim Bundesheer arbeitete, eingesetzt war. Über die Qualität der familiären Verhältnisse möchte ich mich nicht äussern, ich bitte um Verständnis. Es gibt wohl kaum einen, der eine längere Liste von verschiedenen Jobs vorweisen kann als ich. Es werden so um die 30 Arbeitgeber gewesen sein. Das hängt mit meiner frühen Umwandlung zusammen: vom Ge­ sellschaftstrinker zum Pegeltrinker. Ich hab keinen Chef ausgehalten, und kein Chef hat mich ausgehalten, und auch wenn ich nichts getrunken hätte, so wäre ich doch aus vielen Anstellungen geflüchtet. Ich besitze nämlich die Eigenschaft, mich nicht unterordnen zu können. Am längsten habe ich es in meinem «intel­ lek­tuellsten» Beruf ausgehalten: in der Universitäts­ bibliothek. Am schlechtesten ist es mir im Finanzamt Salzburg Stadt gegangen. Hier bin ich von den Kun­ den nur beschimpft worden – als sei ich dafür verant­ wortlich gewesen, dass sie Steuern nachzahlen ­mussten. Seit meinem 18. Lebensjahr nehme ich Antidepres­ siva. Wenn du einen Titel für meine Lebenserzählung brauchst, kann ich dir «Multiples Suchtphänomen» anbieten. So hat mich ein Gesprächstherapeut einge­ ordnet. Neben der Alkoholsucht, die auch nach ­mehreren Entziehungskuren noch besteht, bin ich spielautomaten- und tablettensüchtig. Ich glaube, ich bin nach Wien gegangen, als ich 22 war. Meine Süchte verhinderten eine Stabilisierung. Ich habe die Ehre, einem «lebenslangen Gruftverbot» ausgesetzt zu sein – die Gruft ist das Caritas-Notlager im 6. Bezirk. Andere Notquartiere akzeptierten meine Promille, aber ich konnte ihre «Hausnotstandsge­ setze» nicht akzeptieren: Um 8 Uhr morgens musst du draussen sein, bis 18 Uhr darfst du nicht wieder hin­ ein, dann darfst du, aber nur bis 22 Uhr, dann schliesst die Tür für die Nacht. Heute schlafe ich in einem Ob­ dachlosenquartier des Arbeiter-Samariter-Bundes. Hier sind die Gesetze weniger rigoros, aber ich glaube, dass sie es auch dort nicht mögen, wenn ich jeman­ den ins Zimmer mitbringe. Ich zähle mich zu den Urgesteinen des Augustin. Ja, ich identifiziere mich mit dieser Zeitung, erstens ­inhaltlich und zweitens, weil sie mir geholfen hat, aus 30

Gernot Holzinger, 53, ist Verkäufer der Strassenzeitung Augustin in Wien. Von einem Therapeuten mit «Multiplem Suchtphänomen» diagnostiziert (Alkohol, Tabletten und Glücksspiel), hat er für sich selbst ein Casinoverbot erwirkt.

meinen Depressionen herauszukommen. Ich habe auch schon geschrieben für den Augustin. Momentan habe ich eine Schreibblockade, die ich überwinden muss. Die Glückspielerei hab ich nun im Griff. Ich habe selbst veranlasst, dass ich registriert werde in der Liste der Menschen, die Casinoverbot haben. Ich habe keine Spielschulden mehr, nur noch Schulden bei den Wiener Linien, fürs Schwarzfahren. Eine ­unglaubliche Summe. Ich nehme an den politischen Aktionen des Augustin teil, zum Beispiel für die ­Gratisbenützung des ÖV. Und, wie unsere Redaktoren und Redaktorinnen, fürchte ich mich vor einem weite­ren Rechtsrutsch. Bitte erklärt mir, warum aus­ gerechnet die Menschen, die so arm dran sind wie ich, dazu ­beitragen, dass die Faschisten immer stärker werden!

Freundlicherweise zur Verfügung gestellt von AUGUSTIN/INSP.NGO

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