Natur als Akteur*in – IXYPSILONZETT 01/2022

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ixypsilonzett Theater für junges Publikum Magazin eins 2022

überblick. Jenseits des Menschen praxis. Performen oder Permaformen international. Natur als Metapher rezension. Apfel, Farn, Fluss & Wald drama. Natur spricht

Natur als Akteur*in ASSITEJ


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inhalt

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editorial

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Jenseits des Menschen Tobias Rausch

wissenschaft 10

Natur als Metapher und die Performance der Natur ‚als sie selbst‘ Yoona Kang

international

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Kollaboration mit dem Nicht-Menschlichen Rósa Ómarsdóttir

drama

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Natur spricht Miniatur von Daniel Bernhard Cremer

praxis 22

Performen oder Permaformen? Julia Dina Heße

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Unkraut, bitte! Torsten Thiele

Junges Theater, Augsburg Ufo oder Pfannkuchen? Unsere Pilea schlüpft spielerisch in alle Rollen – eine echte Theaterpflanze! Foto: Theater

was inspiriert eigentlich ...? 28

Kinder- und Jugendtheater und das Sumak Kawsay Zaydum Chóez Espinosa

rezension 30

Apfel, Farn, Fluss und Wald Vorgestellt von Joscha Schaback

verbandszeug 34

Grußbotschaft von Staatsministerin Claudia Roth MdB zum Welttag des Theaters für junges Publikum

termine und impressum 35


editorial

von Meike Fechner und Birte Werner

S

prechende Bäume und singende Steine, weise Schildkröten und der Sturmwind als Ratgeber: In Mythen und Sagen aller Länder kommen sie vor, Tiere, Pflanzen und Naturphänomene, die mit auserwählten Menschen sprechen und interagieren können. Im Reich der Märchen, Fabeln und der Fantasy sprechen sie unsere Sprache, treten uns vermenschlicht, anthropomorphisiert, gegenüber. Auf der Theaterbühne agieren sie als Figuren, die uns in vielen Zügen ähnlich sind. Wir spiegeln uns in ihnen. Sind sie keine handelnden Subjekte, dann sind sie Requisiten. Eine Möhre, ein Eimer Wasser. Seelenlose Dinge – wenn sie nicht, wie im Figuren- und Objekttheater, animiert und zum Leben erweckt, zu handelnden Figuren erhoben werden. Wie aber würde eine Pflanze ‚als sie selbst‘ agieren, wenn man ihr den Raum dazu gäbe? Was macht das mit unseren Begriffen von Figur und Spannung, von Handlung und Dramaturgie? In dieser Ausgabe von ixypsilonzett stellen wir Theaterschaffende vor, die Natur als handelndes Subjekt verstehen und ihr eine Bühne bieten. Nicht als Requisit, nicht als anthropomorphisiertes Wunderwesen, sondern ‚als sie selbst‘, als Partnerin, als Gegenüber. Was – so haben wir uns in der Redaktion gefragt – entsteht da künstlerisch Neues im Fahrwasser der Diskussion um ökologische Nachhaltigkeit? Interessiert hat uns auch, was sich juristisch gerade verändert: Mehr als 30 Länder arbeiten aktuell daran, die Natur als Rechtssubjekt anzuerkennen. Tiere, Pflanzen und Biotope erhalten damit eine Stimme, einklagbare Rechte – Ecuador war 2008 das erste Land, das diese Rechte in seiner Verfassung verankerte. Damit treten Pflanzen und Tiere dem Menschen juristisch gleichberechtigt an die Seite. Wir verlassen nicht nur den Theaterraum oder erfinden – begrünen – ihn neu, sondern wir verlassen auch das uns bekannte Terrain des Wissens und Könnens. Wissensbestände und Forschungsfragen anderer Disziplinen interessieren uns ebenso wie die Fähigkeiten und Entscheidungen unserer nicht-menschlichen Partner*innen. Wir haben gefragt: Wie sieht es in den Darstellenden Künsten für junges Publikum aus, worauf können wir gespannt sein? Unsere Autor*innen – in dieser Ausgabe noch ausschließlich Menschen – lassen uns an ihren Überlegungen teilhaben.

PS: Zu unserer Bildstrecke „Pflanzen in Intendanzen“ haben uns nicht nur die hier gewählten Fotos (und viele weitere) erreicht, sondern auch spannende Kurztexte zu Pflanzen als Kolleg*innen im Theater. Danke dafür.

Meike Fechner ist Geschäftsführerin der ASSITEJ e.V. Birte Werner ist Leiterin des Zentrums für Kulturelle Teilhabe Baden-Württemberg Fotos: helloyou.studio Anika Freytag und Schaltzentrale


tjg.theater junge generation, Dresden Nicht eine Pflanze, sondern ganz viele verschiedene Pflanzen stecken in diesem außergewöhnlichen Blumenstrauß: er ist Premieren- und Geburtstagsblumenstrauß in einem. Foto: Theater


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Jenseits des Menschen

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Modrige Pilze Bei der Youth4Climate-Konferenz 2021 in Mailand hielt die Klimaaktivistin Greta Thunberg eine gleichermaßen komische wie verzweifelte Rede. Darin enttarnte sie die Klimarhetorik im aktuellen politischen Diskurs als puren Dadaismus: „Es gibt keinen Planet B – es gibt keinen Planet bla, bla, bla. Hier geht es nicht um ein paar teure, politisch korrekte Werbungen mit „bunny-hugging“ oder bla, bla, bla. Build back better“. Bla, bla, bla. Grüne Wirtschaft. Bla, bla, bla. Netto-Null bis 2050. Bla, bla, bla. Netto-Null. Bla, bla, bla. Klimaneutral. Bla, bla, bla.“ Zum Ausdruck kommt darin die seit der desaströs gescheiterten UN-Klimakonferenz 2009 in Kopenhagen immer drängender werdende Frage, ob die Menschheit den Anspruch verwirkt hat, für den Planeten und seine Lebewesen sprechen und sie politisch repräsentieren zu können. Jene multiple ökologische Krise, in der alles folgenlose Reden zum Bla, bla, bla mutiert, wird begleitet von einer Krise der Repräsentation. Die Klimakrise, das Massenaussterben von Arten, die Verseuchung und Zerstörung von Lebensräumen scheinen nicht nur die Kapazitäten von politischen Lösungen aktueller Gesellschaften, sondern auch die Vorstellungs- und Darstellungskraft unserer Kultur zu übersteigen. Unsere bisherigen Narrative, Logiken und Sprachen sind kraftlos geworden und zerfallen in unserem Mund wie modrige Pilze. Diese Krise ist älter als der moderne Kapitalismus, die Industriegesellschaft und unser konsumistischer Lebensstil. Ohne Zweifel beschleunigen sie Entwicklungen in einem bislang unbekannten Maße, so dass in immer mehr Bereichen Kipppunkte erreicht werden, die Entwicklungsdynamiken unumkehrbar machen. Aber bereits der mittelalterliche Bergbau, die römische Expansion im Mittelmeerraum oder die Ausbreitung der prähistorischen Clovis-Kultur auf dem amerikanischen Kontinent 11.000 v. Chr. führten zu Artensterben und Devastation. In Frage stehen also die Grundfesten des anthropologischen Selbstverständnisses, wer wir auf diesem Planeten sind und wer hier für wen sprechen darf. Traditionellerweise sind dies auch die Grundfragen des Theaters. Die Rolle des Menschen, alleiniger Protagonist von Geschichten und Geschichtsschreibung zu sein, wird in

den vergangenen Jahren von mehreren Seiten unterlaufen. In Das Manifest für Gefährten beschreibt Donna Haraway das Verhältnis von Mensch und Hund nicht als das von Haustier und Herrchen, sondern als „gemeinsame Gewordenheit“, in der es immer nur eine einzige speziesübergreifende Geschichte in gegenseitiger Abhängigkeit geben kann. In Eine kurze Geschichte der Menschheit stellt Yuval Noah Harari die These auf, dass nicht der Mensch den Weizen, sondern umgekehrt der Weizen den Menschen domestiziert habe und die Entstehung der Hochkulturen den Erfordernissen folgte, die der Anbau von Getreide und seine Lagerung diktierten. Er führt damit einen Gedanken weiter, den Henry Hobhouse 1985 in Sechs Pflanzen verändern die Welt verfolgt hatte, nach dem die Menschheit eine Art Transportwirt zur Ausbreitung von Spezies und ihres Genoms ist und diese, indem sie uns mit ihren Aromen, Inhaltsstoffen, Produkten und mit ihrer verführerischen Gestalt locken, den Verlauf der Menschheitsgeschichte, Machtverhältnisse und gesellschaftliche Strukturen markant beeinflussen. Doch es sind nicht nur die pflanzlichen und tierischen Lebewesen, die sich mit ihren Geschichten in das narrative Hoheitsgebiet des Menschen drängen, sondern auch die nicht-belebten Entitäten unserer Umwelt. Die große Verblendung – Der Klimawandel als das Undenkbare ebten Entitäten unserer Umwelt. In seinem Essay Die große Verblendung – Der Klimawandel als das Undenkbare beschreibt der indische Romancier Amitav Ghosh, wie er in Delhi Augenzeuge eines Wirbelsturms wird. Den Augenblick, in dem er den Rüssel des Tornados erblickt, als dieser sich zur Erde senkt, schildert er als einen Moment der Ehrfurcht, in dem dasjenige, was ihn im Alltag gestaltlos umgibt – nämlich die Atmosphäre aus Luft –, plötzlich eine Gestalt und ein Antlitz gewinnt und ihm quasi als nicht-menschlicher Akteur gegenübersteht. Ob Stürme, Flutkatastrophen, Dürren oder Waldbrände – in den vergangenen Jahren ist auch im globalen Norden immer deutlicher geworden, dass die Auswirkungen des Klimawandels als Akteur*innen auf die Bühne der menschlichen Geschichte drängen. Gleichzeitig liefern die Lebenswissenschaften zunehmend Hinweise darauf, dass die vermeintliche Differenz zwischen Mensch und der restlichen belebten Welt brüchig ist. Eigenschaften wie Sprache, Bewusstsein, die Fähigkeit zu Pla-

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nung, Emotionen und moralischem Verhalten müssen in differenziertem Umfang auch Tieren zugesprochen werden. Pflanzen und Pilznetzwerke besitzen eigenständige Formen von Kommunikation und Koordination. Die symbiotischparasitäre Verflechtung des Menschen mit seinem Mikrobiom, das geschätzt aus 39 Billionen Mikroorganismen pro Person besteht und unseren Stoffwechsel, unsere Psyche und unser Verhalten regulatorisch beeinflusst, macht deutlich, dass unser Organismus keine von seiner Umwelt funktional getrennte Einheit darstellt und wir als leibliche Wesen eingebettet sind in zahllose Interaktionsprozesse mit Bakterien, Pilzen und Viren. Wir sind auf so untrennbare Weise mit den Lebewesen in und um uns herum verbunden, dass unsere bisherigen Narrative, in denen Tiere, Pflanzen und Naturphänomene lediglich als Objekte unseres Handelns erscheinen, ungenügend sind. Hier setzt die Kritik von Ghosh an westlich geprägten, neuzeitlichen Erzählmodellen an. In der antiken Mytho-

Lernen, Pflanzen als historische Individuen mit Geschichte zu sehen logie traten Verkörperungen von Naturkräften in Form von Gottheiten als handelnde Subjekte der Geschehnisse in Erscheinung. Im Zuge der Entstehung moderner Subjektkonstruktionen jedoch wird der intentional handelnde Mensch mit seinen moralischen Konflikten zum zentralen Gegenstand von Literatur, wohingegen Naturkräfte in den Hintergrund treten. Entweder werden sie zur Kulisse, auf deren Folie sich menschliche Tragödien und Komödien abspielen. Natürliche Ereignisse wie ein Unwetter oder ein Vulkanausbruch stellen nur noch auslösende Momente für verborgene menschliche Konflikte oder Bewährungsproben für die handelnden Akteur*innen dar. Oder sie werden zur Ressource, die zu bändigen oder auszubeuten Auftrag des Menschen ist, um mit ihren Kräften den gesellschaftlichen Fortschritt, die Steigerung von Kapital und Handlungsmöglichkeiten oder die Emanzipation von der Natur und ihren Unbilden voranzutreiben. Sie dienen als Werkzeug, sind zum Verbrauch geeignet oder eignen sich zur Erbauung – als Landschaft und Dekor, die dem betrachtenden Auge wohlgefällig sein sollen. In dieser Aneignung von Natur und Landschaft liegt jedoch eine maximale Distanzierung und Gegenübersetzung, die den erkenntnistheoretischen Graben zwischen Natur und Geschichte unüberwindlich erscheinen lässt. In einer radikalen Geste hat der französische Soziologe und Philosoph Bruno Latour die Verhältnisse von menschlicher Aktivität gegenüber einer Passivität der nicht-menschlichen Welt umgestülpt, indem er diese ihren Akteur*innensstatus selbst erobern lässt. „Heute sind alle: Dekor, Kulissen, Hinterbühne, das gesamte Gebäude auf die Bühnenbretter gestiegen und machen den Schauspieler*innen die Hauptrollen streitig. Das schlägt sich in

den Textbüchern nieder, legt andere Ausgänge der Intrige nahe,“ schreibt er in Das terrestrische Manifest über das Welttheater im Anthropozän. Das Anthropozän – es ist eine neue Epoche angebrochen, in welcher die Auswirkungen der nicht-intentionalen Handlungsfolgen der menschlichen Spezies geologische Dimensionen angenommen haben, deren Maßstab wir noch gar nicht in der Lage sind zu erfassen, und in der wir gleichzeitig immer genauer zu begreifen beginnen, dass die Erzählung menschlicher Geschichte als ein Narrativ von intentionalen Handlungen bislang unvollständig ist. Das Terrestrische, wie es Latour nennt – unsere Umwelt, Tiere, Pflanzen und Bakterien, Stürme und Dürren, Naturschauspiele und Wachstumsprozesse, Gesteinsformationen und Erdöl – gehören also auf die Bühne. Aber wie genau soll das aussehen? Und wie lassen wir sie als Akteur*innen auftreten, und nicht nur als vorgeschobene Pappkamerad*innen für menschliche Absichten oder als Abbilder unserer selbst? Wie lassen sich nicht-menschliche Akteur*innen in ihrem Eigensinn zeigen; wie können wir sie – als sie selbst – von sich selbst her sehen lassen?

