Judith Malina: Notizen zu Piscator

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Theater der Zeit



Judith Malina Notizen zu Piscator


Mit freundlicher Unterstützung durch das FFT Düsseldorf. Das FFT wird gefördert durch die Landeshauptstadt Düsseldorf und das Ministerium für Kultur und Wissenschaft des Landes Nordrhein-Westfalen.

Judith Malina Notizen zu Piscator Herausgegeben von Anna Opel © Judith Malina, 2012, zuerst veröffentlicht bei Routledge. All Rights Reserved. © dieser Ausgabe bei Theater der Zeit, 2024 Authorised translation from the English language edition published by Routledge, a member of the Taylor & Francis Group. Texte und Abbildungen sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung, die nicht ausdrücklich im Urheberrechts-Gesetz zugelassen ist, bedarf der vorherigen Zustimmung des Verlages. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Bearbeitungen, Übersetzungen, Mikroverfilmung und die Einspeisung und Verarbeitung in elektronischen Medien. Verlag Theater der Zeit Verlagsleiter Harald Müller Winsstraße 72 | 10405 Berlin | Germany www.tdz.de Layout: mahlke.one Lektorat: Erik Zielke Umschlagfotos: Judith Malina und Officina Edizioni, Teatrino dei Fondi. Printed in the EU ISBN 978-3-95749-521-1 (Paperback) ISBN 978-3-95749-541-9 (ePDF) ISBN 978-3-95749-542-6 (EPUB)


Judith Malina Notizen zu Piscator Aus dem amerikanischen Englisch übersetzt von Beate Hein Bennett und Anna Opel Herausgegeben von Anna Opel

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Kathrin Tiedemann Mit dem Theater die Welt verändern Zu Judith Malinas Notizen zu Piscator

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Judith Malina Notizen zu Piscator Erster Teil: Von Weimar zum Dramatic Workshop Zweiter Teil: Mein Notizbuch Dritter Teil: Das Epos geht weiter

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Anna Opel Zwei Leben in einem Buch Ein Nachwort

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Mit dem Theater die Welt verändern Zu Judith Malinas Notizen zu Piscator

Dass Judith Malina die Schülerin Erwin Piscators wurde, verdankt sich vor allem dem Umstand, dass ihre Mutter, eine Schauspielerin, als junge Frau davon träumte, mit dem berühmten Theateravantgardisten der Weimarer Republik zu arbeiten. Als sie einen Rabbiner heiratete und ihren Beruf aufgeben musste, soll sie gesagt haben, dass sie eine Tochter haben werde, die an ihrer Stelle ihren Traum realisieren wird. So erzählt es Judith Malina. Und so sollte es, wenn auch unter gänzlich anderen Umständen, tatsächlich kommen: Vor dem zunehmenden Antisemitismus flohen Malinas Eltern mit der zweijährigen Judith 1929 nach New York. Dorthin ging auch Piscator ins Exil, nachdem er 1931 zunächst in die Sowjetunion, später nach Frankreich emigriert war, und gründete an der New School for Social Research den Dramatic Workshop. Dort begann die 19-jährige Judith Malina zunächst ein Schauspielstudium, nahm aber bald auch am Regieunterricht teil. Am meisten interessierte sie sich für die Unterrichtsstunden in Theaterforschung bei Piscator: seine Ausführungen zum Verhältnis von Kunst und Leben, Theater und Politik und zur gesellschaftsverändernden Kraft des Theaters. Malina beschreibt in ihrem Buch die Migration des politischen Theaters Piscators aus den 20er Jahren der Weimarer Republik ins New Yorker Exil, wo es die Kriegsjahre in einem Schulprojekt überdauerte, um unter großen Schwierigkeiten ins Nachkriegsdeutschland nach West-Berlin zurückzukehren. Sie lässt uns aus der Perspektive der Piscator-Schülerin teilhaben an diesem Wissenstransfer, der für sie zum Ausgangspunkt für ihren eigenen revolutionären Theaterentwurf, das von ihr gemeinsam mit Julian Beck 1947 gegründete Living Theatre, werden sollte. In ihre Reflexionen eingeschrieben sind die Katastrophen des „kurzen 20. Jahrhunderts“: die Zerstörung Europas in zwei Weltkriegen, der Holocaust und der Aufstieg der USA zur Weltmacht. Dass das Living Theatre selbst Mitte der 60er Jahre in umgekehrter Richtung, aus New York nach Europa, ins Exil ging und sogar für kurze Zeit die Aussicht bestand, dass es sich in West-Berlin dauerhaft niederlassen könnte, ist nur eine weitere Windung in diesen vielfach verschlungenen, transatlantischen Exilgeschichten. 7


Anfang der 2000er Jahre hatte ich das Glück, Judith Malina persönlich zu begegnen. Als sie und eine Gruppe ihrer Mitstreiter*innen 2004 die Einladung des Forums Freies Theater nach Düsseldorf annahmen, befand sich das Living Theatre wieder einmal im Um- oder Aufbruch: Die auf Einladung ehemaliger Partisanen zustande gekommene mehrjährige Residenz in einer italienischen Kleinstadt, die dem Living Theatre als Homebase gedient hatte, schien durch den zunehmenden Einfluss nationalistischer Tendenzen nicht mehr sicher. Ein neues Zuhause für die Company war noch nicht gefunden. Malina sprach davon, dass sie bald ein Theater in New York eröffnen wolle, weil sie zu der Überzeugung gelangt sei, dass ihre Arbeit dort am meisten gebraucht würde – vielleicht dringender als irgendwo sonst auf der Welt. Unser Programmschwerpunkt Public Playgrounds war der Untersuchung des Zusammenhangs von Kunst und Aktivismus gewidmet. Neben dem Living Theatre nahm die zwischen 2001 und 2011 aktive, gesellschaftskritisch und antirassistisch engagierte VolxTheaterKarawane aus Wien teil. Beide Gruppen hatten 2001 zusammen mit rund 300 000 Demonstrierenden an einem der größten Anti-Globalisierungs-Proteste, nämlich gegen den G8-Gipfel in Genua, teilgenommen. Dieser führte zu einem Szenario entfesselter staatlicher Gewalt: Das Ergebnis waren Hunderte teils Schwerverletzte, Hunderte willkürlich Inhaftierte, Tausende bei den Schlagstockeinsätzen verprügelte Demonstrant*innen – und der von einem Carabiniere erschossene Student Carlo Giuliani. Bis dato waren sich die beiden Gruppen jedoch nie direkt begegnet, sodass im Rahmen unserer Veranstaltung ihre Positionen erstmals aufeinandertrafen: Das Living Theatre gab einen mehrtägigen Workshop und entwickelte mit den Teilnehmer*innen eine kapitalismuskritische Straßenperformance mitten in der Shopping- und Fußgängerzone in der Düsseldorfer Innenstadt. Die VolxTheaterKarawane organisierte eine Protestkundgebung auf der Königsallee gegen die Abschiebepraxis der EU und Unternehmen wie European Homecare, den Düsseldorfer Flughafen und Fluggesellschaften, die von der Unterbringung und dem Ausfliegen von Asylsuchenden profitieren. In einem Talk, der den unterschiedlichen Arbeitsweisen der beiden Gruppen gewidmet war, begegneten sich Vertreter*innen der beiden Gruppen schließlich direkt und Judith Malina, die für ihren zivilen Ungehorsam in zwölf verschiedenen Län8


dern inhaftiert worden war, fand sich in einem unversöhnlichen Streit mit den Aktivistinnen und Aktivisten der Theaterkarawane wieder. Letztere stellten angesichts der ungeheuerlichen Polizei- und Staatsgewalt, die sie nicht zuletzt während einer dreiwöchigen Untersuchungshaft im Anschluss an die Proteste in Genua am eigenen Leib erfahren mussten, das staatliche Gewaltmonopol infrage. Demgegenüber beharrten Malina und weitere Mitglieder des Living Theatre auf den radikal-pazifistischen Grundsätzen ihrer beautiful non-violent anarchist revolution, die nur Formen des gewaltfreien Widerstands zulässt und Gewalt als Mittel, das zwangsläufig Herrschaftsverhältnisse immer wieder reproduziert, kategorisch ablehnt. Mehr als alles andere beschäftigten Malina zu jener Zeit ihre Notizen zu Piscator, an denen sie in jeder freien Minute schrieb. Tatsächlich hatte sie immer ein kleines Notizheft zur Hand, in das sie ihre Erinnerungen eintrug. Besonders eingeprägt hat sich mir ihre große, mehrfach geäußerte Enttäuschung darüber, dass Piscator zeitlebens nie eine Arbeit des Living Theatre gesehen hatte. Sogar 1965, als das Living Theatre mit Frankenstein in der Akademie der Künste in West-Berlin gastierte, während Piscator an der Freien Volksbühne inszenierte, nahm Malinas Lehrer ihre Einladung nicht an. Zu gerne hätte sie ihm gezeigt, wie sie mit ihrer eigenen Theaterarbeit, seine Ansätze zur Aufhebung der Trennung zwischen Bühne und Zuschauerraum weitergetrieben hatte. Bekannt ist bis heute vor allem die ikonische Inszenierung Paradise Now von 1968. Sie traf den Zeitgeist der jungen Generation. – Mehr als zweitausend Menschen musste Malina abweisen, die sich allein in Berlin gemeldet hatten, um beim Living Theatre mitzumachen, das in diesen Jahren eine rund 40-köpfige Theaterkommune bildete. Paradise Now steht für den Ruf des Living Theatre als „Hippie-Theater“, das es zum popkulturellen Phänomen machte, das nach dem Ausbleiben der Revolution allmählich in Vergessenheit geriet. Doch der Traum, als freies Künstlerkollektiv die Welt verändern zu können, war da. Zu einem weniger spektakulären, aber zentralen Bestandteil der politischen und sozialen Praxis Malinas und des Living Theatre, wurden ihre Projekte in Krisengebieten und Konfliktsituationen. Beispielsweise im Libanon, wo sie nach dem Abzug der israelischen Besatzungstruppen 2000 im ehemaligen Internierungslager für politische Gefangene Khiam ein Projekt mit lokalen Akteur*innen realisierten, das, wie der Dokumentarfilm Resist! (2003) von Dirk Szuszies und Karin 9


Kaper eindrucksvoll dokumentiert, in einem öffentlichen Ritual der versammelten Gemeinschaft den Raum gibt, ihren Schmerz und ihre Trauer gemeinschaftlich zum Ausdruck zu bringen. In diesen auf Workshops basierenden Arbeiten kommt eine Praxis zum Tragen, die zugleich künstlerisch, sozial und politisch ist und dem entspricht, wofür die beautiful non-violent anarchist revolution im Kern steht. Der Anarchismus, auf den sich das Living Theatre beruft, geht unter anderem auf den amerikanischen Autor, Anarchisten und Mitbegründer der Gestalttherapie Paul Goodman zurück. Im Unterschied zu anderen Formen der Therapie, geht diese davon aus, dass Neurosen eine Reaktion des Individuums auf Entfremdung, gesellschaftlichen Druck oder andere, seine Entwicklung hemmenden Umwelteinflüsse sind. Sie setzt auf die Selbstregulierung des Individuums und dessen kreative Energie, auf Autonomie, Selbstverantwortung und die Selbstermächtigung zu politischem Handeln. Nach diesen Vorstellungen war nicht nur das Zusammenleben in der Gruppe des Living Theatre organisiert, sie lieferten auch die grundlegende Dramaturgie vieler ihrer Inszenierungen und die Methode für ihre Workshops und Beteiligungsprojekte. Die soziale Revolution, wie sie Judith Malina vorschwebte, ist nicht zuletzt ein künstlerisches Langzeitprojekt, bei dem es ganz konkret darum geht, Menschen in ihrem Begehren nach anderen, friedlichen, herrschaftsfreien Formen des Zusammenlebens zu bestärken und in der gemeinschaftlichen, öffentlichen Artikulation dieser Wünsche zu unterstützen. Tom Walker, der kürzlich verstorbene, enge Mitarbeiter Malinas und der Archivar des Living Theatre, brachte es einmal so auf den Punkt: „The Living Theatre is in the hope business.“ Wie groß der Abstand zwischen Malinas unermüdlichem Einsatz für gesellschaftspolitische Veränderung mit den Mitteln des Theaters zum hierzulande geführten Diskurs über politisches Theater tatsächlich war und ist, zeigte sich auch auf der Feier, die die Akademie der Künste, Berlin, 2006 zu Malinas 80. Geburtstag ausrichtete. Eingeladen, um mit Malina über „Politisches Theater heute“ zu diskutieren, waren Christoph Schlingensief, Daniel Wetzel und Matthias Lilienthal, die zwar mit Respekt, aber auch mit spürbarer Befangenheit und Befremden auf die energiegeladene, vor kämpferischem Enthusiasmus sprühende, zierliche Jubilarin in ihrer Mitte reagierten. Wie soll man sich auch den ungebrochenen Optimismus erklären, mit dem das Living Theatre daran arbeitete, mit den Mitteln des 10


Theaters die Welt unmittelbar verändern zu können? Bewegen wir uns im Theater, selbst in den experimentellen Formen der darstellenden Kunst, wenn es um das Politische in der Kunst geht, nicht immer im Rahmen von „Wahrnehmungspolitik“? Ihr liegt die für die 90er und 2000er Jahre prägende Auffassung zugrunde, dass die Wirkung ästhetischer Praxis nur als gegenseitige Unterbrechung von realer Praxis und ästhetischem Spiel möglich wird, also durch eine Unterscheidung und Distanz zwischen dem Politischem und dem Ästhetischen. In jüngster Zeit nähern sich Kunst und Aktivismus immer weiter an. Und so ist es vielleicht kein Zufall, dass 2012, im Erscheinungsjahr der amerikanischen Ausgabe des Piscator Notebook, also nach dem Bankencrash 2008 und unter dem Eindruck der Occupy-WallstreetProteste 2011 sowie den mehr oder weniger zeitgleichen Aufständen in Ländern der arabischen Welt und den Platzbesetzungen in vielen europäischen Städten, an denen überall Künstler*innen beteiligt waren, der Theaterwissenschaftler Hans-Thies Lehmann in einem Vortrag über die Ästhetik des Aufstands als eine die Ästhetik des Widerstands ergänzende Praxis spricht, mit der Kunst unmittelbar teilnimmt an politischen Bewegungen: „Ästhetik des Aufstands, in der die Künstler unmittelbar zu sozialen und politischen Akteuren werden, ist heute vielfach geboten, legitim auch als Kunst.“ Heute erleben wir, dass Künstler *innen in vielen Ländern zunehmend durch populistische und autoritäre oder diktatorische Regime wieder ins Exil gezwungen werden. Europa rüstet auf und die Möglichkeit eines Kriegs in Europa wird vorstellbar. Auch das macht Judith Malinas Notizen zu Piscator auf schmerzhafte Weise aktuell. Kathrin Tiedemann

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Judith Malina Notizen zu Piscator Erster Teil Von Weimar zum Dramatic Workshop

Piscator ist der größte Theatermann unserer Zeit, möglicherweise der größte Theatermann aller Zeiten. Seine Liebe zum Experiment, seine großartigen szenischen Innovationen dienten der Menschheit mit allen Mitteln des Theaters.

Bertolt Brecht Das Jahr 1945 war geprägt von großer politischer und kultureller Verwirrung. In den USA klang die Erleichterung des Kriegsendes ab und der Auftrieb der 60er Jahre war fern. Die Little Theatre-Bewegung des Provincetown Playhouse war vorbei und das Barter Theatre 1 hatte viel von seiner Kraft eingebüßt, auch wenn es uns bis heute inspiriert. Das Group Theatre, das uns mit Hoffnung erfüllt hatte, verkam zur konventionellen Theatre Guild und bis auf ein neues Stück von Eugene O’Neill dann und wann passierte in der Theaterszene nichts. Erwin Piscator glaubte fest an ein relevantes und politisch kraftvolles Theater. Dafür kämpfte er und gab diese Kraft an seine Studenten weiter. Und das, obwohl er tief enttäuscht darüber war, dass er am Broadway nicht unterkommen konnte. Gilbert Miller hatte sein Versprechen, Krieg und Frieden am Broadway zu produzieren nicht gehalten. Piscator hat aber nicht unterrichten wollen, er wollte inszenieren. Seinen Schauspielern machte er es nicht leicht. Seine Ansprüche waren hoch, für manche waren sie zu hoch. Piscator verlangte absolute Aufmerksamkeit, absolute Konzentration, vor allem aber verlangte er von seiner Performerin, dass sie ihren Fokus neu ausrichtete. Der Fokus des Schauspielers zielt auf den Zuschauer: Er nannte es objektive Spielweise. ––––––––––––––––– 1

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Wörtlich: Tauschhandel Theater, Anmerkung der Übersetzerinnen.


Der Schauspieler spricht, er steht im Licht, er ist das Objekt, das die Aufmerksamkeit des Publikums hat. Die eigentliche Aufgabe der Schauspielerin besteht darin, mit dem Publikum zu kommunizieren. Traditionell geschieht das auf dem Umweg über die Beziehung mit den anderen Darstellern auf der Bühne. In Piscators und Brechts Epischem Theater aber ist die fiktive Verbindung zwischen den von den Schauspielern dargestellten Figuren weniger real als das Verhältnis zwischen Schauspielern und Zuschauern. Das verlangt eine besondere Art von Stücken und Brechts Episches Theater stellt die geeigneten dramaturgischen Mittel bereit. Piscator hat aber auch Klassiker inszeniert. Seine Interpretationen von Schillers Die Räuber, Sartres Die Fliegen und eine Bearbeitung der Eumeniden sind herausragend. Mit uns analysierte er die Techniken, die er in diesen Inszenierungen entwickelte, und er vermittelte uns auch, wie der entscheidende Wechsel der Perspektive, die Verschiebung des Objekts, umzusetzen war. Seit dem 5. Februar 1945, gleich zu Beginn meines Studiums in Erwin Piscators Dramatic Workshop an der New School of Social Research in New York führte ich ein Notizbuch. Bevor ich den Workshop das erste Mal besuchte, war ich mir über Piscators guten Ruf sehr bewusst, man könnte sogar sagen, unsere Begegnung war vorbestimmt.

Persönliche Geschichte Meine Mutter Rosel Zamojre war eine idealistische junge Schauspielerin in Kiel. Sie verehrte den jungen revolutionären Regisseur Erwin Piscator, der als hellster Stern am Himmel der Theateravantgarde in der Weimarer Republik galt. Sobald sie mit der Schule fertig wäre, wollte sie mit ihm arbeiten. Sie gehörte der Kieler Theaterszene an, arbeitete aber auch in dem Laden, in dem meine Großeltern Leinen und Spitze verkauften. Mit Sicherheit hielt die strenge jüdische Familie nicht viel von ihren Theaterambitionen. Dann traf sie Max Malina, einen jungen Rabbiner, so idealistisch wie sie, der unglücklich seinen Dienst als Geistlicher beim deutschen Militär versah. Sie verliebte sich und er fand einen Weg, das Militär zu verlassen. Damals war es undenkbar, dass die Ehefrau eines Rabbiners Schauspielerin war. Und so einigten sich die beiden jungen Leute darauf, dass Rosel ihren Traum vom Theater aufgab. Die Tochter, die sie 14


bekommen würden, sollte Schauspielerin werden: als Ersatz für Rosels aufgegebene Karriere. Im Juni 1926 kam ich in Kiel zur Welt und war vorgesehen für ein Leben am Theater – hoffentlich an Piscators Theater. Als ich geboren wurde, war Piscator 33 Jahre alt und Intendant der Volksbühne in Berlin. Die Räuber von Schiller hatte gerade Premiere gefeiert und er probte Ernst Tollers Hoppla, wir leben! Dann versank Deutschland in eine schlimme Zeit. Weil mein Vater das Unheil auf das jüdische Volk zukommen sah, emigrierten wir 1929 nach New York. Dort gründete er The German Jewish Congregation und widmete sich der Aufgabe, die Jüdische Gemeinde in Amerika vor der drohenden Gefahr in Deutschland zu warnen.

Erwin Piscator: Von Deutschland nach New York City Als Piscator Deutschland 1936 verließ, war es für ihn als kommunistischen Revolutionär schon höchste Zeit. Er war nicht jüdisch. Die Autorin Thea Kirfel-Lenk präsentiert in ihrem bemerkenswerten Buch Erwin Piscator im Exil in den USA ein Dokument der SS aus dem Jahr 1939, in dem Piscator als Jude bezeichnet wird. Dabei kannte man ihn als Nachkomme des protestantischen Theologen Johannes Piscator, der im Jahr 1600 die Bibel ins Deutsche übersetzt hatte. Piscators Geschichte zeugt von heldenhaftem Durchhaltevermögen. Er war Schauspieler im Münchner Hoftheater gewesen, erlebte aber in der Schlacht bei Ypres in Belgien als Soldat im Ersten Weltkrieg eine crise de conscience. Inmitten explodierender Granaten, umgeben von Toten und Verwundeten, hob er einen Schützengraben aus. Ein Feldwebel kam vorbei, sah, wie unbeholfen er mit der Schaufel hantierte, und fragte spöttisch, womit er denn im zivilen Leben sein Geld verdiene. Verlegen entgegnete der junge Piscator: „Ich bin … Schauspieler“ und fragte sich, wofür er sich eigentlich schämte. Danach setzte er alles daran, die Theaterarbeit relevant werden zu lassen. Das Theater, das ihn dazu gebracht hatte, sich für das Wort Schauspieler zu schämen, wollte er hinter sich lassen und die Kunst aus ihrem abgewirtschafteten Zustand befreien. Nach dem Krieg schlug er seine Schlachten auf dem Theater. Im Februar 1942 erinnerte sich Piscator in seinem Essay „The Theatre of the Future“ im Tomorrow Magazine: 15


Krieg ist mir verhasst, so verhasst, dass ich mich nach dem bitteren Debakel von 1918 dem politischen Kampf um andauernden Frieden verschrieben habe.

1919 wurde Piscator Mitbegründer eines kleinen Avantgardetheaters in Königsberg. Das Tribunal produzierte Stücke von Wedekind und Kaiser, in Strindbergs Gespenstersonate spielte Piscator den jungen Helden Arkenholtz. Wichtiger noch war wohl die Produktion Die Wandlung, ein Stück im Geist des revolutionären Pazifismus. Ernst Toller hatte es im Gefängnis geschrieben. Es handelte von seinen Erfahrungen mit der Münchner Räterepublik, in deren kurze, glanzvolle Geschichte er involviert gewesen war. 1919 war Deutschland ein politisches Schlachtfeld. Die Katastrophe des Ersten Weltkriegs hatte dem Spartakusaufstand die Bühne bereitet, Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht wurden ermordet und in Bayern gründeten Künstler und Intellektuelle die Räterepublik, die schon nach kurzer Zeit blutig niedergeschlagen wurde. All dies schuf eine Atmosphäre revolutionären Aufruhrs, befeuerte den Furor der Zeit. Leopold Jessner, den Piscator gelegentlich als Mentor erwähnte, wurde Leiter des Preußischen Staatstheaters. Dada florierte. Als die Dadaisten versuchten, „Nihilismus für politische Zwecke einzusetzen“ organisierte Piscator mehrere Dada-Events. John Willett zitiert Piscator in The Theatre of Erwin Piscator: „Doch Dada, obwohl erkennend, wohin entwurzelte Kunst führen kann, ist kein Ausweg.“ Im Dramatic Workshop erzählte Piscator von einem dieser DadaAbende. Ich vermute die Details sind apokryph, denn sie klingen fast zu gut, um wahr zu sein: ein vornehmes Theater, elegantes Publikum. Der Vorhang geht auf. Leere Bühne, im Hintergrund ein Stapel Fässer. Nichts geschieht, keine Schauspieler, keine Musik, nichts. Das Publikum wird allmählich unruhig, fängt an zu protestieren, es bezichtigt die Theaterleitung lauthals des Betrugs. Da stürmen als Feuerwehrmänner verkleidete Schauspieler die Bühne und bespritzen das Publikum aus ihren Schläuchen mit Wasser. Die Abendgarderobe der Damen wird nass, die Zuschauer stehen auf und greifen die Feuerwehrmänner an. Dann steigen 25 Profi-Ringer aus den Fässern und drängen das Publikum zurück auf seine Plätze. Piscator erzählte diese Geschichte genüsslich. Entweder war es eine Fantasie, wie sie Künstler manchmal pflegen, auch wenn sie sie gar nicht umsetzen können, 16


oder es ist tatsächlich so ähnlich passiert. Als ich im Jahr 1946 davon hörte, schwirrte mein Kopf vor paradiesischen Bildern. Im Oktober 1920 gründete Piscator das Proletarische Theater in Berlin. In verschiedenen Sälen wurden dort Stücke von Georg Kaiser und Maxim Gorki aufgeführt. In einem Stück von Upton Sinclair trat Piscator neben unbekannten Darstellern selbst auf. Das Proletarische Theater war klein, die technische Ausstattung bescheiden, dennoch waren große Namen dabei: John Heartfield projizierte Landkarten und Fotomontagen auf das Bühnenbild, Laszlo Moholy-Nagy entwarf symbolistische Kulissen. Das Proletarische Theater brachte insgesamt fünf Stücke heraus, eines mit dem deftigen Titel Wie lange noch, du Hure bürgerliche Gerechtigkeit. Schon nach sechs Monaten wurde Piscators Lizenz kassiert und das Theater dichtgemacht. Planungen für Stücke von Ivan Goll und Tollers Masse Mensch konnten nicht mehr umgesetzt werden. Später zeigte die Volksbühne Tollers Stück ohne Piscators Beteiligung. Im Jahr 1924 schuf Piscator für den Wahlkampf der KPD die Revue Roter Rummel, genannt RRR. 14 Szenen, die laut Willett „zum Modell der Agitprop-Bewegung“ wurden. Szenen aus dem dekadenten Berliner Nachtleben, unterbrochen von Schauspielern in Arbeiterkluft, die vom Zuschauerraum aus die Bühne kaperten und den Sieg des Proletariats verkündeten. Die Revue mündete in den anschwellenden Gesang der Internationale und die KPD verfehlte den Wahlsieg um eine Million Stimmen. Piscator hatte die Revue als flexibles Format entdeckt. Die kurzen Szenen konnten von einem Abend auf den anderen geändert oder ergänzt werden. Als die KPD ihn 1925 bat, einen Umzug zur Eröffnung des Parteitags zu inszenieren, schuf er Trotz Alledem! 24 Szenen mit diversen historischen Filmschnipseln und 200 Darstellern. Nur zwei Aufführungen durften gespielt werden– beide waren ausverkauft. Piscator wollte zusätzliche Vorstellungen zeigen, aber die Partei lehnte das ab. Überall brodelte der Geist des Experimentes. In Moskau inszenierte Wsewolod Meyerhold im Jahr 1922 das einflussreiche konstruktivistische Stück Der großmütige Cuckold von Fernand Crommelynck und führte dabei seine Theorie der Biomechanik ein. Im Jahr 1923 gründete Boris Yuzhanin die Agit-Prop-Gruppe Blaue Blusen, die in einem bunt bemalten Zug durch Russland reiste, um Bauern und Fabrikarbeiter in biomechanischer Schauspieltechnik zu unterweisen. 17


Von 1924 bis 1927 war Piscator Oberspielleiter an der Volksbühne in Berlin. Er eröffnete das Theater mit Alfons Paquets Fahnen, einem Stück über die Chicagoer Anarchisten in den Jahren 1886 und 1887, das Paquet im Untertitel als „dramatischen Roman“ bezeichnet hatte 2. Auf einer Drehbühne entwarf Piscator ein mehrteiliges Bühnenbild. In der Mitte ein Laufband als Straße, rechts und links der Bühne wurden Bilder der Figuren und dokumentarisches Filmmaterial auf die Wände projiziert. Ein Erzähler sprach den Prolog, ein Sänger kommentierte das Geschehen. Auf diese Weise wollte Piscator „die Bühne mit dem Publikum verbinden“. Er fand, das sei gelungen. Piscator schrieb später: Die Trennungswand zwischen Bühne und Zuschauerraum war gefallen. Das ganze Gebäude ein Versammlungsraum. Der Zuschauerraum in die Bühne einbezogen.

Merkwürdig ist, dass er das so deutlich sagte, so genau beschrieb, es aber nicht umsetzte. Der Satz „die Trennungswand … war gefallen“ war metaphorisch gemeint. Noch immer war die Trennung zwischen dem Raum des Schauspielers und dem des Publikums heilig. „Der Zuschauerraum in die Bühne einbezogen“, schrieb er, die Zuschauer wurden aber keineswegs ermutigt, die Bühne tatsächlich zu betreten. Es war also nur der Anfang. In allen Inszenierungen, die er zwischen 1924 und 1927 an der Volksbühne realisierte, experimentierte Piscator mit technischen und kinematografischen Formen. Er überblendete Schauspieler mit Filmbildern, setzte Leinwand und Projektionen immer wieder anders ein. Manchmal wurden zwei oder drei Szenen simultan gespielt und jedes Stück wurde so bearbeitet, dass seine moralische oder politische Bedeutung hervortrat. Gewitter über Gottland handelte vom Kampf hanseatischer Kaufleute gegen eine Liga kommunistischer Revolutionäre. Während dieser Produktion setzte die Leitung der Volksbühne Piscator als Oberspielleiter ab und sagte: „Diese Art der Inszenierung steht im Widerspruch mit der grundsätzlichen politischen Neutralität der Volksbühne.“ Eine große öffentliche Kontroverse folgte, in der Hunderte Schauspieler und Tausende Kommunisten vergeblich versuchten, Piscators Posten zu verteidigen. ––––––––––––––––– 2

Über die Urheberschaft des Epischen Theaters gab es Dissens zwischen Bertolt Brecht und Erwin Piscator. Beide reklamierten die Erfindung für sich. Brecht nannte Piscator mit seiner Experimentierfreude den „großen Baumeister des Epischen Theaters“ (Das einzige Prinzip, GBA Bd. 22.2, S. 679) .

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Piscator bereitete derweil schon sein eigenes Theater vor: Er eröffnete Die Piscator-Bühne 1927 am Nollendorfplatz mit Tollers Hoppla, wir leben! Für diese Produktion warf er sämtliche Konventionen der Regie über den Haufen und ihr Erfolg verdankte sich der Verbindung aus innovativer Regie und politischer Relevanz. Für die Drehbühne hatte Traugott Müller ein vierstöckiges Gerüst als Bühnenbild entworfen. Das Stück zeigte einen Querschnitt der Gesellschaft und die Bühne stellte das bildlich dar. Die Spielebenen zeigten das Diagramm der Gesellschaftsordnung, die Schauspieler repräsentierten die Klassen. Auf diese erfolgreiche Produktion, die für zwei Monate lief, folgte mit Rasputin, die Romanows, der Krieg und das Volk, das gegen sie aufstand die nächste technisch ausgeklügelte Inszenierung. Das dramaturgische Kollektiv der Piscator-Bühne hatte Tolstois Text die Figuren Lenin, Trotzki sowie den deutschen und den österreichischen Kaiser hinzugefügt. Für die Drehbühne entwarf Müller eine riesige auf der Drehbühne rotierende, mit silbernem Stoff bespannte Hemisphäre: die Welt. Innerhalb dieses Globus führten Türen zu verschiedenen Schauplätzen, ins Hauptquartier des Zaren oder in Rasputins Zimmer. Auf den Globus und den Hintergrund wurden Dokumentarfilme historischer und jüngerer Ereignisse projiziert. Der ehemalige Kaiser Wilhelm zeigte Piscator wegen Diffamierung an, seine Figur musste daraufhin aus der Inszenierung gestrichen werden. An den betreffenden Stellen ließ Piscator den Text des Gerichtserlasses verlesen. Für Piscator war damit bewiesen, wie aktuell und direkt das Stück war. Das dritte wichtige Stück der Piscator-Bühne war Der brave Soldat Schwejk nach einer Dramatisierung von Max Brod, bearbeitet von Piscator, Felix Gasbarra und Brecht. Das schlichtere Bühnenbild bestand aus zwei Laufbändern, auf denen Schwejk in den Krieg marschieren konnte, ohne sich von der Stelle zu bewegen. Die Bänder waren je 17,5 Meter lang und wogen 5000 Kilogramm. Um ihren schrecklichen Lärm zu übertönen, mussten die Schauspieler zwar schreien, dafür reiste Schwejk um die ganze Welt. Meilensteine, Landschaften, Regimenter zogen an ihm vorüber. Piscator engagierte den großen politischen Maler und Grafiker George Grosz und dieser schuf die Soldaten, Gehängten und die knurrenden Hunde, denen Schwejk begegnet. Die Bilder wurden mit Filmbildern aus Prag, Bildern von Krieg und Leichen kombiniert. Piscator verpasste dem Stück ein neues Ende, eine Szene im Himmel, in der Gott für seine Verbrechen angeklagt wird. 20 ver19


stümmelte Kriegsversehrte marschierten an Gott vorüber, unter ihnen echte Veteranen. Die erste Piscator-Bühne wurde im September 1927 eröffnet und war bereits im darauffolgenden Juni bankrott. Aber was für ein Schatz an historischen Inszenierungen dort geschaffen wurde! Auch die zweite Piscator-Bühne wurde zum finanziellen Desaster. Die Inszenierung Der Kaufmann von Berlin, ein vierstündiges Stück über die Juden in Deutschland, wurde fertig. Moholy-Nagy baute dafür ein Bühnenbild mit komplizierten, vertikal verstellbaren mechanischen Brücken und Plattformen, mit Anzeigetafeln, Symbolen und Verkehrsampeln. Dazu gab es einen großartigen Soundtrack aus Glocken, Pfeifen und Verkehrslärm. Als auch die zweite Piscator-Bühne gescheitert war, gründete Piscator das Piscator-Kollektiv, das Des Kaisers Kuli produzierte, ein Stück über den Matrosenaufstand. Das Bühnenbild zeigte ein Schlachtschiff im Querschnitt, das in Kiel vor Anker lag. Es war die vierte Inszenierung, die damit endete, dass das Publikum einstimmte, als die Schauspieler Die Internationale sangen. Die dritte Piscator-Bühne wurde mit Carl Credés Paragraph 218 eröffnet, einem vom Kollektiv entwickelten Stück über Abtreibung. Während der Aufführung hielt ein echter Arzt oder Krankenhausdirektor einen Vortrag zum Thema und am Ende wurde das Publikum jeweils aufgefordert per Handzeichen über die Abschaffung des Paragrafen abzustimmen. Wie ein Kritiker schrieb, war es das erste Mal, dass „ein Stück in eine öffentliche Versammlung mündete“. Wenn das stimmt, war es tatsächlich ein Meilenstein. Die letzte Inszenierung der Piscator-Bühne war Friedrich Wolfs Tai Yang erwacht. Wolf hatte es als Gegenstück zu Klabunds Kreidekreis geschrieben, das er „zu süßlich“ fand. In den ersten Skizzen hieß seine Heldin noch wie bei Klabund „Hai-Tang“. Die Textilarbeiterin Tai Yang organisiert mit ihren Kolleginnen einen Streik. Das Stück wurde ohne kompliziertes Bühnenbild realisiert. Die Schauspieler kommen von der Straße auf die Bühne, diskutieren über Politik, verkleiden und schminken sich vor Ort. Am Ende erklärt ein Schauspieler in Straßenkleidung, warum das Stück für die Situation in Deutschland im Jahr 1931 relevant ist. Zehn Jahre später inszenierte Piscator Klabunds Kreidekreis in englischer Übersetzung am Dramatic Workshop und ich spielte ein Teehausmädchen. Nach Tai Yang erwacht und dem Ende der dritten Piscator-Bühne inszenierte Piscator erst wieder im Jahr 1941 ein Theaterstück, als er 20


in den USA angekommen war. Das, obwohl er nie untätig war und ständig nach Möglichkeiten suchte, seine Kunst umzusetzen. Im Jahr 1931 wurde die Situation in Deutschland für Piscator immer prekärer. Anfang des Jahres war er wegen einer Steuerangelegenheit kurzzeitig verhaftet worden, Friedrich Wolf wurde wegen Verstoßes gegen das Abtreibungsgesetz verhaftet und die Polizei untersagte Agitprop-Vorstellungen. Von sozialistischen Idealen beflügelt, wanderten in dieser Zeit Dutzende deutscher Theatermacher nach Russland aus. Piscator wurde eingeladen, in Moskau einen Film zu drehen, der auf Anna Seghers‘ Roman Der Aufstand der Fischer von St. Barbara basierte. Laut Willett ist es die Geschichte „eines einsamen Agitators, der in einem quasimythischen Fischerdorf ankommt und dort verzweifelt, beinahe fatalistisch einen Streik anführt, der längst gebrochen wurde“. Ursprünglich sollten zwei Versionen des Films produziert werden, eine deutsche mit Lotte Lenya und eine auf Russisch. Tatsächlich wurde eine Besetzung aus Deutschland geholt. Nach monatelangen Verzögerungen gab man die deutsche Version jedoch auf. Zwei Jahre und unzählige Schwierigkeiten später war der Film fertig. Wie Maria Ley-Piscator erklärte, hatte Piscator, weil keine Nägel da waren, um die Kulissen zu bauen, weitere Verzögerungen befürchtet. Damit die Arbeit zum Abschluss gebracht werden konnte, kaufte er die Nägel selbst und wurde beschuldigt, sie auf dem Schwarzmarkt gekauft zu haben: ein Wirtschaftsdelikt. Dass „er deswegen aus Russland geschmissen wurde“, wie Maria sagte, bezweifle ich, aber als sie alt war, erinnerte sie sich so daran. Piscator wurde nicht aus der Sowjetunion „geschmissen“, sein Film feierte am 5. Oktober 1934 Premiere. Er war auch Mitglied des Internationalen Revolutionären Theaterbundes (MORT) und wurde im Jahr 1935 als dessen Präsident gewählt. Bernhard Reich schrieb dazu in Im Wettlauf mit der Zeit: „Er verbrauchte in der Organisation und in der laufenden Arbeit seine ganze Kraft und Fantasie, so daß er während dieser Zeit als Künstler stagnierte.“ Willett meint Die Fischer hätten schon bei der Premiere keine Chance gehabt, gezeigt zu werden. Der deutsche Markt war bereits abgeschottet und das russische Publikum hatte genug von revolutionären Filmen und dem „Schicksal der Massen“. Im Essay Grundlagen einer Theorie des Gesellschaftsdramas hatte Piscator geschrieben: „Nicht das interessante Einzelschicksal, sondern das gültige Allgemeinschicksal einer ganzen Zeit bildet den Vorwurf der neuen Dra21


matik. Der Held ist nicht mehr der einzelne, sondern die Epoche.“ Piscator war unzufrieden mit seinem Film und plante die nächsten Projekte. Mit Brecht wollte er einen Schwejk-Film entwickeln. Sowohl daraus wie aus seinem Filmprojekt Krieg und Frieden wurde jedoch nichts. Er hatte zwar entsprechende Ambitionen, drehte aber nie wieder einen Film, auch kam es in der Sowjetunion nie zu einer Theaterinszenierung. Die Kulturszene in der Sowjetunion erstarrte zunehmend – sie war von der kreativen in die diktatorische Phase eingetreten – aber er verfolgte noch immer große Pläne. In Engels, einer Stadt in der deutschsprachigen Wolgarepublik, wollte Piscator mit den besten antifaschistischen Talenten, darunter Alexander Granach, Carola Neher und Helene Weigel ein deutschsprachiges experimentelles Theater gründen. Er warb 20 junge deutsche Schauspieler an und schickte sie für zwei Monate zum Studium ans Maly Theater nach Moskau. Als sie zum Vorsprechen zurückkamen, entließ er sie. Aufgrund von Vertragsschwierigkeiten, Problemen bei der Unterbringung und wegen Malaria wurde das Projekt laufend verschoben. In der Absicht, im Herbst zurückzukehren, reiste Piscator im Juli nach Paris. Am 3. Oktober telegrafierte Bernhard Reich die lakonische Warnung: Nicht Abreisen. Der Theaterbund MORT war aufgelöst worden, Granach wurde in Kiew verhaftet, Carola Neher ebenfalls, sie starb in einem Lager. Die „Säuberungsaktionen“ hatten begonnen und Piscator kehrte nicht nach Russland zurück. Die Wolgarepublik wurde aufgelöst und während des Zweiten Weltkriegs deportierte man die gesamte deutsche Bevölkerung von dort. Fast drei Jahre lebte Piscator in Paris, ohne Theater zu machen. Er begann eine Bearbeitung von Tolstois Krieg und Frieden, die aber nicht zur Aufführung kam. Er plante und entwarf unzählige Inszenierungen, Filme und Tourneen, wollte Max Reinhardt überzeugen, in Versailles mit ihm ein großes Friedensfestival auf die Beine zu stellen. Zu diesem Zweck besuchte Piscator Reinhardt in Salzburg, wo er die österreichische Tänzerin Maria Ley kennenlernte, die gerade die Choreografie für Reinhardts Sommernachtstraum entwickelte. Ley und Piscator heirateten am 17. April 1937. Über diese Phase in Piscators Leben schreibt der Schauspieler Leonard Steckel: „Piscator hat einige seiner besten Jahre vergeudet, weil es ihm an Bescheidenheit und Mut fehlte, neu anzufangen, er wollte gleich im großen Stil arbeiten.“ Nach Dänemark zu gehen war eine Idee, dort lebten die Brechts. Sogar Deutschland war eine Option: 22


Zu Piscators Schrecken übermittelte ihm Gordon Craig, Goebbels würde ihn mit offenen Armen empfangen. Sollte er nach Barcelona gehen, das bereit war, ihn aufzunehmen? Auch Pläne für Mexiko, Stockholm und Kopenhagen wurden durchgespielt. Gilbert Miller überzeugte die Piscators schließlich, nach New York zu kommen, als er eine Broadway-Inszenierung von Krieg und Frieden in Aussicht stellte. Helen Hayes und Paul Muni waren für die Hauptrollen im Gespräch. Miller wollte Laurence Olivier als Fürst Andrej engagieren. Am Heiligen Abend legten die Piscators ab, am Neujahrstag 1939 erreichten sie New York. Mit großem öffentlichem Jubel empfangen, logierten sie im Hotel Pierre, einem der elegantesten und teuersten Hotels der Stadt. Dafür wurden sie von den Kommunisten in Europa und von deren Freunden in den Vereinigten Staaten scharf kritisiert. Piscator zählte auf Gilbert Millers Versprechen, Krieg und Frieden am Broadway herauszubringen. Da Miller einer der erfolgreichsten Produzenten am Broadway war, waren Piscator und Maria Ley hoffnungsvoll. Mit der Begründung, der Text sei schwach, lehnte Miller das Projekt schließlich ab. Ein langer Marsch begann, der Text wurde überarbeitet, neue Koproduktionspartner und Produzenten wurden gesucht. Das ganze Gewicht des Broadways mit seinen unerbittlichen Konventionen und dem Bekenntnis zum Publikumserfolg stellte sich Piscator entgegen. Seine Motive, seine Standards waren gänzlich andere. Erst Jahre später konnte er seine Version von Krieg und Frieden auf der Studiobühne der New School inszenieren. In New York fand er nie ein eigenes Theater. Und obwohl er mehrere halbherzige Versuche in dieser Richtung unternahm, inszenierte er nie ein Stück, das kommerziell erfolgreich gewesen wäre. Die Fleischtöpfe des Broadways waren ihm verwehrt, aber versucht hat er es.