II. Emotionalisierungsservice, Wissenschaftstheater, Anthropomorphisierung? Im Garten meiner Eltern stand ein Essigbaum. Er hatte keine essbaren Früchte, sondern rote puschelige Dolden, an denen man sich ölige Finger holte. Meine Eltern drohten alljährlich, den Baum zu fällen, weil er sich mit unglaublicher Penetranz fortpflanzte, so dass in unserem ganzen Garten kleine Essigbäume keimten, die beim Mähen durch die Klinge des elektrischen Rasenmähers kleingehäxelt wurden. Trotzdem war er mein Lieblingsbaum, den ich gegen alle Abholzungsversuche verteidigte, weil man auf ihm hervorragend klettern und sitzen konnte. Eines Abends hatte ich mir vorgenommen, auf dem Baum zu übernachten. Mit einem Kissen und einer Decke kletterte ich auf den Baum und richtete mich in einer Astgabel mehr oder minder gemütlich ein. Während ich so da saß und es im Garten langsam dämmrig wurde, betrachtete ich den Stamm. Er hatte eine rissige, graue Rinde, die an einigen Stellen abgeschabt, an anderen Stellen von Moosflechten überwachsen war. Aus einem Riss war klebriges Harz herausgelaufen und hatte auf der Rinde Nasen gebildet. An seiner Wuchsform konnte man sehen, wo bei einem Sturm einige Äste abgebrochen waren und wie der Baum die Wachstumsrichtung geändert hatte. Als ich ihn so eingehend betrachtete, wurde mir zum ersten Mal klar, dass dieser Baum eine eigene Geschichte hatte, die sich von meiner Geschichte, aber auch von allen anderen Bäumen und Pflanzen in unserem Garten unterschied. Es ist diese Kindheitsbeobachtung, die zum Ausgangspunkt des fünfjährigen botanischen Langzeittheaters Die Welt ohne uns wurde, das Aljoscha Begrich und ich gemeinsam mit dem Kollektiv LUNATIKS am Staatstheater Hannover 2009 – 2013 entwickelt haben. In insgesamt neun


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Folgen mit wechselnden Gastkünstler*innen wollten wir herausfinden, inwiefern es möglich ist, Pflanzen zu Protagonisten eines Theaterabends zu machen. Das Publikum blickte aus einem verglasten Container auf einen extra für das Projekt angelegten Garten, der im Laufe der fünf Jahre (künstlich beschleunigt) verwilderte. Vom interaktiven Gartenfest über Lecture Performance bis zum animierten Puppentheater wurden ganz unterschiedliche Formate und Ästhetiken ausprobiert. Und mit jeder Folge wurde deutlicher, wie schwierig es ist, geeignete Narrative, Spielweisen und Formen zu finden, die einer Pflanze als Darstellerin gerecht werden. Im Alltag sehen wir Pflanzen häufig in einem Modus, den wir mit Rückgriff auf den Kulturphilosophen Oswald Schwemmer als Orientierung der „mittleren Allgemeinheit“ (Schwemmer, Oswald: Kulturphilosophie – eine medientheoretische Grundlegung, München: Wilhelm Fink Verlag, 2005. S. 143) bezeichnen könnten. Wir sehen „Gras“ oder „einen Himbeerstrauch“ oder „den Wald“. Aber wir sehen nicht einzelne Individuen mit unverwechselbaren Merkmalen, einer einzigartigen Gestalt und einer eigenen Geschichte. Dazu gehört, dass diesen Lebewesen Ereignisse widerfahren sind, die ihre Geschichte und ihre Gestalt beeinflusst haben. Oder auch dass ihre Geschichte in Wechselwirkung steht mit den Geschichten der Lebewesen ihres Umfeldes, dass sie also Teil einer größeren Geschichte sind. Genau dies war aber das Ziel beim botanischen Langzeittheater: unseren Blick so zu transformieren, dass wir Pflanzen als historische Individuen mit Geschichte zu sehen lernen. Diese Individualität nehmen wir allerdings nicht wahr, wenn wir die Pflanze primär als Vertreter einer Art oder Gattung, also in abstrahierender Verallgemeinerung betrachten, sondern nur, wenn wir sie als konkretes Einzelwesen in den Blick nehmen. Wir müssen demnach etwas fokussieren, was die Botanik normalerweise gerade ausblendet, um wissenschaftliche Erkenntnis gewinnen zu können. Einer Pflanze Historizität zuzubilligen, bedeutet auch, ihre Geschichte nicht unter dem Primat der Evolutionsbiologie zu erzählen, als einen Fall von „Survival of the fittest“. Denn es sind gerade jene Ereignisse, die von Zufällen, Unglücken und komplexen Wechselwirkungen mit anderen Individuen, aber auch mit der menschlichen Geschichte und ihrer Technik geprägt sind, die ihre individuelle Geschichte ausmachen und nicht unbedingt eine allgemeine Entwicklungsrichtung zu einer immer besseren Anpassung an die ökologische Nische implizieren. Neben Individualität und Historizität scheint mir ein dritter Aspekt entscheidend, um nicht-menschlichen Akteur*innen den Status als Protagonist*innen in unseren Erzählungen zubilligen zu können: ihre Fähigkeit, Affekte zu erzeugen. Im Potsdam Institut für Klimafolgenforschung (PIK) fand 2008 die Konferenz „Tipping Point – A dialogue between Climate Science and the Arts“ statt, bei der etwa 100 Kulturschaffende und Klimawissenschaftler*innen aufeinander trafen. In seinem Eröffnungsvortrag freute sich der damalige Leiter des PIK, Prof. Dr. Hans Joachim Schellnhuber, dass nun endlich Künstler*innen den Klimawandel als Thema auf-

greifen würden und der Bevölkerung die Erkenntnisse der Klimaforschung emotional vermitteln könne. Denn Wissen und Information allein scheine keine Verhaltensänderungen zu bewirken. Dafür brauche es die Künste. So nachvollziehbar dieser Wunsch von Vertreter*innen der Klimawissenschaften ist, bin ich doch skeptisch, dass die Künste eine Art Emotionalisierungsservice für wissenschaftliche Erkenntnisse leisten können. Die Effekte von künstlerischen Äußerungen sind immer eigenwillig und nicht kalkulierbar. Sie gießen nicht nur Information in möglichst anschauliche und emotionalisierende Geschichten, sondern haben immer auch das Potential, Ambivalenzen und unauflösbare Widersprüche zu erzeugen, die Grundlagen unserer Wirklichkeit und Wahrnehmung zu unterlaufen, die begrifflichen Deutungsmuster zu verschieben usw. Möglicherweise ist diese Form von künstlerisch erzeugter Emotionalisierung aber auch gar nicht nötig. Denn ich bin davon überzeugt, dass es die nicht-menschlichen Akteur*innen selbst sind, die Affekte erregen können, welche theatrale Qualitäten haben. Ob es die kindliche Zuneigung zu einem

Pflanzen können zwar untereinander kommunizieren, am Maßstab der menschlichen Sprache gemessen ist dies jedoch sehr eingeschränkt und theatral auch nicht sonderlich ergiebig. Essigbaum ist, der Moment der Ehrfurcht vor der überwältigenden Gestalt eines Wirbelsturms oder die Verführung durch die intensiven Farben einer Frucht, ihrer Duftstoffe, Aromen und bewusstseinsverändernden Substanzen – in all diesen affizierenden Momenten ist Natur nicht einfach ein von uns getrenntes Gegenüber, sondern sie wirkt auf unsere Bedürfnisse, Phantasien, Pläne und Wahrnehmungen – kurzum: auf die Gesamtheit unserer kognitiv-emotionalen Verfasstheit ein. Die Herausforderung für das Theater besteht nun darin, diese Kräfte einzufangen und mit ihnen auf der Bühne zu arbeiten. In einem Try-out für Die Welt ohne uns führten wir im Foyer des Staatsschauspiels Hannover einen ganzen Abend lang Experimente mit einer handelsüblichen Basilikumpflanze durch, begleitet durch kurze Interventionen der Philosophin Dr. Angela Kallhoff, die darin Grundlinien einer Pflanzenethik skizzierte. Zum Abschluss der Veranstaltung stellten wir die Basilikumpflanze in eine Mikrowelle und machten ein Live-Video, wie die Pflanze zur Musik von Brahms‘ Deutschem Requiem innerhalb von Sekunden die Blätter hängen ließ, sich dunkel verfärbte und schließlich in sich zusammensackte, während sich der Plastiktopf weiter in der Mikrowelle drehte. Nach Ende der Performance sprachen uns zahlreiche Zuschauer*innen an und zeigten sich empört darüber, was wir mit der Pflanze angestellt hatten.

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Offensichtlich hatten sie im Laufe des Abends tatsächlich ein affektives Verhältnis zu dieser Pflanze entwickelt, so dass sie zu mehr geworden war als nur Ausgangsprodukt für Pesto. Wer jedoch mit nicht-menschlichen Akteur*innen arbeitet, muss möglicherweise auch mit nicht-menschlichen Skalen und Größenverhältnissen umgehen. Die Zeitdimensionen einer Eintagsfliege und die von Mammutbäumen, die Größenmaßstäbe von Bakterien und des Klimawandels unter- oder überschreiten gegebenenfalls nicht nur die menschlichen Wahrnehmungsschwellen, sondern auch die unserer Vorstellungskraft. Manche Zusammenhänge entziehen sich der direkten Erfahrbarkeit, da sie sich nur über wissenschaftliche Abstraktion oder statistische Zusammenhänge vermitteln. Dieser Unanschaulichkeit könnte man, wie wir es beim botanischen Langzeittheater versucht haben, mit Mitteln der Visualisierung begegnen wie Zeitraffer, mikroskopische Vergrößerung, Einsatz von Grafiken und Animationen zur Versinnbildlichung. All diese Mittel führen allerdings dazu, dass sich das Zeigen im Charakter ändert. Wir treten aus dem Modus der Narration heraus, stattdessen entsteht ein Gestus des Demonstrierenden und Erklärenden. Wir sehen nicht mehr die Pflanze, das Wetterphänomen, das Bakterium selbst, sondern wir sehen ihre lehrreiche Aufbereitung. Um dem zu entgehen, könnte man dazu übergehen, die nicht-menschlichen Akteur*innen zu animieren: ihnen Stimme und körperlichen Ausdruck zu geben, sie konflikthaft miteinander interagieren zu lassen, sie in eine Handlung zu verstricken und sie zu Figuren zu machen. Auch diese Versuche haben wir bei Die Welt ohne uns gemacht. Aber letztlich geht in der Animation die Andersartigkeit des pflanzlichen Lebens verloren, sie werden zu (unglücklicherweise auch noch sehr simplen) Abbildern unserer selbst. Und genau darin liegt das Problem der Anthropomorphisierung: Wenn man nicht-menschliche Akteur*innen in Kategorien menschlicher Existenz darstellt, dann misst man ihre Fähigkeiten auch an denen menschlichen Verhaltens; was im Ergebnis die Eigentümlichkeit des botanischen Existierens auf ein sehr schlichtes menschliches, infantiles Schnittmuster reduziert. Denn Pflanzen können zwar untereinander kommunizieren, am Maßstab der menschlichen Sprache gemessen ist diese jedoch sehr eingeschränkt und theatral auch nicht sonderlich ergiebig. In seiner Revolutionierung des ökologischen Denkens beschreibt der Philosoph Timothy Morton unsere Wirklichkeit als „eine Welt, in der etwa ein Dachs, der beschnüffelt, was auch immer man

als Mensch nachdenklich betrachtet, einen ebenso validen Zugang zu diesem Ding hat wie man selbst. […] das menschliche Denken [stellt sich] nicht als spezieller Zugangsmodus heraus, der dem Wesen der Dinge wahrhaftig auf den Leib rückt.“ (Morton, Timothy: Ökologisch sein, Berlin: Matthes & Seitz, 2019, S. 44f.). Morton fordert also, den Eigensinn jeder Zugangsweise zur Welt anzuerkennen und ihn nicht ins Verhältnis zu setzen zu unserem visuell-logozentristischen Zugriff auf die Wirklichkeit. Diese Andersartigkeit in ihrem Eigensinn möglichst präzise zu erfassen, kann aber paradoxerweise dazu führen, dass wir begreifen, inwieweit uns diese Andersartigkeit möglicherweise gar nicht so fern ist, wie wir zunächst dachten. Aufgrund unserer physischphysiologisch-animalischen Existenz sind wir eben nicht nur geistig-erkennende Wesen, sondern haben auch Anteil an jenen nicht-begrifflichen Naturzusammenhängen, die uns mit der restlichen belebten und unbelebten Welt zusammenführt. „Wir sind nicht durch und durch Mensch. Wir und alle anderen Lebensformen existieren zwischen starren Kategorien in einem mehrdeutigen Raum.“ (Morton, S. 66) Statt auf eine Anthropomorphisierung der nicht-menschlichen Akteur*innen könnte ein solches theatrales Verfahren also auf das Gegenteil abzielen: auf die Phytomorphisierung des Menschen; das bedeutet, erfahrbar werden zu lassen, wieviele botanischen, zoomorphen oder geomorphen Wesenszüge Teil unserer eigenen menschlichen Existenz sind. Dahin könnten Perspektiven für ein Theater der Zukunft weisen, das ein neues Verhältnis zu unseren natürlichen Lebensgrundlagen, zum Planeten und allen Wesen, die auf ihm existieren, anstrebt: Erfahrungen zu schaffen, die unsere Wahrnehmung erweitern; die unsere Sinne sensibilisieren und Imaginationsräume schaffen für Geschichten, die nicht mehr auf den klassischen Konflikt-Dialog-Modellen menschlicher Akteur*innen und ihrer Intentionen beruhen, sondern in denen es zahlreiche narrative Überkreuzungen gibt mit Wesen, Vorgängen und Kräften jenseits des Menschen. Das würde jedoch bedeuten, dass wir unsere eigene, in Jahrtausenden abendländischer Geschichte errungene Stellung im Zentrum der Bühne räumen müssten und Teil eines Interspezies-Ensembles würden, dessen Geschichten nicht den Logiken menschlicher Erzählungen folgen. Sie könnten komplex, nicht-linear und ambivalent sein. Erzählungen, in welchen die modrigen Pilze in unserem Mund nicht einfach zerfallen, sondern vielleicht sogar eine psychedelische Wirkung entfalten und selbst in einem neuen Licht sehen lehren.

Tobias Rausch arbeitet als Regisseur und Autor mit Schwerpunkt auf Rechercheprojekten. Er ist Mitbegründer des Theaterkollektivs LUNATIKS und leitet seit 2019 die Bürger:Bühne am Staatsschauspiel Dresden. Foto: Sebastian Hoppe


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Theater Button, Würzburg Das ist Amadeus, ein phantastischer Zuhörer beim Lieder schreiben. Still und aufmerksam – einfach ganz grünes Ohr. Foto: Hilda Gardner

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Natur als Metapher und die Performance der Natur ‚als sie selbst‘ Yoona Kang

Die koreanische Wissenschaftlerin Yoona Kang forscht zu Kindheit und Natur. Wir haben sie gebeten, aus wissenschaftlicher Sicht über das Thema dieses Heftes nachzudenken.