Die Gründung des Dramatic Workshop, 1940 Als der Broadway ihn abblitzen ließ, gründete Piscator den Dramatic Workshop an der New School for Social Research. Die New School war 1933 als akademischer Zufluchtsort für die vielen Wissenschaftler gegründet worden, die aus dem faschistischen Europa fliehen mussten. Sie war als „Exiluniversität“ bekannt. Als Dr. Alvin Johnson sechs Jahre später eine Theaterabteilung an der New School eröffnete, widerstand Piscator zunächst. Er wollte doch inszenieren und hatte nicht vorge23


habt, Lehrer zu werden. Zwar hatte er durchaus die Gabe, Ideen zu übermitteln, und trat in seinen Kursen und Seminaren mit Leidenschaft auf, trotzdem war es für ihn nur „eine Zwischenlösung“. Schließlich konnte man ihn gewinnen und im Januar 1940 eröffnete er den Dramatic Workshop. Piscators Workshop lebte von der Vision, die ihn seit jenem Tag im Schützengraben von Ypres beherrschte, als er seiner Berufung begegnet war. Maria Ley-Piscator zitiert seine Eröffnungsrede: „Nicht Kunst, sondern Leben. Hier im Workshop soll es von Anfang an um das Leben gehen! Um das Hier und Jetzt. Mit der Kunst versucht der Mensch über die Realität hinauszuwachsen. Heute aber brauchen wir Realität. Realität ist die Sphinx aller Sphinxen, das Rätsel aller Rätsel. Ist nicht auch jeder neue Anfang … ein Rätsel?“

Die Studiobühne Piscator brauchte ein Theater, er wollte mit den besten Schauspielern arbeiten, er brauchte erfahrene Schauspieler, deshalb wurde neun Monate darauf die Studiobühne als Teil des Dramatic Workshop eröffnet. Sie war als Repertoire-Theater gedacht, in dem Berufsschauspieler die Hauptrollen spielten. Die Studenten sollten Nebenrollen übernehmen, das Licht fahren, Requisiten ranschaffen und das Bühnenbild bauen. Während sie Seminare besuchten und sich technisch fortbildeten, würden die Studenten mit profilierten Schauspielern zusammenarbeiten. Der Plan war perfekt. Auf der Studiobühne produzierte Piscator einige der wichtigsten Inszenierungen seines amerikanischen Exils: König Lear mit Sam Jaffe, Klabunds Kreidekreis mit Dolly Haas, Nathan der Weise mit Herbert Berghof und schließlich und endlich Krieg und Frieden. Gegen die Macht des Broadway-Establishments anzukommen, ist schwer. Der bescheidene Erfolg der Studiobühne rief die Gewerkschaften auf den Plan. Zunächst bestand die Gewerkschaft der Schauspieler darauf, dass ihre Mitglieder tarifgerecht bezahlt werden. Piscator trieb das nötige Geld auf. Dann verlangte die Gewerkschaft der Bühnenarbeiter, auch die Arbeit der Beleuchter, Requisiteure und Kostümschneider – alles, was die Studenten als Teil ihrer Ausbildung leisteten – müsse gewerkschaftlich betrachtet werden. Die steinige Geschichte des Off-Broadway-Theaters ist der Beweis, dass dies für ein kleines Theater wirtschaftlich nicht zu stemmen ist. In dieser und 24


vieler anderer Hinsicht war Piscators Studiotheater Vorläufer und Inspiration für die Off-Broadway-Bewegung. Das Off-Broadway wollte kein billiger Abklatsch des Broadways sein, vielmehr versuchte es, Theater völlig anders zu machen, auf eine Art, an der der Broadway kein Interesse hatte und die er schlicht ablehnte. Das Studiotheater setzte den Standard für experimentelle Theaterformen mit höchstem künstlerischem Anspruch. Sie dient uns bis heute als Beispiel, wie man sich von hohen Produktionskosten freihält, wie man ohne großes Budget starke Effekte erzielt, nur mit dem Erfindungsreichtum der Kunst. Seit das Studiotheater 1944 geschlossen wurde, kämpft das OffBroadway gegenüber den Gewerkschaften ums Überleben. Experimentelles Theater, künstlerisches Theater, politisches Theater kann nur überleben, wenn es Verträge gibt, die auf die finanzielle Situation kleiner unabhängiger Theater zugeschnitten sind. Hier ist einiges passiert, aber es bleibt noch viel zu tun. Piscators Studiotheater bereitete uns den Weg.

Die Lehrer an Piscators Schule Es ist kein Zufall, dass am Dramatic Workshop drei Lehrer unterrichteten, die von den 60er Jahren bis ins neue Jahrtausend die Theaterausbildung in Amerika geprägt haben: Herbert Berghof, Stella Adler und Lee Strasberg. Sie alle gründeten eigene Institute und prägten die Kunst einer ganzen Schauspielergeneration. Piscator hat eine ansehnliche Riege an Lehrern um sich versammelt! Margrit Wyler Margrit Wyler, eine schöne und intelligente Schauspielerin, hatte Hauptrollen am Volkstheater Wien und am Schauspielhaus Zürich gespielt. Geduldig und kompetent lehrte sie Szenenarbeit, die den Text als Grundlage betrachtet. Vor allem aber brachte sie uns den menschlichen Aspekt der Darstellung und unserer Auffassung der Rolle nah. Sie brachte uns auch bei, unsere Rolle in der Welt und im Theater zu würdigen. Was habe ich von Margrit Wyler gelernt? Im männlich dominierten Theater gibt es zwei Rollen für Frauen: Mutter und Hure. Die meisten Schauspielerinnen spielen ihr ganzes Leben lang ausschließlich die eine oder die andere Rolle. Wyler jedoch brachte uns Schülerinnen bei, dass wir beides spielen können, weil wir – und alle Frauen – beides in uns haben. 25


Raikin Ben-Ari Raikin Ben-Ari war ein hervorragender Schauspiellehrer, der mit Stanislawski, später auch mit Wachtangow, Meyerhold und Reinhardt gearbeitet hatte. Er hatte auch ein preisgekröntes Buch über das [Moskauer] Habimah-Theater geschrieben. Bei ihm lernten wir Improvisation, Stanislawski-Übungen sowie Elemente von Wachtangows magischem Realismus. Er betonte, wie wichtig praktische Erfahrung für das Schauspiel sei. Was habe ich von Raikin Ben-Ari gelernt? Die Bühne ist kein Spiegel, sondern ein Vergrößerungsglas. Außerdem konnte ich bei ihm den jüdischen Widerwillen ablegen, mich auf der Bühne zu bekreuzigen. Als Schauspielerin ist mir nichts an der menschlichen Natur fremd. Chouteau Dyer Chouteau Dyer war zuerst Schülerin von Piscator, wurde Assistentin und schließlich seine Regieassistentin. Chouteau verfügte über die brillante Intelligenz, die ein Genie wie Piscator in seiner Nähe braucht. Als begabte Regisseurin und großartige Persönlichkeit hat sie mir das Regiehandwerk vermittelt, während Piscator eher über Haltung und Bedeutung sprach. Ich erinnere mich noch, wie sie mir bei dem kleinen Italiener, bei dem die Studenten ein und aus gingen, gegenübersaß. Umringt von Studenten hatte sie den Produktionsplan vor sich ausgebreitet, ging mit dem Bleistift Kalender und Listen durch und verteilte Aufgaben für Was ihr wollt. Sie kannte jede Szene, wusste, was wann wo sein musste. Sie verstand das Stück in sehr konkreter Hinsicht. Sie wusste, worum es ging, wusste, was der Regisseur mit den Requisiten und deren Anordnung erreichen wollte, und die Stichworte kannte sie auch. Eine Welle von Erkenntnis nahm mich mit: Das will ich machen! Das Stück vollständig in meinem Kopf haben, wissen, wie sich die Interpretation bis ins kleinste Requisit auswirkt. Chouteau gab jedem etwas zu tun. Sie zeigte auf mich und sagte: „Requisiten … Malina, du stehst am Requisitentisch, Hinterbühne links.“ Ja, genau das. Ich wollte Regisseurin sein. Was habe ich von Chouteau Dyer gelernt? Dass ich Regisseurin sein will. Leo Kerz Leo Kerz hatte seine Ausbildung bei Traugott Müller, einem von Piscators stilbildenden Bühnenbildnern in Berlin absolviert. Bevor er nach Amerika kam, hatte er schon als Bühnenbildner an der Königli26


chen Akademie in Amsterdam und beim Joos Ballett in Den Haag Erfolge gefeiert. Am Workshop entwarf er für Was ihr wollt eine bemerkenswerte Schattenspielbühne. Seine Projektionen griffen den verspielten Mystizismus des Stücks auf. Später entwarf er Bühnenbilder für mehrere Inszenierungen am Broadway. Besonders hervorzuheben sind das Bühnenbild für Eugène Ionescos Die Nashörner und seine Mitarbeit an Piscators Inszenierung von Rolf Hochhuths Der Stellvertreter in den 60er Jahren in Berlin. Am Workshop unterrichtete er Masken-, Kostüm- und Bühnenbild. Uns gegenüber war er zurückhaltend, betrachtete sich weniger als Lehrer denn als Bühnenbildner. Er war ein Denker und hat auch das Feld der Bühnentechnik mit seinen Ideen bereichert. Was habe ich von Leo Kerz gelernt? Im modernen Theater ist das Bühnenbild genauso wichtig wie der Text und die Darsteller. Verwende niemals die Farbe Schwarz für ein Bühnen-Makeup. Er heiratete Louise Kerz, die sich nach seinem Tod um seinen Nachlass kümmerte und später Al Hirschfeld heiratete, den Theaterkarikaturisten par excellence. Während ihrer letzten schwierigen Jahre hielt Louise als treue Freundin zu Maria-Ley Piscator und feierte den 100. Geburtstag mit ihr. Paul Zucker

Paul Zucker war ein brillanter Kunstkenner und Soziologie. Er war Professor in Berlin gewesen, lehrte später an der Cooper Union in New York und verfasste mehrere Lehrbücher, darunter Raum und Architektur in der Malerei des florentinischen Quattrocento, Die Theaterdekoration des Klassizismus und Entwicklung des Stadtbildes. Mit Freude, beträchtlicher Energie und hohem Anspruch unterrichtete er zwei Kurse, in denen er uns Kunstphilosophie nahebrachte. Er setzte einfach voraus, dass wir seiner differenzierten Darstellung der Entwicklung dreier ägyptischer Dynastien folgen konnten, dass wir wussten, anhand welcher Merkmale Barock und Rokoko zu unterscheiden sind. Dr. Zucker unterrichtete Stil im Wandel der Zeit, die Kunstgeschichte der westlichen Welt und illustrierte sie mit Hunderten von Dias. In jedem Bild fand er den Schlüssel zu irgendeinem Entwicklungsschritt des Theaters. Er hielt auch das bemerkenswerte Seminar Geschichte und Soziologie des Theaters, interpretierte das Verhältnis zwischen Publikum, Schauspieler und der jeweiligen Weltlage anhand von Tabellen und Diagrammen. Was habe ich von Paul Zucker gelernt? Das Individuum kann Kultur nie so stark beeinflussen wie Kultur das Individuum. 27


Gloria Montemuro Gloria Montemuro unterrichtete am Workshop Stimmbildung und Sprechtechnik. Wie meine Studiennotizen belegen, war ich ihretwegen oft unglücklich. Im Rückblick weiß ich, dass mein Widerstand gegen ihre Übungen dumm und kindisch war. Ich wehrte mich gegen standardisiertes Sprechen, eine bestimmte theatralische Stimmqualität lehne ich nun mal ab. Allerdings hätte ich sie zuerst lernen sollen und dann ablehnen, was ich nicht umsetzen wollte. Viele Jahre später feierte Gloria Monty – wie sie sich dann nannte – Erfolge als Regisseurin der Fernsehserie General Hospital. Was habe ich von Gloria Montemuro gelernt? Der Atem kommt aus dem Zwerchfell und ich muss lernen, wie man ihn kontrolliert. Alexander Ince Alexander Ince gab den Kurs Neue Stücke am Broadway. Er hatte in Europa amerikanische Stücke wie Abies Irish Rose und Der Prozess der Mary Dugan produziert und gab mehrere illustrierte Theatermagazine heraus. In Amerika arbeitete er für Paramount, MGM und Gilbert Miller. Piscator wies uns oft darauf hin, wie wichtig er gerade für uns sei, die wir den Broadway ablehnten. Wir müssten uns auskennen. In den Jahren, in denen er am Workshop unterrichtete, produzierte Ince mehrere Stücke am Broadway, jedoch ohne Erfolg. Was habe ich von Alexander Ince gelernt? Theater ist eine wunderbare Kunst, mit der sich aber kein Geld verdienen lässt. Hans Sondheimer Hans Sondheimer unterrichtete Bühnentechnik. Am Bayrischen Staatstheater hatte er dem Beleuchtungsgenie Adolf Linnebach assistiert, dessen Projektionsapparate nach ihm benannt wurden. In den USA machte er an der Metropolitan Oper Licht für das Bühnenbild von Robert Edmond Jones in der Matthäus-Passion. Am Workshop entwarf er das Licht für Nathan der Weise, Winter Soldiers und Krieg und Frieden. Am Workshop war er Technischer Direktor und zeigte mir, wie man mit einer Stichsäge umgeht. Was habe ich noch von Hans Sondheimer gelernt? Wie man mit drei Schlägen einen Nagel in ein zwei Zentimeter dickes Brett rammt.

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Henry Wendriner Zwei weitere bedeutende Mitglieder des Kollegiums verehrten Piscators Werk—Eleanor Fitzgerald (siehe 3. Teil) und Henry Wendriner. Er war für die Finanzen und administrativen Aufgaben verantwortlich und unterstützte das Team. Piscator hatte immer finanzielle Sorgen, war ständig verschuldet, immer am Rand des wirtschaftlichen Abgrunds. Bedeutende Theater hat man ihm anvertraut, aber nicht in den Vereinigten Staaten. Dort fand er keine Unterstützung für seinen Plan eines „Totalen Theaters“, den er mit Walter Gropius entwickelt hatte. Er hatte den Dramatic Workshop als Zwischenlösung akzeptiert. Henry Wendriners Aufgabe war es, Piscator von finanziellen Sorgen abzuschirmen, aber Piscators Ansprüche waren hoch. Das Epische Theater verlangt eine große Bühne und teure Technik. Die Räumlichkeiten in der New School waren zwar begrenzt, aber Henry Wendriner holte alles aus dem Etat heraus. Er nahm Schulden auf, die noch abgezahlt wurden, als der Dramatic Workshop längst umgezogen war. Noch als ich Jahre später an der New School Seminare über Piscator hielt, beklagte sich Dekan Lewis Falb bei mir über die Schulden, die Piscator mit Wendriners Hilfe angehäuft hatte. Wendriner unterrichtete auch Theatermanagement, wovon ich sehr profitiert habe. Vom Toilettenpapier-Budget bis zu dem Kniff, wie man den Kartenverkauf so manipuliert, dass zehn Zuschauer ein halbvolles Haus ergeben, war alles dabei. Wendriner, ein kleiner, freundlicher, plumper Mann mit Glatze war in alle Schauspielerinnen an der Schule verliebt. Mir und allen anderen stellte er nach und er bat mich, die romantischen und erotischen Gedichte zu übersetzen, die er für Priscilla Draghi geschrieben hatte – sie spielte Hai-Tang im Kreidekreis – und für Elaine Stritch – Feste in Wie es euch gefällt. Wendriners Belästigungen hätten das Glück ihrer Studienjahre überschattet, sagte Bea Arthur mir 60 Jahre später. Ich nahm das auf die leichte Schulter. Wenn ich ihn abwies und er mich fragte, ob ich in einen anderen verliebt sei, lachte ich. „Ich liebe Herrn Piscator“, antwortete ich frech und er erwiderte: „Ach ja! Den müssen wir ja alle lieben!“ Und genau so war es. Piscator war unser Idol.

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Die Schüler

George Bartenieff

„Dummköpfe konnte er keine Sekunde lang ertragen.“ So erinnert sich George Bartenieff an Piscator und seine Ungeduld mit allen, die seinen hohen Ansprüchen nicht gerecht wurden: Bartenieff ist einer der bemerkenswertesten Absolventen des Dramatic Workshop. Maria Ley-Piscator hatte 1945 am Junior Dramatic Workshop sofort seine Fähigkeiten erkannt und ihm in zwei Stücken die Titelrollen gegeben: In Pinocchio spielte er den Knaben mit einer Unschuld und Präsenz, die er sich bewahrt hat. (Ich spielte die böse Katze.) In der Fabel The Prince who Learned Everything out of Books forderte George mit seiner bedingungslosen kindlichen Unschuld das dekadente intellektuelle Establishment heraus. Ich spielte die hässliche Schwester und Bernie Schwartz (später Tony Curtis) den dionysischen Verführer. Seine Rolle hatte einen Bezug zu Piscators erster Rolle in Strindbergs Gespenstersonate. Es ging darum, wie sich eine idealistische Jugend gegen die übliche Korruption auflehnt. Der junge Bartenieff verstand, worauf Piscator hinauswollte. Als Sohn von Tänzern und Schauspielern war George im Künstlermilieu aufgewachsen. Er erinnert sich, dass sein Vater ihm Sergej Djagilew als künstlerisches Vorbild empfohlen hatte. Er war zu spät geboren, als dass er ihn selbst hätte erleben können. Vermittelt durch Erzählungen des Vaters und Fotografien war er trotzdem sein Idol. Als ich neulich mit ihm sprach, sagte Bartenieff, „deshalb suchte ich nach ausgeprägter Fantasie und die fand ich bei Piscator. Ich erinnere mich an seine Inszenierung von Das Spiel der Macht. Was für ein Bühnenbild! Auf einer Empore saß Huey Long mit dem Telefon am Schreibtisch und kontrollierte alles und jeden. Das Bühnenbild war ebenso organisch wie der Körper des Schauspielers. Bildlich, architektonisch und theatralisch zeigte es, worum es in diesem Stück ging.“ In den 1960er Jahren arbeitete Bartenieff mit dem Living Theatre. Unvergesslich, wie er in The Brig den verletzlichsten Häftling spielte, der von einem brutalen Wächter in den Zusammenbruch getrieben wird. In Karen Malpedes Stück Us spielte er Jahre später ebenso elektrisierend wie klug den Ehemann und Vater. Gemeinsam mit Crystal Field gründete Bartenieff 1970 das Theater for the New City [TNC], eine Institution der Off-Broadway-Theaterbewegung. Fünf Säle (in einem Gebäude) ermöglichten eine enorme 30


Bandbreite experimenteller Arbeit. Dort entstand auch das jährliche Straßentheaterfestival für die Community des East Village. Als das Living Theatre noch keine eigenen Räume hatte, zeigte das TNC einige seiner Inszenierungen: Michael McClures VKTMS; Malpedes Us; eine Wiederaufnahme des 1964 vom Kollektiv geschaffenen Mysteries and Smaller Pieces und drei Stücke von Hanon Reznikov, The Rules of Civility and Decent Behavior in Company and Conversation, Capital Changes und Anarchia. Bis heute ist das TNC unter der Führung von Crystal Field ein Wahrzeichen des Avantgardetheaters. Piscator wäre stolz, wenn er sehen könnte, wie sein Werk auf diese Weise weiterlebt. Mit Karen Malpede, einer Schriftstellerin, aus deren Werken Antikriegsaktivismus sprach, schuf Bartenieff eine Reihe wichtiger politischer Theaterproduktionen. Internationales Echo fand sein Porträt Viktor Klemperers. Dieser hatte während seines Überlebenskampfes in der Nazizeit ein sensibles und politisch hellsichtiges Tagebuch verfasst. Piscator erklärte, die größten Schauspieler seiner Zeit, beispielsweise Laurence Olivier, setzten Techniken ein, die er als objektive Spielweise bezeichnete. Das beste Beispiel dafür war Bartenieffs epischnarratives Spiel im Klemperer-Stück, Ich will Zeugnis ablegen bis zum letzten. Sein Fokus lag ganz auf dem Publikum. Mehr objektives Spiel ist in unserer von Stanislawski geprägten Epoche wohl kaum zu finden. Ich fragte Bartenieff, wie Piscator ihn persönlich behandelt habe: „Ich war ein Kind und er behandelte mich … na ja, du weißt schon … eher wie einen Hund.“ Und auf die Frage, wo er Piscator in der modernen Theatergeschichte verortet, sagte er: „Er ist ein Held der Avantgarde. Vater von allem, was wir heute im Theater tun. Er hat das moderne politische Straßentheater am stärksten inspiriert und einen organischen Stil geschaffen.“ Anna Berger Anna Berger ist eine der Absolventinnen des Dramatic Workshop, die noch sehr lange als Schauspielerin gearbeitet haben. Wie ich kam sie mit einem Stipendium zum Workshop, wie ich verehrte sie unseren geliebten Professor und stritt sich mit ihm. Als Jugendliche war sie in einer Show aufgetreten, ein reicher Mäzen hatte sie entdeckt und ihr ein Stipendium für eine Theaterschule ihrer Wahl angeboten. Sie entschied sich für das Neighbourhood Playhouse. „Wissen Sie, wie viele bildschöne Mädchen jeden Tag durch diese Tür kommen?“, sagte der 31


Direktor und schickte sie weg. Als sie weinend nach Hause kam, sagte ihre Mutter, sie dürfe sich nicht so leicht entmutigen lassen. Jemand empfahl Piscators Schule. Als Piscator sie aufforderte vorzusprechen, erwiderte sie, sie habe nichts vorbereitet, könne nur den KakerlakenTanz vorführen. Gesagt, getan. „War das Theater?“, fragte er und sie sagte: „Ja.“ Er lächelte: „Stimmt!“ Viele Kurse besuchten wir gemeinsam und spielten zusammen in Aristokraten und anderen Stücken des Dramenkanon. Nach ihrem Abschluss arbeitete Anna Berger mit On-Stage und The Interplayers am Cherry Lane Theater, zwei aus Workshop Absolventen bestehende Ensembles, die Lorca, Sartre, Auden und Isherwoods The Dog Beneath the Skin produzierten. Das war alles, bevor sie am Broadway und in Hollywood Karriere machte. Im März 2004 trafen wir uns im Westside Diner in Hell’s Kitchen in New York. Ich fragte sie, was Piscator ihr bedeutete. Sie kam gerade von der Probe für ihre One-Woman-Show Absolutely Anna im Actor’s Studio und rief: „Er war mein Gott!“ „Aber was hast du von ihm gelernt?“ Verschmitzt blinzelte sie mit ihren glänzenden Augen: „Daß man ‚Goeeth‘ wie ‚Goer-ter‘ ausspricht.“ Dann sagte sie ernst: Piscator hatte eine Idee, was Theater sein sollte. Er lehrte uns, mutig zu sein, etwas zu wagen. „Geht hinaus und gebt dem Leben ein neues Gesicht“, sagte er. „Spielt Stücke, die aufregen und anregen, die die Welt besser machen.“

Mir fällt auf, dass einige junge, politisch bewusste Künstler, die mit Piscator in New York gearbeitet hatten, seinen politischen Einfluss gar nicht wahrnahmen. Während des Kalten Kriegs war es offenbar eine Strategie, den Unterschied zwischen „subversiv“ („unamerikanische Umtriebe“) und „progressiv“ (dafür hatte die Roosevelt-Regierung gestanden) zu verwischen. Erwin Piscator war klug und entging der amerikanischen Hexenjagd, wie er zuvor den Nazis und Stalinisten entkommen war. Dies jedoch um den Preis, dass er seinen besten Schülern seine politische Einstellung vorenthielt. Eine weise Entscheidung, er ist schließlich Zeuge gewesen, wie viele deutsche Künstler von den Nazis umgebracht worden waren. Dass Meyerhold im Jahr 1940 in einem Moskauer Gefängnis ermordet worden war, hatte ihn erschüttert. Er hatte also guten Grund, vorsichtig zu sein. Im Workshop bezeichnete er sich selbst nie als „Kommunist“, sondern als „Antifaschist“. Auch wenn Berger bescheiden behauptete, nicht zu 32


wissen, was Piscator mit „Epischem Theater“ meinte und mich bat, „eine genaue Definition“ aufzuschreiben, offenbart sie in allem, was sie sagt und tut, ein tieferes Verständnis davon, als irgendeine Definition das vermag. Sylvia Miles Sylvia Miles ist eine Ausnahmeerscheinung im modernen Theater und Film, Erfinderin eines gewagten und persönlichen Stils, der sie zur Diva machte. Über Piscator sagt sie: „Dieser preußische Lehrer war das Beste, was mir passieren konnte. Er war ein echter Künstler und in philosophischer Hinsicht wichtig für mich. Die Disziplin, die er mir eintrichterte, ist mir in Fleisch und Blut übergegangen.“ Mit der Kraft, die sie aus dieser frühen Erfahrung zog, erfand Miles eine strahlende Kunstfigur, die anders war als alle anderen. Ein Freund hatte ihr Piscator empfohlen und als sie vor ihm stand, war sie „wie vom Blitz getroffen“. Wie wir alle! Wenn sie von ihrem Vorsprechen erzählt, persifliert sie seinen Akzent: „Sie haben also schon Theater gespielt?“ „Ja …“ „Aha … in welchen Stücken haben Sie gespielt?“ „Hamlet.“ „Aha! Und welche Rolle haben Sie in Hamlet gespielt?“ „Hamlet.“ „Und wo haben Sie diesen Hamlet gespielt?“ „In der Washington Irving High School.“ „Ah! Na dann, lassen Sie mal hören …“

Und mit unnachahmlicher Stimme – Hunderte von Schauspielern haben vergeblich versucht, sie nachzuahmen – rief sie aus: „Oh, dass dies all – allzu beschmutzte Fleisch doch schmölz, zerflöß, zerging in einem Tau,”“ „Ja, ja!“, schrie Piscator und unterbrach sie: „Sie können es.“ Sie erinnert sich, dass sie im Workshop oft als Zweitbesetzung fungierte und trotzdem eine gehorsame, eifrige Schülerin blieb. „Obwohl ich sie nur selten spielen durfte, habe ich die Zweitbesetzung immer einstudiert. Und wenn ich für die Requisite gebraucht wurde, machte ich eben das.“ „Piscator vermittelte das Konzept der ‚ergebnisorientierten Regie‘.“ In ihrer langen und erfolgreichen Karriere habe ihr das geholfen, mit vielen verschiedenen Regisseuren zu arbeiten. Ich kannte den Begriff nicht und fragte, was er bedeutet: 33


Das bedeutet, dass er nicht über Psychologie sprach, es ging auch nicht um Motivation. Er erklärte mir, was er wollte – manchmal zeigte er es –, und ich machte es nach. Er war der Ansicht, die Schauspielerin müsse ihren Subtext selbst finden. Laut Piscator sollte der Regisseur während der Proben also keinen „Schauspielunterricht“ geben, vielmehr müsse er der Schauspielerin seine Auffassung vom tieferen Sinn der Szenen und der Charaktere vermitteln, also „seine Vorstellung“ davon, was das Stück bedeutete. Piscators Weigerung, die Schauspielerin während der Proben psychologisch zu beraten, könnte man als mangelndes Interesse an Schauspielkunst deuten. Ebenso gut kann die Schauspielerin das als Respekt gegenüber ihrem persönlichen Beitrag verstehen, Respekt vor ihrer Analyse, ihrem Rollenverständnis, ihrer Motivation. Auch wenn all das auf „ergebnisorientierte Regie“ zurückgeht. Wie viele der Schüler in Piscators Workshop ahnte auch Miles nicht, wo Piscator politisch stand. Dass Piscator Kommunist war – oder war er Sozialist? –, wurde mir erst lange nach meinem Abschluss bewusst. Er hat ja nie darüber gesprochen. Ich wusste nicht einmal, dass er Christ war. Weißt du, für mich war er Flüchtling, ich nahm an, er wäre Jude …

Sogar politisch wache Schüler konnten sich kaum vorstellen, mit welcher Vorsicht jemand, der der mörderischen Verfolgung der Nazis um ein Haar entgangen war, in der bedrohlichen Atmosphäre der sich anbahnenden McCarthy-Ära und während der Anfeindungen durch das Komitee für unamerikanische Umtriebe seine Meinung äußerte. Marlon Brando Heute erinnern sich wenige an Piscators Werk. Auch wenn sie von seiner politischen Überzeugung wenig ahnten, impfte er seine Schüler mit sozialer Verantwortung. Als ich mich kürzlich – fast 40 Jahre nach seinem Tod – mit den früheren Schülerinnen Sylvia, Anna und George unterhielt, wussten sie nicht mal, dass er Kommunist gewesen ist. Aus begründeter Angst verbarg er seine wahren Gefühle, das soziale Gewissen, das die frühen kommunistischen Ideale in ihm geweckt hatten, blieb bestehen. Das war, bevor der Machtmissbrauch begann. Mit einem von Piscators berühmtesten Schülern, Marlon Brando, konnte ich nicht sprechen. Kurz bevor ich dort anfing, hatte Piscator 34


ihn des Workshop verwiesen. In seinem Buch Brando: Eine Biographie widmet Peter Manso der Ära des Dramatic Workshop 22 Seiten. Manso wirft ein seltsames, aufschlussreiches Licht auf den Dramatic Workshop im Jahr vor meinem Eintritt. Er interessiert sich weniger für Brandos Studium oder seine Entwicklung als Schauspieler denn für seine sexuellen Eskapaden und Piscators Schule wird sehr viel kruder dargestellt, als es Piscator gefallen hätte. Über das Ausmaß des Vulgären schweige ich. Manso zitiert, wie sich der berühmte und gebildete Alumnus Walther Matthau über „den neurotischen Workshop für Sexualforschung“ mokiert, wo „die Leute Schauspiel studieren, weil sie bis nach China gefickt werden“. Ich muss sagen, ich habe das anders erlebt. Abgesehen von Wendriners berüchtigter Schürzenjagd beobachtete ich bei meinen Mitschülern eine ganz normale jugendliche Sexualität. Das war natürlich nach Marlons Rauswurf. Brando war ein rebellischer junger Mann, der seine Lehrer gern provozierte und alle anderen, die seine kindische impulsive Art missbilligten. Er provozierte mit Schalk und einem außergewöhnlichen Talent. Brando und seine Musketiere Darren Dublin und Carlo Fiori waren „hinter den Mädchen her“, aber im Dramenkanon beeindruckte er mit Anmut und Tiefgang. Überragenden Erfolg hatte er mit der Doppelrolle Lehrer und Jesus in Gerhart Hauptmanns Hanneles Himmelfahrt. Mitschülerin Mae Cooper erinnert sich: „Es war, als offenbare sich etwas Großes, eines Morgens wachst du auf und dein talentfreies Kind spielt Mozart.“ Stella Adler knöpfte ihn sich separat vor, arbeitete hart mit ihm. Manso kommentiert: „Zwischen Stella Adler und Erwin Piscator bestand von Anfang an eine Rivalität. In ihrer Philosophie gab es grundsätzliche Differenzen. Stella Adler förderte in ihren Schülern das Talent, menschliches Verhalten empathisch wahrzunehmen. Piscator fand, der Schauspieler sei dem Regisseur untergeordnet und der Regisseur dem Schriftsteller.“ Ich bin anderer Meinung als Manso, was Piscators Haltung angeht, aber mit der Rivalität hat er recht. Manso schreibt weiter: „Eigentlich führte Adler innerhalb des Dramatic Workshop ihr eigenes Institut, eine eigene Schauspielklasse“, wie Piscator während einer Auseinandersetzung indigniert formulierte. Viele Schülerinnen waren hin und her gerissen. Beim kleinsten Anzeichen von Theatralität schrie Stella während des Unterrichts im Keller: „Kein Schauspiel! Hör auf zu spielen!“, während Piscator oben auf der Hauptbühne brüllte: „Mach es groß! Noch größer!“ 35


Brando lernte in Piscators Unterricht, dass Theaterarbeit Verantwortung bedeutet. In seiner langen Filmkarriere drehte er ausschließlich Filme, die sich für soziale Ethik einsetzten. Im Archiv der Akademie der Künste in Berlin findet man unter Piscators Dokumenten eine gekritzelte Notiz: „An Brando schreiben,“ dazu folgenden Entwurf: Mein lieber Marlon, Ich weiß, was Du dir in den Kopf setzt, schaffst Du auch. Ich habe viele Schüler erlebt, sehr wenige mit Deinem Talent … ich habe keine Angst davor, dass Du mich abweist, wie du es oft kindisch getan hast, … Mach das ruhig, ich schreibe Dir, weil ich weiß, dass Du jeden klassischen Helden und Schurken spielen kannst, von Romeo und Hamlet über Richard III. bis Mephisto. So sehr ich Deinen frühen Erfolg bewundere, so sehr fürchte ich ihn. Du hast mir vorgeworfen, Du hättest im Dramatic Workshop nichts gelernt und das hat mich tief verletzt. Ich wende mich an den Künstler in Dir – der versteht mich.