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ein Forschungsgebiet ist das Kinder- und Jugendtheater. Grundlegend für meine Arbeit ist, Begriffe wie ‚Kindheit‘ oder ‚Natur‘ nicht als universelle Wahrheiten zu verstehen: Es sind kulturelle Metaphern, Produkte einer bestimmten Zeit und eines bestimmten Raums. Eins meiner Forschungsvorhaben befasst sich damit, wie im Kinder- und Jugendtheater und in der Kulturarbeit für Kinder allgemein, die kulturellen Metaphern ‚Kindheit‘ und ‚Natur‘ miteinander verbunden werden. Wenn also Natur und Kind gemeinsam in einer Kinder- oder Jugendtheater-Aufführung vorkommen, gehe ich den folgenden Fragen nach: Wie wird das Kind repräsentiert? Wie verhält es sich mit der Natur? Welche Ideen von ‚Kind‘ und ‚Natur‘ liegen dieser Performance zugrunde? Die Idee, dass das der Begriff ‚Kind‘ eine kulturelle Metapher ist, bedeutet, dass Menschen der Kindheit besondere Bedeutung zuschreiben. Zum Beispiel denkt man in westlich geprägten Gesellschaften oft, dass das Kind nicht arbeiten soll, sondern lernen und spielen darf. Andere Beispiele für westliche Kinderideologien sind: das romantische, natürliche, unschuldige Kind oder das Kind als Tabula Rasa. Auch Entwicklungspsychologie und Soziologie haben die Vorstellung von Kindheit stark beeinflusst. Um ein Beispiel für koreanische Ideen zu geben: Das konfuzianische Kind ist niedriger als Erwachsene und muss ihnen gehorchen und ihnen Respekt erweisen, da die Altershierarchie sehr wichtig ist. Außerdem ist das Kind untrennbar mit seinen Eltern, seiner Familie oder anderen größeren Beziehungsgebilden verbunden. Dies ist Ergebnis einer asiatischen interdependenten Subjektivität. Somit ist die Kindheit ein

Träger von Bedeutungen, die den kulturellen Kontext widerspiegelt, in dem sie konzipiert wird. Wie die Kindheit ist auch die Natur keine feststehende Realität, sondern eine kulturelle Metapher, die menschliche Vorstellungen reflektiert. Die Natur trägt eine „immens komplexe und widersprüchliche symbolische Last; sie ist Gegenstand sehr gegensätzlicher Ideologien; und ihre Darstellung ist enorm vielfältig“ (Soper, 2). Die Natur ist „ein Spiegel der und für die Kultur. Vorstellungen von der Natur verraten genauso viel oder mehr über die menschliche Gesellschaft wie über nichtmenschliche Prozesse und Eigenschaften“ (Spirn, 251-252). Zum Beispiel gibt es ein Verständnis dafür, dass Ost und West die Natur unterschiedlich wahrnehmen. Soper schreibt, dass „[…] alle westlichen Naturdiskurse […] eine metaphysische Tradition in sich tragen, die die ‚menschliche‘ Seite der Mensch-Natur-Unterscheidung heimlich mit ‚zivilisierter‘ / ‚entwickelter‘ Menschheit identifiziert hat“ (10). Umgekehrt argumentiert Yimoon Park, dass eine östliche Form des Schamanismus und östliche Lehren wie die Lao Tzu-Philosophie oder der Buddhismus auf dem Monismus beruhen und daher die Natur nicht von den Menschen unterscheiden (486). Und wenn Kindheit und Natur im Kinder- und Jugendtheater miteinander verbunden werden, werden die kulturellen Vorstellungen von beiden verknüpft. Das ökologische Natur-Kind-Bild ist ein Beispiel für eine aktuell einflussreiche Natur-Kind-Ideologie. Die Natur wird hier als „Bereich von Eigenwert, Wahrheit oder Authentizität“ konstruiert, was zu dem Gedanken führt, dass die Menschen „[ihre] Abhängigkeit von [der Natur] schätzen, bewahren und anerkennen“ müssen (Soper, 6). Kinder erscheinen in diesem Bild als zukünftige Wächter, die Erwachsene durch


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einen Sozialisationsprozess führen müssen, der der Gesellschaft zugutekommt. Eine andere Natur-Kind-Ideologie, die in westlich geprägten Gesellschaften verbreitet ist, ist die Idee, dass Kinder die Natur direkt erleben und eine Verbindung zur Natur für ihr Wachstum aufbauen sollten. Solche Gedanken wurzeln in der Idee, dass „die Natur, wie auch immer definiert, ein guter Ort mit innewohnenden Kräften ist, um menschliches Verhalten zu verbessern, und […] dass Kinder […] eine eigenständige Gruppe von Menschen sind, im Gegensatz zu Erwachsenen und mit einem besonderen Bedürfnis nach Nähe zur Natur“ (Mergen, 645). Ich habe die Darstellung von Natur und Kindern in ausgewählten koreanischen Kinder- und Jugendtheaterstücken und in Filmen untersucht. Sie spiegeln koreanische Vorstellungen von Kind/Mensch und Natur wider: Einige Kinderfiguren in den untersuchten Werken erfahren extremes Leid. Als Reaktion darauf transzendieren sie Zeit und Ort, und sie tun dies meistens in der Natur. Ihre Rückkehr zur Natur und ihr Glück nach dem Eintritt in die Natur enthüllen koreanische Vorstellungen von allgemeiner menschlicher Identität, die sich aus menschlichen Positionen zur Natur ergeben: Menschen kehren zur Natur zurück und gehören ihr an. Menschen befinden sich in einer guten Situation, nachdem sie einen Bereich jenseits der Realität betreten haben. Umgekehrt bedeutet das, dass Menschen leiden, während sie in der Realität leben (Kang, 114 – 115). Die Idee von Natur als Inbegriff der Schönheit ist so auch Sinnbild der perfekten und sorgenden Mutter. Diese Idee beeinflusst die Konstruktion des Kindes als Person: Der kindliche Protagonist braucht die Mutter, sehnt sich nach ihr oder kehrt zu ihr zurück. Auf diese Weise erfolgt eine Annäherung zwischen Kind und Natur, eine Entwicklung des kindlichen Wesens zur Schönheit von Mutter Natur. 2019 habe ich dank eines DAAD-Stipendiums in Berliner Naturräumen für Kinder – wie Kinderbauernhöfen, Kinderspielplätzen und anderen Naturerfahrungsräumen – das Zusammenspiel von Natur und Kindern beobachten dürfen. Eines der Dinge, die mich am meisten beeindruckt haben, war, wie die Begegnung von Kindern mit Natur als Freiheitserfahrung beschrieben und gestaltet wird. Zum Beispiel, das Konzept der Natur-Erlebnisräume, der vermeintlich wilden unberührten Naturräume, wo Kinder ohne Aufsicht der Eltern auch Verbotenes ausprobieren oder frei spielen können, war erstaunlich. Die Vorstellung vom frei agierenden Kind in einem Abbild ‚wilder Natur‘ war befreiend. Und einmal, als meine 6-jährige Tochter sich auf eine fürchterlich hohe Abenteuer-Rutschbahn auf dem Waldspielplatz wagte, war ich die einzige Mutter, die ihrem Kind achtsam auf Schritt und Tritt folgte. Alle deutschen Mütter saßen gelassen am Waldrand, weit entfernt von der Rutsche. Außerdem fing mein Kind an, in jede Pfütze zu springen und auf Bäume zu klettern, was es in Korea nie getan hatte: Dort waren Vorsicht und Besonnenheit an der Tagesordnung. Es schien, dass die Interaktion mit der Natur meinem Kind ein Ventil für seine Freiheit und Wildheit gaben und damit seine Entscheidungsfreiheit feierten.

Das Obige ist ein Überblick darüber, wie ich die Natur im Kinder- und Jugendtheater und in Bezug auf das Verhalten von Kindern erforscht habe, das wiederum kulturell geprägt ist. Die Untersuchung kultureller Ideen über Kindheit und Natur ist besonders interessant, da man dadurch kulturelle Vorstellungen einer bestimmten Gesellschaft ans Licht bringen kann. Und da das Kind oft eine Metapher des Menschen ist und die Vorstellung von Natur oft stark mit Erwartungen an die den Menschen umgebende Welt belastet ist, offenbart die Erforschung tiefgreifende kulturelle Gedanken über die Beziehung zwischen Mensch/Kind und Welt. Und natürlich führt Natur in Kinder- und Jugendtheater oder in Naturräumen für Kinder dazu, dass Kinder eine bestimmte Weltanschauung über Natur und Kindheit und/oder sich selbst wählen. So kann das Aufdecken der hinter der Performance verborgenen kulturellen Ideen die materielle Existenz von Kindern und ihre Beziehung zur Natur nachhaltig beeinflussen.

Aber was bedeutet das alles für die Performance von Natur ‚als sie selbst‘? Doch das Thema von ixypsilonzett ist die Natur als Protagonistin, Partnerin und gleichberechtigtes Gegenüber, die Natur ‚als sie selbst‘. Was würde meine Forschung für Praktiker*innen bedeuten, die mit Natur ‚als sie selbst‘ arbeiten? Ich denke, die Natur im Kinder- und Jugendtheater ‚als sie selbst‘ zu behandeln, ist ein spannendes, aber sehr anspruchsvolles Projekt. Es ist komplizierter, als beispielsweise das Kind als sich selbst darzustellen. Eine authentische Darstellung des Kindes ist oft eine Herausforderung für Theaterschaffende, da es schwierig ist, die Kluft zwischen der Wahrnehmung von erwachsenen Theaterschaffenden und dem kindlichen Publikum zu überbrücken. Aber ich denke, die Kluft zwischen der menschenzentrierten Wahrnehmung der Natur, in die wir im Anthropozän so lange eingetaucht gewesen sind, und der Ansicht, die Natur als gleichberechtigte Partnerin ‚als sie selbst‘ zu betrachten, ist dramatisch größer. Es kann leicht passieren, dass man die Natur falsch darstellt oder objektiviert, noch mehr als bei der Repräsentation des Kindes. Und wenn ich angesichts dieser Herausforderung darüber nachdenke, was der kulturelle Diskurs über Natur und/ oder Kindheit für die Beschäftigung der Theaterschaffenden mit der Natur ‚als sie selbst‘ bedeuten würde, muss ich an die vielen Gespräche denken, die ich mit koreanischen Kinder- und Jugendtheaterschaffenden und Studierenden über die Idee der Kindheit geführt habe. Meistens begeistert das Thema sie am Anfang nicht sehr. Sie fragen normalerweise zurück: „Aber wir gehen doch nicht von Kinderideologien aus, wenn wir Theater für junges Publikum machen?“ Aber während wir weiter untersuchen, stellen wir fest, dass eigene Ideen über Kindheit auf der Bühne widergespiegelt werden. Wir lernen erst durch Reflexion Distanz zu unseren Vorstellungen von Kindheit zu schaffen. Erst dann wird uns klar, was unsere Ideen überhaupt sind. Und dies ist normaler-

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weise ein Anfang für das Nachdenken darüber, wie nah oder fern unsere Gedanken über Kinder von ihrer Realität sind. Dies ist wichtig, denn eines unserer obersten Ziele ist es, das Leben von Kindern so authentisch wie möglich auf der Bühne darzustellen. Und ich denke, dass der obige Prozess ebenso bedeutend ist, wenn wir die Natur ‚als sie selbst‘ gestalten wollen. Wenn Kinder und Jugendtheaterschaffende die Natur ‚als sie selbst‘ repräsentieren, wird es unzählige Arten von Natur(en) geben. Aber was immer wir tun, bewusst oder unbewusst, wir gehen von einer Vorstellung über die Natur aus. Und gerade wenn wir unsere Ideen über Natur mit Distanz kristallisieren, können wir anfangen darüber nachzudenken, ob oder wie authentisch unser Naturbild sein mag. Dann ist die Objektivierung unseres eigenen Blicks auf die Natur nicht ein kleiner Schritt im Prozess der Darstellung der Natur ‚als sie selbst‘? Wenn ich das Glück hätte, einen Kurs über die Performance der Natur ‚als sie selbst‘ im Kinder- und Jugendtheater zu leiten, würde ich meine Studierenden fragen: Was ist deine Vorstellung von der Natur in deiner Praxis? Woher kommen die Ideen? Wie würde die Natur, wenn sie könnte, auf die Performance von sich selbst reagieren? Wenn die Forschung über Natur/Kind als Metapher zur Performance der Natur ‚als sie selbst‘ beitragen könnte, wäre dies wohl in der oben genannten Weise.

nischer Zen-Meditation und hatte in der Stückesammlung der ASSITEJ Korea ein Spiel veröffentlicht, welches von meiner Praxis des Zen inspiriert war. Ich plane, eine neue Performance durch Zen zu schaffen, aber dieses Mal durch Zen in der Natur. Während Zen oder Meditation uns Menschen hilft, Grenzen unseres Selbst zu überschreiten, ist bekannt, dass Zen in der Natur hilft, der Natur als Subjekt zu begegnen und die Mensch-Natur-Grenze aktiv zu überschreiten. Ich bin neugierig, wie meine Zen-Praxis in der Natur meine Wahrnehmung und Darstellung von der Natur beeinflussen wird. Ich bin gespannt, wie das junge Publikum, mit all seiner Offenheit und Flexibilität, auf die Natur als Subjekt im Performance-Raum reagieren wird. Denn ehrlich gesagt glaube ich, dass Kinder der Natur von Natur aus näherstehen. Das junge Publikum hat das Anthropozän ja nur kurz erlebt. Ja, das ist eine Ideologie. Literatur Kang, Yoona: Deconstructing the Ideology of Nature and Childhood in Korean Child Narratives. PhD Dissertation. Arizona State University, 2015. Mergen, Bernard: “Children and Nature in History”. In: Environmental History 8. 4 (2003): 643–669. Park, Yimoon: “Eastern and Western Views of Nature and Literature”. In: The Literature Town 27 (2001): 481–492. Soper, Kate: What is Nature: Culture, Politics and the Non-Human. Oxford:

Epilog: Mein nächstes Forschungsprojekt Wenn ich über die Ideologien über die Natur nachdenke, wird mir klar, wie lange und stark auch ich menschenzentrierte Ideologien verinnerlicht habe. Ich frage mich, ob ich überhaupt auf eine nicht-menschenzentrierte Weise existieren kann und fühle mich ziemlich hilflos dabei. Daher habe ich ein praxisorientiertes Forschungsprojekt konzipiert: Ich bin zertifizierte Meisterin in korea-

Wiley-Blackwell, 1995. Spirn, Anne Whiston: “The Authority of Nature: Conflict and Confusion in Landscape Architecture”. In: Nature and Ideology: Natural Garden Design in the 20th Century. Hg. Von Joachim Wolschke-Bulmahn. Washington, D.C.: Dumbarton Research Library and Collection, 1997. Übersetzung von Zitaten aus der Sekundärliteratur ins Deutsche: Yoona Kang

Yoona Kang hat zum Theater für Junges Publikum promoviert. Sie lebt und arbeitet in Seoul und ist Dozentin am Department of Theatre for Young Audiences at the Korea National University of the Arts. Als Kind lebte sie sechs Jahre in Köln. 2019 war sie als DAAD Stipendiatin an der FU Berlin. Der Text nutzt Ergebnisse aus der Dissertation der Autorin. Foto: Sanghun Lee


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Theater Plauen-Zwickau Vor dem Müll gerettet! Audrey 2 gedeiht und wächst hier seit nunmehr sieben Jahren und trägt zusammen mit Bürohund Lotta enorm zum guten Betriebs­­­klima bei. Foto: Maxi Ratzkowski


NichtMenschlichen

Kollaboration mit dem Rósa Ómarsdóttir

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Die Forschungsfrage lautete: Wie kann ich nicht-anthropozentrischen, objektorientierten Tanz auf die Bühne bringen?

ollaboration ist ein komplexes, aber wichtiges Thema, wenn man eine Performance für die Bühne macht. In meiner künstlerischen Zusammenarbeit versuche ich, meinen Kolleg*innen gleichberechtigt zu begegnen und hierarchische Strukturen zu vermeiden. In einer flachen hat jede*r ein Mitspracherecht und wir entscheiden gemeinsam, was am besten zu der Produktion passt. Das ist nicht immer die einfachste Art zu arbeiten, denn es kostet Zeit und Energie, sich wirklich alle Ideen gleichermaßen anzuhören, aber es ist sehr produktiv und bringt Neues hervor, das nur so entstehen kann. In den letzten Jahren waren meine wichtigsten Kollaborateur*innen nichtmenschliche Dinge. Diese Zusammenarbeit hat mich vor neue Herausforderungen gestellt. Es ist schon komplex genug, mit anderen Menschen auf Augenhöhe zusammenzuarbeiten, aber wie gelingt das mit nicht-menschlichen Dingen? Die Performance Spills ist das Ergebnis einer Kollaboration zwischen mir, einer großen Wasserfläche, Eis, Nicolai Hovgaarden, Holzfliesen, Dora Durkesac, einem großen Stück Papier, literweise Farbe, Hákon Pálsson, Feuchtigkeit, Salz, Ingrid Vranken, einem elektromagnetischen Feld, Glühbirnen, Mikrofonen und vielen anderen menschlichen und nicht-menschlichen Elementen. Während des Entstehungsprozesses von Spills stießen wir auf viele Hindernisse, wurden von unerwarteten Lösungen überrascht, blieben stecken, scheiterten an Mauern und fanden den Weg zurück. Einige dieser Zusammenstöße waren sehr fruchtbar, andere urkomisch, und wieder andere brachten mich in meiner künstlerischen Praxis an völlig neue Orte. Doch wie sieht die Zusammenarbeit mit Objekten genau aus? Im Jahr 2018 erhielt ich ein Forschungsstipendium, um die Übertragung des objektorientierten ontologischen Ansatzes auf den zeitgenössischen Tanz zu erforschen. Objektorientierte Ontologie (kurz: OOO) ist ein Zweig der Philosophie, dessen Name von Graham Harman geprägt wurde. Er stellt das Objekt in den Mittelpunkt der philosophischen Untersuchung der Existenz. OOO sieht alle Objekte als gleichwertig an und stellt die menschliche Existenz nicht in den Vordergrund; es ist eine nicht-anthropozentrische Ontologie. Der Tanz hingegen ist meist sehr anthropozentrisch. Meine Forschungsfrage lautete also: Wie kann ich nicht-anthropozentrischen, objektorientierten Tanz auf die Bühne bringen? Ich begann mit dem Körper. Wie kann ich einen nicht-anthropozentrischen Ansatz für körperliche Bewegung finden? Ich war schon immer an der Idee des „body-in-relation“ interessiert, des Körpers in Beziehung zu den Dingen oder der Umgebung, entgegen der Idee des „pure-movement“, einer unverfälschten


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Bewegung. Ich glaube nicht, dass es etwas ‚Reines‘ am Körper oder an Bewegungen gibt, denn er ist immer vorbelastet und steht in Beziehung zu seiner Umgebung. Der Körper hat sich durch Beziehungen entwickelt. Der Gebrauch von Werkzeugen war ein wesentlicher Bestandteil der menschlichen Evolution. Der Homo sapiens hat nicht nur Werkzeuge benutzt, sondern die Werkzeuge selbst haben seinen Körper verändert. Mit anderen Worten: Dinge haben uns schon immer in Bewegung gebracht. Und ich wollte mich eingehender mit der Frage befassen, wie man Dingen begegnen kann, ohne sie einfach nur zu ‚benutzen‘. Können wir der angenommenen Hierarchie von Menschen und Dingen entkommen? Wie bringen die Dinge uns in Bewegung? Dabei kam mir schnell der Begriff Ökosystem in den Sinn. Das Konzept eines Ökosystems als ein nicht-hierarchisches Beziehungsgeflecht war eine gute Metapher für die Arbeit. Ein System, das allen seinen Teilen aktive Rollen zuweist. Ich nutzte dieses Bild für die weitere Erforschung von Bewegungen und der Idee der agency mit Blick auf den Körper, einzelne Körperteile, die Dinge und die Umwelt. Wie kann ich mich so bewegen, als sei der Körper sein eigenes Ökosystem und gleichzeitig ein Teil eines größeren, ihn umgebenden Ökosystems? Die gleiche Methode habe ich auch auf meine Arbeit mit Szenografie, Musik und Licht angewandt. Wie kann ich die Dinge auf der Bühne im Sinne eines Ökosystems miteinander in Beziehung setzen? Jedes Objekt hat eigene Qualitäten, Neigungen und Verhaltensweisen, die nicht auf die menschliche Nutzung begrenzt sind. Während der Recherche habe ich versucht, die Eigenschaften und das Verhalten der fraglichen Objekte zu verstehen, ihnen zuzuhören. Da ich mich bereits mit Ökologie beschäftigte, kam mir Wasser als ein Partner in den Sinn, mit dem ich zusammenarbeiten wollte. Ich habe mich folglich mit dem Verhalten von Wasser beschäftigt. Der erste, Teil bestand darin, die verschiedenen Zustände des Wassers zu untersuchen: gefroren, flüssig, kondensiert. Dann habe ich möglichst mehrdeutige Fragen gestellt: Wie kann ich Wasser zuhören? Wie arbeite ich gleichberechtigt mit Wasser zusammen? Um die Antworten zu finden, führte ich eine Reihe von Experimenten durch. Ich habe die Zeit zwischen fallenden Tropfen an Eiszapfen gemessen, ihren Klang aufgenommen, untersucht, wie Veränderungen von Temperatur und Luftfeuchtigkeit wirken. Ich habe Zeit mit Wasser verbracht, bin getaucht und nass geworden, habe literweise Wasser geschluckt, gegurgelt und wieder ausgespuckt, das alles in verschiedenen Versuchen, es wirklich zu hören und vielleicht zu verstehen, mit ihm gleichberechtigt zusammenzuarbeiten. Dann kam die Zeit, in der Schluss war mit der ganz offenen Forschung und eine Produktion für ein Publikum entstehen sollte. Mein Ziel war es, auf der Bühne ein Ökosystem zu schaffen, in dem alle Elemente miteinander verbunden sind, sich gegenseitig beeinflussen und aufeinander wirken. Ich entschied mich, Wasser, Holz, Farbe und Salz als Kollaborateur*innen auf die Bühne zu bringen. Es gab noch andere, bereits anwesende Akteur*innen: den Boden, Elektrokabel, Vorhänge, die Schwerkraft, Feuchtigkeit, ein elektromagnetisches Feld. Während des gesamten Prozesses wurden mir immer wieder neue Dinge bewusst, die ich auch in die Choreographie der Gruppe integrierte. Einige waren offensichtlich, wie die Schwerkraft und die Temperatur, andere weniger greifbar, wie die Geister der vorherigen Choreographien im Raum, Referenzen und Zitate, denen wir uns nicht entziehen können, meine wechselnden Launen und viele andere mehr. Nach mehreren Versuchen, dieses Bühnen-Ökosystem zu erschaffen, wurde mir klar, dass sich das alles so anfühlte, als wolle ich meine Kollaborateur*innen manipulieren und wäre dabei aber nicht bereit, die Kontrolle über sie abzugeben. Ich stieß dann auf einen Satz von Fred Moten: „Some people want to run things, Other things want to run“. (Manche Menschen wollen führen. Andere Dinge wollen selbst laufen.) Und ich dachte: Was wäre, wenn ich aufhöre, etwas Reproduzierbares auf die Bühne bringen zu wollen und stattdessen den Dingen ihren Lauf lasse? Sie einfach frei lasse? Wie sieht ein Ökosystem aus, in dem die Dinge sich frei bewegen können?

Ziel war es, auf der Bühne ein Ökosystem zu schaffen, in dem alle Elemente miteinander verbunden sind

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Rósa Ómarsdóttir ist eine preisgekrönte isländische Tänzerin und Choreografin. Sie studierte an der Isländischen Universität der Künste sowie an der P.A.R.T.S. School für zeitgenössischen Tanz in Brüssel, wo sie derzeit lebt. Foto: Hakon Palsson

Jedes Element verfügt über veränderliche Eigenschaften und durchläuft natürliche Prozesse: Eis schmilzt, Farbe tropft, Salz rieselt usw. Ich brauchte also eine Struktur, die Freiheit ermöglicht und legte den Fokus auf diese Prozesse. Gemeinsam mit den Ton- und Lichtdesigner*innen und den Bühnenbildner*innen haben wir ein Ökosystem simuliert und während der Aufführung die Zustandsveränderungen jeweils verstärkt. Ausgehend vom Szenario des Anfangs waren alle Beteiligten frei: Das Eis konnte einfach schmelzen. Die Farbe konnte im eigenen Rhythmus tropfen. Die entstehenden Klänge beschrieben auf eigene Weise das Geschehen. Allerdings war das nicht besonders interessant für das Publikum, denn wir wollten ja eine Aufführung machen und kein wissenschaftliches Experiment, kein ReEnactment eines Ökosystems. Wir konnten nicht einfach Eiszapfen an die Decke hängen und Farbe tropfen lassen, um dann eine Stunde verstreichen zu lassen. Wir hatten also ein dramaturgisches Problem. Wie finden wir einen Erzählstrang, der unser Ökosystem interessant macht, ohne doch wieder unserer übermächtigen Sehnsucht nach Kontrolle nachzugeben? Wir beschlossen, uns auf eine gemeinsame Performance als Gruppe zu konzentrieren. Jede*r muss sichtbar werden, gleichberechtigt sein, nicht von anderen in den Hintergrund gedrängt werden. Das geht am besten, indem man den Darsteller*innen jeweils ein Solo gibt! Hier musste ich Entscheidungen treffen, um auch den Dingen Raum zu geben, die man normalerweise nicht wahrnimmt, und den Dingen eine Stimme zu geben, die man normalerweise nicht hört. Es galt, eine Balance zu finden und so wenig manipulativ wie möglich zu arbeiten. Als wir begannen, uns auf die Soli zu konzentrieren, stießen wir auf eine neue Herausforderung für nicht-anthropozentrischen Tanz, nämlich auf die Tatsache, dass unser Publikum eben menschlich ist und die Tendenz hat vorrangig andere Menschen zu beachten und zu betrachten. Unser menschlicher Fokus ist sehr anthropozentrisch. War nicht allein die Tatsache, dass ich als eine*r der Performer*innen auf der Bühne stehe, schon eine überwältigende Präsenz? Wie kann man das Publikum dazu bringen, eine Aufführung nicht anthropozentrisch zu betrachten? Diese Arbeit brauchte eine 'Landschaftsdramaturgie'. Gertrude Stein war eine der ersten, die darüber gesprochen hat. Sie schlägt eine neue Art von Schauspiel vor, ein Drama, in dem die Landschaft als Struktur wirkt, Sätze sich zu Landschaften zusammenfügen, Theater wie eine Landschaft betrachtet wird. In Spills sehen wir die Bewegungen, die Szenografie und das Soundscape als eine Landschaft, die das Publikum eine Stunde lang betrachten und erleben kann. Um die unbeachteten, unsichtbaren Dinge hervorzuheben und ihnen ihr SoloMoment zu geben, bestand meine Rolle als Choreographin darin, die Dinge behutsam in den Vordergrund zu rücken und die Aufmerksamkeit der Zuschauer*innen zu lenken, ohne Scheinwerfer oder andere Mittel einzusetzen. Wir sprachen von einer Choreographie der Aufmerksamkeit. Es ging darum, die natürlichen Prozesse zu verstehen und sie, nacheinander, in den Fokus zu rücken, ohne sie zu lenken oder zu beeinflussen. Als Performerin musste ich mich meist ganz zurücknehmen, mich nicht bewegen, so dass das Publikum sich den anderen Ereignissen auf der Bühne zuwenden konnte. In anderen Momenten habe ich getanzt, gesungen, imitiert, um damit die Aufmerksamkeit auf das zu lenken, was passiert: Ich imitierte das Geräusch von Tropfen, damit sie wahrgenommen werden. Ich brachte mich selbst in Einklang mit elektromagnetischen Feldern, um ihnen eine Stimme zu geben. Dies sind nur einige Beispiele für unsere Zusammenarbeit, in der wir versuchten, Dingen auf Augenhöhe zu begegnen. In vielerlei Hinsicht glaube ich, dass wir das erreicht haben, was wir uns vorgenommen hatten, aber wir stoßen auf immer neue Probleme, mit denen wir umgehen müssen. Trotzdem weiß ich, dass wir einen ehrlichen Versuch unternommen haben, eine gleichberechtigte Zusammenarbeit zu ermöglichen und währenddessen haben wir viel über das Verhältnis von Mensch und Umwelt gelernt, und hoffen, dass sich das auch dem Publikum vermittelt.

Aus dem Englischen von Meike Fechner


GRIPS Theater, Berlin Kaktus, Fittonie und Sukkulente wohnen liebevoll dekoriert mit Postkarten und Premierengeschenken auf einem Regalbrett in der Schneiderei. Foto: Daria Herken


Natur spricht Miniatur von Daniel Bernhard Cremer

S

Anmerkung des Autors: Der folgende Text enthält keine Informationen. Er ist lediglich zur inwendigen Bilderzeugung vorgesehen, am besten also mit geschlossenen Augen lesen. Viel Spaß!

drama

tadtlandschaft am Abend. Man hört Autos, die durch Pfützen fahren. Im Laternenlicht ein übervoller Papier-Container, die herausragenden Versandkarton-Pappen sind natürlich feucht und labbrig. Neben dem Container schießen ein paar wilde Gräser und Artemisia Vulgaris durch die Pflasterritzen. Artemisia, die Pflanze der Waldgöttin. Kommt die halt hierhin, wenn wir nicht zu ihr, wa? Ein MENSCH tritt auf, auf dem Weg in seine vier Wände. Es raschelt in den Gräsern. Der MENSCH bleibt stehen. Er hat etwas gesehen, das wir jetzt auch sehen: ein FUCHS tritt neben den Containern in Erscheinung, in eine Fertig-Sushi-Packung aus Plastik verbissen. Beide halten inne, beäugen einander. Die SushiPackung knackt noch ein letztes Mal, dann Stille. Der MENSCH, nachdem er zwei Impulse, das zu tun, erfolgreich unterdrückt hat, um den Moment nicht zu ruinieren, greift schließlich doch zu seinem Phone. Langsam (und das ist ihm ein bisschen peinlich gegenüber dem Fuchs, dessen Gefühl, jetzt ein Objekt zu sein, er natürlich sofort mitschneidet, aber was muss das muss) richtet er seinen ausgestreckten Arm mit der Handykamera auf den FUCHS. Beide sind gespannt, was passiert. Das ist, was passiert: Nach der üblichen Insta-Story-Dauer von 15 Sekunden (die sich aber wie ein paar Äonen anfühlen) führt der MENSCH das Telefon etwas zu ruckartig runter auf Hüfthöhe. Aber der FUCHS ist viel zu neugierig, als dass ihn das verschrecken könnte. Der MENSCH führt das Handy jetzt hoch an den Mund, was der FUCHS fasziniert verfolgt.

MENSCH

(ins Telefon:) Hey, Du glaubst nicht, was hier grad vor mir steht. Voll der süße Fuchs!

Dem FUCHS fällt die Sushibox aus dem Maul. MENSCH

Hab Dir‘n Video geschickt. Schau’s Dir an… Okay, bis morgen!

Der MENSCH will sich jetzt wieder ganz auf den Moment einlassen und schaut den Fuchs mit einer leicht übertriebenen Achtsamkeits-Emphase an. FUCHS

„Voll der süße Fuchs.“

MENSCH

FUCHS

Süß!? Ich?! Diggi, hast Du mich mal bei Tageslicht gesehen?

MENSCH

Ehm, nein?

FUCHS

Ich seh aus wie der Tod. Filzig, klapprig, dürr. Total unterernährt. Alter, ich fresse Supermarkt-Sushi! … „Voll der süße Fuchs“!!!

MENSCH

Tut mir leid. Ich seh halt nicht so oft Natur.

FUCHS

Natur?


drama

FUCHS

Ich zeige Dir: Natur.

NATUR

(fast würdevoll) Folbmorph suggendraht, suggen vohl Mauzlas. Hums!

Ach ja?

MENSCH

Hallo. … Ehm, sehr geehrte – Mutter

FUCHS

Ja. Bullshit.

NATUR

(kräht entsetzt) Kriiiiifffff! Kriiiiiiiifff!

MENSCH

Naja, also h i e r sind die Menschen, hier mit dem Smartphone, so wie ich, und Brille auf und Tasche um aus recycelter LKW-Plane … und auf der a n d e r e n Seite Du: Nackt … also mit Fell, sorry, … barfuß, allein auf die Instinkte angewiesen und halt … natürlich.

MENSCH

(zum Fuchs) Hab‘ ich was Falsches gesagt?