Erlebe ich in seiner fantastischen Darstellung des Paten, wie der Film auf die tragische Einsicht hinausläuft, dass das Leben der Söhne durch die Sünden der Väter zerstört ist, denke ich an Piscators frühe Inszenierung von Strindbergs Gespenstersonate. Die Geister wollen die Jugend korrumpieren. Jeder Künstler kehrt immer wieder zu bestimmten grundlegenden Themen zurück. In Strindbergs Stück widersteht der junge Mann der Versuchung, in Der Pate aber – ein politisch pessimistischeres Werk – gerät der Sohn (Al Pacino), der versucht, der Korruption zu widerstehen, in eine Orgie des Blutvergießens. In Der letzte Tango in Paris stellte Brando Machtspiele dar, denen sexuelle Beziehungen zugrunde liegen. Er bezog sich darauf, was er bei Piscator über Machtverhältnisse gelernt hatte. Im erstaunlichen Apocalypse Now eskaliert die Korruption im Herz der Finsternis (Joseph Conrad) und wird zum Krieg. Martin Sheen spielt den jugendlichen Helden, während der Dreharbeiten half er den philippinischen Arbeitern am Set, sich zu organisieren (für bessere Arbeitsbedingungen). In Gestalt von Brando erlebt er einen gewaltsamen Zusammenstoß mit der Korruption, mit aller Kraft („Größer! Größer!“, rief E. P.) zeigte Brando das rohe Gesicht des Bösen. Brandos lebenslanger Kampf für die Rechte der First Nations und sein studentischer Widerwille gegen Autorität gehören zusammen. Sie liefen darauf hinaus, dass er sein 36


Leben lang Filme machte, die die gesellschaftliche Ordnung herausforderten. Bea Arthur Bea Arthur wurde berühmt für ihre Rolle als scharfzüngige Dorothy Zbornak in der Fernsehserie Golden Girls. Als ich sie im April 2006 in Los Angeles besuchte, wurden die Golden Girls im Fernsehen mal wieder ausgestrahlt. Sie saß an ihrem Swimmingpool und erinnerte sich lebhaft an ihre Zeit am Dramatic Workshop. Als unser Gespräch auf Piscator kam, schüttelte sie lächelnd den Kopf: „Als ich da aufschlug, hatte ich keine Ahnung von Schauspiel, Piscator war von meiner Körpergröße beeindruckt: Er gab mir klassische Rollen, weil ich groß war.“ Ihre Größe hatte sie bis dahin stets für einen Nachteil gehalten. Ich versicherte ihr, dass Piscator ihr Talent, ihren originellen Charakter erkannte und ihr deshalb klassische Rollen anvertraut habe. „Nein,“ sagte sie, „Piscator hackte auf mir herum. ‚Du bist zu großspurig, zu dominant, zu forciert.‘“ Piscator beschimpfte sie zwar, weil er sah, dass sie „großspurig war, dominant und forciert“, betraute er die junge, unerfahrene Schauspielerin mit der Rolle der Klytaimnestra in Die Fliegen und nicht die renommierte Frances Adler. Piscator war ein Mann der Widersprüche, wofür er sie schimpfte, das bewunderte er zugleich. War das seine didaktische Methode? Im Workshop dachte ich, Bea sei die große klassische Schauspielerin unserer Zeit, unsere Duse, die Rollen wie Medea, Iokaste, Elektra und Lady Macbeth spielen würde, sie aber schlug einen anderen Weg ein und entschied sich für die Komödie. Sie sagte: „Ich erzähl dir, wie es dazu kam. Ich spielte die Lucy in der Dreigroschenoper. In einer Vorstellung find ich mich miserabel, ich sag einen Satz und hör einen Lacher im Publikum. Das hat mir einen solchen Auftrieb gegeben, dass ich wusste: Das will ich. Ich brauch dieses Lachen, die direkte Reaktion aus dem Publikum.“ War das nicht genau das, was Piscator vom objektiven Darsteller erwartete, das unbedingte Bewusstsein des Publikums, Lust darauf ? Gelächter im Publikum macht es leichter. Wenn sie Tragödien spielte, soll meine Mutter die Taschentücher im Parkett gezählt haben. Bea entschied sich für Komödie und für das Fernsehen als Medium. Ob als Hausfrau Maude oder als Hilfslehrerin Dorothy, in jeder Episode behandelte sie soziale Probleme mit Witz und scharfem politischen Verstand: Rassismus, Abtreibung und Drogen – wenn Maude 37


ihrer Schwarzen Putzfrau Marihuana abkaufen will, gerät diese in Rage. Alle Golden Girls-Episoden zeigen, wie der Altersdiskriminierung unserer Kultur, die vor allem die Frauen trifft, etwas entgegenzusetzen ist. Liebevoll erinnerte sie sich an unsere Mitschüler – Walter Matthaus bösartigen Witz, den dämonischen Charme von Bernie Schwartz (später Tony Curtis), Rod Steigers bissige Präsenz; wie Arla Gild uns gleichzeitig zum Lachen und zum Weinen brachte, Al Armstrong, der sie zum Lachen brachte, und wie Harry Belafonte in der Footlight Pizzeria nebenan mit seinen sexuellen Eroberungen protzte. Sie hob die Arme und beschwor den ausschweifenden Zeitgeist von damals. „Es fühlte sich an, als gäbe es keine Grenzen. Alles war so poetisch und so politisch, weil es immer um den Sinn des Stücks ging, um die Freude daran.“ An Wendriners Belästigungen erinnerte sie sich mit Schrecken. Sie habe ihn zu ernst genommen, sagte ich. Er war ein frustrierter alter Herr, der sich einen Spaß daraus machte, junge Frauen zu belästigen, die nichts von ihm wollten. Als beinahe 80-Jährige wühlten sie die Vorkommnisse von vor 60 Jahren noch auf. Dass auch dies politisch war, wäre Piscator nie in den Sinn gekommen. Er wusste über Wendriner Bescheid. Wir alle wussten Bescheid. Es schien unwichtig, weil wir noch nicht wussten, wie politisch es war. Howard Friedman Howard Friedman ist Philosoph. Von meinen Mitschülern war er der fleißigste und mein ganz spezieller Freund. Er war zu Piscator gestoßen, weil er Exzellenz suchte. Dabei ging es weniger um Theater als vielmehr um Piscators genialen Verstand. Wie Piscator war Friedman Klassizist, beide waren sich bewusst, dass die historischen Fundamente von Kunst und Wissenschaft die materia prima der Avantgarde waren. Beide wussten, auch neue Werke mussten auf alten Regeln beruhen. Howard erklärte mir die Grundprinzipien der höheren Mathematik und machte mir klar, dass Kunst und Wissenschaft wesentlich stärker verbunden sind, als ich das geahnt hatte. Heute ist Howard Friedman Direktor der International Philosophers for Peace. Piscator wäre stolz auf seinen Schüler. Vor Kurzem fragte ich Howard, wie er Piscators Werk einordnet, und er schrieb Folgendes: Piscator war ein herausragendes Genie des westlichen Theaters. Er schuf Inszenierungen von unglaublicher Spannung und Origi38


nalität. Er verknüpfte die knappe Theatralik eines Orson Welles mit der visuellen Intensität eines Eisenstein-Films, sein Werk steckte voll pulsierender Energie. Wie ein Beethoven der Bühne brach Piscator mit allen Konventionen seines Mediums. Besonders verblüffend war sein unkonventioneller Einsatz von Licht (Projektionen als Bühnenbildelemente), Drehbühnen wurden Teil der Handlung. Und er verwischte die Grenze zwischen Schauspieler und Publikum. Aus all dem ergaben sich die Merkmale einer typischen Piscator-Inszenierung. Wenn ich an die stilistische und thematische Spannbreite seiner Inszenierungen denke, fallen mir noch subtilere Merkmale ein: Irgendwie vermittelte Piscator seinen Schauspielern eine ganz besondere Art, zu sprechen und sich zu bewegen, eine spezielle Art der Interaktion. Die Figuren, die sie darstellten, und die Welt, die sie erschufen, waren piscatoresk. Seine Ansicht über den Zweck des Theaters darf in der Beschreibung nicht fehlen. Marx hat gesagt, die alten Philosophen hätten die Welt interpretiert, jetzt gehe es darum, sie zu verändern – und ich glaube, Piscator deutete diese Feststellung als grundsätzlichen Auftrag, der auch seine Theaterarbeit betraf. Der Regisseur soll dem Publikum nicht nur ein Stück glaubwürdiges Leben präsentieren. Das Theater muss vielmehr den Blick des Publikums auf die Welt verändern – es muss einen Wandel zum Besseren initiieren. Piscator setzte alle Theatermittel dazu ein, dem Publikum eine Vision zu bieten, die frei war von den brutalen wirtschaftlichen und sozialen Dissonanzen der Geschichte und Gegenwart. Das klingt jetzt alles nach Inspiration oder nach schrecklicher Pedanterie. Piscator hatte das Talent, die übliche Revolutionsrhetorik zu umgehen. Stattdessen zeigte er eine Welt, die große Fragen aufwirft; die Antwort bestand darin, ebendiese Welt abzulehnen. Zum Beispiel konfrontiert uns seine Inszenierung von O’Neill’s Trauer muss Elektra tragen mit der tiefen Trauer Elektras und wir fragen uns: „Warum muss sie derart leiden?“ Der Text gibt keine befriedigende Antwort. Piscators Inszenierung deutet die Antwort an, sie scheint auf, wenn wir uns mit dem Thema befassen. Elektra leidet darunter, in einer ungerechten Ordnung der Elite anzugehören, deren Erfolg auf der systematischen Unterdrückung aller anderen beruht! In der korrupten Gesellschaft wird das Leben zur Quelle unausweichlicher Trauer. Piscator nimmt also ein klassisches Stück der Mittelschicht, um folgendes Dilemma darzustellen: 39


„Leide oder ändere die Ordnung der Welt.“ Indirekt legt er uns also nahe: „Ändere die Ordnung der Welt!“ In der Tat eine ungewöhnliche Form des Theaters. Erst nach der Vorstellung kommt der Zuschauer zu diesem Schluss. Vom Werk eines Genies dürfen wir Ungewöhnliches erwarten.

Piscators Schüler Jenseits des akademischen Geistes, der Joseph Urbans 3 Gebäude und die Wissenschaft beflügelte, gab es die Schülerschaft und die führte ihr eigenes Leben. Wir hörten Vorträge von W. H. Auden, Hannah Arendt und Karen Horney. Als Angehörige der Institution hatten wir nämlich das Privileg, alle wichtigen Vortragsreihen in der New School of Social Research besuchen zu dürfen. Aber wir waren auch wie Schulkinder. Die natürliche Anziehungskraft führte dazu, dass wir uns zu Gruppen formierten. Die Gruppe, der ich angehörte, war klein und eklektisch. Wir hielten uns für die Auserwählten, das A und O. „Lasst uns Togen und Tuniken tragen und der hässlichen Mode unserer Zeit entsagen!“, rief Ben Moore, ein blonder Schönling, der schon 1946 mit seinem Mentor, dem Dichter Willard Maas, in experimentellen Filmen auftrat. Und Brandt Kingsley, fantastischer Schauspieler und Star unseres intimen Kreises, antwortete: „Wenn es warm ist, gehen wir barfuß, wenn es kalt ist, tragen wir große Capes!“ Lola Ross schlug vor: „Lasst uns auf den Straßen tanzen!“ Wir fühlten uns imstande, die Welt zu verändern. Natürlich trugen wir keine klassischen Kostüme, ich hatte damals immerhin ein Cape, aber das war nur eine von hundert Fantasien, Ahnung von etwas Unbegreiflichem, Neuem – dessen Vorboten wir waren. Wir hätten Piscator aufmerksamer zuhören sollen, aber wir waren jung und wollten unsere eigene Revolution starten, nicht die historische Variante, von der Piscator sprach. Hinter den Eisenstangen am Eingang des Gebäudes an der 12. Straße braute sich in uns der Furor der 60er Jahre zusammen, Piscator war dabei und leitete die Bewegung an, die er auf dem wilden Pfad der Revolution angezettelt hatte. ––––––––––––––––– 3

Joseph Urban war ein aus Österreich stammender Architekt, Illustrator und Bühnenbildner, der bereits 1911 in die USA emigrierte. Er baute auch das Mar-a-Lago in Palm Beach und gilt als Mitbegründer des American Art déco. Anmerkung der Übersetzerinnen.

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So wie Piscator seine Vision der Publikumsbeteiligung nicht umsetzte, waren auch wir nicht bereit für die Revolution. Wir setzten uns in Bewegung, aber die Zeit war nicht reif. Wir näherten uns dem Geist der 68er, 20 Jahre fehlten noch. Die sozialistischen Revolutionen, von denen Piscator redete, lagen 20 Jahre zurück. Vorbereitet hat er es zwar, aber das Totale Theater der 68er hat Piscator nicht mehr erlebt. Lola Ross war meine engste Freundin und Vertraute im Workshop, eine willensstarke Persönlichkeit mit unerschütterlichem Selbstvertrauen. Wir lachten heimlich, sprachen über die jungen Männer, die uns gefielen, vertrauten uns unsere Zukunftspläne an. Ihre Hingabe ans Theater war dauerhaft. Piscator hat uns alle mit einer Mission infiziert. Lola zog zwei Söhne groß und arbeitete daher einige Jahre nicht am Theater. Sobald die Kinder groß waren, kam sie zurück zum Living Theatre, organisierte den Kartenverkauf in der Third Street und spielte in unseren Produktionen mit. Besonders eindrucksvoll war ihre Darstellung der betrogenen Matriarchin in German Requiem, Eric Bentleys Bearbeitung von Kleists Familie Schroffenstein. Da verströmte sie königliche Arroganz und spielte ihr Selbstvertrauen komisch aus. Eine andere enge Freundin war Steffi Blank, eine ernste junge Frau mit guten Ideen und ausgeprägter Disziplin. Sie glaubte an die Klassiker. Piscators innovatives Theater betrachtete sie als Episode im Lauf der historischen Entwicklung. Viele Szenen erarbeiteten wir zusammen, ihre genaue Analyse half mir oft, einen intelligenten Zugang zur Rolle zu finden, und sie bleibt eine meiner weisen Frauen. Harald Brixel war ein österreichischer Schauspieler, der Opernregisseur werden wollte. Er war schon 30 Jahre alt, als er anfing, am Dramatic Workshop Regie zu studieren. Wir wähnten uns in einer Wagnerschen Liebesgeschichte, zumal wir in Herbert Herzfelds Seminar anhand der großen lyrischen Opern Komposition studierten. Dann fand ich heraus, dass er in Schweden Frau und Kinder hatte. In Dr. Herzfelds Seminar verfasste ich ein Libretto darüber, wie Kassandra von Apollo verlassen wird. Harald inszenierte am Workshop die Oper Susannens Geheimnis von Ermanno Wolf-Ferrari. Ich war seine Regieassistentin und lernte viel über die besonderen Anforderungen der Oper an das Tempo und auch das hat meine Theaterarbeit geprägt. Harald verließ Amerika, um in Salzburg an der Oper zu arbeiten. Bevor er abreiste, gab er mir drei leere Notizbücher und riet mir, Tagebuch zu führen. Ich begann 1947 an meinem 21. Geburtstag und seitdem hat 41


diese Angewohnheit meinem Leben Ordnung und Struktur gegeben. Das Notizbuch war in vieler Hinsicht ein Prototyp für das Tagebuch. Wenn ich an meine Freunde im Workshop zurückdenke, merke ich, dass mir vor allem einfällt, was ich von ihnen gelernt habe. Dass wir alle voneinander lernten, ging auf Piscators Idee des kollektiven Arbeitens zurück. Aber nicht alle Schüler hatten dieselbe Vision. Nach Ende des Kriegs bekamen – durch die G.I. Bill of Rights– alle, die in der US-Armee gedient hatten, das Recht auf eine Berufsausbildung. Der Dramatic Workshop hatte plötzlich viele Neuzugänge. Unter ihnen wunderbare Schauspieler wie Harry Belafonte und Walther Matthau, die verstanden, worauf Piscator hinauswollte. Andere entschieden sich für die Theaterschule, weil sie das für leichter hielten als akademische Studienfächer. Schauspieler werden? Kann doch lustig sein. Als sich herausstellte, dass Piscators Schule nicht ganz so leicht war, verging manchen Ex-G.I.s die Lust. Unter den Schülern gab es also die Kunst- und Politikbesessenen und solche, die einfach dabei waren. Aber die Gabe, das unerklärliche Talent, das uns staunen macht und uns ein „ah“ entlockt, konnte jederzeit zum Vorschein kommen. Der Anteil an Absolventen, die im Theater, Film und Fernsehen Karriere machten, ist ungewöhnlich hoch und das legt nahe, dass Piscators Einfluss weiter reicht, als gemeinhin angenommen wird. Marlon Brando ist eine Legende, Harry Belafontes Filme behandeln ausnahmslos sozialkritische Themen. Während des Irakkriegs machte er sich als Antikriegsaktivist stark. Rod Steiger, Walter Matthau, Harry Guardino, Jerry Stiller, Ben Gazzara, Jack Garfein, Gene Saks und Louis Guss. Elaine Stritch erwähnt Piscator in ihrer Broadway-Soloshow. Sylvia Miles entwickelte ihren gewagten Camp-Stil. Vinette Carroll, Michael Gazzo – im Workshop spielte er den Pfau in O’Caseys Juno und der Pfau, mit Der Mann mit dem goldenen Arm hatte er sogar am Broadway als Dramatiker Erfolg – außerdem Tony Curtis, der sehr berühmt geworden ist. Tennessee Williams belegte den Kurs für Szenisches Schreiben und bat Piscator schriftlich um einen Job. Piscator antwortete: „Ich denke, für Sie ist es wichtiger, dass Sie Zeit haben, Ihre Stücke zu schreiben.“ Vergebens hoffte Tennessee sein erstes Stück Battle of Angels würde am Workshop produziert werden. Noch vor seinem kometenhaften Aufstieg besorgte das später die Theatre Guild. Wir waren eine außergewöhnliche Gruppe und profitierten mehr vom Unterricht als irgendwer, den ich kenne. 42


Wie ich mich in den Workshop gekämpft habe Fünf Jahre nach Gründung des Dramatic Workshop fing ich dort an. Im Jahr 1945 ging der Zweite Weltkrieg zu Ende. Vorbei die schreckliche Tortur, die uns so viel Energie gekostet, uns mit Angst erfüllt hatte. Hoffnung trat an die Stelle von Angst, es gab eine optimistische Rhetorik und eine optimistische Poesie. Ich konnte mir den Dramatic Workshop nicht einfach so leisten. Als mein Vater 1940 an Leukämie gestorben war, waren meine Mutter und ich mittellos. Die Studiengebühren betrugen tausend Dollar. Ich bewarb mich, erhielt ein Stipendium über die Hälfte und musste den Rest dazuverdienen. Ich hatte zwei Jobs. Tagsüber erledigte ich in einer Wäscherei die Drecksarbeit. Ich öffnete die Säcke mit der schmutzigen Wäsche, musste die Stücke zählen und sortieren und mit dem ganzen anderen Mist fertig werden, den Leute in ihre Wäschesäcke stopfen. Nachts jobbte ich als Kellnerin, Sängerin und Garderobenfräulein in Valeska Gerts Beggar Bar.

Valeska Gert Valeska Gert war die innovative Grotesktänzerin der Berliner Avantgarde der 20er Jahre, sie hatte schon die Expressionisten inspiriert. Majakowski habe seinen konstruktivistischen Theaterstil von ihren Gesten abgeleitet, prahlte sie. Auch sie war der kulturellen Wüste des Faschismus entflohen. In einem winzigen schwarz gestrichenen Keller an der Morton Ecke Bleecker Street im Herzen von Greenwich Village gründete sie eine Kleinkunstbühne, die an eine Berliner Kneipe der 20er Jahre erinnerte. Sie hatte aber keine Lizenz, Alkohol auszuschenken. Valeska, die als Polly Peachum in G. W. Pabsts Dreigroschenoper berühmt geworden war, nannte ihr Lokal The Beggar Bar und führte ein außergewöhnliches Solo-Repertoire grotesker Satiren auf, sie nannte es Irregularity (Unregelmäßigkeit).

Mondeingeweide (Lunar Bowels): Eine Vorsprechrolle Ich hatte also zwei Jobs und probte außerdem für die Rolle, mit der ich mich um das Stipendium am Workshop bewerben wollte. Von Valeskas Aufführungen beeindruckt, schuf ich ein Tanzdrama, das mein Gedicht Lunar Bowels darstellen sollte. Es handelte von einer Reise zum Mond oder vom Risiko, ins große Unbekannte aufzubrechen. Die Darstellung war sehr körperlich. 43


Zuerst sollte ich Maria Ley-Piscator vortanzen, die mich in einem blauen Samtgewand in ihrem blauen, verspiegelten Büro empfing. Es war Madames blaue Periode. In der Schule wurde Maria Piscator wegen ihrer europäischen Herkunft Madame genannt. Als junge Frau war sie Prima Ballerina gewesen, hatte ein erfülltes, abenteuerliches Leben gehabt, es lagen bereits verschiedene Biografien und Autobiografien über sie vor. Madame wurde sehr alt und wollte noch als Hundertjährige den Dramatic Workshop neu gründen. Trotz ihres anhaltenden Wunsches, Piscators Traum zu erfüllen, wurde dieser Plan nie umgesetzt. Ich zitterte, als ich bei ihr ankam, aber sie reagierte positiv auf mein surreales Stück. Hemmungslos, mit dem Mut einer unbedarften 18-Jährigen sprang ich in ihrem blauen Büro umher und gab möglichst bizarre Töne von mir, ganz so, wie ich es mir bei Valeska Gerts Kreischen und Flüstern abgeschaut hatte. Auch in Erinnerung an die zerkratzte Schallplatte von Alexander Moissi, dem Lieblingsschauspieler meiner Mutter, kreischte ich: Mein Fuß auf dem Mond, Mein Fuß auf dem glitschigen Mond … ich glitt über ihren blauen Teppich bis ich an der Spiegelwand landete Schwereloser Tanz Und Sprung Ein hundert Fuß! und sprang, so hoch ich konnte – es kam mir vor wie hundert Fuß – und landete mit dem Gesicht auf dem blauen Teppich … Mein Körper (nur noch Knochen) Klappert im Mond Wie Würfel in einer Großen Hand. und damit warf ich mich wild zuckend im blauen Büro umher

Madame ließ mein ungewöhnliches Vorsprechen durchgehen und erlaubte, dass ich es in der darauffolgenden Woche Piscator vorführte. In ebendieser Woche kam es in Valeska Gerts Beggar Bar zu einer Krise. Die Behörden schlossen das Lokal von einem auf den anderen Tag, weil keine Alkohollizenz vorlag. Valeska servierte eine Art Eierlikör, der in Lebensmittelläden in Flaschen verkauft wurde, mit einem Hauch 44


Alkohol („nur für den Geschmack“). Mein Freund, Bühnenname Françoise La Soeur, ebenfalls Kellner – durch ihn war ich zu Valeska gekommen – wurde verhaftet, weil er den Likör serviert hatte. Ich drängte Valeska dazu, seine Kaution zu bezahlen, schließlich hatten weder wir noch Valeska geahnt, dass wir etwas Illegales taten. Widerwillig stimmte sie zu, die Kaution zu hinterlegen und ihn aus dem Gefängnis zu holen. La Soeur ließ sich in New York nie wieder blicken und Valeska musste für die Bürgschaft einstehen, das Zehnfache der Kaution. Das alles passierte in der Woche, in der ich bei Piscator vorsprechen wollte. Ich war voller Ehrfurcht, den großen Mann kennen zu lernen, von dem ich so viel gehört hatte. Jetzt, endlich … Ich hielt den Atem an, als jedoch die Tür zu Piscators Büro aufging, stürmte Valeska Gert heraus, Piscator stand hinter ihr. Als sie mich sah, kreischte sie mit ihrer groteskesten Stimme: „Da ist sie ja! Sie ist schuld! Sie hat mich gedrängt, die Kaution zu hinterlegen! Sie ist schuld, dass ich mein ganzes Geld verloren habe! Das ist alles ihre Schuld!“ Offenbar war Valeska zu Piscator gegangen, um ihn in der La-Soeur-Krise um finanzielle Hilfe zu bitten, und wie es aussah, hatte er sie abgewiesen. Ich fürchtete schon, meine Hoffnungen hätten sich zerschlagen. Er aber ignorierte Valeskas Kreischen und führte mich mit seiner kühlen, würdevollen Art in sein Büro. Ich war verstört. Piscators Büro stand im Kontrast zu Madames romantischem Zimmer. Es war voller Bücher und Papiere. Hinter seinem Schreibtisch hing eine große Karte mit den Schauplätzen des Kriegs. Farbige Reißzwecken markierten die Schlachtfelder, die Fronten der Alliierten und der Achsenmächte, die zerbombten Städte, sie zeigten Rückzüge und Vorstöße an. Und wie schön er war! Sein edler Kopf mit silbernem Haar war wie die idealisierte Büste eines römischen Kaisers: stolz, einschüchternd, patriarchalisch, weise. Dies war zudem das Büro eines politischen Menschen. Hier war nichts theatralisch, dramatisch höchstens im Sinne des Dramas des Kriegs. Vor seinem spartanischen Schreibtisch tanzte ich mein Mondgedicht. Nach Valeskas hysterischem Ausbruch kam es mir weit weniger exaltiert vor. Piscator mochte es und ich hatte das Stipendium für den Dramatic Workshop in der Tasche.

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Zweiter Teil Mein Notizbuch

Der Unterricht, in dem ich dies notiert habe, konzentrierte sich auf die Ausbildung, die Piscator und seine Lehrer uns geben konnten. Die Unterschiede zwischen den Methoden von Stella Adler, Lee Strasberg, Raikin Ben-Ari, Herbert Berghof, Maria Ley-Piscator und Piscator waren enorm. Im Unterricht gab es weder Methoden noch „Schulen“, stattdessen förderte er die körperliche und stimmliche Kraft des Schauspielers, seine künstlerische Haltung, sein Engagement, seine Weltanschauung, seine Sensibilität. Diese Kraft ist für unzählige künstlerische Wege einsetzbar, von denen jeder einzigartig ist, war aber immer darauf ausgerichtet, zu einem kollektiven Werk das jeweils Eigene beizusteuern. Uns war bewusst, dass wir nicht einfach lernten, um unser Potenzial auszuschöpfen. Immer ging es darum, unser Potenzial den Erfordernissen und Möglichkeiten der Kompanie zur Verfügung zu stellen, der Produktion, vor allem aber dem Publikum, um dessentwillen wir das Stück auf die Bühne brachten.

Montag, 5. Februar 1945 An meinem ersten Tag als Theaterstudentin hatte ich das seltene Vergnügen, einen bedeutenden Mann kennen zu lernen. Als Erwin Piscator den Raum betrat, applaudierten meine Kommilitonen spontan und ich spürte die Präsenz eines Ausnahmemenschen. Piscator begrüßte uns mit einem lässigen Vortrag über die künstlerische und politische Kraft des Theaters. Seine Begeisterung und seine Liebe zur Kunst waren ansteckend und ich nehme an, den anderen ging es genauso. Große Revolutionen seien oft von einschlägigen Stücken inspiriert worden, von Onkel Toms Hütte zum Beispiel oder von Hauptmanns Die Weber. Das Feuer und die Kraft seiner Ideen und sein ungezwungenes Auftreten mündeten in der halb scherzhaften Bemerkung, die ich zu meinem Motto machen will: „Theater ist die wichtigste Angelegenheit und wer das nicht einsieht, ist dumm.“ Nach Begrüßung und Reden unserer künftigen Lehrer lernten wir einander beim Mittagessen kennen. Herr Piscator betonte, für eine produktive Zusammenarbeit sei es wichtig, dass die Schauspieler einander gut kennen. Beim Abendessen führten einige ältere Studenten 47


Improvisationen und Parodien vor. Mir fiel die Qualität auf, vor allem, was die direkte Ansprache ans Publikum betraf. Wer wie ich mit Lampenfieber zu kämpfen hat, weiß, wie viel Selbstsicherheit und Engagement sich diese jungen Leute antrainiert haben. Am Nachmittag hatte ich den ersten Unterricht. Es ging um die richtigen Materialien und Werkzeuge für die Maske, also für das Bühnen-Make-up. Unser Lehrer Leo Kerz ist ein ruhiger, intelligenter junger Mann. Ich fürchte, er ist ziemlich unnahbar. Eine wohlwollende, kluge Würde wahrt die Grenze zwischen Lehrer und Schülerin und ich würde sie gern überwinden. In seinem kurzen Vortrag erklärte er, der Schauspieler benötige besondere Kenntnisse, um sich auf der Bühne richtig zu schminken. Drei Punkte sind zu beachten: 1)

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Eigene Gesichtszüge und Persönlichkeit, die durch die künstliche Umgebung und Beleuchtung auf der Bühne beträchtlich verändert und verwischt werden könnten, gilt es zu erhalten; durch bestimmte Akzentuierungen gilt es, dem Gesicht den Rollencharakter zu verleihen; je nach Art des Stücks gilt es, Stilisierungen zu verwenden.

Unsere zweite Stunde nannte sich Neue Broadway Stücke. Zwar wird vorausgesetzt, dass wir das kommerzielle Theater verachten, so kritisch, wie es aus meiner Sicht angebracht wäre, hat sich bisher aber niemand dazu geäußert. Der Broadway, dessen mangelndes Niveau und künstlerische Integrität, der Mangel an Theater in Herrn Piscators Sinn, stand nicht zur Debatte. Herr Piscator findet, man müsse verstehen, was die andere Seite macht. Alexander Ince, selbst Produzent am Broadway, erklärte uns, wie schwer es ist, Filmrechte zu bekommen, und wie bei solchen Transaktionen das Geld aufgeteilt wird. Das klang alles nach dem Broadway-Gerede, das ich vom Klinkenputzen kenne. Dass er sein Büro im selben Haus hat, in dem das Theaterrestaurant Sardi‘s logiert, überrascht mich nicht. Nach dieser Diskussion lasen ein paar Studenten älterer Semester einigermaßen kalt ein neues interessantes Stück: Es handelt von einer Frau mit fünf Facetten – die Poetische, die Mutter, die Schlampe, die Leidende und die Dame der besseren Gesellschaft. Die jungen Mädchen spielten das wunderbar. Alle trafen sofort den Ton der jeweiligen Rolle und des Stücks und passten ihr Spiel der Rolle an. Virginia Baker war beeindruckend als Schlampe, sie trug zwar etwas dick auf, meisterte aber auch die feineren Nuancen. 48


Anschließend Bühnentechnik, für mich eine neue Facette der Theaterarbeit. Die Komplexität dieser Angelegenheit war mir immer bewusst, ich wäre aber nie auf die Idee gekommen, mich damit zu befassen. Der Kurs hat im vorigen Semester begonnen, aber der Lehrer Herr Hans Sondheimer erklärte alles so, dass ich gut mitkam. Es ging um Bühnenvorhänge, die jedoch in zwei Stunden nicht erschöpfend zu behandeln sind. Vorhänge kenne ich, die Kniffe, die es so gibt, sind mir noch nicht vertraut. Technik liegt mir nicht, aber die Notwendigkeit des Kurses leuchtet mir ein – ein Schauspieler muss die Bühne so gut kennen wie ein Matrose sein Schiff. In der letzten Unterrichtsstunde war ich müde, unser Arbeitstag hat zwölf Stunden und um 20.30 Uhr war ich von den vielen neuen Ideen und Menschen schon ganz durcheinander. In der letzten Stunde unterrichtete Herr Piscator Regie. Ich will seine Ideen unbedingt verstehen und sie mir aneignen. Wie kreativ die Rolle des Regisseurs ist, das werde in Hollywood verstanden, aber nicht an der Comédie-Française oder der Metropolitan Opera. Den Theaterregisseur verglich er mit dem Dirigenten, das Regiebuch mit einer Partitur. Dann sprach er lange über die Bedeutung des Regiebuchs. In der ersten Fassung solle es wie ein Roman sein: Da gehe es um den Zusammenhang, die Handlung, es enthalte Gedanken zum Stück. Die zweite Fassung solle die technischen Anweisungen enthalten, die der Inspizient später nutzen könne. Welches der erste Schritt sei, wenn man ein Stück inszenieren wolle, fragte Herr Piscator. „Das Stück lesen.“ Der Student, der das sagte, erntete Gelächter, aber Herr Piscator stimmte zu und erklärte, die meisten Regisseure läsen Stücke nicht gründlich genug. Er erzählte uns, wie er einmal ein Stück falsch eingeschätzt und seinen Wert erst nach mehrmaligem Lesen erkannt hatte. Er wisse beim ersten Lesen, ob ein Stück gut oder schlecht sei, er lese es gar nicht erst zu Ende, wenn es ihm nicht gefalle, konterte ein Student. Ein perfektes Beispiel für die mangelnde Fähigkeit zu lesen, fand Herr Piscator. Wir diskutierten, wie der Regisseur sich einem neuen Stück annähern soll. Nach dem Lesen sollten wir versuchen, das Stück zu internalisieren, uns einzufühlen, dann sollten wir Szenen visualisieren, Figuren entstehen lassen, zuletzt die Handlung und Figuren analysieren und das Stück in seine Elemente zerlegen. Mit dieser Stunde ging der Tag zu Ende. Der vollste in meinem Leben – und er bestätigte den Gesamteindruck: „Theater ist die wichtigste Angelegenheit.“ 49


Dienstag, 6. Februar 1945 In der ersten Stunde hatte ich bei Herrn Piscator Theaterforschung, darin will er eine Philosophie des Theaters begründen, aber eigentlich geht es um Kritik. Herr Piscator erklärte, im Gegensatz zur kruden Zeitungskritik von heute, sei Kritik, wie von Aristoteles und Lessing praktiziert, eine noble Kunst. Es gehe nämlich nicht darum, ein positives oder negatives Urteil zu fällen, wie es der junge Mann gestern getan habe, dem „ein Stück beim ersten Lesen oder beim ersten Zuschauen gefällt oder nicht gefällt“. Kritik müsse wesentlich objektiver vorgehen. Bevor wir Kritik formulieren, müssen wir lernen dialektisch, hegelianisch zu denken. Weil wir reich oder arm sind, aufgrund unserer bürgerlichen Herkunft, qua Kultur, weil wir zur Mehrheit oder Minderheit gehören, hätten wir Vorurteile. In unseren Urteilen zeige sich, wie sehr wir von unserer Umgebung geprägt seien. Nur wenn wir unsere Vorurteile ablegen und „unsere Meinungen vom Urteil unterscheiden, können wir gerecht Kritik üben“. Er redete darüber, was Theater ausmache, sagte, das Publikum sei integraler Bestandteil des Schauspiels. Darin unterscheidet er sich von Stanislawski. Piscator findet, der Schauspieler müsse das Publikum nicht nur im Blick behalten, er müsse es zu seinem Verbündeten machen. Stanislawskis Methode zielt darauf, das Innenleben der Figur zu ergründen und das Publikum zu vergessen. Herr Piscator stellt sich das ideale Theater so vor: Das Publikum sitzt an kleinen Tischen, es darf fordern, dass ein Wort wiederholt oder ein Satz erklärt wird. In diesem für Herrn Piscator idealen Theater möchte ich nicht auftreten. Aber vielleicht sehe ich das in zwei Jahren anders. Herr Piscator erlaubt keine „Effekte“, denn die sind in seinen Augen bloße Unterhaltung. Er kritisiert das Theater am Broadway, das nur auf „Effekt“ zielt und oberflächlich geworden ist. Die Religion, die das Leben einmal geordnet und dem Menschen übergeordnete Werte vermittelt hat, hat ihre bindende Kraft verloren. Kunst und Theater treten auf den Plan, um unserer Welt jene Kraft und die Schönheit zu schenken, die die Religion der mittelalterlichen Welt verliehen hat. In der zweiten Stunde hatte ich Dramenkanon und die höheren Semester diskutierten, ob sie Nathan der Weise inszenieren wollten. Bei der Lesung erwies sich Fräulein Virginia Baker erneut als Meisterin. Vor der versammelten Runde von Herrn und Frau Piscator, Herrn Raikin Ben-Ari, Fräulein Chouteau Dyer und den anderen Lehrern sollten wir unsere Vorsprechrollen wiederholen. So könnten auch die 50


Fortgeschrittenen die neue Gruppe kennenlernen. Mein Vorsprechen wiederholen?! In Gegenwart meiner neuen Mitschüler! Ich hatte schon wieder schreckliche Angst. Aber vielleicht würde es ja Spaß machen, mein bizarres expressionistisches Stück vorzuführen als Gegensatz zu den konventionellen Rollen. Ich bewunderte Monologe von O’Neill, Arthur Miller, Tschechow. Zwei Aufführungen ragten heraus: eine gefühlvolle Szene der jungen Arla Gild und Edmunds „Bastardrede“ aus King Lear in einer beeindruckenden Interpretation. Dann war ich dran. Herr Piscator hatte die anderen ermahnt, nicht zu dick aufzutragen. Ich begann also vorsichtig, dann warf ich meinen Körper durch den Raum, glitt mit dem Fuß über den polierten Boden und schrie mit schriller Stimme: „Mein Fuß auf dem Mond …“ Vorwärts stürzend warf ich mich mit Stimme und Körper in den klaustrophobischen Alptraum. Nach jedem Vorsprechen befragte Herr Piscator den Studenten brüsk: „Warum wollen Sie Schauspieler werden?“ „Was haben Sie zu sagen, dass Sie sich hinstellen und verlangen, dass man Ihnen zuhört?“ „Was wollen Sie mit Ihrer Arbeit bewirken?“ „Was sind Ihre politischen Überzeugungen?“ Er fragte scharf und direkt. In seiner autoritären Art belehrte er uns: „Sie haben kein Recht, sich vor dem Publikum ins Rampenlicht zu stellen und Aufmerksamkeit zu fordern, nur weil Sie gut sprechen oder gut aussehen oder graziös sind oder weil Sie das Publikum zum Lachen oder Weinen bringen. Aufmerksamkeit dürfen Sie nur dann einfordern, wenn Sie unbedingt etwas mitzuteilen haben.“ Meine Szene war eine der letzten und so hatte ich Zeit, mir eine Antwort zurechtzulegen. „Ich bin Pazifistin!“, sagte ich und war sicher, damit Piscators Ansprüchen zu genügen. „Ich auch“, antwortete er etwas von oben herab. „Aber wie stellen Sie sich Pazifismus vor in einer Welt mitten im Krieg? Haben Sie eine Idee für eine friedliche Gesellschaft? Woher bekämen Sie in einer pazifistischen Welt Essen, Lebensmittel, Arbeit, Wasser?“ Ich war verblüfft. „Ich … das weiß ich nicht …“, sagte ich, ähnlich kleinlaut wie Piscator einst im Schlachtfeld von Ypres, als er gestanden hatte, dass er Schauspieler sei. „Genau das muss ich herausfinden“, sagte ich waghalsig. Und also werde ich, während ich Theater studiere, die Antworten auf Herrn Piscators Fragen suchen. Herr Piscator sagte, ihm gefiele mein Gedicht und dabei blieb es ohne weiteren Kommentar. 51


Dann trafen wir uns mit einer Gruppe Schauspieler vom Hedgerow Theatre, auch der begabte Regisseur Jasper Deeter war dabei. 1923 hatte er das älteste Repertoiretheater in den Vereinigten Staaten gegründet. Das Hedgerow gehört der Little Theatre-Bewegung an. Herr Piscator findet, die „kleinen“ Theater müsse man „groß“ nennen und die Broadway Theater „klein“. Das Hedgerow Theatre ist also ein „großes“ Theater, mit hohen idealistischen Ansprüchen, denen es treu bleibt, wenn man dem Vortrag seines Repräsentanten glaubt. Seit 20 Jahren lebt und arbeitet die Gruppe zusammen, ohne finanziell oder in Sachen Kritik etwas erreicht zu haben. Wenn die Inszenierungen so gut sind wie der Anspruch, ist das bewundernswert. In der letzten Stunde hatten wir Bühnenbild mit Herrn Leo Kerz. Am Theater würden „neue Methoden mit alten Maßstäben beurteilt“. Herr Kerz versuchte zu erklären, dass das alte Drama aus Handlung und Figur bestanden habe, das neue Drama aber sei eine Kombination aus Handlung, Figur und Bühnenbild. Im Bühnenbild stecke die Atmosphäre, der ganze Einfluss einer bestimmten Zeit, seien es nun politische oder andere Faktoren. „Indizien“ müssen Ort und Kontext andeuten. Ein Stück aus der griechischen Antike oder von Shakespeare kann in modernen Kostümen gespielt werden. Hamlet und Julia können in die Gegenwart geholt werden, Awake and Sing oder Street Scene kann man hingegen nicht in klassischen Kostümen spielen. Das moderne Theater hat der auditiven Kunst eine visuelle Dimension hinzugefügt. Das Bühnenbild folgt dem gleichen Impuls, der den Schauspieler in Maske und Kothurn vom Orator in eine echte Person verwandelt, die auf der Bühne echte Erfahrungen durchlebt. Es folgte eine Diskussion über Verdienste und Versäumnisse von Wilde, Shaw und Shakespeare und über den Unterschied zwischen guten Stücken und guter Literatur.

Mittwoch, 7. Februar 1945 In der ersten Stunde hatte ich Bewegung im Tanz mit Maria LeyPiscator. Sie beginnt mit dem Thema Atmung. Wir sollten den Atem in Rückgrat und die Seiten schicken – hier kam ich vom Verständnis nicht ganz mit. Die Pliés in der ersten, zweiten, dritten und fünften Position am Barren und ein paar Fußübungen waren relativ einfach und wunderbar anregend. Madame Piscator erklärte uns, was tänzerische Bewegung für die Bühne bedeute, Entspannung sei das Prinzip des modernen Tanzes, Kontrolle das Prinzip des Balletts. Der Schau52


spieler brauche beides, beides sollen wir nutzen. Sie zeigte, wie man Spannung an hochgezogenen Schultern erkennt, wie man auf der Bühne Spannung abbaut, indem man die Schultern fallen lässt. Sie demonstrierte den Unterschied zwischen innerer und äußerer Bewegung, indem sie zeigte, wie letztere sich gegen die Schwerkraft stemmt. Wie eine Blume aus der Knospe müsse der Mensch frei und beweglich aus der Hüfte heraus agieren, anstatt wie im Alter „im Körper zu sitzen“. Das Zentrum der Energie befindet sich im Solarplexus, in der Körpermitte, nicht in den Hüften, Armen oder Händen – alle Bewegungen müssen von dort kommen (erinnert an Isadora Duncan). Die Stunde ging mit ein paar Armbewegungen und Dehnungen zu Ende. All das verursachte mir einen schönen, aber schmerzhaften Muskelkater. Sie erklärt ihren Stoff deutlich und ich glaube, dass ich in diesem Fach gut vorankommen werde. Im Einführungskurs in Pantomime forderte Herr Ben-Ari uns dazu auf zu improvisieren. Herr Ben-Ari war Mitglied der Moskauer Habimah-Truppe und ist immer noch Anhänger von Stanislawski. Er erklärte, was Sinnesgedächtnis bedeutet. Wir Mädchen sollten den Raum nach einem Sturm betreten, uns aufwärmen, die Mäntel ablegen. Zuerst waren wir nicht gut. Aber Herrn Ben-Aris Vorschläge halfen uns, realistisch zu spielen – an Kälte zu denken, uns zuzugestehen, sie tatsächlich zu spüren – Herr Piscator hatte die neuen Schauspielschüler ohne Regieerfahrung gebeten, den Regiekurs nicht zu belegen. Stur und ehrgeizig, wie ich bin, ging ich zu ihm ins Büro und fragte, ob ich am Unterricht teilnehmen könne. Piscator blickte mich kühl an. Sein Vertrauen in das Durchhaltevermögen von Frauen in „männlichen Berufen“ sei gering. Die Kränkung, dass mein Geschlecht der Grund ist, mich nicht für qualifiziert zu halten, schluckte ich herunter, ebenso die Demütigung, dass er Schauspielerinnen geringschätzt. Als ich mich aufs Bitten verlegte, erlaubte er mir widerwillig, Regie zu belegen. Sein Widerwille bedeutet, dass ich hart arbeiten muss, mehr lesen, dass ich gleichzeitig als Schauspielerin an mir arbeite. Aber ich weiß jetzt, dass ich nicht nur Schauspiel studieren werde, sondern Bühnenbild, Theatermanagement, Licht und, von unschätzbarem Wert, Regie bei Piscator. Herrn Piscators Assistentin Chouteau Dyer führte die angehenden Regisseure in einen Konferenzraum, wir zitterten – besonders ich –, denn wir wurden mitten im Semester in den Fortgeschrittenenkurs aufgenommen. Die Regieschüler müssen jeden Freitag eine In53


szenierung für das Seminar Dramenkanon auf die Beine stellen. Die Qualität der Inszenierungen, die ich bis jetzt gesehen habe, übersteigt meine Fähigkeit bei Weitem. Aber ich kann meine Angst besiegen und werde den Mut aufbringen, ein Stück zu inszenieren. Nach dem Unterricht kaufte ich Fundamentals of Play Directing von Alexander Dean, mit dem Buch arbeiten wir nämlich in Herrn Piscators Kurs. So viel zu lesen, schon um mich im Unterricht auf den Stand zu bringen! Um 20.30 Uhr ging ich zu Dr. Paul Zuckers Fach Stil im Wandel der Zeit. Die Vorwarnung, Dr. Zucker sei „der gelehrteste Mann der Welt“, hatte ich nicht ganz ernst genommen, wurde aber eines Besseren belehrt. Dr. Zucker redete überhaupt nicht über Theater. Dass wir am Dramatic Workshop auch Kunstgeschichte belegen müssen, ist aber wunderbar. So lernen wir die Epochen kennen und nicht nur Produktionen und Persönlichkeiten. Das neue Semester begann mit der Renaissance. In dieser Zeit sei Malerei die dominante Ausdrucksform gewesen, im elisabethanischen Zeitalter das Drama, in der Römerzeit die Architektur und in der Moderne der Roman. Raphael und Da Vinci dominierten den Stil der Renaissance. Ein Mensch könne Hervorragendes leisten, dabei aber nicht in die eigene Epoche passen. Brahms komponierte im 19. Jahrhundert und seine Musik hatte einen eigenen Stil, der dem des Jahrhunderts nicht entsprach. Mozart dagegen komponierte im 18. Jahrhundert und seine Musik passte absolut in den Stil seines Jahrhunderts. Dr. Zucker zeigte uns Dias. Zuerst ein primitives byzantinisches Mosaik Das Letzte Abendmahl und dann zeigte er, wie das Motiv durch die Stile der Zeitalter weiterentwickelt wurde, bis es mit Da Vincis Meisterwerk seinen Höhepunkt erreichte. Er zeigte uns die anatomischen, architektonischen und wissenschaftlichen Studien dieses Universalgenies der Renaissance. Dann führte er uns die Madonnen des Raphael vor, von der urwüchsigen Madonna vom Stuhl bis zur erhabenen Sixtinischen Madonna. Ein interessantes Beispiel für den Stil der Renaissance war Raphaels Verlobung der Jungfrau, außerdem ein Gemälde mit demselben Titel von Raphaels Lehrer Perugino. Beide Gemälde zeigen im Hintergrund einen idealisierten Renaissancebau. Das ideale Gebäude damals sah aus, als sei es an allen Seiten und Eingängen genau gleich gebaut. Türen und Bögen sind symmetrisch. Der Diavortrag war heute mein letzter Unterricht. 54


Donnerstag, 8. Februar 1945 Heute hatte ich in der ersten Stunde Stimmbildung bei einer jungen Frau, Fräulein Gloria Montemuro. Zuerst ließ sie mehrere Schüler sprechen und besprach dann mit jedem seine oder ihre individuellen Probleme. Mir sagte sie, ich müsse intensiv an meiner Atemkontrolle arbeiten, was ich natürlich weiß. Sie sagte, ich solle „m“ und „n“ als Endvokale deutlicher sprechen, um das Nasale zu vermeiden. Das sehe ich nicht ein. In Worten wie „stop“ würde ich außerdem die Vokale zu sehr betonen. Ich widerspreche meinen Lehrern ungern, besonders wenn es um deren Spezialgebiete geht, mich auf das „m“ oder „n“ zu setzen ist aber hässlich. Eine Sprechweise mit unbetontem Auslaut, ist aus meiner Sicht nicht erstrebenswert. Ich soll außerdem den Atem in meinem Inneren umherschicken. Anscheinend habe ich bis jetzt wie eine Idiotin geatmet, neuerdings soll ich mit dem Zwerchfell atmen (befindet sich dort, wo ich meinen Magen vermutet hatte) und nicht gedankenlos Luft reinlassen. Ich wollte unbedingt noch die zweite Hälfte des Faust lesen, bis zum Dramenkanon am Freitag muss ich damit nämlich durch sein. Als Nächstes gab es eine Einführung und wir konnten ein technisches Fach wählen. In der Hoffnung, dass meine Erfahrung mit Schmuck sich auf Theater anwenden lässt, habe ich mich für Bühnenund Kostümbild angemeldet. Während die anderen Schüler Fragen beantworteten, las ich Faust. Anschließend hörten wir wieder einen Vortrag des klugen Dr. Zucker. Das Fach nennt sich Geschichte und Soziologie des Theaters. In der ersten Stunde ging es um antikes Theater. Religiöse und magische Kulte seien der Ursprung des griechischen Theaters gewesen, erklärte Dr. Zucker. Es gab Götter, die beschwichtigt werden sollten. Der Chor, der sich vor dem Tempel aufhielt, sollte sie besänftigen. Irgendwann kam es zum Dialog zwischen einem Protagonisten und dem Choragos. Der Protagonist führte als Fragensteller den Dialog mit dem Chor. Er war der erste Schauspieler. Der zweite Schauspieler kam erst viel später, um die Zeit des Aischylos (525–456 v. Chr.), den dritten führte Sophokles ein. Die Erfinder der wesentlichen Elemente des Theaters erreichten eine dichterische Qualität, die bis dato kein Dramatiker übertroffen hat. Dann zeigte Dr. Zucker mithilfe von Dias, wie sich das griechische Amphitheater vom Halbkreis vor dem Tempel des Dionysos zum zweistöckigen römischen Theater mit reich verzierten Säulen entwickelt 55


hat, wie etwa im südfranzösischen Ort Orange. Er zeigte uns tragische und satirische Masken mit einzigartigen Megafonmundstücken. Dieses ursprüngliche und unverfälschte Theater der Griechen erreichte eine technische Perfektion, die der unseren weit überlegen ist. In der letzten Stunde hatten wir heute Kostümbild bei Herrn Kerz. Angefangen bei den Ägyptern, zeichnet er die Geschichte der Kostüme nach. Wir diskutierten den Unterschied zwischen Kostüm und Kleidung. Kostüm sei eine künstlerische Variante von Kleidung. Er wies auf den geringen praktischen Nutzen moderner Kleidung hin. Damit hat er natürlich recht, was aber heftig bestritten wurde. Genau darum geht es in der aktuellen Reinhardt-Ausstellung im Museum of Modern Art, „Sind Kleider modern?“ Bis heute ist Kleidung von Konvention, Tabu und primitiven Trieben bestimmt. Herr Kerz bat uns, uns in die ägyptische Zivilisation einzulesen, als Vorbereitung für die nächste Stunde. GESCHICHTE UND SOZIOLOGIE DES THEATERS Kasten 1

Mit Dias illustriert 15 Wochen, Winter- und Sommersemester. Dienstags 8.30 – 10.15; 20 Dollar Paul Zucker DIE ELEMENTE

Die heutige Bühne wird als letzte Stufe der historischen Entwicklung betrachtet. Ziel des Kurses ist es, geeignete und effektive Mittel zu finden, das Eigene auszudrücken. Die Soziologie des Publikums verschiedener Perioden und ihre Auswirkung auf die Theaterform, Schauspielertypen, Bühnenform, szenische Techniken etc. wird analysiert und so wird gezeigt, wie jedes Zeitalter den szenischen Ausdruck der jeweils zeitgenössischen Kultur gefunden hat. I

II

Der Schauspieler 1. Psychologie, Physis, Charakter und ihr

Einfluss auf das Konzept der Rolle und die Interpretation des Stückes. Der Schauspieler 2. Grundtypen, künstlerische Grenzen: Besetzung. Die vielen Möglichkeiten des Ausdrucks. Individueller Spieler und Ensemblespiel. 56


III

Das Publikum 1. Soziologische Unterschiede und das

IV

Das Publikum 2. In verschiedenen historischen Epochen:

Spektrum der Interessenlagen, übliche Reaktionen.

Einfluss auf die Form der dramatischen Literatur. V Soziologie des amerikanischen Theaters heute. Broadway, Kommunales Theater, Schultheater, Sommertheater. Experimentelles Theater. Kommerz, Unterhaltung, Literatur. VI Künstlerische Mittel der Bühne in der Geschichte. Wort, Gestik, Bühne. VII Stile der Repräsentation 1. Realismus und Naturalismus. VIII Stile der Repräsentation 2. Symbolismus, verschiedene Aspekte der Stilisierung, Abstraktion, Verdichtung und technischen Mittel. IX Funktion von Farbe und Licht: realistische und symbolische Bedeutung. Psychologie der Wahrnehmung. X Bühne als Form und Raum. Perspektive, Größenverhältnisse, Maßstab XI Kostüm und Bühnenbild. Historische Treue oder künstlerische Wahrheit. XII Werkzeuge der Bühne. Requisiten, Landschaft, Kulissen, Prospekt, vierte Wand, Drehbühne, Laufband, Projektionen. XIII Theater und Film 1. Unterschiede in Form und Wahrnehmung. XIV Theater und Film 2. Unterschiede der künstlerischen Mittel. XV Schlussfolgerungen.

Geschichte des Theaters (Sommersemester) I

II III

IV V

VI

VII 57

Die Wurzeln. Kinderspiele, Verkleiden, die Maske. Zeremo-

nien. Das Magische und der Mime. Griechisches Theater. Dialog und Funktion des Chors. Die Bühnenform. Anfänge der Dramaturgie. Römisches Theater. Bühnenmaschinerie. Pantomime. Mysterien und Passionsspiele. Wunder und Moralvorstellungen im Mittelalter. Ursprünge in der Liturgie. Das Theater der Renaissance. Intermezzi und Trionfi. Die Commedia dell’Arte. Farce. Figuren; Kostüme. Die Shakespearebühne und die Bühne der Restoration. Inigo Jones.


VIII Die Oper, ihre Geschichte und Ästhetik. Spezifische Erfordernisse, basierend auf der Einbeziehung von Handlung, Musik und Bühne. IX Tanz und Ballett. Ihre spezifischen Kunstformen. X Das Barocktheater auf der internationalen Szene. Illusion und Maschinerie. Die großen Bühnenbildner. Von Furttenbach bis zu den Bibienas. Einfluss des jesuitischen Theaters. XI Das Theater des 19. Jh. Klassik und Romantik. Der akademische Stil. Die „Meininger“. Anfänge des Naturalismus. XII Naturalismus und die Geschichte des naturalistischen Theaters. Von 1880 bis heute. XIII Die Revolution der modernen Bühne durch Gordon Craig und Adolphe Appia. XIV Das heutige experimentelle Theater. Einfluss der russischen Bühne. XV Das epische Theater. Erwin Piscator.

Freitag, der 9. Februar 1945 Heute hatten wir den ersten Schauspielunterricht bei Herrn Ben-Ari. Als ich vor drei Jahren Mein Leben in der Kunst und Die Arbeit des Schauspielers an sich selbst gelesen habe, kamen mir Stanislawskis Bücher für das Schauspiel nicht gerade bahnbrechend vor. Wie Herr Ben-Ari Stanislawskis Prinzipien anwendet, ist aber ein fesselndes und lehrreiches Experiment. Als wir unsere Probleme beim Spielen schilderten, machte er uns Hoffnung, dass sie lösbar seien. Barbara Sisson sollte das Essay Meine Kunst erlernen des großen italienischen Schauspielers Tomasso Salvini aus der Zeitschrift Theatre Workshop vorlesen. Als er die Klassiker studierte, habe er viel über Stil und poetische Größe gelernt und sich mit den großen Figuren aller Epochen vertraut gemacht, schreibt Salvini. Liebe, Hass, Begierde, Rache, Güte, Grausamkeit, mit allen menschlichen Leidenschaften, den guten wie den schlechten, habe er sich auseinandergesetzt, er habe sich die Gesten und Ausdrücke beigebracht, die jeweils mit ihnen korrespondieren. Er habe Menschen und Geschichte studiert und konnte so für jeden fiktiven Charakter, für jede historische Figur eine eigene Persönlichkeit entwickeln. „Lernen, lernen, immer weiter lernen“, so endete der Artikel. Das müsse das Credo unseres Schauspiels werden, fand Herr Ben-Ari. 58


Wir sprachen über Motivation, zum Beispiel in der Kunst des Zuhörens. Wirklich zuzuhören hat einen deutlich besseren Effekt, als die Augen aufzureißen und den Kopf zu verdrehen. Im wirklichen Leben sehen wir, ohne hinzuschauen, wir hören, ohne zu lauschen. Er forderte uns auf, leise zu sein, zu horchen. Als in einem Nebenraum ein Klopfen zu hören war, konnte niemand sagen, wie oft es geklopft hatte. Als Nächstes sollten wir gleichzeitig reden und horchen. Weil wir uns aufs Hören konzentrierten, flüsterten wir. Als Herr Ben-Ari behauptete, unsere Freunde und Lehrer lägen tot im Nebenzimmer, bekam unser Flüstern und Horchen einen Sinn. Das nennt er „Motivation“. In einer Lektion zum Beobachten beschrieben wir – ohne hinzuschauen – ein Objekt, das wir zuvor auf der Bühne gesehen hatten. Wenn man einen persönlichen Bezug zu etwas habe, beschriebe man es vollkommen anders, als wenn dies nicht der Fall sei. Wenn beispielsweise auf dem Tisch, den wir beschreiben sollten, die Waffe eines Mörders liege, wenn wir vorhätten, den Tisch zu kaufen oder zu verkaufen, auch in diesem Fall beeinflusst die Motivation unsere Worte und unser Verhalten. Anhand dieser anschaulichen Übungen leuchten Konstantin Stanislawskis Ideen tatsächlich ein. Die nächste Stunde war Schauspiel bei Margrit Wyler, einer charmanten europäischen Schauspielerin und lebhaften Dame. Sie hat schon klassische Rollen gespielt, aber auch solche, in denen ihr bemerkenswerter Sex-Appeal zur Geltung kam. Herr Ben-Ari lehrt Improvisation, Fräulein Margrit Wyler vermittelt, wie man Rollentexte spielt. Wir sollten heute unsere Vorsprechrollen nochmals präsentieren und unter ihrer konstruktiven Kritik wurden sie tatsächlich besser. Fräulein Wyler unterrichtet Schauspiel von der Praxis her, sie stützt sich weniger auf Theorie. Ich musste meine Vorsprechrolle nicht wiederholen, sie fand sie schon recht „rund“. In der nächsten Stunde kann ich wahrscheinlich etwas vorsprechen. Von dieser lebhaften Frau kann ich bestimmt viel lernen. Im Dramenkanon fand am Nachmittag die letzte Probe von Faust statt. Ich sagte, ich hätte das Stück gelesen (ist aber lange her) und Fräulein Dyer bat mich, die Geschichte nachzuerzählen. Mein Gedächtnis funktionierte ganz gut, aber als Herr Piscator eintrat, bereute ich, mit dem erneuten Lesen nicht zum Ende gekommen zu sein. Herr Piscator, der Faust schon gespielt, das Stück sogar inszeniert hat und es praktisch auswendig kennt, unterbrach mich nicht und war also dabei, als ich eine Geschichte erzählte, die ich vor Jahren ge59


lesen hatte. Dass es funktionierte, kann ich wohl unter „erfolgreich geblufft“ verbuchen. Ich lese das Stück übers Wochenende, damit mir sowas nicht nochmal passiert. Esther Nigbert sprach über ihre Faust-Inszenierung für den heutigen Dramenkanon. Sie präsentierte das Vorspiel im Himmel mit Eugene Van Grona, einem freundlichen Mephisto, es folgte die Paktszene mit Bob Carricart als jungem, kraftvollem Faust. Mephisto spielte die Gartenszene als Vaudeville, Piscator war dagegen, trotz der guten Darstellung von Marthe wollte er die Szene weglassen. Auf das Lächerliche folge das Sublime, sagte Esther Nigbert, sie meinte damit die Kerkerszene mit Virginia Baker als unglücklichem Gretchen. Sie und Bob Carricart spielten die böse Szene einfach großartig. Die Szene mit Mephisto und dem Studenten war eine Allegorie auf den Dramatic Workshop. Der Student will „recht gelehrt werden“ – genau wie ich. In Herrn Gassners abendlichem Vortrag über Goethe und die Romantik ging es darum, wie sich das Stück auf die revolutionären Bewegungen seiner Zeit bezogen hat, offenbar markiert es sogar eine Phase dieser Bewegungen. Die Romantiker interessierten sich für das Individuum, für den grenzenlosen Horizont, den Spielraum des Menschen. Auch was die Konventionen des Schreibens angeht, braucht der romantische Mensch absolute Freiheit. Goethe rechnete sich der romantischen Bewegung zu und, obwohl er den klassischen Stil bevorzugte, kam er mit Faust beiden romantischen Idealen entgegen. Sein Faust erzählt vom Aufstieg eines Mannes, von seiner Suche, seinem Weg, seiner spirituellen Freude und wenn er „ein freies Volk auf freiem Grund“ erlebt, ist das der Höhepunkt seines revolutionären Strebens. Faust sprengt die Einheit von Ort, Zeit und Handlung. Vor der Vorstellung las Fräulein Dyer Goethes kurzen Essay über Dilettantismus. Für das Seminar Theaterforschung am Dienstagmorgen muss ich jetzt eine Kritik zu den Vorstellungen vorbereiten.

Dienstag, 13. Februar 1945 Regiebesprechung, voller Sorge, dass ich nicht schaffen kann, was von mir erwartet wird. Ich habe zwei Aufgaben: Bei Nathan der Weise soll ich dem Inspizienten assistieren; bei Molières Eingebildetem Kranken helfe ich bei den Kostümen. Die nächste Stunde war Theaterforschung bei Cher Maître. Wir besprachen die Inszenierung von Henry Becques Die Raben. Alle Schauspieler gaben zu Protokoll, dass sie das Stück nicht mögen. 60


Herr Piscator verbuchte das unter Dummheit. Charles Zimmermann spielte den Boss der Geier, Monsieur Tessier. Er mochte die Rolle zuerst nicht, wusste nicht recht, wie er sie spielen sollte, bis er entschied, sie im Gehen zu sprechen, um zu sehen, ob er sich ihr körperlich annähern könne. Eine geduckte Haltung wurde wesentliches Element und von diesem Kern aus gelang die Rolle. Dies führte Piscator als Beispiel an, wie eine Rolle über den Körper zu erschließen sei, normalerweise finde er das aber oberflächlich. Elaine Stritch spielte die Mutter und sagte, sie möge weder die Rolle noch das Stück. Priscilla Draghi, als Blanche sehr überzeugend, fand, die Rolle sei für eine moderne Frau kaum nachzuvollziehen. Die Männer fanden Blanches Verhalten plausibel, die Frauen argumentierten, eine moderne Frau würde sich gegen den jungen Mann entweder wehren oder ihn verlassen. Louis Guss, der den Vater spielte, sagte, er könne zu den anderen Ensemblemitgliedern keine familiäre Bindung entwickeln. Ein Mitschüler erzählte eine passende Geschichte vom Group Theatre. Morris Carnovsky hatte sich das Ensemble nicht als Familie vorstellen können, aber dann fiel ihm auf, dass sie seit Jahren zusammenspielten, das Ensemble also seine Familie war. Das hätte Louis auch machen können. Er erwähnte, dass er sich im Bühnenbild fremd vorkam, anders als in Hanneles Himmelfahrt. Herr Piscator fragte, ob er noch wisse, wie es gekommen sei, dass er sich dort wohlfühlte. Er sei so lange alleine in den Kulissen herumgewandert, bis sie ihn überzeugt hätten. Ein Schüler las seine Faust-Kritik vor, bemerkenswert klar und komplex. Der Student sprach intelligent über Goethe, vielleicht ein bisschen zu intellektuell. Die Produktion sah er überaus kritisch, hielt sie für verfehlt, ich dagegen halte sie in Anbetracht der beschränkten Mittel einer Schulinszenierung für ausgezeichnet. Eugenes Mephisto erinnerte ihn an einen französischen Friseur. Dann trug David seine wesentlich freundlichere Kritik vor; er arbeitet schon lange hier und kennt die Schule besser. Nach diesem Ausbruch analytischer Verve zögerte ich, Herr Piscator mein Essay zu geben, außerdem hätte er es lieber gesehen, ich hätte es vorgelesen. Nach dem Mittagessen probten wir im Dramenkanon für die Vorstellungen. Es gab ein paar wunderbare Szenen aus Nathan der Weise mit Louis Guss als Nathan, Virginia Baker als Recha, Esther Nigbert als Daya und mit Jimmy Walsh, der den Tempelherrn besonders schön sprach. Fräulein Dyer empfahl, Racines Phaedra im Origi61


nal zu lesen. Vor ein paar Jahren war Phaedra im Workshop aufgeführt worden und die Schauspieler hatten Sarah Bernhardts langen Monolog im ersten Akt auf Schallplatte angehört. Zuerst klingt sie wie ein unglückliches Huhn, hört man es sich aber 20-mal an und liest mit, vergisst man das Kratzen, gewöhnt sich an den fließenden klassischen Rhythmus und dann erkenne man die Schönheit in Sarah Bernhardts Interpretation. Die unnachahmliche Melodie des Französischen verlange danach, den Monolog laut zu lesen. Genau wie die schlechte technische Qualität der Aufnahme würden wir irgendwann auch unser schlechtes Französisch überhören, meinte Fräulein Dyer. Anschließend hatten wir Bühnenbild. Der Bühnenbildner müsse auf das Publikum eingehen. Schauspieler verstünden nie, wie sehr sie das Bühnenbild beeinflusse. Sie fänden ein Bühnenbild „schön“ oder „nicht schön“, ohne die technischen Mittel zu kennen oder zu wissen, wie gewisse Effekte erzielt werden, findet Herr Kerz. Laut Victor Hugo gibt es drei Sorten von Theaterbesuchern: Die Intellektuellen verlangt es nach Charakterrollen, Frauen sind auf Leidenschaft aus und der Mob will, dass es kracht. Das moderne Publikum gehe nicht ins Theater, um ein Stück zu sehen, sondern um emotional berührt zu werden. Einen Roman liest man, ein Gemälde betrachtet man allein und reagiert als Individuum. Im Theater sind wir nicht allein, wir lachen oder weinen, weil die anderen es tun. Sähe man das Stück allein, würde man eher nicht lachen, als Teil des Publikums aber schon. Der Kritiker ist ein Ärgernis und Premieren sind Folter für den Schauspieler, weil der Kritiker sich vom Publikum abgrenzt und sein Urteil nicht im Einklang mit der Masse fällt. Shakespeare hat das in seinen Stücken berücksichtigt, sogar in einem intellektuellen Stück wie Hamlet unterhielt er die Leute im Parkett mit Schlägereien und vergifteten Dolchen. Herr Kerz nannte verschiedene Arten von Dramen: das rhetorische Drama des 17. Jahrhunderts, das Sittendrama des 18. Jahrhundert (bis heute existent, siehe Noël Coward), das illusionistische Drama des 19. und 20. Jahrhunderts, die Broadway-Stücke gehören in diese Kategorie!

Mittwoch, 14. Februar 1945 Stimmtraining um 10 Uhr – nicht gerade das, was mich wach macht. Fräulein Montemuro erklärte technische Aspekte des Sprechens und nannte diverse Sprechorgane bei ihren langen Namen. Wir sollten von 62


da ausatmen, wo ich meinen Magen vermutet hatte, wo in Wahrheit aber das Zwerchfell sitzt. Ich habe geübt und kann es jetzt dehnen, aber mir wird ziemlich schwindlig dabei. Wir atmeten alle auf 1-2-3-4-5. Hoffentlich verstehe ich bald, worum es hier geht. Wir machten auch Übungen zur Stärkung unserer Sprechorgane und zwar hauptsächlich mit den Armen. Damit endete die Stunde, morgen geht’s weiter! Wenn ich übe und vorankomme, bin ich vielleicht weniger unglücklich dabei. Madame Piscator konnte heute nicht kommen, sodass Eugene Van Grona den Tanzunterricht übernahm. Eugene (in den ich mich prompt verliebte) zeigte Bewegungen, die uns auf der Bühne von Nutzen sein können. Nach ein paar Entspannungsübungen führte er zwei Ausgangspositionen vor. Die Erste: leicht nach vorne geneigt; die Zweite: etwas nach hinten geneigt. Wir bauten die zwei Positionen in eine Serie von Bewegungen ein und entwickelten einen weichen, graziösen Gang. Zu Musik schritten wir erst bescheiden, dann arrogant und selbstbewusst. Eugene zeigte uns, wie man die wichtigen Aspekte einer Geste über die Rampe bringt. Als wir es probierten, verstand ich allmählich, was er meinte, war aber noch gehemmt. Wir übten, wie man sich richtig verbeugt und wie man in Ohnmacht fällt, was ich nicht mal zu probieren wagte. Die Angst vor dem Fallen zu überwinden, klingt einfacher, als es ist. Grace Huffman bot an, für uns in Ohnmacht zu fallen. Als sie ihren Kopf sinken ließ und langsam zur Seite fiel, war das zwar graziös, aber eher unrealistisch. Eugene führte überzeugend vor, dass der Kopf, bevor man fällt, ein wenig nach hinten zuckt. Er stieß uns mehr oder weniger sanft in die Kniekehle und wir stellten fest, dass wir den Kopf instinktiv nach hinten bewegten. Eugene inszeniert gerade ein Stück von Molière und demonstrierte, wie ein historisches Kostüm und eine bestimmte Epoche die Bewegungen beeinflussen. Wir wiederholten unsere Übungen, stellten uns vor, wir trügen ein Korsett, das von der Taille bis zur Brust reicht. Dann wiederholten wir die Übungen, als wären sie Ballett, ohne die Taille oder Hüften zu bewegen. Eugene kam nochmals auf Die Raben zurück. Grace, Priscilla und Elaine hatten große Schritte gemacht, was aber in einer Krinoline aus jener Epoche vollkommen unmöglich ist. Die Stunde war gut und wir hoffen, dass wir bald wieder mit Eugene arbeiten können. In Fräulein Wylers Unterricht arbeiteten wir an der letzten Szene von George Bernard Shaws Heilige Johanna. Wir lasen laut, analysier63


ten die Szene nach bestem Wissen. Wir tauschten die Rollen untereinander, sodass alle drankamen, und kamen nur bis zum dritten Monolog. Als sie erfährt, dass sie den Rest ihres Lebens im Gefängnis verbringen wird, sagt Johanna die Worte „immerwährende Gefangenschaft“, obwohl ihr zugesagt war, ihr Bekenntnis werde ihr das Leben retten. Den Moment des ungläubigen Verstehens wollte ich langsam und angstvoll spielen. Fräulein Wyler aber hält Johanna für eine Soldatin, meine Interpretation fand sie „kindisch“, wie sie sich ausdrückte, aber ich bin überzeugt, dass Elisabeth Bergner – mein Vorbild für die Rolle – es wie ein Mädchen gesagt hat, diese Interpretation liegt mir am nächsten. Ich teile Fräulein Wylers Auffassung nicht, versuche aber mich ihr anzunähern. Fast alle Schülerinnen versuchten sich an der Szene, aber wir fanden keine befriedigende Interpretation. Der anschließende Monolog ist vielleicht einfacher zu spielen als „immerwährende Gefangenschaft“. Für die Szene, besser gesagt, für diese Zeilen brauchten wir zwei Stunden. Wie lange dauert es dann erst, ein ganzes Stück zu inszenieren? Vor meiner nächsten Stunde mit John Gassner ging ich zu Barnes & Noble und kaufte mir Masters of the Drama. Die Vorlesung basiert auf seinem Buch. Es beschreibt erstaunlich genau alle Stücke, die jemals geschrieben wurden, so kommt es mir jedenfalls vor. Es folgte Dr. Zuckers Stil im Wandel der Zeit über die zweite Phase der Renaissance. Weil ich Kopfschmerzen hatte, ging sein Vortrag über Raphael und Michelangelo weitgehend an mir vorüber. Ich hatte den Eindruck, dass Michelangelo mit Dias schlecht darzustellen ist. Im Kern ging es um den Übergang zum Barock. Dr. Zucker zeigte Werke eines bestimmten Sujets, einmal von Michelangelo, im Vergleich dazu Werke späterer Bildhauer, die schon in Richtung Barock gehen. Keine zwei Linien verlaufen parallel. Die Pietà ist ein interessantes Beispiel. Damit die Christusfigur die Marienfigur nicht verdecke, gestaltete Michelangelo Christus um ein Viertel kleiner als Maria. Diese Proportion fällt beim Betrachten nicht auf, ist aber sehr effektiv. Die Grabfiguren der Medici sind majestätisch, das gilt besonders für Die Nacht und Der Tag. Michelangelos Skulpturen waren ihrem Vorbild körperlich nicht unbedingt ähnlich, betonten dafür mehr den symbolischen Charakter. Der berühmte Moses mit den Tafeln ist in Wahrheit ein Porträt von Papst Julius II.! Die Malerei in der Sixtinischen Kapelle ist aus zu vielen Figuren komponiert und so geht die Schönheit der einzelnen Figuren verloren. 64


Dr. Zucker erzählt, wie enttäuscht er bei seinem ersten Besuch war, als er Angelsachsen auf den Bänken entdeckte, die mit Ferngläsern die Decke anstarrten, das sei eine völlig absurde Situation gewesen. Auch der runde Renaissancebau in Rom hatte ihn enttäuscht und als ich das Dia sah, verstand ich, warum er ihn mit einer „Tramhaltestelle“ verglich. Dr. Zucker zeigte den Grundriss der Basilika Sankt Paul vor den Mauern mit der berühmten Kuppel. Zwei Porträts des Papstes aus verschiedenen Perioden Raffaels faszinierten mich: Eines zeigt Papst Julius II. auf dem ihn rahmenden Thron als vergeistigten alten Mann in schlichter Haltung; das zweite zeigt den jüngeren Papst mit groben Zügen, umgeben von Figuren und dicken Steinmauern, was den Eindruck materialistischer Weltlichkeit verstärkt. Wir diskutierten, welcher Anteil dieses großen Unterschieds wohl auf den Papst zurückgeht und welcher auf Raffaels Malerei.