FUCHS

Nie gendern!

MENSCH

What?!

FUCHS

Das mag NATUR nicht.

NATUR

Fork simseln! Doh Minsk rogge!

MENSCH

Ja, sowas wie Dich nennen wir Natur: Pflanzen, Felsen, Tiere …

FUCHS

Ist mir schon bewusst, dass Ihr das so nennt.

MENSCH

Der MENSCH bemerkt, wie der Fuchs immer angewiderter schaut und versucht daher, ihm zu schmeicheln. MENSCH

Unschuldig. Unberührt. Majestätisch. Wie Natur eben so ist.

MENSCH

(zum Fuchs) Was sagt sie … ehm was sagt NATUR?

FUCHS

(lacht) Kitsch. Hast echt keine Ahnung, mein Lieber. (nimmt seine Sushibox wieder ins Maul) Aber war nett Dich zu treffen. (wendet sich zum Gehen)

FUCHS

Weiß i c h doch nicht.

MENSCH

Aber das muss doch –

NATUR

(lockt den MENSCHEN näher zu sich) Mins, mins, mins, mins! … Mins, mins, mins, mins.

MENSCH

Halt! … Wenn ich doch so wenig Ahnung habe und wo Du schon hier bist, kannst Du mir vielleicht ein bisschen was erklären? Also zeigen? Die Natur zeigen?

FUCHS

Hmmmm … (wittert ein Abenteuer und lässt die Sushibox wieder fallen) Okay.

MENSCH

Okay?

FUCHS

Ja. Jetzt!

Der FUCHS nimmt den plötzlich sehr kleinen MENSCHEN ins Maul und trägt ihn durch die Welt. Kulissen fahren um die beiden rum: Wellen, Häuser, Berghänge, Himmel über Steppe, Eis. Dann Kaleidoskopfarben überall. Dimensionssprung. Schon gut gemacht, ausstatterisch. Sie landen an einem andersdimensionalen Wegesrand. Ein Schild zeigt an: „DAS REICH DER NATUR“. Der Fuchs geht ernst voran, der MENSCH ganz aufgeregt hinterdrein. Aus dem Schnürboden fährt ein hübsches Schloss aus feuchter Pappe herab. Wachen aus Kristall stehen davor, ein Wind weht. Der Fuchs tanzt kurz für die Wachen und die beiden werden kommentarlos eingelassen. Szenenwechsel: Thronsaal. Auf einem riesigen Thron lungert eine verhältnismäßig kleine allegorische Figur herum: Die NATUR spielt mit den Wesen, die sie aus dem aufgeriffelten Saum ihrer Soutane geknüpft und mit etwas Schlamm angedickt hat. Die Figuren sind gerade in einen Disput über den Energieerhaltungssatz verstrickt.

Der MENSCH tritt vor den Thron. Er verbeugt sich vor der kichernden NATUR. NATUR

(plötzlich ernst) Du willst also Natur sehen.

MENSCH

Häh? …ehm, ja! Genau. Der Fuchs meinte, wenn ich von Natur spreche… naja, hätte ich halt keine Ahnung. Und darum –

NATUR

Darum zeige ich Dir Natur.

MENSCH

Danke, das –

Der FUCHS hält dem MENSCHEN den Mund zu und setzt sich neben ihn. NATUR

Jetzt!

NATUR weist nach rechts, wo die Matrix aufreißt und wir sehen: eine Stadtlandschaft. Autos. Papiercontainer. Artemisia. Der MENSCH im Bild-im-Bild tritt auf, läuft ohne Fuchsbegegnung am Container vorbei, nach Hause. MENSCH

Das bin ja ich!

FUCHS

Pssssst!

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Wir sehen den Bild-im-Bild-MENSCHEN im Bad, wie er sich die Zähne putzt. Er geht aufs Klo, schaut im Bett nochmal aufs Telefon und macht dann das Licht aus. Man sieht den MENSCHEN beim Cornflakes-Essen. Alles in Original-Timing. Man sieht Ameisen. Die U-Bahn. Man sieht einen Waldboden unterirdisch: Statisterie als Stickstoff- und Zucker-Moleküle, die durch Hyphen rasen. Der MENSCH und seine Mitmenschen hasten von der U-Bahn zum Bus. Ballett: die Bäume neigen sich im Wind. Der MENSCH verliebt sich in einen anderen Menschen. Die Erde bebt, der MENSCH macht Sport, donnert aufs Laufband. Längst ausgestorbene Nashörner rasen in Herden, die es nicht mehr gibt, durch eine trockensandige Landschaft, gelbe Wolken aufwirbelnd. Der MENSCH leert den Staubsaugerbeutel. Währenddessen werden der MENSCH und das Schloss langsam von einigen Rankpflanzen übernommen. Friedlich. Der Vorgang dauert ca. 50 Jahre, bis das Theater langsam aufgrund gefrierender und dann wieder auftauender Wasserrohre mürbe wird. Eine Geschwindigkeit, bei der der Vorgang dem ungeübten Auge fast wie ein Zustand vorkommt (was ja im Theater tunlichst zugunsten von Vorgängen vermieden werden soll, wegen der Spannung). Zu diesem Zeitpunkt ist der MENSCH bereits Boden geworden und zwar ein sehr lebendiger. Seine aus LKW-Plane recycelte Tasche liegt immer noch neben dem Ort, wo er vorhin noch saß, der MENSCH. Übrigens, ebenso wie d e r FUCHS, hier mit männlichen Pronomen benannt allein aufgrund der deutschen Grammatik. Der MENSCH kann jede Art von MENSCH sein, ebenso wie der FUCHS, der in der Zwischenzeit schon drei Mal durch eine neue Generation FUCHS ausgetauscht wurde. Irgendwann crackt ein Berg. Dann passiert ein paar Jahrtausende wieder nichts. Die Artemisia versamt sich. Der Vorhang fällt. Platsch! Anerkennender Applaus der Naturgeister. Publikumsgespräch. LUFTGEIST

(zum ERDGEIST) Was? Schon vorbei? Das war aber ’n kurzes Stück!

ERDGEIST

(grunzendes Lachen)

BAUMGEIST

Ja, also. Während die Akteur*innen sich teilweise noch frisch machen…

LUFTGEIST

Fschhhhhh.

BAUMGEIST

Ja, genau, frisch.

PILZGEIST

… isch … isch … isch bin’s … isch

ERDGEIST

(schüttelt sich vor Lachen)

BAUMGEIST

Wollen wir doch schon mal die ersten Fragen, die ersten Eindrücke sammeln. Um einfach, ein bisschen ins Gespräch zu kommen, nicht wahr, was wir da, ja, man könnte sagen, gesehen haben. Und einfach nochmal jetzt, retrospektiv alles auf uns wirken lassen.

WASSERGEIST Ich fand das mit den Nashörnern übertrieben. LUFTGEIST

Ich auch. Das war unglaubwürdig. Aber sonst …

WASSERGEIST Ja, sonst war’s sehr unterhaltsam. PILZGEIST

…. sam … sam … sam … Samen … sam

LUFTGEIST

(flüstert zum Erdgeist) Das scheint so ne Art Trend zu sein. Alle wollen jetzt irgendwas mit MENSCHEN machen.

ERDGEIST

(kichert)

Fade-Out. Die Szene geht ohne Ton weiter, Faun-Flöten erklingen im Hintergrund, Beethoven Pastorale. Auf die Bühnenrückwand wird ein Text projiziert: WENN ICH EINE KOHLRABI MIT MIR AUF DIE BÜHNE LASSE, WIE IN MEINER LETZTEN SOLOSHOW PASSIERT, DANN IST DAS RISKANT. NIEMAND SCHAUT MEHR MICH AN, SONDERN ALLE DÜRSTEN NACH DER VERFÜHRERISCHEN ZUFÄLLIGKEIT DER KOHLRABI, WOLLEN SEHEN WIE DIE BLÄTTER MIT EINEM UNSCHLAGBAREN SINN FÜR TIMING IM LAUFE DER SHOW WELKER UND WELKER WERDEN. WIE SIE DENGELN UND BAUMELN UND WINKEN. WIE DAS TEIL DA SO PRALL UND MILCHIG-GRÜN IN MEINER HAND LIEGT, IM GEGENSATZ ZU MIR OHNE JEGLICHE AMBITION.

Daniel Bernhard Cremer macht seit seinem 3. Lebensjahr Theater. In Wohnzimmern, Institutionen und im Wald. Foto: Christian Kleiner


Junge Deutsche Oper, Berlin Das ist James P. (Sulley) Sullivan. Diese Monstera ist eine stetige Begleiterin durch den manchmal stressigen Büro-Alltag in der Jungen Deutschen Oper. Foto: Lara Wentz


Performen oder Permaformen? Julia Dina Heße

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Wie ein konsequent anderer künstlerischer Umgang mit mehr-als-menschlichen Partner*innen aussehen kann, wie die Begriffe von Bühne oder Vorstellung sich dadurch verändern und welche Herausforderungen dieser Ansatz birgt, darüber diskutieren die Performerinnen Linn Sanders und Stine Hertel mit dem Architekten Hannes Schwertfeger.

hr seid von Haus aus Architekten bzw. Performerinnen, wo ist eure explizite Berührung mit Natur in der Arbeit?

praxis

Linn: Im Rahmen meines Masters of Performance an der ZHdK habe ich nach einer neuen, inklusiven Art des Theatermachers gesucht, die nicht nur Menschen mitdenkt, sondern artenübergreifend ist. Für mein Masterprojekt habe ich deshalb ein Kollektiv mit einer Pflanze, Miracle Leaf, gegründet. Was wir ins Leben gerufen haben, ist die Kunstform der Permaformance. Für mich funktioniert nicht, wenn ich sage, eine Pflanze macht Theater, weil Theater etwas von uns Menschen Erschaffenes ist. Darum der Begriff der Permaformance: Der Gestaltungspraxis der Permakultur folgend versuchen wir auf künstlerische Weise alle an einem Geschehen beteiligten Lebewesen und Dinge und ihre wechselseitige Beziehung zu verstehen. Der Mensch spielt in dieser Permaformance nur eine ganz kleine Rolle. Hannes: Seit 2010 haben mein Partner Oliver Storz und ich den Bereich der Baubotanik weiterentwickelt, das bedeutet, seit dem entwerfen wir Architektur mit und für Pflanzen. So hat man eigentlich zwei Auftraggeber*innen: auf der einen Seite den Menschen, der etwas von dem Gebäude will, aber eben auch die Pflanzen, die bestimmte Bedürfnisse haben. Aus Perspektive der Architektur hat sich unsere Arbeit dann immer weiter in Richtung darstellende Künste verschoben. Für uns sind unsere baubotanischen Konstruktionen inzwischen performative Vorstellungsräume. Sie schüren eine gewisse Erwartungshaltung auf ein gelingendes Wachstum. So ist die Erwartung auf Zukünftiges ausgerichtet, während die Performance darin besteht, einen kritischen Spannungsbogen zwischen Zukunft und dem Jetzt herzustellen.

Stine: Als Künstlerin erarbeite ich Performances und Installationen an der Schnittstelle von Bildender und Darstellender Kunst. Ich beschäftige mich mit der Performativität von Raum und Material. Schon immer haben mich dabei Fragen von Gemeinschaft und Macht interessiert, zum Beispiel: Wie kann man die Dominanz menschlicher Perspektiven destabilisieren? Ihr habt alle nicht-menschliche Wesen als Partner*innen in eurer Arbeit. Gab es eine bewusste Entscheidung oder Motivation, ein Projekt mit Pflanzen als Ensemblemitglied zu starten? Stine: Bei uns war das keine programmatische Entscheidung, sondern ein Prozess. Ich stelle mir immer grundsätzliche Fragen zu dem Raum, in dem wir uns befinden und bewegen. Linn: Ich komme vom Theater, vom „so Tun, als ob“ und wollte hin zu einer Performance, bei der es ums Sein geht. Nicht ums Spielen. So authentisch wie möglich. Kinder und Tiere, die haben ja diesen „Natürlichkeitsbonus“ im Theater, die ziehen den Fokus, weil da was wirklich echt ist auf der Bühne. Und das wollte ich sehr gerne lernen und habe daher den Versuch gemacht, es von einer Pflanze zu lernen. Hannes: Unsere Arbeit in der Baubotanik war von Anfang an transdisziplinär. Wir hatten drei Schwerpunkte: Architekturtheorie, Botanik und Konstruktion. Zur Zeit meines Studiums gab eine sehr neoliberale Denkweise des „Allesist-verfügbar“ – jedes Material, jede Menge. Das hat mich gestört. So haben meine Kolleg*innen und ich die Baubotanik entwickelt als ein Medium, sich als Architekt*in in


praxis

Abhängigkeit von unserer Umwelt zu begeben. Denn wenn ich mich entscheide, mit einer Pflanze zu arbeiten, hat das halt viel weitreichendere Konsequenzen als bei totem bzw. künstlichem Material: Pflanzen haben zum Beispiel einen völlig anderen Lebenszyklus. Wir hatten Lust zu schauen, wie wir uns eine architektonische Ordnung vorstellen können, die den offensichtlichen Problemstellungen unserer Zeit, zum Beispiel der Klimakrise oder der Materialkrise, Rechnung trägt. Was konkret ändert sich in den Arbeitsprozessen an einer Performance oder Vorstellung, wenn ich mich mit Pflanzen als Kolleg*innen abstimmen muss? Stine: Im Theatre of the Long Now ist das zuerst mal, dass wir unsere Spielzeit entlang der Jahreszeiten betrachten. Eine fette Sommerpause macht keinen Sinn, es gibt eher eine Winterpause, da kann man zwar ins Theatre of the Long Now gehen, aber es ist halt nicht so viel los. Wir sind beeinflusst vom Wetter und vielem Anderen, was nicht menschlicher Gestaltung unterworfen ist, sondern einfach passiert. Dazu kommen spezifisch Pflegearbeiten an der Fläche: Wie sich das Gefüge entwickelt, welche Akteur*innen es da gibt, wie die Interaktion zwischen verschiedenen Pflanzen funktioniert. Und dann die Entscheidung darüber, wie man seine Macht als menschliche*r Akteur*in in diesem Theater ausüben will. Es geht ja nicht nur um Pflanzenschutz, zu sagen: Hier wachsen Pflanzen und da stehen wir in Ehrfurcht daneben, sondern es geht gerade darum diese Kollision zwischen menschlichem Gestaltungswillen und dem, was in der Pflanzenwelt passiert, sichtbar zu machen. Auch das, was da an Brutalität und gegenseitiger Störung passiert zuzulassen und nicht zu verschleiern, sondern zu gucken, wie interagiert man, wie stört man sich, wie zerstört man sich gegenseitig? Was sind die Dynamiken, die da von der anderen Seite kommen, die erstmal nichts mit menschlicher Agenda zu tun haben, und wie kann ich das dann ins Verhältnis zu mir setzen? Welche Erfahrungen hast du bei der Zusammenarbeit mit einer Pflanze gemacht, Linn? Linn: Miracle Leaf und ich haben ein halbes Jahr permaformt und wir sind eigentlich durchgängig gescheitert. Weil ich eben versucht habe, eine Pflanze in unser menschzentriertes Theatersystem zu bringen. Indem ich eine Pflanze dazu hole, verlange ich ja automatisch, dass sie sich anpasst. Mein Wunsch war aber, auf Augenhöhe agieren zu können. Das ist in dem Sinne dann direkt gescheitert, als ich die Pflanze in meinen Bühnenraum geholt habe. Dabei hatte ich schon versucht, mich dafür zu bewegen: Ich habe draußen performt, Technik so weit wie möglich weggelassen, aber ich habe trotzdem gemerkt, indem ich dieses Framing von Bühne und Publikum setze, und indem ich es bin, die diese Pflanze dort hinstellt, ist es ja schon von mir kreiert. Mein erster Versuch war, dass wir für Pflanzen und Menschen performen. Aber dafür mussten die ganzen Pflanzen ja zur