Donnerstag, 15. Februar 1945 Erst Stimmtechnik, dann ein paar Stimmübungen. In der ersten Übung „Hut-Rad-Rad-Rad“ sollten wir das harte „t“ vom weichen „d“ abgrenzen, ich sollte leichter atmen. „Dose, Dose, Trug and Tanz“ mit dem gleichen Zweck. Weil ich „Tschrug“ sagte, riet Fräulein Montemuro die Zunge mehr zu bewegen. Um Vokale zu üben, eignete sich der Refrain „Boomelay, boomelay, boomelay, boom“ aus Vachel Lindsays Gedicht The Congo. Fräulein Montemuro fand meine Atemtechnik sei besser, ich sagte, ich hätte ja auch geübt. Im Dramenkanon hatten wir Chorprobe, ich spreche die langsamen leiernden Verse aus Racines Esther mit hoher Stimme, die schönen Verse erfordern eine Würde im Sprechen, die unserer Gruppe nicht gelingt. Fräulein Montemuro war nett zu mir, was mich sehr froh macht. Geschichte und Soziologie des Theaters folgte mit einem Vortrag über das Theater im Mittelalter. In den Jahren von 600 bis 1000 waren die Theater in England geschlossen. Die Angst vor dem Weltuntergang führte im Jahr 1000 zu tiefer Frömmigkeit. Als die Welt aber nicht untergegangen war, wurden die Gesetze milder und die Theater fingen wieder zu spielen an. Die ersten Stücke spielte man in der Kirche vor dem Altar: An Weihnachten wurde Christi Geburt dargestellt, am Karfreitag die Kreuzigung und an Ostern die Auferstehung. Mönche und Priester waren die Darsteller. Später wurden in einigen Städten biblische Stücke auf den Marktplätzen aufgeführt. „Bauten“ auf Wagen65


bühnen die Rom, Jerusalem, Himmel und Hölle darstellten, Letztere waren monströse Teufelsrachen. Damit begannen die Passionsspiele, die bis heute in Oberammergau stattfinden. Das bekannteste Spiel wurde in Valencia gegeben. Den Zünften oblag es jeweils, die Besetzung zu bestimmen, die Schäfer wurden etwa von den Wollhändlern gespielt und so weiter. Die beste Rolle war die des Teufels, sie wurde vom talentiertesten, ehrgeizigsten Darsteller gespielt, heute macht das ein Profi. Dr. Zucker zeigte uns Bilder, auf denen man sieht, wie wenig manieriert die Bewegungen damals waren: Man ging Hand in Hand, es gab wunderbare Choreografien, heute ignoriert man all das, wenn diese Epoche dargestellt wird. Nur das Moskauer Künstlertheater machte es wunderbar. Das Moskauer Künstlertheater kommt mir vor wie die Cousine, von der es andauernd heißt: „Schau, wie gut sie das macht, warum kannst du das denn nicht?“ In Kostümbild geht es heute um Kleidung in der ägyptischen Antike. (Wir lernen hier viel über Geschichte.) Ich war im Metropolitan Museum, wo die Mumien derart dominieren, dass es schwer ist, sich ein Bild von lebenden Ägyptern zu machen. Der Tod und die Mumifizierung der Toten seien das zentrale Element im Leben der Ägypter gewesen. Die Körperpflege der Ägypter ist zu bewundern und was ihre Kleidung angeht … Tja! Die Arbeiter trugen kurze Lendenschurze in hellen Farben. Nur die Sklaven trugen Blau. Kleidung war dazu da, den Rang zu kennzeichnen, um Schutz ging es weniger. Die Priester trugen Weiß und durften im Tempel nichts tragen, was aus tierischen Materialien gemacht war. Kopfbedeckungen in Tierformen waren erlaubt. Die Röcke der Frauen waren unter der Brust und über der Hüfte gegürtet. Man trug Halsschmuck, aber die Brüste waren nackt.Schmuck und komplizierte Kopfbedeckungen waren in Ägypten weit verbreitet.

Freitag, 16. Februar 1945 Fräulein Montemuro war nicht da und der beliebte Mitstudent Eugene machte Atem- und Entspannungsübungen mit uns. Es folgten Silben wie „tu, ta, ti, tä, to“, die zwar nicht schwer auszusprechen, aber schwer zu merken sind. Wir lasen Zungenbrecher wie „Der Metzger wetzt das Metzgermesser“, wiederholten dieses und ähnliche Wortspiele. Über Sprechtechnik zu schreiben, ist schwer, weil sie praktisch nur aus Übungen besteht. Zu Beginn des Schauspielunterrichts erklärte Herr Ben-Ari den Unterschied zwischen einem Künstler und einem Imitator. Der Imita66


tor spielt mechanisch ohne Seele, ohne Fantasie. Seine Darstellung mag fehlerfrei sein, weil er die Sache intellektuell angeht, es fehlt aber an jener Einfühlung, die das Publikum berührt. Es folgten Übungen. Zuerst spielten wir eine Mutter, die das Kinderzimmer betritt, das schlafende Kind zudeckt und wieder hinausgeht. Steffi Blank machte den ersten Versuch, Alice Blue den zweiten. Alice machte fast dasselbe wie Steffi, nur dass wir in Alices Darstellung das Baby nicht „sahen“. Als Nächstes sollten wir eine Nadel suchen, die wir fallen gelassen hatten. Auf ein Zeichen sollten wir in der Pose innehalten, die zeigte, was wir da machten. Eine Nadel zu finden, ist schwerer, als ich dachte. Ethel beschwerte sich, ohne Motivation sei das unmöglich. Sie wurde auf die Bühne geholt. Herr Ben-Ari erzählte, sie habe eine Verabredung, ihr einziges Paar Strümpfe habe eine Laufmasche und sie habe ihre einzige Nadel verloren. Ohne große Überzeugung suchte sie danach. Herr Ben-Ari half bei der Suche und er spielte, dass er die Nadel wirklich brauchte. Die nächste Übung machte Eleanor Epstein: Sie erhielt einen Brief von einem Soldaten. Weil sie kein Requisit hatte, blickte sie nur, ohne wirklich zu lesen. Dann las Herr Ben-Ari für uns den unsichtbaren Brief und wir folgten seinen Augen, als er den Brief Zeile für Zeile las. Der Schauspieler muss die Worte des Briefs im Kopf vor sich sehen, bei einem Telefonat muss er die Antworten im Kopf hören. In der letzten Übung betrat Charlie Coleman das Zimmer von Helen Braille und fragte, „Hallo … kennst du mich noch?“ „Ich fürchte, nein.“ Charlie versuchte mit allen Mitteln, sie daran zu erinnern, wie sie im Dramatic Workshop mal zusammengearbeitet hatten, aber Helen versuchte nicht mal, sich zu erinnern. Herr Ben-Ari zeigte uns, wie diese Szene als Tragödie oder als Komödie zu spielen sei. Für die Tragödie braucht man hohe Konzentration, sich tatsächlich zu erinnern, ist wichtig. Von jemanden, an den man sich erinnert, selbst nicht mehr erkannt zu werden, ist traurig und wenn die Erinnerung langsam dämmert, kann das sehr komisch sein. „Ja, doch, natürlich erinnere ich mich, du bist … nein …“, (plötzlicher Tempowechsel, dann langsamer:) „Doch nicht.“ Herr Ben-Ari sagte, Komödie und Tragödie lägen nur einen Hauch voneinander entfernt. Er erwähnte Wachtangows burleske Version von Hamlet. Der Teppich auf der Bühne warf eine Falte; vor dem großen Monolog trat der Schauspieler darauf. Wenn der Schauspieler den Monolog spricht, als sei nichts geschehen, fällt das gar nicht weiter auf. Wachtangow aber stolperte, drehte sich 67


um und starrte den Teppich an, drehte sich wieder um und begann mit „Sein oder nicht sein“. Wir mussten lachen, als Herr Ben-Ari diesen Bruch spielte. In Fräulein Wylers Stunde sollten wir improvisieren, was im Ensemble ziemlich schwierig ist. Den Rahmen bildete Thornton Wilders Stück Glückliche Reise. Wir lasen die Repliken auf der ersten Seite, stiegen so in die Szene ein und machten dann mit eigenen Worten weiter. Herr Wilders Einakter wurde noch fantastischer, als Alice eine Katze als Figur einführte. Wir tauschten ständig die Rollen, männlich, weiblich war egal, die Hauptfigur der Mutter interpretierte jeder anders. Cherie hob den sozialen Rang der Familie an. Steffi stattete sie mit Wärme aus. Interessanterweise war Charlie die beste Mama – sie hatte viel Fantasie. Während wir spielten, erfand jeder Spieler neue Handlungen und die Szene wurde immer komplexer. Der Dramenkanon bestand aus einer Chorprobe für die Lesung mit Herrn Berghof am Abend. Ich mit Piepsstimme (Mist!), die anderen in tieferen Tonlagen. Im Chor zu sprechen, ist wahnsinnig schwer. Wir sollen mit Gefühl sprechen, statt zu leiern. Ich will Pausen lassen und meine Stimme modulieren, aber wenn die anderen es anders machen, bin ich zu langsam, zu schnell, zu leise oder zu laut, und dann komme ich raus. Der Chortext in Esther ist wunderbar, aber die Frauen tendieren zum Leiern. Ethel und Alice, die anderen „hellen“ Stimmen leiern und reißen die Zeilen auseinander. Im Zusammenhang mit Nathan der Weise sprach Herr Gassner über Lessing und die Aufklärung, „das Zeitalter der Vernunft“, die Epoche der Rationalisten. Von den Enzyklopädisten bis zu Jefferson und Tom Paine zitierte er alle einflussreichen Denker der Zeit. Von Lessing sei es gewagt gewesen, einen Juden als Helden zu erfinden. Lessing habe mit Nathan der Weise nicht zu Toleranz aufgerufen, eher zu einer Art Naturreligion. Ich bin da anderer Meinung. Herrn Berghofs Nathan war so weise, so semitisch, so humorvoll, dass es kaum in Worte zu fassen ist. Das gemessene Tempo war bemerkenswert. Dem Juden wurde überraschend eine schwierige Frage gestellt, er hatte die Antwort nicht gleich parat. Er dachte eine Weile nach, kam auf die Geschichte mit dem Ring und überlegte, wie er sie erzählen solle. Er reflektierte seine Ideen, sprach mit dem mächtigen Saladin und wählte seine Worte mit Bedacht. Die Darstellung hatte eine Klarheit und Logik, die dem Publikum das ganze Gewicht der Angelegenheit vermittelte. Den Kontrast zum nachdenklichen Nathan 68


bildete Jimmy Walsh, der mit seiner schönen starken Stimme der Rolle des Saladin Autorität verlieh.

Montag, 19. Februar 1945 Tanz. Eugene unterrichtet. Nach den Entspannungsübungen behandelten wir tänzerische Bewegungen, als wären es Darstellungsprobleme. Im Sitzen oder Beugen gähnten wir und streckten uns, ganz ohne Fantasie. Ich staunte, wie Eugene die Bewegungen variieren konnte. Die meisten von uns hatten keine Ahnung, wie man eine einfache Geschichte durch Bewegung erzählt. Ich strengte mich in dieser Hinsicht kaum an. Dann tanzte jeder Schüler im Walzerrhythmus durch den Saal. „1-2-3 Drehung, 1-2-3 Lauf weg.“ Wir hatten von „unserem Soldaten“ einen Brief mit einer Einladung zum Ball bekommen und tanzten vorfreudig. Die Bandbreite der Interpretationen reichte von Arla Gild, die träumte, wie sie mit ihm tanzte, bis zu einem freudigen Toben. Aus einer dieser „Schrittfolgen“ erfand ich eine Art Versteckspiel, indem ich mit vier Schritten davonlief, als würde ich verfolgt, dann drehte ich mich um, suchte meinen Verfolger, erblickte ihn und rannte schnell weg. Leider verstand Eugene meine Geschichte nicht. Mir schien es so klar, aber anscheinend fehlt mir die Fähigkeit, es zu vermitteln. In der nächsten Übung ist die Frau unglücklich, im Brief steht nämlich, der Urlaub ihres Soldaten sei abgelehnt worden. Hier lief es noch schlechter. Wir wussten nicht, wie man sich dreht, wenn man unglücklich ist. Eugene löste das Problem, indem er sich langsam wand, statt sich zu drehen. Bei den Aufgaben ging es darum, unsere Fantasie der Musik und der Bewegung anzupassen, uns von einem bestimmten Tempo führen zu lassen. Meine Schritte waren mir im Weg, was Eugene darauf schob, dass ich „keinen Walzer kann“, dabei bin ich auf der Tanzfläche immer zurechtgekommen. Als nächstes Maskenbild: Sieht so aus, als müsste ich alles, was ich bisher wusste, vergessen. Wir legten ganz normal Grundierung auf, Rouge, Puder, Lidschatten, Lidstrich, betonten Augenbrauen und Lippen. Das ist alles in Ordnung bis auf die Tatsache, dass ich nichts schlimmer finde als Mata-Hari-Augen. Esther Nigbert, die uns Anfänger unterrichtet, zeigte, wie man einen kräftigen Strich aufs Lid malt, aber ich protestierte, bis sie sagte: „Scheinwerfer sind grell.“ Und dann sagte Herr Kerz meine Augen sähen aus wie Brandlöcher. „Doch mit recht“ Das sollte also so sein. 69


Neue Stücke folgte und wir diskutierten Hope for the Best, das wir am Donnerstagabend gesehen hatten. Franchot Tone war von Hollywood an den Broadway zurückgekehrt und wir waren alle sehr enttäuscht. Sein subtiler Sex-Appeal war in diesem banalen Stück verschwunden und falls wir die dürre Geschichte als Handlung durchgehen lassen, folgt sie falschen Annahmen. Der Text ist schwach: Ein junger Journalist, der sonst über alltägliche Themen schreibt und nicht sehr klug, dafür aber charmant ist, beschließt, „etwas Wichtiges zu tun“ und über Politik zu schreiben. Seine intelligente, faschistisch-republikanische Freundin will ihn davon abhalten, ein junger Fabrikarbeiter ermutigt ihn. Ein naiver Russe (gut gespielt) führt seine schlichten Ideen mit dummen „Dramagrammen“ vor. Er schreibt über Politik, kriegt das Mädchen. Vorhang! Die ganze Klasse fand es schlecht. Als ein Student sagte, das Stück sei nur 70 Cent wert und hätte er 4,50 Dollar bezahlt, wäre er betrogen worden, kam es zum Streit. Das sei kommerzielles Denken und hätte nichts mit Theater zu tun, entgegneten wir. Der Produzent Herr Ince fragte natürlich: „Theater ist also nicht kommerziell?“ Die Debatte verlief hitzig und wurde dann abgebrochen. Das Motto „Wir hassen kommerzielles Theater“ ist offenbar mehrheitsfähig. Ein oder zwei Verfechter fanden das Stück besser als manche Musicals. Wenn er dieses Stück gut findet, geht es mit Franchot Tone, der Theater angeblich mehr liebt als Hollywood und der außerdem Mitglied des historischen Group Theater gewesen ist, offenbar bergab und das tut mir leid. Er braucht Anleitung, die er nicht hatte, er braucht Präsenz, die er vor der Kamera verloren hat. Moral: „Geh nicht nach Hollywood – du kommst nie mehr zurück.“ Am Abend Regie mit Cher Maître. Estelle Press hatte die Aufgabe, die Bühne dramatisch aufzuladen, sie ordnete Schauspieler als dramatische Elemente an. Herr Piscator hat ungeheuer viel Geduld. Er sitzt dabei, während Fräulein Dyer rechts, links, Mitte, Vorderbühne und Hinterbühne als Diagramm zeichnet. Dann platziert Estelle ihre Schauspieler so, dass einer nach vorne, einer in Vierteldrehung nach links und einer nach rechts blickt. Halb links und rechts oder im Profil, dreiviertel oder mit dem Rücken zur Bühne, das sind die Positionen – die Terminologie ist wichtig. Man kann die Aufmerksamkeit auf einen Schauspieler lenken, indem seine Ausrichtung im Kontrast zu den anderen steht. Indem man den Schauspieler in eine andere Ecke oder auf eine andere Ebene stellt, lenkt man die Aufmerksamkeit. In 70


der Mitte bündelt sich alles, trennt man einen Darsteller von den anderen, lenkt das die Aufmerksamkeit auf ihn, selbst wenn er hinten rechts oder links steht. Unterschiedliche Ebenen, Auftritte, Positionen oder Haltungen können dazu dienen, dass jemand exponiert ist. Wenn wir in solchen Übungen entscheiden, welcher Darsteller hervorgehoben wird, beachten wir weder seine Größe noch die Farbe der Kleidung usw., aber für die Regie spielen solche Faktoren natürlich eine Rolle. Herr Piscator probierte mehrere Bühnenkompositionen aus und variierte, was und wen er hervorheben wollte. Auf diese Übungen folgten die unvermeidlichen Szenen aus den Raben. Folgende Szenen wurden gespielt: Tessiers und Maries Begegnung mit der Familie, die Szene zwischen Blanche und Madame Sans Gene und die Familienszene aus dem vierten Akt. Da ich die Schauspieler kenne, hatte ich einen völlig anderen Eindruck. Ich sehe sie als Schauspieler und nicht als die Figur, die sie jeweils spielen. Eugene, der als Bordon überzeugte, schien mir falsch besetzt zu sein, weil seine Persönlichkeit die Figur dominierte. Charles Zimmerman passte als Tessier und Harriet Charney ist Madame Sans Gene.

Dienstag, 20. Februar 1945 Regiebesprechung. Diskussion über organisatorische Details, mit denen ich zum Glück nichts zu tun habe. Konflikt ums Programm. Barbara Sisson hatte eine Auseinandersetzung mit Herr Piscator, es ist ein derart großes Durcheinander, dass es mir unüberwindlich scheint. Ich frage mich, wie Inszenierungen überhaupt gelingen können. Für nächsten Dienstag soll ich mich darauf vorbereiten, die Rollen einer Szene aus Jonsons Bartholomew Fair zu besetzen. Im Seminar Theaterforschung sprachen wir abschließend über Faust. Wir analysierten verschiedene Figuren und entdeckten erstaunliche Details, Robert Carricart, der den Faust spielte, hat beispielsweise gar nicht gewusst, dass Faust nach der Szene im Studierzimmer und vor der Kerkerszene jünger wird. Anscheinend hat er das Stück nicht gelesen. Herr Piscator erwartet gar nicht erst, dass Schüler ihre Rolle korrekt spielen oder künstlerisch auslegen, kritisiert aber jeden individuell. Über Eugenes Mephisto sagte er, Mephisto sei kein anderer, sondern eine Facette von Faust, der intelligente Aspekt desselben Mannes. Die Dialoge zwischen Faust und Mephisto müssten dem Rhythmus eines Mannes entsprechen, der mit sich hadert. „Ich bin der Geist, der stets verneint“, diese Zeilen 71


zitierte er so lebendig und voller Farben, dass die, die kein Deutsch verstehen, ebenso beeindruckt waren wie ich, die ich mich an einer heiligen Stätte wähnte. Als wir zu Lessing kamen, bat mich Herr Piscator, wie befürchtet, meine Kritik vorzulesen. Ich war sehr verlegen. Furchtbar lange Sätze, gepaart mit meiner jugendlichen Ignoranz gegenüber Grammatik, Satzbau und Satzzeichen und mit sehr persönlichen Konstruktionen (wie dieser hier). Schwieriger vorzulesen als zu schreiben. Was den biografischen und wissenschaftlichen Aspekt anbelangt, war der Inhalt in Ordnung, aber meine Kritik an der Darstellung war schwach. Ich habe einfach nicht das Herz, etwas zu kritisieren, das muss ein Kritiker aber können. Wenn jemand sein Bestes gibt, finde ich nichts auszusetzen, und wenn doch, entschuldige ich mich tausendmal für meine Kritik. An Nathan fand ich nichts auszusetzen und das zu sagen, kam mir überflüssig vor. Die Beschreibung der Rollen wurde zu einem Reigen an Adjektiven (literarisch gesehen ein Verbrechen). Meine Kritik wurde angenommen und wie üblich heiß diskutiert. Jede Herausforderung macht mir Angst, aber ich werde die Unsicherheit überwinden. Das Seminar Dramenkanon war heute zweigeteilt: Erst diskutierten wir über Racine, dann hatten wir Chorprobe. Der Chor klingt wunderbar, obwohl an manchen Tagen 20 Stimmen da sind, an anderen nur sechs, egal wie, meine Stimme fügt sich nie ganz in die der anderen. Außerdem bin ich erkältet. In Bühnenbild sprach Herr Kerz darüber, wie sich das Bühnenbild seit seinem Ursprung entwickelt hat. Vor der Restauration (in England), als die Theater geschlossen waren, spielte man in Salons und Ballhäusern Stücke zur Unterhaltung des Adels. William Davenant war der Erste, der für seine musikalischen Stücke anstelle dekorativer Vorhänge Kulissen schuf. Ungefähr zur selben Zeit begannen Frauen, in Theaterstücken mitzuspielen. Von da an entwickelte sich die Bühnenkunst sehr langsam weiter. Wo es ein Bühnenbild gab, brauchte man für die Umbauten einen Vorhang. Rampenlicht kam erst viel später dazu. Als die Rampe noch mit Gas beleuchtet wurde, mussten die Schauspieler näher heran, um vom Publikum gesehen zu werden. So entstand die Vorderbühne, die im Vaudeville, in Musicals und in manchen Dramen noch immer verwendet wird. Unser Jahrhundert erfand den Fluch der Guckkastenbühne, von der Bühnenbildner, Schauspieler und Publikum nicht wegkommen. Lächerlich, wenn man die fantastischen 72


technischen Möglichkeiten heute bedenkt. Die Erfindung des elektrischen Lichts ermöglichte die moderne Bühne, sie wird künftige Bühnen erleuchten. Herr Kerz stellte uns eine „einfache Aufgabe“. Er skizzierte eine Reihe von Wänden, die aussehen sollten, als seien sie zwölf Meter tief, obwohl die Bühne de facto nur vier Meter tief ist. Wie zeichnet man den Grundriss des Bühnenbilds? Ein Student, der schon inszeniert hatte, fand das leicht. Ich fand es schwerer, bis ich es als Zeichenproblem betrachtete. Wenn ich zweidimensional zeichnen kann und mir dabei die Illusion gelingt, geht das auch in drei Dimensionen. Es wird vielleicht nicht flach, aber auch nicht tiefer als vier Meter und wenn ich die Bauten verkürze, je weiter sie vom Publikum weg sind, täusche ich Tiefe vor.

Mittwoch, 21. Februar 1945 Stimmtechnik. Wir sprachen: „Tick Tock, das Pendel teilt die Zeit, sie fällt in den Abgrund, jeder Moment für immer dahin.“ Fräulein Montemuro will, dass wir Wortkombinationen wie „für immer“ verschleifen (sie nennt es „binden“). Eine tolle Stunde Tanz mit Madame Piscator; viel Arbeit am Barren, obwohl das manchmal schmerzt. Ich ging in den Fortgeschrittenenkurs, der etwas früher anfängt, damit ich noch für den Chor in Esther üben kann. Die Arbeit war wesentlich anstrengender und auch herausfordernder. Noch eine Probe. Wenn ich morgen immer noch erkältet bin, weiß ich nicht, was aus der Vorstellung wird. In Fräulein Wylers Schauspielunterricht befassten wir uns mit dem Problem der Heiligen Johanna. Wir saßen im Tanzsaal im Kreis und sollten die Geschworenen darstellen, um der Szene als Darsteller beizuwohnen, nicht als Publikum. In der Mitte saß der Inquisitor mit Johanna. Um diese Situation näher heranzuholen, übertrugen wir die Szene in einen Naziprozess, in dem Johanna als Parteimitglied des Verrats angeklagt ist, sodass der Satz: „Durch diesen Akt erklären wir dich befreit von der Gefahr der Exkommunikation, in der Du standest … aber da Du dich auf höchst vermessene Art gegen Gott und die heilige Kirche versündigt hast, u.s.w. … verurteilen wir dich … das Wasser der Trauer zu trinken in immerwährender Gefangenschaft bis ans Ende deiner Erdentage“ geändert wurde zu: „Da du gestanden hast, erklären wir freudig, dass du weiterhin Mitglied der nationalsozialistischen Partei bleiben kannst, da du aber gefährlich bist, müssen wir 73


dich für den Rest Deines Lebens in einem Konzentrationslager inhaftieren.“ Einige Studenten spielten beide Rollen. Niemandem gelang die Heilige Johanna. Steffi gelang es nicht, die Geschworenen offen anzusprechen. Emotionale Szenen fallen ihr schwer, weil sie sich in Krisen zurückzieht und sich nichts anmerken lässt. Dies widerspricht dem Prinzip der Darstellung und das weiß sie. Wie schwer es ist, etwas darzustellen, das gegen deine Natur ist, das kommt mir bekannt vor. Allerdings: „Humani nihil a me alienum puto“ (Nichts an der menschlichen Natur ist mir fremd). Dieses Motto habe ich auf den Einband des Notizbuchs geschrieben. Zum Glück kann ich Gefühle zeigen. Ich habe versucht, die Szene zu spielen, wurde aber für meine „stilisierte Darstellung“ kritisiert, denn wir sollen „natürlich“ spielen. Ich spielte eigentlich natürlich, bis ich mich an das Leben auf dem Land erinnerte, an „Lerchen im Sonnenlicht“, ich hätte „professionell gelächelt“, hieß es. Arla kann gut improvisieren, sie gab den Inquisitor wunderbar und als sie uns zu Beginn des Gerichtsverfahrens aufforderte, aufzustehen und den Hitlergruß zu zeigen, waren wir Teil der Handlung. Fräulein Wyler wollte, dass meine Heilige Johanna dramatischer sei, nur Charles war es gelungen, Dynamik in die Szene zu bringen. Wir änderten daher Zeit und Ort, die Heilige Johanna ist schon im Gefängnis (hinter dem Klavier), eine Wache geht vor ihrer Zelle auf und ab, befiehlt ihr, still zu sein und dankbar, dass sie lebt. Sie aber hält dagegen, der Tod sei besser als lebenslange Haft. Ohne es zu bemerken, wendete ich die Stanislawski-Methode an. Plötzlich dachte ich an das Gefängnis in Danville, Virginia, wo meine Freundin Mariya Lubliner und ich im November 1944 eine schreckliche Nacht verbracht hatten, als die Polizei uns verhaftet hatte, weil wir per Anhalter unterwegs waren. Charles, der den Wächter spielte, kam näher. Ich sagte wohl halblaut „Danville“ und plötzlich war es Nacht, vom Platz gegenüber flackerte das Neonlicht des Hotels herüber und die Gitterstäbe waren feuchtkalt. Meine Hände umfassten sie. Ich schrie. Böse verlangte jemand Ruhe, ich aber schrie, meine Hände rüttelten an den Stäben. Ich sprach über Freiheit und Straßen und Menschen und Zellen, spürte den Schweiß auf meiner Stirn und an meinen Händen und als ich merkte, dass ich mich im Klassenraum befand und eine Szene aus der Heiligen Johanna spielte, atmete ich erleichtert auf. Der Geschichte aus Die Arbeit des Schauspielers an sich selbst, der nach Stanislawski staunte, wie ein junges Mädchen einen toten Säugling 74


beweinte, und dann erfuhr, dass ihr Kind kurz zuvor gestorben war, hatte ich skeptisch gegenübergestanden. Nach dieser Erfahrung finde ich das aber plausibel. Cherie war nach mir dran. Fräulein Wyler sagte, sie sehe in ihrer Zelle eine Ratte über den Boden flitzen. Ihr Ekel zeige den ganzen Schrecken der Situation. Die Ratte zu sehen, fiel ihr schwer, sie drückte sich auch zu poetisch aus. Sie sagte irgendwas von roter Erde und dem Weg des Regens oder so, ein bisschen wie mein Lächeln in der Gerichtsszene. Fräulein Wyler fand, wir tendierten zu sehr zur Poesie. Sie wollte Realität, wenn nötig Brutalität. Sie machte uns einen Verzweiflungsschrei vor und sagte: „Macht euch frei, wenn es um Leidenschaft geht, keine Angst vor hässlichen Tönen.“ Mein Freund Adolph Giehoff, ein surrealistischer Maler, war als Gast im Seminar Stil im Wandel der Zeit, ich hatte vermutet, er werde von Dr. Zuckers Einführung in die Geschichte und Malerei Venedigs profitieren. Dr. Zucker erklärte, wie sehr Venedig unter Rom litt. Die Römer rangierten in der Malerei auf einem ganz anderen Level und das sieht man den Bildern an. Die venezianischen Kaufleute schätzten üppige Gemälde. Sie förderten die Technik der Staffeleimalerei, weil Kaufleute und reiche Bürger solche Gemälde für ihre großen Häuser kauften. Trotz ihres ausgedehnten Handelsverkehrs waren die Venezianer ein naives Volk, sie schwärmten nicht für intellektuelle, sondern für schöne und gefällige Kunst. Das Klima einer Lagunenstadt sei feucht, erklärte Dr. Zucker, Ton und Färbung tendierten zu einem impressionistischen Stil, begünstigen das Schattenspiel, anders als die sonnendurchtränkte Welt der Römer. Auf Dias zeigte er die Gemälde der Brüder Bellini: Jacopo, Gentile und Giovanni (ich dachte immer, es gäbe nur einen, den Bellini). Ich war besonders beeindruckt von Gentile Bellinis Martyrium eines Heiligen, ein glatter Körper, nicht von Pfeilen durchbohrt, man sieht keinen Schmerz oder so etwas, im Hintergrund mehrere Objekte ohne Zusammenhang mit dem Thema des Bildes. Wir betrachteten einige Details, die reich mit venezianischen Gobelins verzierten Balkone der angrenzenden Häuser, eine Mutter mit Kind und ein Soldat, der schlafend auf der Erde liegt, die perspektivisch gezeichneten Füße zeigen zum Betrachter. Dr. Zucker zeigte uns Ausschnitte der Sankt-UrsulaFresken des Carpaccio und erzählte ihre Geschichte. Als junge Adelige sollte sie einen englischen König heiraten, der sich in ihr Porträt verliebt hatte. Sie protestierte, lieber wollte sie als Märtyrerin sterben, 75


als zu heiraten, und sie versammelte zehntausend Jungfrauen für eine Pilgerschaft. Sie bekehrten viele Menschen. In Köln wurden sie und die zehntausend Jungfrauen von den Hunnen ermordet. Ihre Abenteuer werden auf einem prächtigen Fresko in einem Raum erzählt. Wir betrachteten auch Gemälde von Giorgione, Tizian und Tintoretto. Als wir verschiedene Akte von verschiedenen Künstlern verglichen, erkannte man in den spiralförmig gewundenen Torsi und einem Hang zum Sinnlichen die Entwicklung hin zum Barock. Die zwei schönsten Bilder zeigen Maria, wie sie als Kind die Tempeltreppen hinaufsteigt und dem Hohepriester vorgestellt wird. Ältere Werk erscheinen zunächst oft aufregend, hat man aber gesehen, wie dasselbe Thema mit vielen Ebenen und Linien barock variiert ist, wirken sie flach und fad.

Donnerstag, 22. Februar 1945 George Washingtons Geburtstag. Kein Unterricht, dafür Probe für den Racine. Ich bin schrecklich erkältet. Keine Ahnung, wie ich das morgen schaffen soll. Nur noch eine Probe und ich habe das Leiern immer noch nicht überwunden. Heute findet die erste Probe mit allen Mitwirkenden statt, bis auf unseren Teil ist die Inszenierung so gut wie fertig. Jimmy Walsh ist stark und aufregend. Bis auf den Chor haben alle einen guten Rhythmus, wir hinken hinterher, besonders ich. Tja, morgen ist es so weit.

Freitag, 23. Februar 1945 Esther von Racine. Die Nervosität, die in meinen Auftritten zu sehr im Vordergrund steht, ist weniger schlimm, wenn ich Teil des Chors bin. Das Stück kam gut an, ich aber bin an meiner Rolle schrecklich gescheitert. So „unwichtig“ ein Chormitglied auch sein mag, ich sollte mich ebenso bemühen wie der Hauptdarsteller. Ich könnte mich auf rasenden Kopfschmerz und schlimmen Husten herausreden und wenn ich es kühl betrachte, wäre das richtig. Es ging gut los (trotz Erkältung), ich habe ziemlich klar gesprochen, „glaubte“ aber keinen Moment auch nur annähernd an die Geschichte oder an den Text. Ich versuchte alle möglichen und manche unmöglichen Methoden, mich zu konzentrieren, aber je mehr ich darüber nachdachte, umso mehr hing ich in diesen Gedanken fest, anstatt eine Jüdin zu sein, die aus der Sklaverei befreit wird. In einer Passage, in der drei helle Stimmen singen, hielt ich inne und zwar nicht wegen Erkältung oder Kopfschmerz, sondern aus Angst vor meinem alten Feind, dem Lachanfall. 76


Kein Grund zu lachen, nichts Witziges weit und breit, ich lache auch eigentlich gar nicht so schnell, mein Sinn für Humor ist nicht vordergründig, aber auf der Bühne muss ich lachen. Ich hasse mich dafür, aber ich kann nicht anders. Manchmal muss ich fast heulen und lache trotzdem weiter. Der Zwang ist so stark, dass ich keine Bühne betrete, ohne zu denken: „Bloß nicht lachen.“ Ich denke: „Lach nicht, denk an was anderes“ und dann passierts. Dass ich dafür eine Lösung finde, ist entscheidend. Vielleicht kann mir Stanislawski helfen oder es gibt eine andere Methode, die Angst vor dem Publikum loszuwerden und diesen Impuls, den ich mir nicht erklären kann.

Montag, 5. März 1945 Ich verbrachte den ganzen Morgen in der New York Public Library an der 42. Straße, um mit Hilfe der Angestellten für Herr Piscator zwei Briefe zu finden, aber wir fanden weder den Brief von Romain Rolland an Tolstoi noch Rollands Brief an Gerhart Hauptmann. Herr Piscator braucht beide Briefe für eine Romain-Rolland-Gedenkfeier, die er an der New School organisiert. Herr Freedley, Chef der Theaterabteilung, der immer helfen kann, war nicht da. Ich musste mich also mit den ungeduldigen Bibliotheksangestellten herumschlagen. Und jetzt zu meinem Tanzunterricht. Madame Piscator konnte nicht kommen und Eugene war von der gestrigen Vorstellung Der eingebildete Kranke erschöpft, deshalb machte Alice Blue, die Ballett studiert hat, mit uns am Barren ein paar Pliés. Dann sollten wir so tun, als tanzten wir auf einem Seil, was leichter aussieht, als es ist. Ziel war es, so mutig wie möglich zu sein und uns auf dem Seil witzige oder gefährliche Sachen einfallen zu lassen. Die meisten fielen hin, bevor wir den Raum durchquert hatten. Dann trieben wir es immer weiter mit der Zirkuskunst, zu Zirkusmusik waren wir die herrlichsten Löwen, die ihrem Bändiger trotzen oder gehorchen. Arla Gild und ich waren in einen tollen Ringkampf verwickelt, der Ringling Brothers Zirkus würde dafür Zigtausend Dollar hinblättern (vorausgesetzt, wir wären echte Löwen gewesen). Maskenbild. Barbara Sisson und ich versuchten, uns als Frauen mittleren Alters zu schminken. Wir probierten es mit zwei leichten Schatten, die von der Nase zum Mund reichten, leichte Schatten als Augenringe, die Maske sollte ja keine alte Frau darstellen, sondern eine gutaussehende 42-Jährige. Barbara benutzte einen braunen, ich einen grauen Stift und Herr Kerz fand, Barbara sehe aus, „als bräuchte 77


sie ein paar Stunden Schlaf“, und ich, als sei ich „degeneriert, abgewrackt und abgemagert“, und er hatte recht. Ihr Gesicht war immer noch jugendlich frisch, während ich aussah wie eine liederliche Hure unbestimmten Alters. Nächste Woche versuche ich es mit einem braunen Stift. In Neue Stücke probten wir weiter Margret, das Mädchen mit den fünf Persönlichkeiten. Als die Autoren Sterling North und Yasha Frank letzte Woche im Unterricht waren, haben wir ihnen vorgesprochen. Ich spielte die Rolle der Magd. Die Autoren waren beeindruckt, wie vollendet Virginia die Hure spielte. Heute haben wir nur für uns geprobt und ich übernahm die Rolle der Gesellschaftsdame, der „gebieterische“ Ton gelang mir aber weniger gut als Harriet Charney. Ich redete ein bisschen zu schnippisch und schroff. Die Rolle fällt mir schwer aber Humani nihil a me alienum puto. Im Regieunterricht sprach Herr Piscator am Abend über den Kontrafokus. Gemeint ist eine indirekte Betonung. X, Y und Z schauen zum Beispiel zu A, aber A schaut zu B. Durch den indirekten Fokus von X-Y-Z wird B stärker betont als nur durch A. Wir spielten das an mehreren Beispielen aus Alexander Deans Buch durch. Dann spielten wir eine Szene aus dem Archiv der letzten Produktionen aus dem Dramenkanon und zwar Die Kronbraut von Strindberg. Schon bevor ich am Dramatic Workshop angefangen habe, hatte ich Virginia Baker in der Inszenierung gesehen, ihre Kersti übersteigt alles, was ich bisher dort gesehen habe. Heute Abend ging ich die Sache analytischer an. Virginias Vorsprechen war perfekt, ihre Pausen und Betonungen wahrscheinlich ebenso exakt geplant (ein Plan war spürbar) wie in der früheren Produktion. Die Kronbraut handelt von Kersti, einem Bauernmädchen, das einen Müllerssohn liebt und heimlich schwanger von ihm ist. Kersti will bei ihrer Hochzeit die Brautkrone tragen – Symbol der Unschuld – und tötet ihr Kind. Die Schuld quält sie und die Art und Weise, wie sie am Ende erlöst wird, macht dieses Stück zum zartesten, vergeistigtsten Drama, das ich kenne. Heute aber hat sein Geist mich nicht mitgerissen. Während des Vorsprechens habe ich bemerkt, wie wichtig das Licht für die mystische Stimmung dieses Stücks ist, in normalem Licht wirkt es nämlich zu bodenständig.