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Bühne und wieder weggetragen werden, was total gegen die Natur einer Pflanze ist. Daher bin ich dann immer mehr an Orte gegangen, wo die Pflanzen eben verwurzelt sind. Aber es war ein ständiges Suchen, ein ständiger Prozess des „sichimmer-nur-annähern-Könnens“. Und mein Ziel war es, dass Miracle Leaf als Natursubjekt und ich als Kunstobjekt uns der Idee eines transspezies Wesens annähern. Du sprichst von Augenhöhe, Linn. Wie begegnet ihr dem Verdacht der Instrumentalisierung oder der Projektion im Umgang mit Pflanzen in der Theaterarbeit? Stine: Mir hilft es da weiter, zu sagen, es gibt ganz viele Perspektiven, wir haben unsere, Pflanzen und Tiere machen etwas ganz anders, wir werden nie wissen, was sie wollen oder was sie interessiert. Aber das Annehmen dieser Differenz war für uns der einfachste oder richtigste Weg, um mit

Was sind die Dynamiken, die da von der anderen Seite kommen, die erstmal nichts mit menschlicher Agenda zu tun haben, und wie kann ich das dann ins Verhältnis zu mir setzen?

dem Theatre of the Long Now weiterzukommen. Die Pflanzen machen auch kein Theater für uns, sondern wir schauen auf das Wachstum von Pflanzen als performativen Prozess. Wir entscheiden, diese Brachflächen als einen Bühnenraum anzuschauen, das ist eine dominante Entscheidung und es ist eine Geste der Macht, da dann Menschen einzuladen und alle gucken die Pflanzen an. Aber darin gibt es dann auch diese Momente, in denen bei einer Vorstellung plötzlich etwas nicht funktioniert: draußen ist es zu warm, jemand kriegt einen Sonnenstich und da kommen wir plötzlich auch an unsere Grenzen und zu der Notwendigkeit uns damit auseinanderzusetzen. Hannes: Auf Augenhöhe bringen bedeutet für mich erstmal, sich innerhalb dieser Gesellschaft auf Augenhöhe zu bringen über dieses Thema. Den Pflanzen ist das vermutlich egal – die haben es ja auch nicht so mit Augen. Wir setzen uns mit den menschlichen Gewohnheiten auseinander, wie wir mit unserer pflanzlichen Umwelt umgehen. Wie versteht ihr Performance in einer solchen Konstellation? Oder anders gefragt: Was unterscheidet eine Vorstellung auf eurer Brache von einer Führung durch den Botanischen Garten? Stine: Eigentlich ist es nur eine Frage der Rahmung. Man könnte auch im Botanischen Garten eine Performance


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machen, die im Theatre of the Long Now super ähnlich wäre. Vielleicht durch das Prinzip von ready made – dass man anschaut, was da ist, und was etwas macht, das unabhängig ist von mir. Und dann treffe ich extrem viele Entscheidungen darüber, wie der Blick gerahmt wird und zu was für einer Form von Zuschauen ich da Leute einlade. Und das ist eigentlich der riesige Inszenierungsapparat: Zu welcher Uhrzeit lade ich ein, wie viele Leute, wo dürfen die stehen, wie ist der Ablauf, kriegen die noch einen Drink? Das könnte man im Botanischen Garten auch machen. Aber natürlich ist das angelegte Gelände ein ganz anderes Gefüge als die Brache, auf der wir arbeiten. Hannes: Die Frage ist doch: Was pflanze ich den Leuten an Begriffen in den Kopf? Unsere Performance bietet ein ganz anderes Framing als Naturwissenschaftler*innen gucken würden. Wir gucken nicht wie Wissenschaftler*innen auf die Pflanzen, nee, wir gucken der Naturwissenschaft dabei zu, wie sie ihre Arbeit mit unseren pflanzlichen Akteur*innen vor Ort macht. Wir verankern einen alternativen Umgang mit Pflanzen im Alltagsgeschehen des städtischen Lebens. 2020 haben wir mit Stine und Alice und mit den Botaniker*innen der Botanischen Gärten der Uni Hohenheim eine botanische Erhebung inszeniert, mit Artenbestimmungen und allem, was dazu gehört. Gleichzeitig haben sie die erhobenen Pflanzen zu den Hauptakteur*innen unseres performativen Vorstellungsraums gemacht. In diesem Sinne werden von uns vielleicht eher die Wissenschaftler*innen oder eben diejenigen, die im Theatre of the Long Now im Rahmen unserer Vorstellungen arbeiten, funktionalisiert. Bei der Erhebung wurden von uns die Wissenschaftler*innen eingesetzt, um ihre alltägliche Arbeit in einem performativen Vorgang durchzuführen. Denn sie zeigen uns einen anderen sehr speziellen Zugang zu Pflanzen als diese nur als einen Rohstoff zu sehen.

darum geht, wie langfristige Projektentscheidungen fallen: z. B. dass zukünftige Stadtparks mehr so entwickelt werden wie wir unsere Brache performen. Warum machen wir als Künstler*innen diese Performance und gründen Institutionen, warum macht das nicht gleich das Stadtplanungsamt? Linn: Ich versuche als Mensch in meinen Permaformances Pflanzen zu ihren Rechten als Lebewesen auf diesem Planeten zu verhelfen, damit sie einen Platz in unserer Gesellschaft bekommen, worauf diese im Moment ja überhaupt nicht ausgelegt ist. Kreativität ist für mich der Weg bei allem, was ich tue. Vielleicht schließt sich da der Bogen zum Publikum im Jungen Theater, weil dieser Zugang für mich etwas sehr Kindliches hat. Ich kann kreativ sein in künstlerischen Vorgängen, in aktivistischen oder Produktionsvorgängen – und die Partizipierenden können selbst entscheiden: lachen sie einfach nur drüber, sind sie unterhalten, nehmen sie was für sich mit, lernen sie was daraus – mir macht es eben Freude.

Linn Sanders ist gelernte Schauspielerin und wirkt als artenübergreifende Künstlerin und Aktivistin für das Instinktut für angewandte Normverschiebung. Sie lebt in Zürich.

Stine Hertel ist Performancekünstlerin und Lichtdesignerin. Mit Alice Ferl, dem Bureau Baubotanik, dem Theater Rampe und dem Kunstverein Wagenhalle gründete sie das Theatre of the Long Now in Stuttgart. Sie ist KoLeiterin der PerformancePlattform Rotterdam Presenta und baut performative eskalierende Bühnenbilder.

Hannes Schwertfeger studierte Architektur in Kassel, Delft, Mexiko-Stadt und Stuttgart und war 2006 Gründungsmitglied der Forschungsgruppe Baubotanik. Gemeinsam mit Oliver Storz leitet er seit 2010 das Bureau Baubotanik.

Wie geht es weiter in eurer Arbeit? Was habt ihr für Ziele oder Wünsche? Stine: Kunst und ihre Formen von Darstellung und Performativität zu verändern ist auf jeden Fall ein Anliegen. Welche Formen von Performativität kann es geben und was ist das für eine Positionierung gegenüber der Gesellschaft oder dem gängigen Menschenbild? Theater ist dafür da, Verwirrung zu stiften, die produktiv genutzt werden kann von Gesellschaft. Das wäre mein Wunsch. Man muss nichts lernen bei uns, sondern wir bieten einen Rahmen, in dem diese Verwirrung einen Raum haben kann und jede*r kann sie für sich nutzen oder auch nicht. Hannes: Mein Wunsch ist es, klare Vorstellungen davon zu entwickeln, was sein kann. In dem Fall des Theatre of the Long Now ist diese Vorstellung ja nun schon da: sie hat 2017 begonnen und wird vermutlich bis 2117 andauern. Ich persönlich will, dass sich unsere Arbeit auch auf die Organisationsweise von Institutionen auswirkt, wenn es

Julia Dina Heße ist Dramaturgin, Regisseurin und Wissenschaftlerin. Sie ist Stellvertretende Vorsitzende der ASSITEJ Deutschland und Mitglied im Executive Committee der ASSITEJ International. Foto: Oliver Berg


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Unkraut, bitte! Torsten Thiele

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Wildwechsel, das Kinder- und Jugendtheaterfestival im Osten Deutschlands, hat in Bernburg eine Zentrale für Unkräuter eingerichtet.

er Besuch hat den durchsichtigen Plastikbecher einfach aus dem Regal genommen und gestikuliert mit der freien anderen Hand: „Ich könnte jeden Tag mit dem Klee sprechen und ihm einen Namen geben! Dann ist er auch nicht so alleine wie hier. Außerdem wird die Palme am Fenster bestimmt sein bester Freund ...“

In ihrer Rechten schwabbert das Wasser in dem halb gefüllten Gefäß und schaukelt die als „Weißklee“ definierte Pflanze wiegenhaft hin und her. Das grünliche Geschöpf hat schon gelbe Blätter, das trübe Wasser steht oberhalb der Wurzelknolle und lässt das Wurzelwerk aufgequollen kristallin schimmern. Insgesamt macht der Klee den Eindruck, endlich nach 5 Stunden Serpentinenstraße, von der Rücksitzbank eines vollgepackten Familien-Vans im sogenannten „Urlaubsparadies“ entstiegen zu sein. Zwei Ohren weiter versucht ein Pärchen einen entwurzelten „Löwenzahn“ zu adoptieren und sich für eine Pat*innenschaft einzutragen: „Bei uns Zuhause wird sich der Löwenzahn sicher sehr wohl fühlen! Wir haben so viel von seiner Sorte! Unser ganzer Garten ist voll von diesem Zeug! Bei uns dürfen alle Pflanzen wachsen, wie sie wollen. Nur meine Lieblingspflanzen gieße ich aber ab und zu.“ Die Schüler*innen der 8. Klasse des Gymnasium Carolinum in Bernburg sind etwas irritiert ob des überbordenden Aktionismus des Besucher*innenstroms. Die Unkrautzentrale ist auf den letzten Drücker fertig geworden und über den Personalschlüssel herrschte bis zuletzt große Unklarheit. Trotzdem sind nun alle Ausgabestellen in dem normalerweise leerstehenden Ladenlokal in der Bernburger Innenstadt von Schüler*innen besetzt. Eine der Achtklässler*innen beugt sich über das Formblatt „Offizieller Eignungsfragebogen zur Übernahme einer Patenschaft entwurzelter Pflanzen (sog. Unkräuter)“. Anhand dieses Formulars soll über die Eignung der Besucher*innen entschieden werden, einer entwurzelten Pflanze eine neue Heimat, einen neuen Flecken Erde zuweisen zu dürfen. Die Jugendlichen müssen über die Eignung der Bewerbungen sowie deren

Glaubwürdigkeit entscheiden. Es ist eine verantwortungsvolle Aufgabe. Begonnen hat diese Geschichte Mitte Oktober 2021 beim Festival Wildwechsel, unter dem Motto „Garten der Demokratie“. Gesellschaftliche Akteur*innen aus Bernburg an der Saale zeigten „mit verschiedenen künstlerisch/partizipativen Projekten, wie kraftvoll das Gemeinsame sein kann, aber wie anstrengend es ist, das Andere auszuhalten.“ Schüler*innen des Bernburger Carolinums durchstreiften für den Workshop „Unkraut, bitte!“ tagelang die Stadt, Vorstadt und Kleingartenanlagen, auf der Suche nach Gärtner*innen, nach Menschen also, welche gärtnern, bzw. an und mit Pflanzen arbeiten. Das Konzept des Workshops nimmt das Motto des Festivals zum Ausgangspunkt und beschäftigt sich mit Pflanzen und Demokratie. Menschen und Pflanzen leben seit Urzeiten in Koexistenz und „Mensch“ stellt sich unter dem Begriff „Pflanze“ sofort etwas Passendes vor: grünlich, lichtliebend und schweigsam. Sie sind unbeweglich und doch kann ein Ort von heute auf morgen von ihnen völlig überwuchert werden. Oft scheinen sie verwurzelt zu sein und sich an bestimmten Orten heimischer zu fühlen als an anderen. Jedenfalls könnte dies durch uns Menschen so interpretiert werden. Im Detail entlarven sich dann aber verschiedenste Sichtweisen. Diese Unterscheidungen werden spätestens beim Gärtnern offenbar, denn bei dieser Tätigkeit wird nach einer scheinbar bestimmten Gesetzmäßigkeit Pflanzen ein beliebiger Wert zugesprochen bzw. entzogen. Die zugrunde liegende Regel, welche über den ihnen jeweils innewohnende Wert entscheidet, ist bisher unbekannt. Auch die Übertragbarkeit dieser menschengemachten Qualitäten auf andere Pflanzen erscheint von Fall zu Fall verschieden. Es herrscht Willkür. Kann ein beliebiger Wert zugesprochen oder entzogen werden? Wie entsteht die Klassifizierung „Unkraut“? Welche Rolle spielen Gesten bei der Zuweisung des Wertes? Wann wird ein Lebewesen zu Müll? Gemeinsam mit den Schüler*innen des Carolinums suchten wir in diesem Projekt nach einer Gesetzmäßigkeit, um diesen singulären Erscheinungen auf die Spur zu kommen. Ausgehend von unserer Zentrale fragten die Jugendlichen Bernburger Menschen nach „Unkraut“ aus deren


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Gärten. Möglichst offen sollte die Frage gestellt sein und es sollte nach einer einzelnen Pflanze, nach einem einzelnen „Kraut“ gefragt werden. Die Befragten würden aus der Fülle ihres Gartens die einzelne Pflanze auswählen und ihr durch die Benennung „Unkraut“ den Wert entziehen. Diese Deklaration spricht ihr somit den Status von „Müll“ zu. Der Diffamierung der Pflanze folgt eine starke Geste des Herausreißens, Herausstechens oder sonstigen Entfernens.