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Dienstag, 6. März 1945 Heute Morgen hielt Herr Piscator bei der Regiebesprechung einen seiner einmaligen Vorträge über Theater und Schauspiel. Anlass war ein Brief von Edna Edison, einer Studentin, die sich über die vielen Schulregeln beschwert und das Studium aufgeben will. Sie beklagt sich, dass sie Proben von Der eingebildete Kranke besuchen soll und die Rolle der Angelique lernen muss, die sie aber gar nicht aufführen dürfe, und sie findet es nicht fair, so lange umsonst proben zu müssen und während der Proben zwei Stunden warten zu müssen, bis es wieder etwas für sie zu tun gibt. Barbara Sisson beschwerte sich über dieselben Punkte, auch sie will am Unterricht teilnehmen, aber nicht mehr an den Produktionen. Herr Piscator kam auf das russische Theater und Stanislawskis Probenmethode zu sprechen. Einmal habe Stanislawski ein Stück vier Jahre lang geprobt, bevor er schließlich entschied, die Aufführung abzusagen. Geduldig zu arbeiten, ist nie umsonst, weil man während der Proben Dinge begreift. Aus Gründen der Disziplin wurde beschlossen, die Aufgaben so aufzuteilen, dass jeder Regiestudent als Delegierter für zwei bis vier Schauspielschüler verantwortlich ist, dass er ihre Beschwerden, Kommentare und Konflikte filtern und weiterleiten soll. Schon ohne zusätzliche Verantwortung für andere mache ich mir Sorgen, was meinen Fortschritt angeht und obwohl ich Anfängerin bin, wurden mir Ethel Shepard und Anita Fortus, eine ganz neue Schülerin, zugeteilt. Ich tue, was ich kann, aber die Aufgabe übersteigt vermutlich meine Möglichkeiten. In Theaterforschung setzte Herr Piscator seinen Vortrag über Schauspielkunst fort. Wesentlicher Zweck der Probe sei es, dass der Schauspieler den „kreativen Impuls“ findet. Der Schauspieler lebt nämlich für den Impuls, nur in diesem Moment ist er Künstler und Schöpfer. Herr Piscator kann uns den kreativen Impuls nicht beibringen, er kann uns lehren, wie man ihm folgt, wie man ihn erkennt. Herr Piscator nannte es „das Gras wachsen hören“. Wie man sich darauf vorbereitet, diese Momente wahrzunehmen, ist schwer zu sagen, auch Stanislawski hilft nicht, weil das so tief liegt, dass auch Stanislawski dort nicht hingelangt. Als junge Schauspieler müssen wir zuerst unsere Ausdrucksmittel entdecken, wir müssen lernen, wie man atmet und wie man sich bewegt, vieles müssen wir einfach mechanisch tun. Solange wir noch mit Sprache und Rhythmus kämpfen, 79


können wir nicht erwarten, eine klassische Rolle kreativ interpretieren zu können. Als Piscator Schauspiel studierte, lernte er zuerst Rhetorik. Als junger Mann habe er in allem die klassische Schönheit angestrebt. Wie meine Mutter bewunderte auch er Alexander Moissi, den großen deutschen Klassizisten, der mit seiner weichen, wunderbaren Stimme unter Max Reinhardt den Jedermann spielte. Mit zehn Jahren wusste ich noch nichts über Schauspielkunst, aber ich erinnere mich, wie meine Mutter eine Schallplatte mit dem Märchen Die Prinzessin auf der Erbse auflegte, vorgelesen von Moissi. Seine Interpretation beeindruckte mich tief. Und ich erinnere mich, dass ich, als die kleine Prinzessin im kalten Regen saß und er sagte: „und der Wind hat geblasen“, den Wind so deutlich spürte, als bliese er tatsächlich. Piscator erzählte, er habe sprechen wollen wie Moissi. Nach einer Vorstellung sei er als Junge nach Hause gegangen und habe versucht, es genauso zu machen. Er wollte die klassizistische Perfektion von Stimme und Gestik erreichen. Nachdem er Moissis Hamlet gesehen hatte, verbrachte er Stunden damit, „Sein oder nicht sein, das ist hier die Frage“ zu sagen (und er machte es uns vor). Er sprach in hingehauchten Silben und zog, wie meine Mutter, die Vokale in die Länge, auch sie hatte es ihrem Idol Moissi nachgemacht. Nach dem Krieg hörte Piscator auf, Moissi nachzuahmen. Im Krieg war er auf die Probleme des Menschseins gestoßen, die Gesellschaft müsse in der Kunst vorkommen, nicht außerhalb der Kunst. Den schönen Eskapismus eines Theaters im Elfenbeinturm konnte er nicht mehr tolerieren. Er kämpfte gegen die Klassiker, gegen Reinhardt. Er erfand das Epische Theater, das sich auf gesellschaftliche und politische Situationen bezieht. Dies war eine von vielen theatralischen Revolutionen. Er erzählte uns von Meyerholds biomechanischer Revolution und vom unemotionalen Theater. Letzteres scheiterte natürlich, weil seine Prämisse falsch war. Schließlich redete er über Schauspiel: Technik sei wichtig, man müsse eine Rolle von allen möglichen Blickwinkeln her entwickeln. Er zog eine Parallele zwischen dem Schauspieler und dem Maler. Der Maler entscheidet sich für ein bestimmtes Subjekt oder eine Komposition und macht Skizzen, bevor er das Bild malt. Er erwähnte Picassos Guernica und die vielen Skizzen, die es dazu gibt. Einer der Pferdeköpfe, der im finalen Gemälde für das Leiden steht, wurde auf viele unterschiedliche Arten gemalt. Ich habe diese Skizzen gesehen und es ist offensichtlich, dass Picasso weder 80


auf realistische Köpfe noch auf das Hingeworfene hinauswollte. Das realistische Kunsthandwerk hat den abstrakten Meisterwerken den Weg bereitet. Dann lasen wir ein paar der Kritiken, die wir über Der eingebildete Kranke geschrieben hatten. Meine habe ich erst heute früh geschrieben und musste sie nicht vorlesen. Die freche unverschämte Magd Toinette spielte Virginia Baker mit Schwung und Energie. Eugene Van Grona als kranker Argan quasselte, brüllte und stöhnte, er jammerte kläglich oder sprang wild umher. Dieser verrückte alte Mann war so anders als der charmante, graziöse Tänzer in unserem Unterricht. Die laute tyrannische Toinette konnte ich mir auch nicht als tragisches Gretchen im Faust vorstellen. Caroline Townley spielte Argans betrügerische Frau formvollendet. Gerence war die junge Liebhaberin mit einer Süße, die zu ihrem Namen Angelique passte. Hal Tulchin zeigte Molières joie de vivre mit vielen klugen tänzerischen Bewegungen. Gene Benton war Pomp und Darren Dublin spielte mit Falsett, was ungeheuer komisch war. Das Spiel war übertrieben und beinahe ins Lächerliche gezogen. Schüler aus dem KinderWorkshop bildeten mit großer Wirkung den Chor der Doktoren. Zum Unmut der Klasse war das Bühnenbild expressionistisch, immerhin waren die Möbel aus der richtigen Epoche. Zur Maske gehörten riesige groteske Nasen aus Plastilin. Ich mochte das Regiekonzept, aber die meisten meiner Eindrücke stimmten mit denen anderer Studenten oder mit Piscators nicht überein. Glücklicherweise musste ich meine unpopulären Gedanken nicht äußern. Im Dramenkanon lasen wir heute Werke der Elisabethaner: Volpone scheint mir ebenso schlicht wie Bartholomew Fair, das ich in meiner Kritik von letzter Woche als billige Vaudeville-Show bezeichnet habe. Diese „robusten Elisabethaner“ liegen mir einfach nicht. Steffi Blank spielte eine Szene aus Websters Herzogin von Malfi. Sie sprach die Herzogin in der blutigen Mordszene. Eugene war der Mörder und ich die Stimme eines Engels, ein Versuch die Herzogin das Fürchten zu lehren. Es lief ganz gut. Dann spielte Gloria Cacarro aus Molières Arzt wider Willen. Sie schenkte der zänkischen Frau den schlagfertigen Humor, der in den Repliken steckt. Charles Zimmerman war ein sanfter Holzhacker. Der große Unterschied zwischen zwei Farcen – einmal elisabethanisch, einmal aus der Feder des Hofdramatikers Ludwigs XIV. – lässt mich schaudern, wenn ich daran denke, wie spät England sich kultiviert hat. Da wir uns nun Shakespeare nähern, soll jeder eine 81


Lieblingspassage aus der Feder des Dichters proben. Steffi und ich arbeiten zusammen am Sturm, sie als Prospero, ich als Ariel, eine wunderbare Rolle, wenn sie mir lebhaft gelingt. Sie hat Prospero schon in England gespielt und kann mir helfen. Herr Kerz erklärt im Seminar Bühnenbild den Unterschied zwischen intensivem und extensivem Drama und den zwischen präsentativem und repräsentativem Theater. Repräsentatives Drama (soweit ich es verstehe) soll das Publikum von der Realität des Stücks überzeugen – obwohl es nicht unbedingt realistisch ist –, während präsentatives Theater das Stück als Stück und den Schauspieler als Schauspieler zeigt und gerade nicht als die Figur, die er spielt. Ein Komiker oder ein Conférencier sind im modernen Theater präsentative Schauspieler, während das eigentliche Theater meist repräsentativ ist. Das Theater heute ist außerdem intensives Drama, was bedeutet, dass es sich auf einen Ausschnitt Leben konzentriert und ihn vergrößert. Es behandelt nicht die Welt oder andere Aspekte des Problems, sondern beschränkt sich auf einen bestimmten Ort, bestimmte Menschen, einen bestimmten Zeitraum. Das extensive Theater befasst sich dagegen mit dem Leben. Sein Blick auf die Welt ist breiter, er prägt die Handlung und diese prägt wiederum den Blick. Es bringt verschiedene Aspekte zusammen, um uns den Kontext einer Situation zu zeigen. Das Theater der Gegenwart ist in Sachen Repräsentation und in Sachen intensives Drama an einem toten Punkt angelangt. Damit weiterzumachen würde bedeuten, auf der Stelle zu treten oder gar reaktionär zu werden, deshalb muss das Theater der Zukunft neu und anders werden. Entweder als expressionistisches oder als Episches Theater (die höchste Form des extensiven Dramas). Nach dem Krieg wird ein neues Theater entstehen, und dieses neue Theater gehört uns.

Mittwoch, der 7. März 1945 Stimmbildung. Ich mag diese blöden Übungen nicht. Keine weiteren Details, kommen wir lieber zum Tanzunterricht. Die Übungen am Barren sind jetzt interessanter und schwieriger, fallen mir aber von Woche zu Woche leichter. Die Grundlagen der Choreografie habe ich zwar nicht verstanden, wenn ich mich konzentriere, gelingen mir aber die meisten Schritte. Ich brauche so viel mehr mentale Anläufe, meinen Körper zu beherrschen, als wenn es darum geht, meinen Geist zu schulen. Endlich war mir ein einfacher Schritt gelungen, ich hatte mich 82


völlig verausgabt, da sagte Madame Piscator: „Jemand, der Gedichte schreibt, muss nicht so exakt gehen oder stehen können.“ Ich versuche es gut zu machen und wünschte, wir hätten mehr Tanzunterricht. Schauspielunterricht mit Margrit Wyler. Wir probten die Szene zwischen Lexy Mills und Fräulein Prossy in Candida. Ich sollte Fräulein Prossy sprechen. Fräulein Wyler sagte, ich sei meiner Persönlichkeit treu geblieben und hätte Fräulein Prossy weggelassen. Evelyn spielte Lexy Mills. Fräulein Wyler sagte, wir sollten über etwas Emotionales sprechen. Evelyn erzählte die Geburtsszene in A Tree Grows in Brooklyn aus der Ich-Perspektive. Ich erzählte meine Geschichte über Françoise La Soeur und Valeska Gert (etwas abgemildert). Der Überschwang, mit dem ich vor knapp zwei Wochen die Bürgen und die Richterin um Hilfe gebeten hatte, war abgeklungen, ich spielte nur noch die Empörung der Vermittlerin. Fräulein Wyler fand, ich spiele zwar die Erregung, zeige aber keinerlei Herz. Ich hatte wieder einen Lachanfall und schämte mich wie noch nie. Fräulein Wyler schlug vor, ich solle mir den Mann als meinen Ehemann vorstellen. Die Vorstellung, die Frau von La Soeur zu sein, kam mir zwar absurd vor, aber „Nichts in der menschlichen Natur ist mir fremd“. Ich erklärte Fräulein Wyler mein Problem und sie sagte, wenn ich mich richtig konzentriere, werde ich schon nicht in Lachen ausbrechen. Ich fürchte, das stimmt nicht. Ach, könnte mir doch jemand helfen! Stil im Wandel der Zeit über deutsche Kunst im 15. und 16. Jahrhundert. Dr. Zucker spricht sich gegen den Begriff „deutsche Renaissance“ aus. Um 1500 sei die deutsche Kunst noch mittelalterlich gewesen. Von gotischer Architektur und anderen mittelalterlichen Formen sprang sie im späten siebzehnten Jahrhundert direkt ins Barock, den Stil der Renaissance entwickelte sie nie. Dürer und Holbein lebten zu dieser Zeit, ihre Werke gehören zu den besten Kunstwerken überhaupt. Unter den Dias war ein Bild der Eva, eine Skulptur von Tilman Riemenschneider mit einem jungen, sanften und sehr deutschen Gesicht. Dann einige Werke von Cranach – Adam und Eva, Martin Luther und die Heilige Familie vor einem märchenhaften Hintergrund. Dr. Zucker bezeichnete Cranachs Adam und Eva als „große Scham“ im Vergleich zu Dürers Kupferstich von Adam und Eva, der dekorativ ist, ausgeglichen und intelligent. Noch ein flämisches Bild von Adam und Eva voller Leben und Bewegung. Erstaunlich war Grünewalds Isenheimer Altar voll wunderbarer Details. Dürers Selbstporträt als Dreizehnjähriger 83


verblüffte in handwerklicher Hinsicht, es zeigte keinerlei Anzeichen von Unreife. Seine späten Porträts schonungslos in ihrer brutalen Direktheit – wir sahen das Porträt seiner Mutter und das eines alten Mannes. Im Gemälde Der junge Jesus karikiert er die Ehrwürdigen des Tempels. Dr. Zucker beendete die Stunde mit Holbeins Serie königlicher Porträts, dem entzückenden Prince of Wales und der strengen Jane Seymour. Ein prächtiges Gemälde von Heinrich VIII. mit überproportionalen Schultern entlarvt den Porträtierten als Dummkopf, es zeigt ihn als klobig, wollüstig, übertrieben ausstaffiert und ekelhaft.

Donnerstag, 8. März 1945 Stimmbildung verlangte mir heute zu viel ab und dann hatte ich meinen Ärger nicht mehr im Griff. Ich weiß, dass Gloria Montemuro mir geholfen hat, was meine Stimme angeht, im Unterricht bin ich trotzdem gehemmt. Ich sprach sie im Anschluss an und offenbarte ihr, dass ich in ihrem Unterricht unglücklich bin. Ich erklärte ihr auch, warum ich so spreche. Sie versuchte Verständnis aufzubringen, verstand mich aber nicht. Wir fanden keine Lösung, aber jetzt weiß sie wenigstens, wie es mir geht und warum das so ist. Ob das etwas gebracht hat, kann ich erst in der nächsten Stunde beurteilen. Geschichte und Soziologie ist noch interessanter, seit wir mit der Geschichte durch sind. Jetzt beschäftigen wir uns mit dem psychologischen Aspekt des Theaters, insbesondere mit der Psychologie des Publikums. Als wir Psychologie definieren sollten, kamen wir zum allgemeinen Problem von Definitionen und besprachen, was eine gute Definition ausmacht. Wir definierten Psychologie als Wissenschaft, die menschliche Wahrnehmung und geistige Reaktionen erforscht, des Weiteren untersucht sie emotionale Prozesse, Intellekt, Körperlichkeit und Willenskraft. Dr. Zucker unterschied die fünf, eigentlich sechs Sinne in solche, die das Theater betreffen (Sehen, Hören, Tasten – mit Blick auf Kostüm), und solche, die das Theater nicht betreffen (Riechen und Schmecken). Den „sechsten Sinn“ – der definitiv zum Theater gehört – bezeichnete Dr. Zucker als „undefinierbaren Faktor“: Persönlichkeit, Charisma, wie man es auch nennt. Es hat nichts mit Schönheit oder Intellekt zu tun. Manche nennen es Charme, aber es ist nicht immer positiv, Hitler hat es und Sinatra, Roosevelt oder Rudolph Valentino. An den anderen Disziplinen können wir arbeiten, den sechsten Sinn können wir nicht kontrollieren. 84


Am meisten müssen wir uns mit Sehen und Hören beschäftigen. Der Großteil des Publikums orientiert sich eher visuell als auditiv. Im Unterricht überprüften wir das, indem wir ein Wort wählten und jemand sagen sollte, was ihm oder ihr zuerst dazu einfiel. Bei einem Wort wie „Parade“ sind sowohl visuelle als akustische Assoziationen denkbar, die Assoziationen waren jedoch häufiger visuell als auditiv. Dr. Zucker erklärte uns ein Gesetz, das nur für das Theater und für keine andere Kunst gilt: Es sei entscheidend, eine Szene mit einer Aktion oder einem Geräusch abzuschließen. Der Vorhang soll also zu einer Aktion fallen oder zu einem Geräusch, einer Glocke oder einer Explosion – und nicht zu einer Replik. Der intellektuelle Gehalt muss nämlich mit einem physikalischen Effekt besiegelt werden. Als Beispiele nannte er die Wetterfahne in der Heiligen Johanna, die sich im Fenster spiegelnde Sonne in Geister. Ein zeitgenössisches Beispiel ist das Läuten auf dem Höhepunkt von A Bell for Adano. Der Regisseur muss das genauso oft einsetzen wie der Dramatiker. Fast alle Stücke, die ich gesehen habe, endeten nicht mit dem Dialog, sondern mit einer Aktion, und sei es, dass sich das Liebespaar umarmt. Dr. Zucker erklärte, warum das Publikum so langsam reagiert, es müsse immer vorbereitet werden auf das, was noch kommt. Alles, was passiert, muss durch einen Hinweis angekündigt werden. Das Publikum braucht auch Zeit, bis es über eine Pointe lacht und der Schauspieler muss das Lachen abwarten. Wenn er weiterspricht, verspielt er die Komik der Pointe und den Sinn für den Anschluss. Er kann einfrieren, am klügsten aber ist es, das Warten mit einer unauffälligen Bewegung oder Geste zu füllen. Der Mitspieler hat das größere Problem. Wenn er die witzige Zeile hört, auf die er reagieren soll, hat er zwei Möglichkeiten. Entweder beschleunigt er das Lachen des Publikums, indem er selbst lacht, was aber die Gefahr birgt, vom Witz abzulenken. Lacht er nicht, besteht die Gefahr, dass die Spannung im Moment des Schweigens abfällt. Zwischen Text und Lacher darf sich der Schauspieler nicht bewegen. Es liegt auf der Hand, warum Piscator fordert, dass seine Schüler im zweiten Jahr Psychologie belegen. Es folgt Unterricht in Kostümbild mit einer Lektion über das antike römische Kostüm. Die Gesetze und Vorschriften bezüglich der Kleidung waren komplex. Die Kleidung verriet den gesellschaftlichen Rang, was heute immer weniger gilt. Gefangene trugen Hosen wie die „behosten Barbaren“ anderer Nationen, denn Hosen waren für die Römer ein Zeichen von Erniedrigung. Die Toga wurde nur für eine 85


kurze Periode und ausschließlich von Patriziern getragen, sie diente zur Abgrenzung gegenüber den Plebejern. Einige Varianten der Toga markierten soziale Unterschiede. Welche Form die Toga genau hatte, ist strittig, immerhin weiß man, wie sie getragen wurde. Herr Kerz zeigte uns genau, wie man eine Toga anlegt. Der Stoff liegt ca. 45 Zentimeter breit und ist entweder halbrund oder rautenförmig zugeschnitten. Ein Ende wird über die linke Schulter nach hinten geworfen und reicht bis zum Boden. Den Rest drapiert man schräg über der Brust, führt ihn unter dem rechten Arm hindurch, dann wie einen Gürtel um den Bauch nach hinten und befestigt ihn schließlich am Handgelenk. Zieht man die Toga vorn breit, bildet sich eine Art Tasche, die sich Asinus nennt. Die Faltung am Rücken wurde manchmal als Kapuze und Regenschutz verwendet oder als Zeichen der Trauer. Die griechische Tunika wurde unter der Toga getragen. Irgendwann trugen auch die Plebejer Togen aus brauner oder grauer Baumwolle, nie jedoch aus orientalischer Seide wie die Patrizier. Schwarze Togen trug man als Trauerkleidung. Cäsar und siegreiche Generäle trugen purpurfarbene Togen. Priester, Knaben unter 14 und Magistratsmitglieder trugen die Toga praetexta, sie war weiß und hatte einen purpurfarbenen Rand, was Unschuld und Charakter anzeigte. In den Togen der Reiter wechselten sich breite und schmale purpurfarbene Streifen ab. Um ca. 200 v. Chr. wurde die Toga durch reich bestickte Tuniken ersetzt. Plebejer trugen das Palladium (nach Pallas Athene) aus Griechenland. Frauen trugen eine Art ionischer Tunika. Die Kopfbedeckungen und Frisuren waren noch verrückter als bei uns.

Freitag, 9. März 1945 Unglücklich, den Schauspielunterricht versäumt zu haben, weil ich mit dem Molière auf „Tour“ in die public school 221 nach Brooklyn musste. Der Unterricht wurde aber für einen guten Zweck geopfert, ich habe nämlich viel gelernt. Wir bewältigten diverse praktische Schwierigkeiten, zum Beispiel die Mädchenumkleide, in der es nur einen Spiegel und eine Lampe gab, aber keinen Tisch. Ich half mehr beim Ankleiden, als dass ich beim Kostüm assistierte, und hatte alles Mögliche zu tun. Die Fassung hatten wir für Kinder adaptiert und Beline war eine Hexe, sodass Toinette direkter mit den Kindern zu tun hatte. Toinette übernahm die Texte der abwesenden Beralde und 86


Cléante. Während Virginia sich schminkte, ging ich die Stichworte mit ihr durch und stellte fest, dass sie ihren Text nicht konnte, sich dafür voll und ganz auf ihr Improvisationstalent verließ. Hinter den Kulissen erlebte ich ein erstaunliches Schauspiel. Wir hatten junges Publikum erwartet und mit Zwölfjährigen gerechnet. Es strömten aber Kinder herein, die zwischen acht und zehn waren. Kaum begann der „eingebildete Kranke“ Argan zu sprechen, schweiften die Kinder gedanklich ab. Unsere Schauspieler spielten alles groß. Virginia verprügelte Eugene und warf ihn zu Boden. Eugene schrie, bis er heiser war, und jagte Caroline Townley (Beline) durch den Zuschauerraum. In diesem Tohuwabohu brachte Darren Dublin als Thomas Diaforus die anderen Spieler zum Lachen– jede Truppe hat schließlich einen Clown, der das Chaos für sich nutzt. Dass wir spielten und die Aufmerksamkeit der Kinder erhielten, ist mehr, als zu erwarten war, allerdings hätte sich Molière angesichts unserer Vorstellung vermutlich gehörig im Grab umgedreht. Die zweite Vorstellung spielten wir vor einem etwas älteren, weniger lauten Publikum, immerhin konnte es dem Stück folgen. Bei der ersten Vorstellung war der Inhalt von Darrens Reden offensichtlich so egal, dass er sich zu Eugene umdrehte und hörbar sagte: „Hier stinkts.“ Nicht mal das kam beim Publikum an. Das zweite Publikum konnte der Handlung folgen und hatte seine Freude. Anschließend bekam das Ensemble einen Vorgeschmack auf Ruhm. Hunderte von Kindern belagerte es und verlangte Autogramme. Wir bauten ab und fuhren heim. Meinem Eindruck nach eine fantastische Lektion, um auf der Bühne frei zu werden. Wer auch nur ein bisschen Angst hat, hat es in chaotischen Situationen schwer, zu improvisieren. Im Dramenkanon ging es heute um die späteren Elisabethaner. Herr Gassner sprach über Webster, Jonson, Dekker, Ford und Phillip Massinger, er war Hauptautor und Thema der heutigen Vorstellung. Sie haben „die Kultur aus vollem Herzen umarmt“. Sie liebten die Menschheit und karikierten sie erbittert. Ein Ausschnitt aus Massingers A New Way to Pay Old Debts wurde gespielt. Eleanor Epstein spielte Margret sanft, Gene Benton war ganz gut als Overreach, Louis Guss übertraf sich als Greedy selbst. Wenn dem verfressenen Greedy am Ende das Essen verboten wird, ändert sich, während er allmählich versteht, sein Ausdruck, die Enttäuschung wird sichtbar mithilfe eines Verfolgers, dessen Licht von Rot über Orange und Gelb ins Tiefgrüne wechselt. 87


Sonntag, 11. März 1945 Am Abend ein Programm zu Ehren von Romain Rolland im Urban Auditorium der Hochschule. Ich durfte als Platzanweiserin dabei sein. Piscator schätzt Rolland besonders für sein Buch Das Theater des Volkes und hatte einen wunderbaren Sprecher engagiert. Barrett H. Clark, ein wichtiger Übersetzer von Rollands Werken, erzählte, wie Rolland in Paris sein Mentor war. Von allen Erzählungen an diesem Abend hat mich – vielleicht weil ich Jean-Christophe in ihm erkannte – am meisten berührt, wie Clark Rollands Weltfremdheit und Liebe zur Musik beschrieb. Frederika Zweig las einen Ausschnitt aus der RollandBiografie ihres Mannes Stefan Zweig, die stereotype Beschreibung eines kleinen stillen Mannes mit blitzenden Augen. Henri Torres, ein französischer Redakteur, sprach dann (auf Französisch) und wenn ich es richtig verstanden habe, erinnerte er uns, dass Faschisten schlecht sind, dass wir sie hassen müssen und dass Rolland sie hasste. Aber er sprach sehr elegant, die Melodie seiner Rede, seine wirkungsvollen Pausen, der Ton und seine Gesten waren charmant und das Publikum hing an seinen Lippen. Der französische Dichter André Spire, weißes Haar, kleiner weißer Bart, las in bewundernswertem Stil einen Brief von Rolland. Der Dichter Fritz von Unruh sprach auf Englisch. Weder bin ich mit seiner Dichtung vertraut, noch weiß ich, wie er sich in seiner Sprache ausdrückt, aber seine Rede war miserabel. „Romain Rolland“, sagte er zu laut, „Du bist unser Vorbild! Romain Rolland! Du bist unsere Inspiration!“ usw. Dann spielten Bronislaw Huberman und Bruno Walter Beethovens Kreutzersonate als eigenen Beitrag. Ich saß neben Eugene Van Grona („Music I heard with you was more than Music“)4. Stella Adler las mit schöner Stimme jene Passage aus Das Theater des Volkes, in der Rolland erklärt, dass künstlerisches Theater und Theater für das Volk dasselbe sein müssen. Dort steht auch, Theater des Volkes muss vom Volk für das Volk gemacht werden. Jean Benoît Lévys Französisch konnte ich nicht folgen und Jules Romain, dessen Werk ich sonst schätze, beeindruckte mich gar nicht. Der wunderbare Herr Berghof las mit dem weniger wunderbaren Philip Houston und den Jungs vom Workshop eine Szene aus Rollands Die Wölfe. Das Stück funktioniert intellektuell als Lesedrama, als Theater ist es armselig. ––––––––––––––––– 4

Gedicht von Conrad Potter Aiken, US-amerikanischer Poet, Pulitzerpreisträger.

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Montag, 12. März 1945 Tanzunterricht mit Eugene Van Grona. Nach einigen Übungen befassten wir uns mit den Prinzipien des Gehens, besonders dem Gehen im Tanz. Er zeigte uns, wie wir unseren Gang von einem bestimmten Ort aus motivieren. Der Brustkorb in einer Linie mit der Stelle unter den Schultern gedacht, kann unserem Gang eine Richtung geben, so gibt man der Bewegung eine Stimmung. Wenn wir uns vorwärts ziehen lassen wie von einem Magneten und daran denken, die Schultern unten zu lassen, haben wir einen festen Gang, gerade und frisch. Dann ist der Gang lebendig, lebhaft. Wenn wir aber den Brustkorb einziehen, wirkt unser Körper schlaff und erbärmlich. Wir probierten zwei Übungen. Erst durchquerten wir den Raum stolz, fordernd, sogar herrisch. Als ich so ging, kam mir O‘Neills Und Lazarus lachte und der Satz „Heil dir Caligula, Kaiser von Rom“ in den Sinn. Dann sollten wir bescheiden gehen und ich dachte an ein Bild, das Dr. Zucker uns gezeigt hatte: Maria, wie sie als Kind zur Segnung vor den Hohepriester tritt. Wir probierten noch andere Sachen aus. Nüchterner, geschäftsmäßiger Gang, öde und nichtssagend. Ich probierte es vor der Klasse und hätte nicht sagen können, wie ich das herstellte. Jemand sagte, es käme aus den Schultern. Um ein Gefühl dafür zu bekommen, probierten wir auch das Gegenteil: eine poetische und eine sinnliche Person. Die sinnliche Person geht – vor allem wenn es eine Frau ist – aus der Hüfte, der restliche Körper folgt. Dann probierten wir einen nüchternen Typen mit steifen Hüften, Schultern vorn, der Oberkörper führt, so trafen wir den Charakter. Wir beendeten die Stunde mit Fechtübungen. Ich habe dabei zwar versagt, aber unser Lehrer war großartig. Maskenbild. Letzte Woche schminkten wir uns auf mittelalt, heute machten wir uns noch älter. Letzte Woche sah ich aus wie eine alte kranke Prostituierte, diesmal fragten meine Mitschüler, wer mich denn ausgegraben habe. Der Lehrer versteht nicht, dass in einem Gesicht, das schon schmal und blass ist, der feinste Schatten tiefe Furchen macht. Ein dicker Strich dominiert mein Gesicht und verwandelt es in eine hohle Maske. Immerhin lerne ich die Grundlagen des Maskenbilds. In Neue Stücke sprachen wir über Jacobowsky and the Colonel, die beste Komödie, die ich je am Broadway gesehen habe, dem Rest der Klasse hat sie nicht gefallen. Der europäische semitische Touch hat mich vielleicht stärker angesprochen. 89


Im Regieunterricht besprachen wir „Off-stage-Spiel“, was einige verwirrte, Herr Piscator hat es aber gut erklärt. Er trat auf die Bühne und redete dort mit jemandem, dann rief er jemand anderen im Parkett zu: „Hallo, Oskar, na? Kommst du mal?“ Er spielte so lustig, dass die Klasse in Gelächter ausbrach und sich für den Rest der Stunde nicht konzentrieren konnte. Sogar Chouteau Dyer prustete wie wild und verließ den Klassenraum, damit Piscator unterrichten konnte. Das Konzept „Off-stage-Spiel“ war klar geworden. Dann probierten wir verschiedene Arten, einen Auftritt vorzubereiten. Zuletzt diskutierten wir über die Aufführung vom vorigen Freitag im Dramenkanon. Hal Tulchin hat Regie geführt und Gene Benton erzählte, wie Hal sich bemüht habe, dem Ensemble schwierige Passagen zu erklären. Der Text, um den es da ging, war eine Szene aus A New Way to Pay Old Debts, in der Overreach seine Tochter für ihr Aussehen lobt. Auch ihre Füße müssten gut gekleidet sein, sagt er, sie erhielten ebenso viel Aufmerksamkeit wie ihr Gesicht. Den Rest der Stunde verbrachten wir damit, diese Zeilen zu paraphrasieren.

Dienstag, 13. März 1945 In der Regiebesprechung sprachen wir wieder über Disziplin: Studenten, die nicht bereit sind, in der Technik mitzuarbeiten, dürfen nicht am Schauspielunterricht teilnehmen. Das mag ja alles wichtig sein, aber Herr Piscator hat uns so viel anderes beizubringen, dass es frustriert, sich eine Stunde lang seine Tirade gegen Sidney Schwartz anzuhören. In Theaterforschung ging es mit der Tirade im größeren Stil weiter. Offenbar hat außer mir niemand eine Kritik über A New Way to Pay Old Debts geschrieben. Als er mit dem Schimpfen fertig war, bat mich Herr Piscator meine Kritik vorzulesen. Hätte ich sie bloß nicht erst heute früh geschrieben und hätte ich sie doch nochmals durchgelesen! Ich hatte Angst und musste natürlich wieder lachen. Herr Piscator kennt meine Schwäche noch nicht, ich konnte den Ausbruch dieses Mal auf den Witz des Stücks schieben, mit meiner Kritik war er auch zufrieden. Im Dramenkanon spielten wir einige Shakespeare-Szenen. Steffi Blank und ich waren mit unserer Szene aus dem Sturm zuerst dran. Sie spielte Prospero emphatisch, während ich mich als Ariel um eine gewisse Leichtigkeit bemühte. Natürlich verglich uns die Klasse mit Zorina und Arnold Moss, die die Rollen am Broadway gespielt haben. 90


Weil Zorina Tänzerin ist und nicht Schauspielerin, fiel der Vergleich positiv aus. Mir wurde gesagt, ich hatte es „gefühlt“, was eigentlich nicht stimmte. Ich „fühlte“ die Poesie, ich fühlte die Schönheit dessen, was ich sagte, aber die Bedeutung, die ja klar ist, war gefühlsmäßig nicht umgesetzt. Harriet Charney sprach die Widerspenstige aus der Zähmung vor und das Widerspenstige ist ihr sehr gut gelungen. Eleanor Epsteins intelligente Lady Macbeth war elegant, fast zu schön, mit feinen Crescendi vor dem Höhepunkt. Aber wie gut sie es auch gemacht hat, für diese Figur fehlt ihr definitiv die emotionale Reife. Nachdem wir uns kurz über extensive und intensive Methoden ausgetauscht hatten, befassten wir uns im Bühnenbildunterricht mit Fragen der Perspektive. Wir begannen mit der Guckkastenbühne als einfachster, häufigster und uninteressantester Bühne und sprachen über die Probleme, die sie mit sich bringt. Zuerst ging es um die Elemente und Maße einer Bühne. Die Proszeniumsbühne des durchschnittlichen Broadwaytheaters ist ca. zwölf Meter breit, bis zu sechs Meter hoch und zehn bis elf Meter tief. Die Soffitten und Seitenkulissen fassen das Bühnenbild von oben und von der Seite her ein, Vorhänge können den gleichen Zweck erfüllen, manchmal nennt man sie auch „falsches“ Proszenium. Wir sprachen über den Rundhorizont und dessen unteren Rand, der nötig ist, um den Übergang zwischen Horizont und Bühne zu kaschieren. Ein häufiger Fehler beim Licht ist, dass es für eine Szene im Freien von oben kommt. Der hellste Teil des Himmels muss, wie in der Malerei, dem Horizont am nächsten sein.

Mittwoch, 14. März 1945 Unseliger Unterricht in Stimmbildung. Meine Diskussion mit Fräulein Montemuro hat nicht nur nicht geholfen, sondern sogar geschadet. Tanzunterricht mit Madame Piscator. Übungen am Barren, dann Tanzen zu fremden Klängen: orientalisch, russisch und Bolero. Ich war sehr müde und habe wenig mehr mitgenommen, als dass ich noch müder geworden bin. Schauspielunterricht. Cherie Ross spielte die Rolle der Martha in Bury the Dead. Vor ein paar Jahren war das mein Lieblingsstück. Sie hat es gut und flüssig gespielt. Fräulein Wyler fand, sie müsse die Gefühle der Witwe Martha stärker ausdrücken. Weil ihr toter Mann den Krieg und seinen Tod für sinnlos hält, erstehen der Tote und fünf seiner Kameraden auf und weigern sich, begraben zu werden. Die Frauen, Mütter und Geliebten beschwören die Soldaten, die Tradition 91


nicht zu stören. Martha trauert aber nicht um ihren Mann, denn für ihr armseliges Leben macht sie seinen Mangel an Talent und Ehrgeiz verantwortlich. Fräulein Wyler forderte Cherie auf, das einsame und arme Leben zu fühlen, kam aber zu dem Schluss, sie sei zu jung dafür. Ich glaube, ihr fehlt eher das Verständnis für Armut. Wenn ich irgendwas auf der Bühne überzeugend darstellen kann, dann das erstickende Gefühl, arm zu sein, genauso ist es mir auch gelungen, Gefangenschaft zu vermitteln. Ich spielte kalt einen Monolog. Fräulein Wyler wählte Marthas Liebesmonolog aus Infam. Sie sagte, ich hätte klug, aber zu schön gespielt. Ich will die Worte und Phrasen schön sprechen, treibe es aber so weit, dass es künstlich wirkt. Ich probierte den Monolog noch einmal, wieder auf einem Level, das keine natürliche Darstellung möglich macht. Inzwischen kannte ich schon den Inhalt des Monologs. Ich sollte das Wesentliche in eigenen Worten wiedergeben und Fräulein Wyler dabei direkt anschauen. Meine Worte kamen zögerlicher, aber, wie Fräulein Wyler gehofft hatte, auch weniger schön heraus. Sie fand mich nicht sehr überzeugend, das heißt, sie hat mir meine Liebe nicht geglaubt. Wenn ich etwas ablese, kann ich alles sagen, aber wenn ich jemanden anspreche, habe ich Hemmungen. Mit mehr Erfahrung kann ich das zweifellos überwinden. Steffi spielte Karens Monolog „Wir werden nicht mehr leiden“ aus Infam und kam irgendwie nicht mit dem Text zurecht. Alice spielte sehr schön die Alice aus Lebenskünstler. Weil ich einen unschönen Text fürs Komische brauchte (ich hatte Fräulein Wyler erklärt, dass ich, obwohl ich Sinn für Humor habe, nicht komisch spielen kann), bat sie mich, aus demselben Stück Großvaters Rede an den Reichen zu sprechen, und ich machte es gut, war, abgesehen von der Komik im Text, aber nicht komisch. In Stil im Wandel der Zeit über spanische Malerei beschrieb Dr. Zucker Spanien als Land der Extreme. Die Inquisition sei, wie er sagte, eines der grausamsten Kapitel der Geschichte gewesen. Er redete darüber, dass die Armut in Spanien im Mittelalter beispiellos war, der Reichtum wiederum sei dort üppiger gewesen als in anderen Aristokratien. Die Dualität spiegelt sich in der Malerei der Zeit, weil sie voller Kontraste und Farbe ist. Auch die spanische Malerei der Renaissance zeigt starke Kontraste. Scharfe Linien und starke Kontraste zwischen Licht und Schatten dominieren, das alles begleitet von einer beinahe russischen Vorliebe für starke Farben. 92


Das erste Dia zeigte ein Kirchenportal mit eingravierter Höllenszene. Mehr Sadismus kriegt man auf einem Quadratzentimeter kaum unter. Es folgte ein Gemälde von Christus in schrecklichster Agonie. Drei hohe Kleriker, dargestellt von drei Malern. Ein Papst von Tizian, ein anderer von Velázquez und El Grecos Kardinal. Wir sehen wunderbare Ölgemälde von El Greco, die seine künstlerische Entwicklung zeigen: Christus und die Geldwechsler, das gleiche Thema, 20 Jahre später mit lockeren Pinselstrichen in durchscheinender Ölfarbe gemalt, die Figuren frei interpretiert. Dann Der reumütige Petrus und der bedrohliche Sturm über Toledo, gefolgt von einem hässlichen historischen Schinken von Velázquez, der die Eroberer von Breda zeigt. Am Beispiel eines spanischen Hofzwergs mit dem allertraurigsten Gesicht verstehen wir, wie tragisch Komik sein kann. Er erinnerte an den traurigen Zwerg aus Oscar Wildes Der Geburtstag der Infantin. Dr. Zucker erklärte, Las Meninas sei ein Trugbild. König und Königin im Hintergrund, gespiegelt hinter dem gewagten Selbstporträt des Künstlers, halb verdeckt von seiner Leinwand, das alles sei als kühne Innovation zu verstehen. Dann, quelle surprise, eine Venus von Velázquez, ich habe noch nie eine schlanke Venus gesehen, dunkel und zerbrechlich, und ich war froh, dass es zu der Zeit, als Rubens mit korpulenten Damen protzte, überhaupt möglich war, eine schlanke Venus zu malen. Als Kontrast zeigte Dr. Zucker eine Venus von Tizian. Murillos Weihnachtsmotive folgten, aber ich mochte sie nicht. Mit ein paar Porträts und Zeichnungen von Goya (nicht so subtil wie seine Kriegszeichnungen) ging die Stunde zu Ende.