Kann ein beliebiger Wert zugesprochen oder entzogen werden? Wie entsteht die Klassifizierung „Unkraut“? Wann wird ein Lebewesen zu Müll? Diesem Prozess, von der Benennung bis zur Ächtung, galt unser Augenmerk. Zu Forschungszwecken sollte er daher von den Schüler*innen protokolliert und fotografiert werden. Im Laufe der Projektwoche brachten die Kleingruppen der beteiligten Jugendlichen unterschiedlichste Eindrücke und Stimmen von ihren Begegnungen mit. In dem leerstehenden Ladenlokal am Rande der Fußgängerzone häuften sich als „Unkräuter“ definierte Pflanzen, wie Schafgarbe, Gänsedistel, Vogelmiere, Gänseblümchen und verschiedene Kleesorten. Transparente Plastikbehälter in verschiedenen Größen und Formen sorgen für das temporäre Überleben der entwurzelten Pflanzen. Die einzelnen Fundorte wurden auf einer großformatigen Stadtkarte direkt hinter dem Schaufenster des Ladens, markiert. An die vormals freien Wände des Raums hefteten sich mehr und mehr ausgedruckte Fotografien, die die Geste der Entfremdung aufzeigen sollen. Man sieht Schaufeln und Handschuhe, aber auch Daumen und Zeigefinger, welche stolz eine Löwenzahnwurzel ins Bild halten. Dazwischen zeigen handschriftliche Beobachtungsprotokolle, wie individuell und vielschichtig die Begegnungen mit den Menschen stattfanden. So beschreibt eine Handschrift die Begegnung in dem Blumenladen Blume2000: „Sie sagen, sie hätten kein Unkraut! Nur Blumen! Aber Montag werden immer viele Pflanzen aussortiert, die sie dann wegschmeißen! – Zum Beispiel, wenn nicht mehr viele Blüten dran sind. – Wir durften uns davon welche aussuchen und haben uns auch für zuhause noch zwei Stück mitgenommen, weil sie doch noch schön sind?!“

Idee, das mit Menschen zu vergleichen, also das Unkraut, fand er aber tatsächlich ganz gut. Leider wollte er anonym bleiben.“ Spätestens hier entlarvt sich die Metaphorik der Pflanzen als absurdes Konstrukt. Die Allegorie des Unkrauts in der Pflanzenwelt verdeutlicht Strukturen und ermöglicht persönliche Gespräche zu Themen wie Ausgrenzung und Mobbingerfahrungen. Man spricht über Freund*innenschaften und Zugehörigkeit. Manchmal muss man schweigen, vielleicht, weil die Dimensionen sehr komplex sind. Neu mitgebrachte Zitate sind gefärbt von Hilflosigkeit: „Wir haben versucht ihnen zu erklären, was wir erforschen wollen, aber sie fanden es unsinnig und diskriminierend. Trotzdem haben sie uns ein Unkraut mitgegeben.“ Zwei Tage später besichtigen die Besucher*innen der Festivaleröffnung die Ergebnisse der Feldforschung in der Unkrautzentrale. Nach dem strengen Fragenkatalog, welcher das zukünftige Wohlergehen der entwurzelten Kräuter sicherstellen soll, werden durch Schüler*innen der 8. Klasse Pat*innenschaften vergeben. Manche Schalter sind doppelt besetzt, man wechselt sich ab: „Welche Qualitäten können Sie der Pflanze in dem neuen Lebensumfeld anbieten? Warum sollten wir gerade Ihnen diese Pflanze mit nach Hause geben? Haben Sie schon Unkräuter?“ Es könne ja sein, dass jemand einen Brennnesselgarten anlegen möchte und dafür noch die ein oder andere Brennnessel sucht. Geduldig wird Frage um Frage gestellt und versucht, den wüsten Ausführungen der Bewerbungen eine klassifizierbare Form zu geben. Die Vorstellung, eine utopisch perfekte Garten-Gesellschaft im privaten Hinterhof zu errichten, stachelt die Besucher*innen des Festivals zu weiteren Patenschaften an! Dumm nur, dass im Vorfeld von den Bernburger*innen keine Brennnessel als Unkraut definiert wurde und folglich keine einzige in der Unkrautzentrale im Angebot ist. Damit bleibt der homogene Brennnesselgarten einstweilen eine Utopie.

Auf einem anderen Protokoll wird ein anderes Zusammentreffen so beschrieben: „Wir haben diese ‚Weiße Fetthenne‘ von einem netten jüngeren Mann bekommen! Er meinte: ‚Mich nervt das Zeug!‘ Es klebt wohl immer an seinen Hauswand-Rillen. Die

Torsten Thiele arbeitete am Deutschen Nationaltheater in Weimar und ist seit 2020 freischaffender Bühnenbildner und Künstler. Er lebt und arbeitet in Leipzig. Foto: privat


Deutsches Theater, Göttingen Aus der Aktion „Kultur pflanzen“ haben die Ableger und Samenbomben hier ihren neuen Lebensraum gefunden und erobert. Foto: Gabriele Michel-Frei


Kinder- und Jugendtheater und das Sumak Kawsay Zaydum Chóez Espinosa

was inspiriert eigentlich …?

Im Jahr 2008 hat Ecuador als erstes Land in seiner Verfassung die Natur als Rechtssubjekt anerkannt. Wir haben nachgefragt, was das im Alltag und in der Kunst bedeutet.

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Das FITIJ Guaguas de Maíz ist ein ecuadorianisches Theaterfestival für Kinder und Jugendliche. Seinen Hauptsitz hat es in Quito und gehört zu den wichtigsten Kinder- und Jugendtheaterfestivals des Landes.

it der Reform der ecuadorianischen Verfassung (2008) wurde das Sumak Kawsay zum Grundrecht. Dieses philosophische Prinzip entstammt dem jahrtausendealten Wissen der indigenen Völker aus der Andenregion (hier sind die Anden in Ecuador, Bolivien und Peru gemeint). Der Ausdruck kommt aus dem Quichua und bedeutet übersetzt „gutes Leben“, wobei dies, wie jede Übersetzung, nicht den ganzen Sinn und die symbolische Bedeutung wiedergeben kann. In der Präambel der ecuadorianischen Verfassung vom 20.10.2008 heißt es: „In Anerkennung unserer jahrtausendealten Wurzeln, geschaffen von Frauen und Männern unterschiedlicher Völker, und zur Feier der Natur, der Mutter Erde (Pacha Mama), von der wir Teil sind und die für unsere Existenz lebensnotwendig ist, [...] beschließen wir, eine neue Form bürgerlichen Zusammenlebens zu schaffen, in Vielfalt und Harmonie mit der Natur, um das gute Leben, das Sumak Kawsay, zu erreichen [...].“ Es geht um die Fähigkeit des Menschen, mit allen Teilen seines soziokulturellen Umfelds zu koexistieren und sich mit ihnen in Harmonie zu verbinden. Der umfassende Sinn, den Sumak Kawsay dem Leben verleiht, schließt auch Natur und Tiere ein. Genau diese Annahme macht die Verfassung Ecuadors zu einem interessanten Modell, denn sie gibt der Natur die Rechte wieder, die ihr gehören und immer gehört haben. Doch wie lassen sich die philosophischen Implikationen des Sumak Kawsay in einem von großer sozialer Ungleichheit geprägten Land umsetzen? Wie können die lebendigen Bande zwischen Natur, Tier und Mensch betont, gewürdigt und wiederhergestellt werden? Wie ist in einer diversen Gesellschaft, wo indigene mit afrikanischstämmigen Völkern und anderen, ethnisch gemischten Gruppen zusammenleben, für die Rechte aller zu sorgen? Antworten auf diese Fragen mögen schwer zu finden sein. Sie umgibt ein riesiges Geflecht wirtschaftlicher Interessen, die vor allem den Fortschritt im Blick haben. Trotzdem glauben wir, dass konkretes Handeln der beste Wegweiser auf der Suche nach Antworten ist. Aus diesem Grund verfolgen wir, als Festival Internacional de Teatro para la Infancia y la Juventud Guaguas de Maíz, seit unseren Anfängen 2004 das Ziel, das Kinder- und Jugendtheater zu demokratisieren und zu dezentralisieren. Wir wollen vergessene, marginalisierte und unzugängliche Räume betreten und das


was inspiriert eigentlich …?

Recht von Kindern und Jugendlichen auf Zerstreuung, Erholung und Spaß an Kunst würdigen. Somit ist auch Sumak Kawsay seit jeher fester Bestandteil unserer Arbeitsphilosophie. Das FITIJ hat sich in verschiedenen Provinzen Ecuadors entwickelt, wodurch wir Kinder und Jugendliche indigener, afrikanischer und ethnisch gemischter Herkunft erreichen können. Wir zeigen Stücke, die uns dem tiefen Sinn und der wesentlichen Bedeutung des Sumak Kawsay näherbringen – über die Einfachheit der kleinen Dinge, über Poesie, Spiel und gegenseitige Achtsamkeit – und solche, die aus der reichen Mythologie und Weisheit der indigenen Völker schöpfen und uns dazu einladen, kritisch über jahrtausendealte Formen des Zusammenlebens nachzudenken, welche die Natur nicht beschädigen und damit im Gegensatz zur massiven Ausbeutung natürlicher Ressourcen stehen. Das Leben im weitestmöglichen Sinne zu begreifen gelingt nur, wenn der Verstand lernt, mit der Welt der Gefühle zusammenzuleben. Genau das besagt die Philosophie des Sumak Kawsay. Patricio Guerrero Arias sagt: „[...] es bedarf einer radikalen Transformation unserer Subjektivitäten; deshalb bildet die lebendige Arbeit mit Kindern eine Schlüsselachse für die Konstruktion verschiedener politischer Subjektivitäten; Subjektivität und Ethos können nur aus der politischen Tiefe der Gefühlswelt heraus transformiert werden, denn die Begegnung mit der unerträglichen Andersartigkeit des Gegenübers ist ein Akt der Liebe […] (Guerrero, 1999).“ (Arias, Ferraro, & Hernán, 2016) Wir sind überzeugt, dass dieser Akt der Liebe die Basis des Kinder- und Jugendtheaters bildet. Gleichzeitig vereinigt er die Welt der Vernunft und die des Gefühls so miteinander, dass sie geschwisterlich zusammenleben können und damit den Weg zum Sumak Kawsay ebnen, in dem der Mensch, egal wo auf der Welt, die Liebe zum Leben und das gute Leben spüren kann.

Aus dem Spanischen von Miriam Braun

Bibliografie Arias, P. G., Ferraro, E. & Hermosa, H. (2016). El Trabajo Antropológico (Miradas teóricas, metodológicas, etnográficas y experiencias desde la vida). Quito: Abya-Yala. http://herzog.economia.unam.mx/profesores/blopez/valoracion-swamish.pdf (o.D.). https://www.asambleanacional.gob.ec/sites/default/files/documents/old/constitucion_de_bolsillo. pdf (o.D.).

Zaydum Chóez Espinosa ist Regisseur, Schauspieler, Erzähler, Drehbuchautor, Kulturagent und -berater. Er lebt und arbeitet in Ecuador. Foto: privat

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Apfel, Farn, Fluss und Wald Vorgestellt von Joscha Schaback

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Es gibt unzählige Texte über Tiere in Menschengestalt, aber wie ist es mit Pflanzen, Bäumen oder dem Wasser? Wir haben bei vier Verlagen nach einem Werk gefragt, das Natur auf eigenwillige Weise in Szene setzt. Auch eine Balladenmärchenminioper gehört dazu.

n Martin Orths Schauspiel Cous-Cous gibt nicht auf langweilen sich Adalbert Apfel, Kati Kartoffel, die Tomate Romana und das Ölivenöl alias Olivia im Küchenschrank. Wann werden die Menschen die schmackhaften Gegenstände endlich zubereiten? Zum Glück verschlägt es Cous-Cous an den einsamen Ort. Gemeinsam schaffen es die ungleichen Gesellen, aus dem Schrank zu klettern, dem Nachbarshund zu entwischen, dem Verkehr der Stadt zu trotzen und den Ort ihrer Träume zu erreichen: Die Wunderpflanze Zaziki zur Kaki empfiehlt sie dem Meisterkoch Zako, der aus ihnen ein wunderbares Essen kocht – es wird gleich auf der Bühne serviert und das Publikum ist eingeladen. Das Stück für Kinder ab vier Jahren zeigt ein menschliches Bild von Apfel, Kartoffel und Tomate. Adalbert legt Wert darauf, ein Bio-Gütesiegel zu haben, zweifelt an der landschaftlich fragwürdigen Herkunft von Romana und benimmt sich gegenüber dem nordafrikanischen Sonderling CousCous ziemlich fremdenfeindlich. Doch er lernt dazu. Am Ende akzeptieren sich die Gefährten und halten zusammen. Die Regie der Uraufführung von 2017 im Theaterzentrum Deutschlandsberg (Steiermark) hat die Charaktere in dicke Apfel- Kartoffel- und Tomaten-

kostüme gepackt, die die Vermenschlichung noch verstärken. Man müsste das Stück nochmals als Objekttheater inszenieren. Vielleicht würden Obst und Gemüse dadurch an auratischer Eigenständigkeit gewinnen. Weil sie so stark personalisiert sind, stellt sich die Frage, woher die liebenswert menschlichen Gestalten so viel Opferbereitschaft nehmen, denn sie werden in den Bäuchen der Menschen sterben. Vegetarier verzichten vernünftigerweise darauf, dass Tiere für sie auf den Teller kommen. Doch auch wenn wir Pflanzen essen, ernähren wir uns von Lebendigem. Wie geht man mit dieser Frage um? Während Orth mit einzelnen Figuren spielt, die aus der Natur kommen, konfrontiert Ruth Johanna Benrath mit ihrem Text im wald (da sind) Menschen mit einer Gruppe von Tier- und Pflanzenwesen. Zwei Mütter donnern im SUV mit den Kindern Max und Mia durch den Wald ins gemietete Wochenendhaus. Sie fliehen vor der Großstadt und vor Corona. Aber bietet der Wald wirklich die Ruhe, die er verspricht? Die Natur ist schön, aber auch bedrohlich. Tiere und Pflanzen haben die Eindringlinge längst entdeckt, nachts schauen sie feixend in die Zimmer. Dann kidnappen Hirsch, Hase, Pilz und Co den Familienhund. Versöhnung

gelingt den Kindern, indem sie zuhören und eine Botschaft mitnehmen: „kitz: trampelt nicht in unserm wald rum / pilz: wie die idioten / wolf: sagt das denen / chor (der Planzen und Tiere): den menschenwesen / farn: stinkt hier nicht mit euren autos rum / hirsch: ohne sinn und verstand / wildschwein: sagt das denen / chor: den menschenwesen / kitz: schmeißt hier keinen müll rum / farn: sagt das denen / chor: den menschenwesen.“ Das Stück feierte im Januar seine Uraufführung am COMEDIA Theater Köln. Manuel Moser setzte es turbulent in Szene. Indem vier Schauspieler*innen im virtuosen Tempo zwischen den Figuren hin- und herwechseln, geht aber mitunter der fein komponierte Gegensatz von Mensch und Natur verloren. Denn im wald (da sind) ist nicht nur witzig und prägnant, sondern auch lyrisch und zart. Man möchte den Text im Dunkeln vorgelesen bekommen. Benrath schreibt nicht nur Lyrik und Prosa, sie ist auch eine erfolgreiche Hörspielautorin. Der uralte Farn, der Pilz (ein „Netzwerk“) oder der einfältige Hase sind mehr Stimmen als Figuren, die in der Imagination zu seltsam vertraut-unvertrauten Wesen werden. Auch wenn sich die Tiere manchmal wie halbwüchsige Hooligans benehmen (O-Ton


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des milden Monds, der als Sinnbild des romantischen Blicks auf die Natur immer mal wieder vorbeikommt), sind sie doch eine eigenwillige Schar, die fast immer als zusammenhängende Gruppe auftritt. Durch ihr chorisches Sprechen erlangen Tiere und Pflanzen eine eigene Kraft. Zusammen bieten sie den Menschen die Stirn. Hat es das Musiktheater leichter, Natur darzustellen? Beethoven hat in seiner Pastorale Vogelsang und rauschende Bäche vertont, Richard Strauss die erhabenen Alpen portraitiert. In Engelbert Humperdincks berühmter Kinderoper Hänsel und Gretel ist der Wald ein Wesen, das sich musikalisch von einem hellen Ort des Abenteuers in einen dunklen Bereich der Angst verwandelt. Mit Mina oder Die Reise zum Meer knüpfen der Komponist Anno Schreier und sein Librettist Alexander Jansen an diese Tradition an. Mit der Flöte (und der alternierenden Piccoloflöte) setzen sie ein Instrument ein, das bis heute verwendet wird, um Naturlaute anzudeuten. Das Zweipersonenstück erzählt die Geschichte von dem stummen Mädchen Mina, das sich nach dem Tod ihres Vaters mit ihrem schwarzen Schaf Wolke auf eine lange Reise begibt. Ein Bariton trägt die Geschichte im Stile einer Ballade vor und übernimmt 20 Rollen, darunter auch Balken, Katze oder Wasserrohr. Die Flötistin stellt die Hauptfigur dar. Während Mina und Wolke einem Fest beiwohnen, Soldaten begegnen oder einen Drachen überlisten, bleibt der Fluss ihr ständiger Begleiter. Schreier hat seine Musik aus der fließenden Bewegung des Wassers heraus entwickelt. Musikalische Wellen bilden den stetigen Puls des Stücks. Mina lauscht diese Musik am Anfang dem rauschenden Wind und dem Wasser ab. Die Stimme der Natur ist in Mina also mehrfach transformiert, nämlich zum einen durch die musikalisierte Form und zum anderen dadurch, dass sie Minas Sprache darstellt. Wenn die Natur in Cous-Cous als vermenschlichte Individualisten, in im wald (da sind) als widerständige Gruppe auftritt, so ist das Wasser in Mina keine verkörperte Figur. Es ist eine Stimme, die sich Mina angeeignet hat, um sich zu behaupten. In einer Szene kommt

Mina fast im Wasser um, aber es bleibt bis zum Ende ihr Gefährte, der ihr Kraft und Identität gibt. Ähnlich wie der Bariton in Mina schlüpft in Im verschwundenen Wald Opa Marcel in alle Rollen. Sonst gibt es in Olivier Sylvestres Stück nur noch die Kinder Oli und Valérie, die sich Val nennt. Marcel ist Olis Großvater, der beatmet werden muss. Über seinen Sauerstoffschlauch hört er Dinge, die sonst niemand wahrnimmt und kann auf wundersame Weise mit der Welt in Kontakt treten. Er ermutigt Oli und Val einen Schatz zu suchen, obwohl der alte Wald mittlerweile zu ödem Brachland geworden ist. Im zweiten Teil des Stücks begegnen sich Oli und Val als Jugendliche wieder und nochmal ist es Marcel, der die Zeitläufte so steuern kann, dass sich die Freundschaft der jungen Leute festigt. Im verschwundenen Wald handelt von Ausgrenzung. Vals Eltern sind aus Tahiti geflüchtet, aber auch der ängstliche Oli ist im Viertel ein Outsider. Das zentrale Bild der Ausgrenzung in diesem wunderbaren Stück ist aber die Zurückdrängung des Walds – nicht nur als Verlust von Natur, sondern auch von kindlichem Lebensraum und als Ort der Fantasie. Anders als in den Umweltstücken vergangener Jahrzehnte wird dabei keine Klage erhoben und kein Geldmacher bekämpft. Die Stimme der Natur erscheint berührend und glaubhaft, weil sie eine von vielen Stimmen ist, die Marcel verkörpert. Genau wie der Wald gestorben ist, wird auch Marcel im Laufe des Stücks sterben. Marcel stellt im ersten Teil die riesige eingebildete Kröte von Vimont und im zweiten die reale, kleine Kröte dar, die die Giovanni-Gang ablenkt und Oli und Val den entscheidenden Vor-

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sprung verschafft, um vor der gewaltbereiten Gruppe zu fliehen. Marcel ist es, durch den das verkommene Brachland zu einer Märchenlandschaft wird, in das die älter gewordenen Jugendlichen, obwohl sie (oder besser: weil sie) die Magie durchschaut haben, zurückkehren können. Jetzt ist die „Eiche“ von damals ein Telegrafenmast. Indem sie ihn wie eine Eiche erklettern, können sie sich vor der Giovanni-Gang retten. Die Natur ist in Im verschwundenen Wald also nicht nur eine Erinnerung und eine Vorstellung mit magischen Dimensionen, sondern eine Kraft, mit der sich die Wirklichkeit meistern lässt. Vier Stücke, vier Naturdarstellungen. Was kann man daraus lernen? Vielleicht, dass die Natur mehr Würde behält, wenn man sie nicht mimikryhaft imitiert, sondern ihr einen eigenen Raum gibt, wenn man sie nicht künstlerisch vereinnahmt, sondern sie nur andeutet. Dass Natur fremd und widerborstig erscheinen darf und jegliche Formen – wie zum Beispiel chorisches Sprechen – ihre Eigenständigkeit unterstützen. Dass man sie nicht direkt, sondern durch eine Figur sprechen lässt, die Grund und Not hat, ihre Stimme zu erheben. Ist der Mensch nicht auch ein Teil der Natur?

Joscha Schaback war Dramaturg und Operndirektor und arbeitet heute für den Schott Musikverlag. Er forscht über das zeitgenössische Musiktheater für Kinder. Foto: Verlag

Martin Orth: Cous-Cous gibt nicht auf / UA 19.2.2017 Kulturverein theaterzentrum deutschlandsberg / Österreichischer Bühnenverlag Kaiser Ruth Johanna Benrath: im wald (da sind) / UA 15.01.2022 COMEDIA Theater Köln / S. Fischer Theater & Medien Anno Schreier (Komposition), Alexander Jansen (Libretto): Mina oder Die Reise zum Meer / UA 18.3.2022 Oper Bonn: Katholische Grundschule „Am Domhof“ / Schott music Olivier Sylvestre: Im verschwundenen Wald / Übersetzung aus dem Quebecer Französisch von Wolfgang Barth / zur UA und zur deutschsprachigen Erstaufführung frei / Theaterstückverlag Korn-Wimmer


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26/03/22 WERKSTATT

Unser Lehrer ist ein Troll von Dennis Kelly Regie Simon Windisch JTK 8+

22/04/22 STADTTHEATER

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von Julia Haenni Regie Anne-Stine Peters JTK 14+

Eine Kooperation mit der Akademie für Darstellende Kunst Baden-Württemberg, der Staatlichen Hochschule für Musik und Darstellende Kunst Stuttgart und der Zürcher Hochschule der Künste

APRIL – JULI 2022

Fantasia. Ein Gesellschaftsspiel Partizipatives Projekt für Grundschulklassen zum Thema Demokratie von und mit Theater Ansicht JTK 6+

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Anmeldestart: 1. April 2022

Arbeits-Festival der Freien Kinder- und Jugendtheater 19. - 22. Juni 2022 / München www.spurensuche-theatertreffen.de

Dieses Projekt wird ermöglicht im Rahmen des Programms „Verbindungen fördern“ des Bundesverbands Freie Darstellende Künste, gefördert von der Beauftragten der Bundesregierung für Kultur und Medien.


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verbandszeug Grußbotschaft von Staatsministerin Claudia Roth MdB zum Welttag des Theaters für junges Publikum

Kunst für Kinder ist kein Luxus; kein Schokoriegel, auf den sie auch verzichten könnten. Kunst und Theater werden gebraucht, in jedem Alter. Wir brauchen sie, um die Welt und uns selbst verstehen zu lernen. Theater schauen und Theater spielen sind dabei zwei Seiten einer Medaille: Theater erleben, auf der Bühne oder im Zuschauerraum, lässt uns erahnen, was uns zu Menschen macht und wie wir zusammenleben können in einer freien, weltoffenen, emanzipierten, vielfältigen und nachhaltigen Gesellschaft. Die Pandemie hat vieles davon erschwert oder unmöglich gemacht. In diesem Jahr ist der Welttag des Theaters Staatsministerin Claudia Roth MdB ist für junges Publikum deshalb besonders Schirmfrau des diesjährigen Welttags wichtig. Ich bin überzeugt davon, dass des Theaters für junges Publikum für die Kunst helfen kann, die Wunden, die die ASSITEJ Deutschland Pandemie gerade im Leben von Kindern und Jugendlichen geschlagen hat, zu heilen. Kinder brauchen kluge Geschichten und ästhetische Anregungen, um zu wachsen. Junge Menschen sind nicht nur das Publikum von morgen, sondern das Der Welttag des Theaters für junges Publikum ist eine bildungs- und kulturpolitische Angelegenheit: Die ASSITEJ – die Internationale Vereinigung des Theaters für Kinder und Jugendliche – feiert weltweit am 20. März eines jeden Jahres den Welttag des Theaters für junges Publikum. Der 20. März soll also der Tag sein, an dem die Theater für Kinder und Jugendliche der Öffentlichkeit zeigen, dass es sie gibt und an dem sie für diese Öffentlichkeit ihre Häuser öffnen. Jedes Kind und jede*r Jugendliche hat ein Recht auf die Teilhabe an Kunst und Kultur!

von heute: Kinder haben von Anfang an einen Anspruch auf Kulturelle Teilhabe in einer demokratischen Gesellschaft. Die Kinder- und Jugendtheater in Deutschland leisten dazu einen wichtigen Beitrag. Gemeinsam arbeiten wir an der Aufgabe, die Kinder- und Jugendtheater in Deutschland zu stärken. Wir arbeiten an der Vision, dass Kinder und Jugendliche aus allen sozialen Schichten und Kulturen, über die Schulen und mit ihren Familien, von Anfang an in Berührung mit den Künsten kommen: dass ihnen der Zugang zur Musik, zu Bildender Kunst und den wunderbaren Gesamtkunstwerken des Theaters offensteht. Dafür werde ich mich als Staatsministerin für Kultur mit ganzer Kraft einsetzen. Claudia Roth MdB Staatsministerin für Kultur und Medien

Foto: Kristian Schuller


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termine Nah dran!-Uraufführung: Himmelwärts 16. April 2022, Stadttheater Ingolstadt | theater.ingolstadt.de | Frankfurter Forum Junges Theater 2021/22, Teil 4: mit+machen und Teil 2 (nachgeholt): frei+machen 29. und 30. April 2022, Frankfurt am Main | kjtz.de |

YUNIK. Konferenz für kulturelle Bildung: Haltung in Zeiten der Polarisierung 18. bis 20. Mai 2022, Leipzig | kulturstiftung.de/yunikkonferenz | Paradiesvogel-Festspiele. Festival der freien Theater für junges Publikum in Frankfurt 19. bis 22. Mai 2022, Frankfurt am Main | paradiesvogel-frankfurt.de |

Junge Maifestspiele 1. bis 29. Mai 2022, Wiesbaden | staatstheater-wiesbaden.de |

Performing Arts Festival 24. bis 29. Mai 2022, Berlin | performingarts-festival.de |

47. Mülheimer Theatertage 7. bis 26. Mai 2022, Mülheim an der Ruhr | stuecke.de |

Theatertreffen der Jugend 27. Mai bis 4. Juni 2022, Berlin | berlinerfestspiele.de |

Schöne Aussicht. Internationales und Baden-Württembergisches Theaterfestival 8. bis 15. Mai 2022, Junges Ensemble Stuttgart | schoene-aussicht.org |

Nah dran!-Uraufführung: Das Ministerium der Einsamkeit 28. Mai 2022, Theater an der Rott | theater-an-der-rott.de |

FRATZ International 13. bis 19. Mai 2022, Berlin | fratz-festival.de |

PURPLE – 6. Internationales Tanzfestival für junges Publikum 30. Mai bis 4. Juni 2022, Berlin | purple-tanzfestival.de |

23. KinderKulturBörse 16. bis 17. Mai 2022, Hannover | kinderkulturboerse.net | ASSITEJ Artistic Gathering 2022 17. bis 22. Mai 2022, Helsingborg (SE) | assitej-international.org | bibu.se |

TINCON. Teenageinternetwork Convention 10. und 11. Juni 2022, Berlin | tincon.org |

WESTWIND – 38. Theatertreffen NRW für junges Publikum mit ASSITEJ Werkstatt: Machtspiele. Kinder- und Jugendbeiräte als nachhaltiger Strukturwandel im Jungen Theater 11. bis 17. Juni 2022, Junges Schauspielhaus Bochum | westwind-festival.de | Hart am Wind – Norddeutsches Kinder- und Jugendtheaterfestival 12. bis 17. Juni 2022, Bremen, Oldenburg, Wilhelmshaven und umzu | festival-hartamwind.de | Spurensuche. Arbeitsfestival der freien Kinder- und Jugendtheater in der ASSITEJ 20. bis 22. Juni 2022, PATHOS München | assitej.de | Luaga & Losna. Internationales Theaterfestival für ein junges Publikum in Vorarlberg 21. bis 25. Juni 2022, Nenzing (AT) | luagalosna.at | ASSITEJ Werkstatt: Gendersensibel handeln an der Schnittstelle von künstlerischer und theatervermittelnder Praxis 22. Juni 2022, Theater der Jungen Welt Leipzig | assitej.de |

SÜDWIND – 1. Bayerisches Theatertreffen für junges Publikum mit ASSITEJ Werkstatt: Taking part!? – Künstlerische Feldforschung – Partizipation und Privilegien 29. Juni bis 8. Juli 2022, Stadttheater Ingolstadt | suedwindfestival.de | THINK BIG! Internationales Tanz-, Musiktheater- und Performance-Festival für junges Publikum 4. bis 14. Juli 2022, München | thinkbigfestival.de | Junge Triennale 11. August bis 18. September 2022, Ruhrgebiet | jungetriennale.de | ASSITEJ Werkstatt: Performance Beyond Binaries. Zum Verhältnis von Kindern und Erwachsenen in der Performancekunst 11. September 2022, FUNDUS Theater Hamburg | assitej.de | Tanztreffen der Jugend 24. September bis 1. Oktober 2022, Berlin | berlinerfestspiele.de | Frankfurter Forum Junges Theater 2021/22, Teil 6: macht+spiele @ 11. Festival Politik im Freien Theater 29. September bis 8. Oktober 2022, Frankfurt am Main | kjtz.de |

31. Bundestreffen Jugendclubs an Theatern 2. bis 7. Oktober 2022, stellwerk junges theater und Deutsches Nationaltheater Weimar | bundestreffen-jugendclubs. de | 9. Deutsches KinderTheater-Fest 6. bis 9. Oktober 2022, Theater Lübeck | kinder-theater-fest.de | Theaterwelten: Theater als sicherer Raum? 13. bis 16. Oktober 2022, Esslingen | theaterwelten.info | Preisverleihung des Deutschen Kindertheaterpreises und Deutschen Jugendtheaterpreises 10. November 2022, Frankfurt am Main | kjtz.de | Fachtag zeit+stücke 11. November 2022, Frankfurt am Main | kjtz.de | Treffen junger Autor*innen 17. bis 21. November 2022, Berlin | berlinerfestspiele.de | Treffen junge Musik-Szene 23. bis 28. November 2022, Berlin | berlinerfestspiele.de |

Frankfurter Forum Junges Theater 2021/22, Teil 5: macht+haben @ Jahreskonferenz der Dramaturgischen Gesellschaft 23. bis 26. Juni 2022, Dresden | kjtz.de |

IMPRESSUM ixypsilonzett Theater für junges Publikum Magazin eins 2022 der ASSITEJ Deutschland 15. Jahrgang Erscheint 3x jährlich – im Januar (das Jahrbuch), Mai und Oktober Redaktionsschluss für dieses Heft: 15.03.2022

Eine Veröffentlichung der ASSITEJ Deutschland Herausgeberinnen: Meike Fechner, Dr. Birte Werner Redaktion: Nikola Schellmann (verantwortlich) ASSITEJ e.V. Schützenstraße 12 60311 Frankfurt/M. assitej@kjtz.de

Verlag: Theater der Zeit GmbH, Berlin www.theaterderzeit.de Gestaltung: Grafikdesign Wahrig ixypsilonzett ist Bestandteil der Abo-Auflage von Theater der Zeit sowie für die Mitglieder der ASSITEJ Deutschland Einzelheft-Preis: 6 EUR (print oder digital); Abo-Preis: 22 EUR (Deutschland); 30 EUR (außer halb Deutschlands)

Abo-Bestellung und EinzelheftBestellung: Theater der Zeit Winsstraße 72, 10405 Berlin, Germany Tel. +49 (0)30 4435 285-12 abo-vertrieb@tdz.de www.theaterderzeit.de Printed in Germany

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