Donnerstag, 15. März 1945

Stimmbildung. Dann eine hochinteressante Stunde Geschichte und Soziologie. Dr. Zucker sprach über die Psychologie des Publikums und teilte es in sieben gesellschaftliche Klassen ein. Wir diskutierten als Gruppe darüber und fanden Argumente für die Einteilung. Ganz oben ist die intellektuelle – „die empfängliche Klasse“ – das dankbare Publikum. Die wohlhabende Schicht als „Society“ zu bezeichnen, scheint undemokratisch, sagt Dr. Zucker. Ein gebildeter Mensch von Welt, der sein Leben nicht mit Arbeit verbringt, ist vermutlich intelligent, vorausgesetzt, er ist offen (also kein Dummkopf). Als Nächstes folgen die Akademiker – Anwälte, Ärzte usw. Dann: Geschäftsmänner der gehobenen Mittelschicht, Beamte (Bibliothekare, Lehrer), Handwerker, kleine Büroangestellte (Stenografen) und, ganz unten, das Matineepublikum. 93


Er ordnete dem Publikum Genres zu. Die Intellektuellen und die Akademiker bevorzugen das literarische Theater und die Gesellschaftskomödie (Noël Coward), der müde Geschäftsmann Musical oder Operette. Der Büroangestellte mag süßlichen Realismus oder die übliche Broadwaykost, zum Beispiel The Voice of the Turtle. PSYCHOLOGIE DES PUBLIKUMS

Kasten 2 (Psychologie des Publikums, Dr. Zucker) SCHICHT

GESCHMACK

WAHRNEHMUNG

NY

TUCSON

Intellektuell Empfänglich

Literarisches Theater

intellektuell-visuell auditiv

20 %

10 %

Akademische Berufe

Literarisches Theater

intellektuell

20 %

20 %

Gehobene Mittelschicht

Literarisches Theater, Gesellschaftskomödie, Musikalsche Komödie

visuell/intellektuell auditiv

40 %

60 %

Beamte

sentimentaler Realismus

intellektuell

8%

10 %

Arbeiter

das oben Genannte plus politisches Theater

visuell/ intellektuell auditiv

10 %

--

Büroangestellte

Musicals/Farce

auditiv

2%

--

sentimentale Stücke

visuell

2%

--

Matineepublikum

Dem Handwerker gefällt das alles, am meisten schätzt er politisches Theater, wenn es ihn direkt anspricht. Kleine Angestellte mögen Musicals, während das Matineepublikum dem Sentimentalen frönt. Wir einigten uns darauf, dass nur die beiden oberen und die beiden unteren Klassen wirklich gern ins Theater gehen. In New York besteht das Publikum wahrscheinlich zu 20 Prozent aus den beiden obersten Klassen, zu 40 Prozent aus der oberen Mittelschicht, zu zehn Prozent aus Arbeitern, 20 Prozent Matineepublikum 94


und zehn Prozent Angestellte. In ländlichen Gemeinden, zum Beispiel in Tucson, findet man wahrscheinlich zehn Prozent Intellektuelle, 20 Prozent aus den besseren Berufen, 60 Prozent obere Mittelschicht, zehn Prozent Beamte und hier und da jemanden aus den anderen Schichten. Dran denken, wenn wir das nächste Mal in Tucson spielen. In einer zweiten Tabelle zeigte Dr. Zucker soziale Unterschiede und übliche Reaktionen des modernen Publikums und die Bandbreite des Interesses an Theater in Abhängigkeit zur Gesellschaftsschicht. Folgende Faktoren haben Einfluss auf den Geschmack des Publikums: A: B: C:

ein Thema, das einen betrifft; Dinge sehen, die man aus Büchern oder Bildungsstätte kennt; Snobismus

Kasten 3 (Soziologie des Publikums, Teil 2)

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Knechte Arbeitslose und Tagelöhner

Zeitung + Zufälliges

Western, Kriminalromane

Untere Mittelschicht

Zeitung + Regenbogenpresse

Western, Krimi, Liebesroman

Angestellte

Zeitung + Romanzen, Zeitschrift

Musical + Liebegeschichte+ Politisches

Obere Mittelschicht

Zeitung + Romanzen, Zeitschrift

Musical + Liebesgeschichte Politisches mit Betonung auf Unterhaltung

Akademiker Intellektuelle

Zeitung + Literatur (New Yorker Magazine)

Musical, Liebesgeschichte Politisches, Dokumentarisches, Gesellschaftskomödie

Gute Gesellschaft

Zeitung + Literatur + Romantischer Bestseller

Musical, Liebesgeschichte, Politisches, Gesellschaftskomödie mit der Betonung auf Unterhaltung


Eine Stunde Kostümbild: Als Julius Cäsar die Alpen um 55 v. Chr. überquerte, wurde Frankreich zum Zentrum der Modewelt und so ist es bis heute geblieben. Im Frühmittelalter änderte sich die Mode nur allmählich, weil die Herstellung von Kleidung aufwendig und teuer war. Modemetropole war zuerst Marseille, dann Paris und dabei ist es geblieben. Die Idee, man könne verschiedene Kleider haben, hatten zuerst die Patrizier in Gallien. Gelbes Haar und Schleier, man trug die Stola, das Korsett oder das Strophium. Dort erfand man auch genähte (im Gegensatz zu gewickelten) Beinkleider aus Leinen, aus denen irgendwann Strümpfe wurden. In Sachen Kleidung, wie in den meisten Dingen, hinkte das Frühmittelalter der römischen Kultur hinterher, es hatte den Glanz des Hochmittelalters noch nicht erreicht.

Freitag, 16. März 1945 Stimmbildung. Dann Schauspielunterricht. Herr Ben-Ari arbeitete mit uns daran, wie man Konzentration bündelt, vor allem aber sprach er über die Methoden verschiedener Regisseure, speziell über Wachtangow. Wachtangow war ein Schüler Stanislawskis, der mit dessen Methode und mit dem Naturalismus brach, um das Theater des „fantastischen Realismus“ zu erschaffen. Er fand, Theater müsse sich der Fantasie des Schauspielers anpassen und war damit Piscators Theorie näher als Stanislawski. Wie Piscators Methode (wenn man sie ernst nimmt) fordert der „fantastische Realismus“ mehr Tiefe vom Schauspieler, mehr Inspiration und Fantasie. Herr Ben-Ari kam zu dem Schluss, Stanislawski sei die Grundlage für jede Schauspielmethode. Dann machten wir Übungen, die wir uns füreinander ausdachten. Schauspielunterricht mit Fräulein Wyler. Wir begannen mit der Arbeit an Thornton Wilders Glückliche Reise, indem wir uns Abläufe ausdachten und sie festlegten. Sie zeigte uns, wie man Text markiert, dass man Stichworte und den eigenen Text unterstreicht und wie man Bewegungen und Aktionen notiert. Herr Gassner hielt einen Vortrag über Shakespeare, sprach über das „Gewöhnliche“ in seinem Werk und nicht über den Esprit. Shakespeare habe weder Geschichten noch einen neuen Stil erfunden – nur was die Komplexität seiner Figuren angeht, war er ein Erneuerer.

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Samstag, 17. März 1945 Wie es euch gefällt, um den Shakespeare-Vortrag aus dem Dramenkanon zu illustrieren. Durch die Doppelbesetzung konnten wir Interpretationen vergleichen. In der Matinee gefiel mir Priscilla Draghi als Viola, weil sie meiner Lesart nahekam, Grace Huffmans Viola war dagegen nachdenklich, reifer und weniger impulsiv. Eugene Van Grona war als Herzog großartig. Charles Coleman war ein liebenswerter Sir Toby Belch. Elaine Stritch war richtig närrisch (soll heißen, sie spielte den Narren richtig gut) und sang wunderbar. Jimmy Walsh spielte Malvolio stolz und aufgeblasen, Eugene hat ihn mit Pathos gespielt und ihn so fast zu attraktiv gemacht. Bühnenbild und Ausstattung der Produktion waren sehr interessant. Julian Beck, der mich zur Matinee begleitete, hatte vor Jahren Helen Hayes in Was ihr wollt am Broadway gesehen und fand, nur die Inszenierung des Dramenkanons treffe Shakespeares Humor. Der originellste Aspekt der Produktion war das Bühnenbild von Leo Kerz. Statt die Leichtigkeit des Stücks mit Vorhängen und Kulissen zu stören, stellte er eine Leinwand in die Mitte und drapierte darauf Fischernetze. Er projizierte Dias, die aber nicht etwa Orte zeigten, sondern die Essenz der Szenen. Viele komische Effekte – zum Beispiel wurde Malvolios Kerkerhaft als Schattenspiel hinter der Leinwand umgesetzt.

Montag, 19. März 1945 Tanz bei Madame Piscator. Ich werde besser am Barren, aber die Schrittfolgen sind mir oft zu kompliziert. In Maskenbild scheiterte ich wieder daran, mich als ältere Frau zu schminken. Ich sah zwar weniger abgewirtschaftet aus als letzte Woche, dafür wirkte ich schmutzig. Ich habe daran gearbeitet, bis meine Haut weh tat. In Neue Stücke besprachen wir aktuelle Flops und einen bevorstehenden. Roselyn Weiss, die gerade ihren Abschluss gemacht hat, erzählte von ihren Erfahrungen mit der Titelrolle in Sweet Genevieve, das kurz am Broadway lief. Ich wünschte, ich bekäme auch mal so eine Chance! In Regie gingen wir weiter durch Alexander Deans Buch: wie man Menschen richtig führt, indem man Betonung und Fokus im Blick behält. Herr Piscator kann uns so viel beibringen, so viel Wissen vermitteln, dass es schade ist, unsere Stunde auf Herr Deans technische Manipulationen zu verwenden. 97


Dienstag, 20. März 1945 Regiebesprechung mit dem üblichen Geschimpfe und Aufgabenverteilung für Lope de Vegas Fuente Ovejuna. In dieser Stunde und später in Theaterforschung las Herr Piscator den Brief des Soldaten Gilbert Seymour vor, einem früheren Studenten am Dramatic Workshop. Vom Schlachtfeld aus schreibt er über die Weite, darüber, wie begrenzt und verdreht die Perspektive jener Menschen ist, die von der Welt nichts gesehen, die in keiner Schlacht gekämpft haben. „Wie weit weg ich doch bin vom Kampf der Welt! Ich freue mich über Nachrichten aus dem Radio, wenn es heißt, der Sieg komme näher. Ich jubele, aber ich spüre diese großen Dinge nicht. Peinlich, es zuzugeben, aber es ist zu weit weg.“ Auch Seymour hat das Epische Theater nicht verstanden, aber auf dem Schlachtfeld erlebte er, dass die Welt und die riesigen Probleme, die sie ausmachen, das Theater antreiben. Wenn er nicht zu einem Theater zurückkehren könne, auf dem solche Ideale etwas bedeuten, sagt er, zu einem Theater mit Sinn, dann werde er die Branche wechseln, er werde dahin gehen, wo in seiner Zeit etwas zu bewegen sei. „Der Krieg lehrt Edelmut“, sagte Piscator; ich denke, da liegt er falsch. In unserer Diskussion über Was ihr wollt schlichen sich Vergleiche ein (Piscator hasst das). In der Bibliothek spielten Nisha Rosenberg und ich eine Szene zwischen Manuela und Frau Birnberg, es war eine Szene aus Mädchen in Uniform. Sie hat nicht die Qualität eines großen Dramas – oder mir fehlen dabei Poesie und Größe der Klassiker, mit denen wir uns gerade so viel beschäftigen. In Bühnenbild sah Herr Kerz unsere Hausaufgaben durch. Die viele Zeit, die ich damit verbracht hatte, war nicht ganz umsonst. Die anderen haben es falsch gemacht und ich lag richtig, sagte er, und gab uns unsere Zeichnungen zurück. Er zeigte uns, wie wir es hätten machen sollen, wie man also einen Grundriss und eine Ansicht der Aufbauten zeichnet.

Mittwoch, 21. März 1945 Stimmbildung, bei der viele wunderbare Gedichte verhunzt wurden. Tanz bei Madame Piscator. Ich bin überrascht, dass mein Fortschritt sich so gar nicht auf Haltung oder Bewegungen außerhalb des Unterrichts auswirkt. Vielleicht bin ich zu ungeduldig, wenigstens meine Bewegungen sollten geschmeidiger werden. Vielleicht bin ich 98


zu müde und mein Körper hat nicht die Chance, anmutig zu sein, und jetzt muss ich noch härter an Fuente Ovejuna arbeiten. Ich habe für einige Rollen vorgesprochen, bisher ohne Erfolg. Ich fürchte, Fräulein Montemuro hat dafür gesorgt, dass ich nicht besetzt wurde. Schauspielunterricht mit Fräulein Wyler. Zuerst arbeiten wir an Happy Journey. Diesmal durfte ich den zehn Jahre alten Arthur spielen und war mit der Rolle vollkommen ausgefüllt. Steffi spielte die Mutter und Fräulein Wyler fiel auf, dass ich sie gut anspielte. Nur mit Alice, der Katze, gab es ein Problem, ich ärgerte sie nämlich wie ein Mädchen und nicht wie ein Junge. Danach improvisierten wir eine Szene um einen Anruf. Einer fragt den anderen, ob er das Telefon nutzen dürfe, es wird aber nicht erlaubt. Wir probierten verschiedene Figuren und Geschichten aus. Zuletzt spielten Steffi und ich die Szene als Drama. Meine Freundin will mein Telefon benutzen, ich lehne ab, weil mein betrunkener Vater im Haus ist, weshalb ich sie nicht hereinlassen kann. Als sie mir sagt, warum es dringend ist, bin ich gerührt und erkläre ihr, warum sie nicht hineinkann. Weil ich Improvisation grundsätzlich schwierig finde, spielte ich übertrieben dramatisch. Als Vorbild für den Vater nahm ich den betrunkenen Dichter Pancho, ich spielte ein Kind, das seinen Vater liebt und sich zugleich für ihn schämt. Liebe und Scham empfand ich viel zu intensiv. Um mir das einzugestehen, muss ich nur mein verrücktes Tagebuch aus dem letzten Jahr anschauen. Ich lerne daraus, dass man auf der Bühne manche Gesten und Reaktionen übertreiben oder größer zeigen muss, andere sollten kleiner, feiner und konzentrierter sein. Auch habe ich es mal wieder zu poetisch, zu schön gemacht. Um zu beweisen, dass ich das kann, habe ich mir geschworen beim nächsten Mal etwas vollkommen Unpoetisches vorzusprechen. Wenn ich tragisch spiele, bin ich versucht, die echte Tragödie schön zu machen, ich ziele immer zu sehr darauf, das echte Leben schön zu machen. In Stil im Wandel der Zeit verglichen wir Brueghel, Rubens und Van Dyck, die flämischen Meister des 17. Jahrhunderts, mit ihren Zeitgenossen Rembrandt und Velázquez. In Der Blindensturz und Die Heuernte neigt Brueghel zum Moralisieren. Wir verglichen den detailreichen großen Bethlehemitischen Kindermord mit Rubens‘ Gemälden zum gleichen Thema. Brueghels Bilder sind hell, lebendig und intensiv, während Rubens‘ schwere barocke Linien kaum einen emotionalen Effekt haben. 99


Als wir Brueghels Christus vertreibt die Geldwechsler aus dem Tempel mit El Greco verglichen, kamen wir zum selben Ergebnis. Brueghel zeigt keine gegensätzlichen Kräfte, sondern eine Gruppe urwüchsiger, grober, alltäglicher Leute, als Gegensatz zum Geistigen und Heiligen. Seine Kreuztragung Christi ist ein Panorama, ein Fest aus Menschen und Details, die nichts mit der kleinen Christusfigur zu tun haben: Es zeigt die Indifferenz der Menschen gegenüber dem Ereignis. Was Rubens angeht, so erregen seine üppigen obszönen Frauen nicht gerade meine Bewunderung. Van Dyck halte ich dagegen für einen wunderbaren Künstler. In seiner Zeichnung Drei Köpfe Schwarzer Menschen verbindet sich ausgezeichnete Technik mit Modernität. Stimmbildung. Ich konnte nicht anders, als mich mit anderen Dingen zu beschäftigen – Stimmbildung ist für mich Zwang –, worauf mich Fräulein Montemuro verständlicherweise aufforderte, den Unterricht zu verlassen. Am liebsten würde ich gar nicht mehr hingehen, aber … In Geschichte und Soziologie des Theaters sprachen wir über die Psychologie des Schauspielers. Wir verwendeten die ganze Stunde darauf, psychologische Typen zu entwickeln, denen wir dann Schauspieler zuordneten. Wir sprachen über introvertiert und extrovertiert und kamen zu dem Schluss, aus naheliegenden Gründen seien fast alle Schauspieler extrovertiert, und Dr. Zucker meinte, es gebe kaum jemanden, der nur extrovertiert sei, so jemand wäre wohl unausstehlich. Sidney Schwartz meinte, er sei ausschließlich extrovertiert, und Dr. Zucker versicherte ihm, dies träfe nicht zu. Wir kamen auf vier Gruppen, gaben für jede ein Beispiel: der Choleriker, der impulsive, aggressive Typ wie LaGuardia und Toscanini; der Phlegmatiker, unemotional, zum Beispiel Joe Louis; der Sanguiniker, schlagfertig wie Roosevelt und Wilkie; der Melancholiker, der Name sagt es schon, ein Beispiel ist der späte Nijinski. Ein Schauspieler mag in eine dieser Kategorien gehören, spielen können muss er alle. Im Kostümbild hatte uns Herr Kerz Hausaufgaben aufgegeben. Ich habe stundenlang in der Bibliothek des Metropolitan Museum zu Togen recherchiert. Schließlich fand ich ein Modell, das ich als Cocktailkleid hätte adaptieren können, aber Herr Kerz fand das altmodisch. Danach sprachen wir über mittelalterliche Kleidung. Zu der Zeit wurde Kleidung zum ersten Mal der menschlichen Körperform angepasst. Orientalischer Einfluss und orientalische Stoffe, schwere 100


Brokatstoffe passten zur schweren gotischen Architektur. Tuniken, doppelte Ärmel und Pelzjacken machten Kleider teuer und prunkvoll und die Herstellung war so kompliziert, dass sich der Stil nur langsam änderte.

Freitag, 23. März 1945 Stimmbildung, noch schlimmer als gestern. Wir übten unter anderem mit einem Ausschnitt aus Edna St. Vincent Millays schönem kleinen Gedicht [Nuit Blanche], [bis meine trüben Tränen fallen] „wie Blei in den Staub“. Fräulein Montemuro verhunzte es dermaßen, dass ich einfach nicht mitsprechen konnte und den Unterricht erneut verließ. Wenn das so weiter geht! In Herr Ben-Aris Klasse musste sich jeder eine Improvisation ausdenken, die jemand anderes umsetzen sollte. Meine Idee: Eine Frau erwacht und stellt fest, dass das Haus in Flammen steht; Arla Gild spielte es großartig. Es war eine wirkungsvolle Übung und sie forderte unsere Fantasie heraus. Dann arbeitete Herr Ben-Ari mit Eleanor und Arthur an einer Gefängnisszene. Vor der nächsten Schauspielstunde mit Margrit Wyler schrieb ich das Lied für die Hochzeitsszene in Fuente Ovejuna. Es beginnt so: In Ritters guter Tradition, Kam er die Magd umwerben. Das Mägdlein, ganz in Position, wird rot und fürchtet zu verderben.

Mein Versuch Lope de Vega „weiterzuschreiben“. In der Schauspielstunde spielten wir Verschiedenes, das meiste sehr roh, mal abgesehen von Charlie Colemans Nasenmonolog aus Cyrano de Bergerac und Eleanors falsch interpretierter, aber schöner Julie in Lilioms Sterbeszene. Ich hatte gehofft, ich könne eine Szene aus Having a Wonderful Time spielen, um zu zeigen, dass ich auch unpoetisch und naturalistisch sein kann. Aber Eugene Van Grona war da und ich war froh, dass ich nicht drankam, seine Anwesenheit macht mich nämlich unsicher. In Dramenkanon sah ich die inspirierteste Darstellung, die ich an der Schule jemals erlebt habe. Herr Gassner sprach darüber, wie urwüchsig und rebellisch die späten Elisabethaner und Marlowe waren. Er las uns ketzerische, antiklerikale Texte vor, die man Marlowe zuschreibt. Sie hatten nachvollziehbarerweise dazu geführt, dass er bis 101


zu seinem Tod in Haft blieb. Als Nächstes erlebten wir eine von David Weiss klug gekürzte Version von Marlowes Doktor Faustus. Charles Zimmermans Darstellung des Faustus hat mich tiefer berührt als alles, was ich bisher gesehen habe. Mephisto war – wie Barbara Sissons ihn spielte – ein bemitleidenswerter Teufel. Der konventionelle männliche Teufel ist also nicht die einzige Option. Barbara war sehr überzeugend, vor allem in der Passage „unglückselige Geister, die mit Luzifer sich gegen Gott empört – mit Luzifer verdammt auf ewig“ schlug das Pathos des Bösen kräftig zu. Die Engel waren entweder zu gut oder zu böse, also genau richtig. Garence Garie spielte Marlowes guten Engel, während Estelle den bösen in einem roten Abendkleid modern interpretierte. Die sieben Furien erinnerten an eine etwas lächerliche Nachtclub-Revue. Es war unwahrscheinlich, wie Charles Zimmerman die emotionale Dimension der Rolle meisterte. Faustus‘ Schlussmonolog brannte wie ein Scheiterhaufen, ich kann gar nicht beschreiben, wie erschüttert ich war. Die Zeilen folgten aufeinander wie Schläge. Und das Verstreichen der Zeit so schmerzhaft wie das langsame Herausreißen von Faustus‘ Seele in seinem letzten unerträglichen, unvergesslichen Schrei „Mephistopheles!“. Inspirierender kann ein Theatermoment nicht sein. Mehr brauche ich nicht.

Samstag, 24. März 1945 Als ich an der Bühne für Fuente Ovejuna arbeitete, habe ich zum ersten Mal verstanden, aus was ein Bühnenbild besteht. Wir hämmerten und sägten und ich lernte die Stichsäge kennen. Was für eine geniale Erfindung! Ich arbeitete den ganzen Morgen damit, bis ein Kollege sie kaputtmachte. Wir arbeiteten für eine Studentin, die Bühnenbild im Hauptfach studiert und schon einiges an Erfahrung hat. Sie war an der Goodman-Memorial-Theaterschule, die nach ihren Worten zwar sehr gut ausgestattet ist, wo es ihr aber an Idealismus fehle, weshalb dort wenig passiert. Der progressive Geist der New School, ihre junge und idealistische Theaterauffassung haben sie angezogen. Wie befriedigend es doch ist, ein Bühnenbild zu bauen, du hämmerst und nagelst und siehst, wie es vorangeht. Nach der morgendlichen Arbeit wollte ich bei der Probe zusehen. Als Margrit Wyler mich fragte, ob ich bei den Gruppenszenen mitmachen wolle, war ich natürlich begeistert. Ich schrieb noch ein Lied, leider nicht gelungen, dann ging ich auf die Bühne. Ich habe nichts dagegen, bei Massenszenen mitzuspielen – au contraire, ich denke 102


an Piscators alten Spruch: „Es gibt keine kleinen Rollen, es gibt nur kleine Schauspieler.“

Sonntag, 25. März 1945 Fuente Ovejuna Probe. Ich spiele ein Bauernmädchen und habe sogar ein bisschen was zu spielen. Ich habe einen festen Spielkameraden, Pedrito, und habe die Rolle der jungen Manuela Malina zur Figur ausgebaut (selbst erfunden). Piscator sah sich die Probe an, machte ein paar Korrekturen und erklärte uns Stück, Inhalt und Bedeutung. Lope de Vegas Fuente Ovejuna erzähle nicht die Geschichte eines Individuums, sondern die eines Volkes. Die Geschichte der Stadt Fuente Ovejuna sei ein Drama des Volkes gewesen. Die Russen bezeichneten das Stück als „erstes proletarisches Drama“. Piscator inszenierte die Szenen, in denen die Massen „mit großer Sorgfalt und Intelligenz agierten, damit wir verstehen, dass wir nicht nur Statisten sind, sondern historische Wahrheit“.

Montag, 26. März 1945 Tanzunterricht mit Madame. Die Arbeit im Unterricht fällt mir leichter, ich hatte erwartet, meine Fortschritte würden sich auch auf meine Bewegung außerhalb des Unterrichts auswirken. Vielleicht bin ich zu ungeduldig. Was die Maske angeht, gelingt mir jetzt endlich ein akzeptables Make-up für eine mittelalte Frau. Ich sehe nicht mehr „eingefallen“ aus und kann jetzt hoffentlich in Würde altern. In Neue Stücke sprachen wir über Produktionskosten. Am Beispiel von Was ihr wollt überschlugen wir die Ausgaben. Wenn wir davon ausgehen, dass das Bühnenbild außer dem Honorar für den Bühnenbildner nichts kostet, kommen wir auf die fantastische Summe von mindestens 30 000 Dollar. Da fragt man sich: „Was stimmt nicht mit dem Theater?“ Wir probten Fuente Ovejuna in einer kleinen Wohnung an der 6th Avenue und Achten Straße, legten die letzten Szenen an und hatten unseren Spaß. Ich verließ die Probe, wollte den Regieunterricht nicht verpassen, aber Herr Piscator war gar nicht da. Chouteau arbeitete an einer Szene aus Deans Buch, es gab mehrere Nebenstränge: ein Boxchampion in verschiedenen Stimmungen, der Sieger und die Menge, der Verlierer und der aufgeregte Autogrammjäger. Nach dem Unterricht redete ich auf dem Weg zur 62. Straße mit Eugene Van Grona. Er erzählte mir, wie er eine Rolle angeht. Er kam 103


als Tänzer an die Schule, hatte keine Ahnung von Schauspiel, konnte auch nicht richtig sprechen. Ein ganzes Jahr lang hat er intensiv daran gearbeitet. Für romantische Rollen kam er nicht in Betracht (körperlich würde er passen, er bekam immer Rollen für Männer mit großen Nasen) und probte Herzog Orsinos Part und als Was ihr wollt wieder inszeniert wurde, bekam er die Rolle des Malvolio. Er hatte gebeten, auch den Orsino vorsprechen zu dürfen. Als es so weit war, hatte er jeden Vers, jede Geste vorbereitet, kannte die Rolle auswendig und lebte sie. Mein Herz hat seine Version des romantischen Orsino auf jeden Fall erobert.

Dienstag, 27. März 1945 In der Regiebesprechung versuchten wir uns zu Teams zusammenzutun, kamen aber wieder zu keiner Entscheidung, vor allem, weil Herr Piscator nicht da war. Auch im Fach Theaterforschung vermissten wir ihn. In der Diskussion über Doktor Faustus fehlte sein Vorgehen. Charlie Zimmerman schockierte uns mit dem Bekenntnis: „Erstens habe ich das Stück gar nicht gelesen.“ Kaltschnäuzig sagte er, sein Spiel folge der Inspiration des Augenblicks. Herr Piscator wäre darüber sehr ärgerlich, allerdings hat er die Vorstellung ja nicht gesehen. Sofern Charlie sich tatsächlich auf Inspiration verlassen hat, war sie treffsicher und wirkungsvoll. Nach dem Unterricht probten wir Fuente Ovejuna bis zum Bühnenbildunterricht. Weil ich Leo Kerz unbedingt beweisen will, wie ernst ich die Arbeit nehme und weil ich alles gebe, habe ich so lange an meiner Hausaufgabe gearbeitet, bis ich ein derart ausgefeiltes Ergebnis hatte, dass es seine Aufmerksamkeit erregte. Er sagte, er „schätze die Arbeit, die Sie aufgewendet haben, aber es ist (natürlich) nicht richtig“. Es war richtig, entsprach aber nicht seinen Vorgaben. Ich erkannte meinen Fehler. Als es um die Unterschiede zwischen Grundrissen und Entwürfen eines Innenarchitekten ging, wurde der Unterricht schwierig.

Mittwoch, 28. März 1945 Stimmbildung ließ ich ausfallen, die Probe überschnitt sich auch mit dem Tanzunterricht, sodass ich viele Unterrichtsstunden verpasste, Fuente Ovejuna hat Vorrang. Im Schauspielunterricht hatte ich gerade noch Zeit vorzusprechen, bevor ich zum Seder ging. 104


Statt Having a Wonderful Time spielte ich eine Szene aus Irwin Shaws The Gentle Hope. Fräulein Wyler war sehr zufrieden. Ich habe es geschafft, auf dem Boden zu bleiben und ganz in der Rolle zu sein. Wenn es mir jedes Mal gelingt, eine Rolle so zu durchdringen, habe ich mein Ziel erreicht. Während des Vorsprechens passierte noch etwas Ermutigendes: Ich hätte beinahe wieder gelacht, aber weil ich ganz in der Rolle und in der Situation war, konnte ich das abwenden. Mich ganz zu fokussieren, hilft mir auch in dieser Hinsicht, sagte Fräulein Wyler.

Donnerstag, 29. März und Freitag, 30. März 1945 Wegen Pessach abwesend.

Samstag, 31. März 1945 Probe mit Herr Piscator. Nächste Woche will ich während Herrn Piscators Proben wenigstens ein bisschen was mitschreiben. Er gibt uns so viel mit und ich vergesse es, leider.

Sonntag, 1. April 1945 Probe. Ich sage jetzt einen Satz, eigentlich nur ein Wort. Wenn mein kleiner Spielkamerad gefoltert wird, soll ich „Pedrito!“ schreien. Ich freue mich so darüber, daraus kann ich etwas machen. Ich fühle mich als Teil des Stücks. Die Proben nehmen mich natürlich in Beschlag, es gibt so viel, was ich mir ausdenken, gestalten, formen kann. Es ist so erfrischend, ohne Rolle zu spielen. Die Rolle besteht darin, dass ich auf der Bühne stehe, auch wenn ich nicht spreche. Ich habe verstanden, warum es keine kleinen Rollen gibt.

Montag, 2. April 1945 Als ich heute früh kam, um am Bühnenbild zu arbeiten, war noch niemand da. Deshalb erlaubte Fräulein Wyler Steffi und mir, an ihrem Schauspielunterricht teilzunehmen. Joan, eine junge Kanadierin mit klarer Stimme, spielte Portias Gesuch um Gnade ohne Überzeugung und ohne Idee. Als sie die Szene mit Hal Tulchin improvisierte, überraschte mich die Leichtigkeit seiner Improvisation. Jo Deodato trug etwas aus Clifford Odets Waiting for Lefty vor. Ich bilde mir ein, ich könnte das besser, sie spielten zwar intelligent, aber es fehlt das Gespür für Wahrheit. Momentan probe ich hauptsächlich und habe kaum Unterricht, in der Folterszene rief ich „Commendador“ und ich schrie, bis der 105


abendliche Regieunterricht begann. Eine der besten Stunden überhaupt. In Deans Buch kamen wir zum Kapitel der Verbildlichung, Herr Piscator sorgte dafür, dass die Stunde Gewicht hatte. Wir definierten Verbildlichung und machten Übungen dazu. Ein Regiestudent und ich spielten verschiedene Szenen diverser Beziehungen. Ich wurde zuerst als Tochter beschimpft, dann als Ehefrau. Andere Gruppen erarbeiteten verschiedene Szenen, bis wir zum Thema „Abschied“ kamen. Herr Piscator redete lange über Arten, sich zu verabschieden. In seinem leichten, humorvollen Ton sagte er: „Tschüss, ich geh dann mal zur Apotheke“, und antwortete sich selbst: „Auf Wiedersehen.“ Es folgte eine Serie von Abschieden: vor einem Spaziergang, einer Reise über Nacht, einer Woche in Washington, einer Schiffsreise nach Europa und dann sagte er: „Jetzt kommen wir zum letzten großen Abschied, der Beerdigung. Zwischen dem Weg zur Apotheke und der Beerdigung gibt es alle möglichen Abschiede, manche Schauspieler spielen die Apotheke wie die Beerdigung und die Beerdigung wie die Apotheke.“ Der Schauspieler findet dazu nichts im Text, hierfür brauchen wir Bilder. In der Art, wie er die Hand schüttelt, in die Linie des Körpers müsse der Körper des Schauspielers die ganze Geschichte des endgültigen Abschieds legen. Herr Piscator trat vor meinen Stuhl, lehnte sich weit vor und streckte den Arm so weit aus, dass es beinahe weh tat, und er fixierte mich derart intensiv, als wolle er jedes Atom meines Gesichts wahrnehmen. Als ich ihm meine Hand gab, spürte die Klasse die Endgültigkeit, die harsche Trauer. Es war einer der seltenen Momente, in denen dich ein Künstler derart gefangen nimmt, dass die Situation echt wird. Für mich war das bedeutsam. Wir arbeiteten an Deans Abschiedsszenen. Ein Junge geht zur Apotheke oder zur Schule, während ich, seine Mutter, einen Teig anrühre. Hal spielte den Sohn nonchalant. Wenn der Sohn den Kriegsdienst antritt, wird es schon schwieriger. Eugene Van Grona spielte die Szene mit uns. Hal und Eugene geben einander die Hand, während ich an einer Schulter weine. An wessen Schulter, das war die Frage. Wir versuchten es mit beiden, bemerkten den Fehler – wir hatten nicht festgelegt, wer den Sohn spielt. Ich war ganz durcheinander (Gene mit zartem Parfum) und wusste nicht mehr weiter. Herr Piscator kam hinzu und zeigte uns, wie man das macht. Es folgten zwei Szenen aus Was ihr wollt, in einer spielte Eugene Malvolio, in der anderen den Herzog. Die Malvolio-Szene war die, in 106


der der Ring überreicht wird. Hoffentlich kann ich eines Tages Viola spielen. Gene war glänzend als Herzog, allerdings kritisierte Herr Piscator seine sitzende Haltung als „unköniglich“, Größe sei durch vornehme Haltung darzustellen, er bemerkte auch noch: „Interessant, dass er Tänzer ist.“ Letzte Woche erzählte mir Gene, als er angefangen habe mit Schauspiel, sei er derart „bewegungsfixiert“ gewesen, er habe sich anstrengen müssen, an etwas anderes zu denken. Vielleicht kann ich lernen, weniger poetisch zu sprechen. Priscilla Draghi spielte die Schlafzimmerszene mit ihm und war sehr charmant, Herr Piscator aber meinte, sie solle ihre Liebe dann zeigen, wenn er es nicht bemerke. Wenn sie ihm die Stiefel ausziehe. „Stell dir vor, es wäre sein Fuß.“ Ich weiß, dass ich das spielen könnte. Wie Gene sagte: „Ich werde mich vorbereiten“ – und es im nächsten Jahr versuchen. Ich habe also ein ganzes Jahr Zeit.

Dienstag, 3. April 1945 In Theaterforschung sprach Herr Piscator zwei Stunden lang über sein „politisches Theater“. Ein ungeheuer inspirierender Vortrag. Ich habe versucht, das Wesentliche aufzuschreiben: Man kann Kunst als eine schöne Lebensaufgabe betrachten, auch, wenn sie das Leben nicht kritisch befragt. Wir fragen zunächst, wofür wir Kunst nutzen sollten, und kommen zu der Frage: „Wofür sollten wir das Leben nutzen?“ Können wir auch im Leben vorankommen oder ist Fortschritt nur durch bestimmte wissenschaftliche Entdeckungen möglich? Ist der Mensch klein oder groß? Zu welchem Zweck hat er etwas erschaffen, das größer ist als er selbst, für irgendein X, für irgendeinen Gott? Wir sterben als 70jährige Kinder. Wir erobern nichts. Die Kunst erobern wir aus dem Weltall heraus, aus dem, was im Menschen größer ist als er selbst. Die Kunst durchbricht Mauern, sie erreicht Winkel, in die nicht mal unsere Gehirne vordringen. Was ist Genie – eine Krankheit, eine Deformation des Individuums? Genie und Irrsinn, ein schmaler Grat. Lenin hat die Idee eines Gottes infrage gestellt. Wir sind zum Sichtbaren zurückgekehrt. Wir wissen, da ist noch mehr, aber aus dem, was wir sehen, können wir etwas machen: Gesellschaft, Gerechtigkeit, Kriege beenden. Werden wir Menschen jemals erreichen, was wir uns seit Platon, seit Christus vorgenommen haben? Die Zweifler fragen: „Woher kommt die Butter auf meinem Brot?“ Sieger 107


sind immer die Mächtigen, diejenigen, die Kriege anzetteln, die anderen sind „die Masse“. Kunst, um der Kunst willen und Kunst, die ein Ziel verfolgt, gehen von derselben Frage aus: „Können wir vorankommen oder treiben uns unbekannte Kräfte an, sind es Christi fantastische Lehren, ist es Gott oder die Bibel, dieses revolutionäre Buch? Von der Apotheke bis zur New School, überall ist Verrat. Im fantastischen Vatikan trägt der Papst gute Kleider. Christus ist der Bestseller, der ewigen Frieden fordert. Mit einem einzigen Schuss töten wir Tausende. Die Realisten sagen, wenigstens stehen wir auf der richtigen Seite. Alle kannten Iowa, Iwo Jima kannten sie nicht. 4000 Männer starben und jetzt kennen wir Iwo Jima. Das ist Fortschritt. Die Kreuze in Strasbourg sind Fortschritt. Im letzten Krieg starben 13 Millionen, in diesem sind es vielleicht 30 Millionen! Fortschritt? Hinter all dem, die XYZ-Macht, Gott. Die Venus von Milo und Parsifal liegen achtlos im Dreck. Was also ist das für ein Fortschritt! Für die Realisten steht die Kunst über dem Leben. Die Menschen sollen aus dem Dunkel treten, in Museen und Theatern sollen sie Schönheit und Kunst sehen. Und kehren in den Dreck zurück. Gegen den Dreck kann man nichts machen. So reden die Realisten. Andere aber sagen, wir dürfen Kunst und Leben nicht trennen. Das Leben ist Kunst. Gestalten wir das Leben als Kunst, bis wir keine Kunst mehr brauchen. Man kann Kunst auch als Entschuldigung für unsere Fehler betrachten. Der menschliche Geist kann, im Extremfall, grandiose Manifestationen seiner selbst errichten, Kathedralen, die Akropolis. Heute können wir die Säulen der Akropolis nicht mehr errichten. Die Bank von Griechenland in Athen ist zwar im Maßstab der Akropolis erbaut, nur fehlt es ihr an Geist, es fehlt an der Harmonie zwischen Geist und Technik. Genau wie die Religion, haben wir auch die Kunst zu etwas Besonderem ernannt. Religion wurde zu einer Institution und der Geist flog davon. Der Geist flog davon, als wir Kunst von Gesellschaft trennten. Können wir die Gesellschaft konstruieren wie einen Acht-ZylinderMotor, gelingt das, wenn wir verstehen, wie die einzelnen Teile funktionieren? Gelingt das, ohne das Spirituelle zu berücksichtigen, das dem menschlichen Glück zugrunde liegt? Spiritueller Sinn, Entfaltung und Intelligenz. Wir brauchen Kunst, um das unvollständige Leben zu heilen. Zuerst aber brauchen wir die Gesellschaft, wir 108


brauchen Sicherheit in der Gesellschaft. Durch die Nation und durch das Selbst perfektionieren wir die Welt und darauf müssen wir in unserem Theater reagieren. Politisches Theater ist künstlerisches Theater. Manche sagen, Theater sei keine Kunst, sondern ein programmatisches Medium. In Musik oder Malerei kann man abstrakt sein oder schlicht schön. Theater aber steckt voller Gedanken, jedes Wort öffnet eine Welt der Gedanken, jedes Wort befragt die Gedanken. Das künstlerische Theater war immer mit Denken verbunden, es hat immer nach Wahrheit gesucht. Deshalb ist das künstlerische Theater immer politisches Theater gewesen. Aus Theater wird, manchmal unbewusst, Politik. Die Kommunisten in Russland haben kürzlich das Theater bewusst genutzt, um zwei Seiten darzustellen, das Gute und das Schlechte, um Probleme darzustellen und Lösungen vorzuschlagen. Negatives zu vermeiden, bedeutet noch nicht, dass man Positives schafft. Wie können wir das Positive erschaffen? Nach dem schrecklichen Krieg von 1914 bis 1918 begann der Kampf um Klarheit und so entstand unser politisches Theater. Reinhardt machte weiter schönes Theater, wir aber kehrten ins Theater zurück, um zu kämpfen. Theater ist auch Opium fürs Volk – Musicals, sogar die Klassiker, sind wie die Kirche, die wahre Religion hinter Zeremonien versteckt. In jeder Stadt gibt es drei lebendige Gebäude: die Kirche, die Kneipe und das Theater. Wir müssen Kunst schaffen, die bewusst ist. Und uns klar werden, wie Lear im Sturm, wo seine revolutionären Schreie ungehört verhallen. Nur ein einziges Mal, in Brüssel, hat eine Revolution im Theater ihren Anfang genommen. Im Théâtre Royal de la Monnaie wurde La Muette de Portici gespielt und das Publikum stürmte aus dem Theater und begann die Revolution, mit der Belgien sich von den Niederländern befreite. Heute sind uns nicht nur die hohen Kartenpreise im Weg, es fehlt auch der Verstand, der ein Theater des Volkes umsetzen könnte. Geld, Ideologie und Ideen befinden sich in den Händen einer anderen Klasse und inmitten all dieser Dummheit herrscht auch noch Krieg. Kunst, bewusste Kunst, politische Kunst, muss dringend auf Veränderung abzielen. Hier kämpft eine Seite für gesellschaftliche Veränderung und die andere hat keinen Bedarf. 109


Kunst entsteht nicht, um der moralischen Verpflichtung dessen zu entsprechen, was Kunst sein soll. Weil er so funktioniert, überrumpelt der Propagandafilm den Intellekt mit Emotionen. Um verstehen zu können, müssen wir objektiv bleiben. Wenn wir uns hineinziehen lassen, hören wir auf zu denken. Kriegsfilme verstören uns mit den vielen Toten, die am Ende daliegen, und dann kriegt der Held doch wieder das Mädchen. Um das Publikum ins Handeln zu bringen, muss man die Ursachen von Krieg darlegen. Romain Rolland sagte: „Taten entspringen aus einem Spektakel von Taten.“ Politisches Theater ist dazu da, das Theater von der politischen Debatte zur politischen Tat zu führen. Wir zetteln keinen Aufstand an, wir bewegen uns nicht. Jegliches Handeln in der Welt beginnt in diesem Raum. Diese Tatsache müssen wir uns vergegenwärtigen. Dann erobert Kunst die Kunst, denn unsere Kunst ist in unserem Leben, sie ist keinesfalls etwas, das außenvor bleibt. Mithilfe von Weisheit machen wir Eroberungen und wir bringen die Kunst zur Schönheit zurück. Darum geht es: Für mich ist politisches Theater das einzige künstlerische Theater. Manche halten wenig vom künstlerischen Theater. Warum sich eine Liebesgeschichte ausdenken und sie dann mit irgendeiner sozialen Bedeutung aufladen? Nein, wir müssen uns einen Fall vornehmen, ihn erklären, uns darauf beziehen. Das Epische Theater braucht keine Erklärungen, es enthält alles. Das Wort „Politik“ entstammt dem griechischen Wort „polis“ und bedeutet „die ganze Stadt“ mit ihrer ganzen Umgebung. Alles, was passiert, hat mit dem Fall zu tun. Das geht über einen Plot hinaus. Ich habe alles genutzt, was mir zur Verfügung stand. Ich habe gesagt, dass der Schauspieler etwas zeigen soll, er muss Filme, Bühnenbild und das Publikum nutzen, um die Aussage der Geschichte zu zeigen. Emotion, die aus dem Denken kommt, wie in Nathan der Weise. Wir stehen nicht mal am Anfang eines solchen Theaters. 1892: Die Weber 5. 1890: Naturalismus, Zola, Antoine. In Russland: Tolstoi lehrt mit seinen Stücken. Die Früchte der Aufklärung, Schiller. In der Französischen Revolution ist das Theater an seinem Auftrag gescheitert. Das sind die Ahnen unseres politischen Theaters. In ––––––––––––––––– 5

Am 3. März 1982 wurde durch das Berliner Polizeipräsidium ein Aufführungsverbot erlassen. Erst am 25. September 1894 erfolgte die erste öffentliche Aufführung am Deutschen Theater Berlin. .

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zweifacher Hinsicht müssen wir uns mit Theater befassen – technisch und inhaltlich. Uns mit unserer Gegenwart zu befassen, bringt uns zum Problem des Inhalts, und dieses Problem führt uns vielleicht zur Größe. Wer nichts will, stellt auch nichts dar. Wir sind so groß wie unsere Ziele. Kunst gedeiht nur im Licht des Idealismus. Die alten Griechen nannten es „die Perfektion“. Wenn du mit deiner Kunst nicht verheiratet bist, ist deine Kunst tot. Sei der Kunst so treu wie ein Priester.

Was müssen wir tun, dass wir einen solchen Lehrer verdienen?

Mittwoch, 4. April und Donnerstag, 5. April 1945 Zwei Tage abwesend wegen Pessach und um den Vortrag zu verarbeiten.

Freitag, 6. April 1945 Erste Hauptprobe Fuente Ovejuna. Meine Abwesenheit war kein allzu großes Problem, denn (aus Aberglauben traue ich mich kaum, es zu sagen) es scheint gut zu laufen. Herr Piscator ist natürlich nicht zufrieden, findet es aber akzeptabel. Der Durchlauf dauerte von zehn Uhr morgens bis zur Vorlesung Dramenkanon um acht Uhr. Das Stück kam uns endlos vor. Statt Gassner sprach Paolo Milano über das spanische Theater. Er redete hauptsächlich über Lope de Vegas Leben. Dieser Mann, vielleicht ein Genie, war als Schriftsteller produktiv, auch als Lebemann, Liebhaber und Vater. Er schrieb ungefähr 2800 Stücke und hatte fast ebenso viele Liebschaften. Schließlich wurde er Priester und starb, wie Dr. Milano es ausdrückte, „in den Armen der heiligen römisch-katholischen Kirche“. Ich konnte nicht bis zum Ende bleiben, weil ich zur Probe musste, die bis drei Uhr morgens dauerte. Meine Stimme ist am Ende, weil ich so oft „Fuente Ovejuna“ geschrien habe und von der Erschöpfung durch harte Arbeit. Aber Herr Piscator, dieses Wunder an Energiereserven, führte so lebhaft Regie, dass seine 20-jährigen Studenten kaum hinterherkamen.

Samstag, 7. April 1945 Vor der Vorstellung Probe im Kostüm ohne Maske. Das Stück ist noch wackelig, wir müssten weiterproben, aber es geht nicht. Bei der Fotoprobe kam ich mir dämlicherweise professionell vor. Nur eine halbe Stunde zwischen Probe und Vorstellung. Mutter rief mich an, sehr auf111


geregt schlang ich in der Waldorf-Cafeteria ein paar Makkaroni herunter, unter dem Mantel das Kostüm, komische weiße Baumwollstrümpfe und Mokassins. Dann zum Theater, wo uns gesagt wird, dass unser Make-up zu hell sei. Also mischten wir Max Factor Nr. 8 und 7, bis mein Hautton dunkelrot war, beinahe zu spanisch. Die Hauptdarstellerin Vicki Paul war nicht halb so nervös wie ich, Harriet Charney, der zweitwichtigsten Figur, war übel, der Hälfte des Ensembles ging es ebenso. Am Anfang reagierte das Publikum relativ schwach, ich erwartete die Gruppenszenen, als seien es Solo-Parts. Endlich die Begrüßungsszene am Eingang. In meiner Aufregung fiel mir das Rufen leicht, als ich während der Szene still bleiben sollte, wurde es schwierig. Das war der Punkt, an dem mein Schreckgespenst, das nervöse Lachen, sich meldete – ich habe ihm den Hahn abgedreht. Die Hochzeitsszene ging gut und in der Folterszene absolvierte ich meinen Ausruf „Pedrito“ erfolgreich. Meinen künftigen Erfolgen sage ich: „Denk an Katherine Cornell, mit einem Seufzer im Off fing alles an.“

Sonntag, 8. April 1945 Durchlauf und Vorstellung. Bis heute habe ich nicht gewusst, dass man die zweite Vorstellung gemeinhin für die schlechteste hält, weil angeblich die Luft raus ist. Mir kam die Vorstellung um hundert Prozent besser vor, was hauptsächlich am Publikum lag. Gestern fand das Publikum das Stück übertrieben lustig, es lachte sogar während der tragischen Szenen, der Vergewaltigung, dem Tod der Jacinta und während der Folterszenen. Heute gefiel dem Publikum das Stück und es pfiff Harold Dyrenforth aus, für seinen übertriebenen melodramatischen Stil. Ich musste an die lahme Vorstellung für die United Service Organisation von He Ain’t Done Right By Nell in Hampstead denken, bei der Carl und Don Del Rio von den Soldaten ausgepfiffen wurden. Wenn ich das Stück jetzt inszenieren würde, mit dem Wissen, das ich in der kurzen Zeit hier gewonnen habe, wie viel runder, komischer und professioneller wäre das! Wie viel besser wird mein Ansatz erst in zwei Jahren sein. Fuente Ovejuna war eine wertvolle Erfahrung und ich finde es schade, dass es schon vorbei ist. Bei mir ist jetzt die Luft raus. Mein Hals schmerzt, weil ich in meiner Rolle dem Commendador voller Begeisterung zu laut zujubelte und Fräulein Montemuros Warnung vergessen habe, und jetzt bin ich heiser und kann kaum sprechen. 112


Tanzunterricht. Begriffe wie rond de jambe, attitude, plié sind inzwischen Teil meines Vokabulars. Nur tanzen kann ich sie noch nicht richtig. Ein bisschen Unterricht jeden Tag wäre hilfreich oder wenn ich zu Hause üben könnte, aber es ist schrecklich wenig Zeit und der Sommer kommt. In Maskenbild kam es zum Generalstreik. Die meisten Mitschüler klagten, sie hätten ihre Haut mit der Maske für Fuente Ovejuna strapaziert und wollten sie nicht noch mehr belasten. Eine fadenscheinige Ausrede, sie sind zu faul, schließlich arbeiten wir darauf hin, bald eine oder zwei Vorstellungen pro Tag zu spielen. Esther schminkte Helen Braille als 50-Jährige und als alte Frau. Mich interessiert die Maske für mittleres Alter nicht mehr, das kann ich jetzt und muss es nicht mehr üben. Herr Ince spielt jetzt in Neue Stücke die Rolle, in der ich ihn mir bei meinem ersten Treffen schon vorgestellt habe. Er produziert Margret und diskutiert mit uns über Besetzung und Budget. Diese eine Produktion mit zehn Rollen und zwei Varianten von Bühnenbild wird mindestens 50 000 Dollar kosten. Die Kehrseite des Wichtigtuers kam ans Tageslicht, mitsamt den Besetzungsproblemen. Hunderte Schauspieler, die ein Vorsprechen wollen, gut zu behandeln, sei schwierig, klagte er. Die Rolle der Penelope möchte Herr Ince trotzdem mit einer „neuen“ Schauspielerin besetzen, einer jungen Künstlerin eine Chance geben. Von Theater als Geschäft kriege ich einen üblen Geschmack im Mund, jahrelang habe ich bei Genius Inc. und im St.-James-Hotel Klinken geputzt und da roch es immer irgendwie nach billigem verdünntem Gin. Der Weg vom Prosaischen zum Göttlichen bringt mich auf den Regieunterricht, wo wir über Vorgänge im Hintergrund sprachen. Eugene Van Grona inszenierte eine Szene. Nach einer Idee aus Waterloo Bridge ging es um eine Prostituierte und ihren möglichen Kunden. Gene besetzte mich als Mädchen und Lou Guss als den Mann und wir hatten viel Spaß dabei. Eine andere Szene spielte in einem Kaufhaus. Ich war die Verkäuferin, Esther Nighbert spielte eine Ladendiebin, die eine Brosche von meiner Schmuckauslage stiehlt. Sanft, aber bestimmt nahm Eugene sie fest. Dann beschuldigten sechs Leute sich gegenseitig sehr überzeugend des Diebstahls. Wir spielten eine komische Szene aus Was ihr wollt, drei Komiker verstecken sich hinter der Szene und Malvolio findet den Brief. Eugene, der seinen Malvolio für künftige Inszenierungen neu anlegt, tat sich schwer mit der Szene und Piscator hatte an seinem Spiel einiges auszusetzen. 113


Dienstag, 10. April 1945 Regiebesprechung. Endlich habe ich einen Job! Für die Aufführung von Elektra des Euripides bin ich Regieassistentin, da Fräulein Montemuro inszeniert, kann ich nur hoffen, dass alles gut geht. Es ist eine gute Gelegenheit und ich werde mein Bestes geben, Elektra ist allerdings für eine Anfängerin ganz schön schwer. Im Seminar Theaterforschung ging es um Fuente Ovejuna und die Schauspieler sprachen über ihre Rollen. Vicki Paul meinte, sie hätte als Laurencia 20 Pfund schwerer sein müssen. Ich verstehe, was sie meint. Auch Herr Piscator fand, sie sei ein Stadtmensch, habe aber das Mädchen vom Land gut gespielt. Er findet zwar nicht, dass man Rollen nach Typ besetzen solle, ihm ist aber auch klar, dass die schicke schlanke Vicky nicht gerade als Bäuerin prädestiniert ist. Bob Carricart sagte zu seiner Rolle, ein Liebhaber sei nun mal bei allen beliebt und er hoffe, dies gelte auch fürs Publikum, den Liebhaber habe er also locker gespielt. „Ja, sogar als sie gefoltert wurden, lächelten sie so eifrig, dass man Ihre schönen Zähne sah“, ergänzte Piscator. Nur Mengo, von Louis Guss gespielt, passte perfekt in seine Rolle und hat seine Figur gut getroffen. Für jede Bewegung hat Louis eine Motivation gefunden. Als Nächstes sprachen die Gäste über ihre Rollen. Dennis MacDonald hat die große Herausforderung wunderbar gemeistert. Ich habe mit ihm schon mal in Comic Supplement, or, My Mother-in-Law zusammengearbeitet, einem Stück, in dem ich für die American Woman’s Service Organization vor Soldaten spielte (mit wenig Erfolg). Ich bewundere, wie gut er Figuren darstellen kann. In Fuente Ovejuna spielte Dennis zwei Rollen, die zusammengelegt worden waren und den Richter dazu. Die zusammengelegten Figuren waren Gegenspieler, dass Dennis sie vereint hat, war also eine große Leistung. Seine Sorgfalt und Klugheit sind bewundernswert. Dennis ist erst vor zwei Jahren von Iowa nach New York gezogen, alle, die mit ihm arbeiteten, hatten ihm eine große Karriere vorhergesagt. In den zwei Jahren hat er wenig am Broadway gespielt und immer noch kein festes Engagement gefunden, obwohl da kriegsbedingt Männer fehlen. Was wird erst aus mir werden, ich bin weit weniger geeignet fürs Repertoire, nicht so flexibel, weniger attraktiv und zu allem Übel auch noch eine Frau. Ray Hinkley, ebenfalls Gast, gehört in die Kategorie „verwundet in der Schlacht“. Als die Damen des Ensembles ihn „schlachteten“, hat 114


er sich das Handgelenk gebrochen. Er ist Veteran und spielte seine erste Rolle. Er legte zu viel hinein, spielte fast zu intensiv. Piscator kritisierte Harold Dyrenforth in Abwesenheit und meinte, er habe in seiner Darstellung „zu sehr den Nazi-Offizier“ herausgekehrt. Herr Piscator verstand die Rolle „mehr im Stil von Charles Laughton“. Ich stimme in dem Punkt überein, dass Harold die Rolle zu attraktiv spielte, sein Commendador war so charmant, dass man den Frauen ihre Abscheu als schlechten Geschmack auslegte. Nächste Woche geht es weiter mit der Kritik. Dramenkanon mit einer Diskussion über unser Programm zur Commedia dell’arte. Wir diskutierten, ob wir den Commedia-Stil behandeln, indem wir frühere Produktionen satirisch darstellen. Das fing sehr gut an, als Esther Nigbert Krieg und Frieden lustig erzählte. Mit so vielen Talenten in Sachen komischer Improvisation kann unser Programm nur gut werden. Im Fach Bühnenbild zeigte Herr Kerz seine ausnehmend originellen Entwürfe für verschiedene Ballette und Stücke. Für das JoossBallett entwarf er ein sensationelles Bühnenbild im Stil des Living Newspaper für ein Theater in Johannesburg. Am gespenstischen Winterset erkennt man sein großes Talent für das Bildliche. Mir fielen zwei Dinge auf: wie er mit Farbe umgeht und sein Gespür für den Bühnenraum. Wie sein Theatergeschmack sind auch die Entwürfe offen für neue Konzepte, für Freiheit und Ideen. Am Abend nahm mich Adolph mit in die neue Sturm-Inszenierung von Margret Webster, sie ist in vieler Hinsicht brillant, man kann sie zu gleichen Teilen kritisieren und loben. Das Bühnenbild stand auf einer Drehscheibe, deren Möglichkeiten nie ausgeschöpft wurden. Arnold Moss als Prospero strahlte eine leise Kraft aus, die mir beim Lesen des Stücks entgangen ist. Anders als ich es mir für Prospero vorgestellt hatte, war diese Kraft fast ausschließlich geistiger Natur. Und was meine Lieblingsrolle angeht, fand ich Zorina wunderschön als Ariel, es fehlte ihr aber an Poesie. Ihre Sprache war klar und intelligent, über das Aufsagen von Zeilen kam sie aber nicht hinaus. Als ich den Text im Unterricht sprach, war er ernsthafter, technisch war ich aber weniger sicher. Ihr Ausruf „Meine Freiheit!“ war perfekt, ich hatte genau gewusst, was ich rüberbringen wollte, aber es ist mir nicht gelungen. Canada Lee als Caliban grunzte und hopste herum und war mit irgendwelchem Glitzerzeug ausstaffiert, was ich überhaupt nicht ver115


standen habe. Sein Spiel kam nicht an den Bigger Thomas in Native Son heran. Miranda und Ferdinand waren wunderbar in den Rollen, die so wenig hergeben. Die „bösen Männer“ verschmolzen, sodass sie nur als Gruppe agierten, es fehlte an Differenzierung. Der magische Geist des Stücks war nicht da. Ich fürchte, meine kritische Haltung hat mich davon abgehalten, mich auf den Spirit einzulassen. Fräulein Webster packte Prosperos Zeile „Wir sind vom Stoff, aus dem die Träume sind“ ans Ende des Stücks. Erst da und nur da drang die Magie des Stücks zu mir durch. Effekte allein erzeugen noch keine Magie. Es kommt auf gutes Spiel an.

Mittwoch, der 11. April 1945 Stimmbildung. Bis dato habe ich die meisten Stunden verpasst, diesmal bin ich aus zwei Gründen hingegangen. Erstens weil ich Elektra mit Fräulein Montemuro mache, zweitens weil ich meine Stimmbänder mit dem Geschrei nach dem Commendador in nur zwei Vorstellungen ruiniert habe. Sollte ich sieben Vorstellungen mit drei Akten pro Woche spielen, ist meine Stimme nach einer Woche tot. So sehr mir Fräulein Montemuros Methoden auch missfallen, muss ich mir die Kontrolle aneignen, die sie mir beibringen kann. Wir sprachen über Elektra, es ging um die Besetzung. Weil ich das Stück noch nicht gelesen hatte, war das schwierig, ich lese es heute Abend. Tanzunterricht mit meinem üblichen Problem, die Schritte umzusetzen. Madame Piscator sprach mit mir über ein Tanzprogramm und meinte, ich könne eine Erzählung schreiben, auf die sich die Bewegungen bezögen. Das würde ich gerne machen, habe aber noch kein Thema gefunden, ich hoffe Madame Piscator macht einen Vorschlag, den ich ausarbeiten kann. Schauspielunterricht mit Margrit Wyler. Eleanor Epstein hatte den Text von Curleys Frau aus Von Mäusen und Menschen, für die experimentelle Show habe ich auch schon mal damit gearbeitet. Irgendwie überzeugte sie in der Rolle ebenso wenig wie ich. In Improvisation mit Arthur Greene ging es darum, aus jeder beliebigen Situation eine Farce zu machen. Sein Talent zur Karikatur ist tatsächlich enorm. In einer einfachen Szene bewies Evelyn Bigge natürlichen Charme und Offenheit, mehr Talent kam noch nicht zum Vorschein. Arla übertrumpfte wie immer alle mit der Leichtigkeit ihres Spiels, das fast schon zu echt ist. Für nächste Woche soll jeder eine Szene vorbereiten. Ich wage mich an Viola heran, allerdings unter großen Bedenken. Im Hinblick auf die 116


für nächstes Jahr geplante Produktion Was ihr wollt will ich damit unbedingt Eindruck machen. Meine Chance die Rolle zu bekommen, ist gering, aber es schadet nicht, sie einzustudieren. In Stil im Wandel der Zeit ging es um Frankreich im 18. Jahrhundert und Dr. Zucker gelang das Meisterstück uns beizubringen, wie man die Stile der verschiedenen Ludwige auseinanderhält – verwirrende Unterschiede zwischen Ludwig XIV., Ludwig XV., Ludwig XVI. und Napoleons Neoklassizismus. In der Periode von Ludwig XIV. dominieren helle Farben wie Hellrosa und Gold, das Rechteck ist die bestimmende Form. Der dekorative Überschuss wird vom Rechteck irgendwie gezähmt. Ludwig XV. löste das Rechteck auf, sein Stil bestand aus Kurven und Pastell, die Farben Silber oder Gold dominieren. Derselbe Stil wie Rokoko. Ludwig XVI. reagierte auf das Durcheinander, indem er auf das Rechteck zurückgriff, die Farben waren grauer, heller, einfacher. Zu Napoleons Zeit kamen die Muster aus der Zeit Ludwigs XIV. zurück, diesmal mit ägyptischen Motiven und Ananas-Zeichnungen, dazu kamen Schwarz und dunklere Farbtöne. Dr. Zucker zeigte Dias aus verschiedenen Sälen in Versailles, so wurde das alles klarer. Die Bilder vom Park, dem Grundriss des Schlosses, den Treppen, Plätzen und Brunnen waren so schön, dass ich Lust bekam, sie im Original zu sehen. Wenn der Krieg nicht alles zerstört hat, kann ich mir den Wunsch vielleicht erfüllen. Im Unterschied zu Architektur und Ausstattung waren die Gemälde schwach und langweilig. Vielleicht kann ich sie irgendwann schätzen, aber heute kommen mir Watteau, Lancret, Chardin und Boucher wie Schlagsahne vor. Besonders Fragonard ist nur wolkig, völlig unbedeutend. Von den Werken all dieser Männer können höchstens Chardins Zeichnungen als Kunst durchgehen. Die Skulpturen aus dieser Zeit, bescheidene neo-griechische Göttinnen, sind sogar noch geschmackloser. Vielleicht bin ich zu kritisch gegenüber dem, was als Kunst gilt, und erkenne irgendwann die Schönheit dessen, was ich jetzt verachte. (In Dr. Zuckers Unterricht geht es mir öfter so.) Schon jetzt quält mich das schlechte Gewissen.

Donnerstag, 12. April 1945 Ein Tag wie heute ist schwer zu beschreiben. Als der Unterricht am frühen Morgen begann, war alles noch ganz normal, aber von jetzt aus betrachtet, hatte ich ein mulmiges Gefühl. Zuerst hatten wir Stimmbildung, dann besprach ich mit Fräulein Montemuro das griechische 117


Stück. Unsere Pläne haben sich geändert, statt Elektra machen wir Medea. Das fand ich schlimm, weil mich bei der gestrigen Lektüre von Elektra die Leidenschaft und das offen Tragische tief beeindruckt haben, heute ist so etwas oft verdeckt. Aber Margrit Wyler wird Medea spielen und das wird bestimmt eine wunderbare Erfahrung. Wir kürzten das dreistündige Stück auf weniger als eine Stunde, eine schmerzhafte Aufgabe. Die Dichtung schreit förmlich danach, erhalten zu bleiben, eine Zeile schöner als die andere. In Geschichte und Soziologie sprachen wir über Theater als Widerstreit zwischen Bühne und Drama. Wir diskutierten, ob die Wirkung von Theater eher sinnlich oder eher intellektuell ist. Die Klasse schien zur sinnlichen Wirkung zu neigen, drei Mitschüler und ich tendierten zur intellektuellen Wirkung. Vor die Wahl gestellt zwischen einem guten Stück mit Botschaft und einer poetischen Spielerei votierten bis auf uns vier alle für das sinnliche Stück. Wegen dem, was dann geschah, habe ich vergessen, was sonst noch war. Lola Ross und ich holten uns schnell einen Kaffee, ich hatte es eilig, weil ich zu Bühnenbild mit Herr Kerz musste. Im Fahrstuhl war ich erleichtert, dass auch Herr Kerz etwas verspätet zur Klasse eilte. Hal Tulchin war auch im Fahrstuhl und fragte Lola: „Schon gehört?“ Weil sie schnell weg war, sagte er zu mir: „Präsident Roosevelt ist tot.“ Schock! Ich dachte erst, er nimmt mich auf den Arm. Ich glaubte ihm, wünschte aber, dass es nicht wahr wäre, und wollte darauf beharren, dass er die Unwahrheit sagte, sah aber schon, dass ich ihm unrecht tat. Als wir den Fahrstuhl verließen, blickte Herr Kerz mich an und sagte: „Es stimmt.“ Im Klassenzimmer setzte ich mich neben Hal. Herr Kerz fragte nach einer Zigarette und sagte: „Die meisten Lehrer haben den Unterricht für heute abgesagt, Präsident Roosevelt ist tot.“ Die Klasse schnappte nach Luft und eine Stimme sagte: „Nein!“ Schwer zu beschreiben, was ich in dem Moment und den ganzen Abend über empfand. Schockiert oder betäubt, die Worte passen gar nicht. Der böse Impuls zu lachen packte mich, wie immer, wenn ich eigentlich weinen möchte. Herr Kerz sagte noch etwas zum Unterricht und wir verließen ungläubig und schmerzerfüllt den Raum. Ich schaute nach Lola und als wir uns in der Halle trafen, brachen wir beide in ein harsches, fast hysterisches Gelächter aus. Ich kann noch immer nicht sagen, wie mir zumute war. Da war Trauer gemischt mit Angst. 118


Freitag, 13. April 1945 Stimmbildung, etwas langsameres Tempo als üblich, weil Roosevelts Tod die anderen weit weniger trifft als mich, versuche ich es zu überspielen. Schauspielunterricht mit Herr Ben-Ari. Wir sprechen zuerst über Fuente Ovejuna, uns allen war aber danach, „etwas zu tun“. Herr Ben-Ari gab uns eine Übung, die mit Theater zu tun hat. Arla kurz vor ihrer „großen Chance“, Vorsprechen mit „Mister Big“, sie ist zu spät und hat ihre Chance vertan. Ich war die Bewerberin, die vor ihr dran ist. Charles spielte Mister Big. Ich hatte das alte Problem, dass das, was ich zu wissen meine, in Konflikt gerät mit dem, was ich darstelle. Schon als ich eintrete, weiß ich, dass ich nicht genommen werde, gegen diesen Instinkt gegenüber dem Broadway kommt meine Fantasie nicht an. Wie sehr ich mich bemühte, ich brachte den nötigen Eifer nicht auf. Arla dagegen (sie hat noch nie bei Bettina Cerf und der Theatre Guild vorgesprochen), begegnete ihm mit großer Hoffnung und Zuversicht und als man ihr sagte, sie sei zu spät, bekniete sie ihn so wunderbar, dass man ihn für ein Scheusal hielt, als er sie wegschickte. Sie setzte sich auf die Bühne und weinte so sehr, dass sie auch nach ihrem Abgang nicht aufhören konnte. Arla ist natürlich eine tolle Schauspielerin. Ich könnte auf der Bühne keine echten Tränen vergießen und will es auch gar nicht, aber ich bewundere es, wenn jemand diese Technik beherrscht. Sie behauptet, sie habe es so empfunden und ich weiß nicht, ob es gut ist, sich dem Gefühl derart hinzugeben. Dann improvisierten wir für Fuente Ovejuna. Wir bauten einen Brunnen in der Bühnenmitte und dachten uns Handlungen dazu aus. Steffi zog Wasser hoch, Charles versuchte, ein Lied zu pfeifen, und trank etwas Wasser, um besser pfeifen zu können. Ethel wusch ihr Gesicht. Ich blieb die zehnjährige Manuela von Fuente Ovejuna und spielte mit einer Katze. Ich ließ die Katze um den Brunnenrand laufen und schrie angstvoll, als sie in den Brunnen fiel. Herr Ben-Ari kritisierte, ich hätte zu schnell reagiert, es bräuchte zuerst den Moment des Begreifens. In dieser Improvisation war ich freier als sonst, wahrscheinlich weil ich Zeit hatte, meine Aktionen zu planen, und weil ich nicht nach Worten suchen musste. Inzwischen hatte Fräulein Montemuro den Text von Medea auf ungefähr ein Zehntel gekürzt, so kam es mir vor. Verse wegzulassen war hart, aber so können wir statt eines Auszugs die ganze Geschichte präsentieren. 119


In Fräulein Wylers Klasse arbeiteten wir weiter an unseren Texten aus der Heiligen Johanna, wir sollen sie auswendig können. Steffi trat zuerst gegen Ethel Sheppard als Inquisitor an. Steffi machte es gut, war aber noch etwas roh. Emotional war sie gut, technisch eher nicht. Margrit Wyler bemängelte vor allem, dass sie ihren Körper gar nicht einsetzte. Das kann ich nachfühlen! Steffi ist groß, ziemlich kräftig und unbeholfen, ich dagegen bin winzig und so mager, dass ich versucht bin, mich in Positur zu werfen und meine Glieder auszustrecken, um mehr als ein Strich in der Landschaft zu sein. Ethel wurde ermahnt, sich einen störenden Manierismus abzugewöhnen, denn sie nickt beim Sprechen mit dem Kopf und zwar sowohl auf der Bühne als auch im Alltag. Als ich die Johanna spielte, war Eleanor der Inquisitor. Weil die Zeit knapp war, gab ich zwar nicht mein Allerbestes, staunte aber, wie flüssig der auswendig gelernte Text herauskam. Weil ich den Text kannte, konnte ich mich frei bewegen, hatte ein völlig neues Gefühl von Sicherheit. Fräulein Wyler meinte, ich habe den Text verstanden, aber statt intensiv zu spielen, neigte ich zum Schreien. Die Lautstärke signalisiere Wut und das sei fehl am Platz. Mir kam es so vor, als seien die Fehler darauf zurückzuführen, dass ich Tempo und Lautstärke nicht richtig plane, das sollte man alles nicht dem Zufall überlassen. Abends sprach Herr Milano über die Commedia dell’arte. Es handelt sich um Improvisationstheater, in dem die Handlung nur lose feststeht. Ich erinnere mich, dass ich als kleines Mädchen im Broadway Central Hotel mit meiner Nachbarin Rachel Falk wunderbar improvisiert habe. Wir dachten uns eine Geschichte aus und spielten stunden-, tage-, manchmal wochenlang die immergleiche Handlung mit den immergleichen Figuren in unzähligen Situationen, Varianten und mit allen möglichen dramatischen Effekten. Jetzt frage ich mich, wie diese Fähigkeit durch Studium und Technik verloren gehen kann. Unser naiver Glaube an die Geschichte und unser Ernst waren erstaunlich. Manchmal spielte auch Avis Jean Weiser die Geschichten mit mir, zuletzt auch Marguerite Ditchik, da war es schon gehemmter, weniger vielseitig als mit Rachel. Und jetzt kann ich gar nicht mehr improvisieren. Für mich ist Improvisation, auch die Commedia dell’arte, eine tote Form, die ich zwar künstlich wiederbelebe, die aber nie mehr frisch sein kann. Wegen Roosevelts Tod wurde die New School nach der Aufführung von Fuente Ovejuna geschlossen, der Unterricht ist bis Montag abgesagt. 120


Montag, 16. April 1945 Der wunderbarste Tanzunterricht, den ich je hatte. Eugenes Frau, Lanie Van Grona, unterrichtete. Sie hat Madame Piscator und Eugenes Fähigkeiten und Talent und erklärt außerdem mit meisterhafter Klarheit. Wir probierten eine Serie fantastischer Übungen, die sie die schwedische Methode nannte. Ich habe mich beim Tanzen noch nie so locker, frei und stark gefühlt. Tiefes Verständnis, von wo die Bewegung jeweils entspringt. Zu spüren, welcher Teil des Körpers die Bewegung führt, war erleuchtend und überwältigend. Es lief gut, bis ich bestimmte Schrittfolgen umsetzen sollte. Ich konnte wieder nicht folgen. Aber die Kraft und Energie und die Größe ihres Tanzes haben mich gepackt. Sie ähnelt Eugene, könnte fast seine Schwester sein, scheint mir aber die Stärkere von beiden zu sein. Ich kann mir gut vorstellen, wie sie zusammen tanzen. Ach, wenn ich nur tanzen könnte! Ich würde alles dafür geben! Bewegung ist der allerlebendigste Ausdruck. Sprache ist eine künstliche Erfindung, klein und preziös im Vergleich mit der Wahrheit und dem Göttlichen der Bewegung. Die Leidenschaft bringt mich dazu, mich gegen das Theater zu versündigen. In einer objektiveren Stimmung muss ich das nochmal überdenken. Bis dahin schwelge ich in Begeisterung. Zu erhabene Stimmung für Maskenbild, ich fand es auch absolut unerträglich, mir Krähenfüße in die Augenwinkel zu malen. Als ich es einmal gemacht hatte, wollte ich es auf keinen Fall wiederholen. Ich widersetzte mich, indem ich mein Gesicht rot schminkte, dazu sehr schwarze Augen und Lippen. Ich weiß, solche Scherze sind fehl am Platz und außerdem ein psychologischer Rückfall in etwas, dem ich vor dem Eintritt in den Workshop abgeschworen habe. Neue Stücke: Herr Ince setzte das Gespräch über die kommende Inszenierung von Margaret fort und dann wurden die Rollen für Medea verteilt, inklusive Chor und männliche Rollen. In Regie konzentrierten wir uns auf den Bühnenbereich, dieses Mal auf seine Bedeutung für die Stimmung. Dean schreibt in seinem Buch gewissen Bereichen der Bühne bestimmte Atmosphären zu. Dies sind rein technische Regeln, für die es immer Ausnahmen gibt. Vielleicht sind sie sogar überflüssig. Ein guter Regisseur wird seine Inszenierung kaum dem Stimmungswert eines bestimmten Bereichs unterwerfen oder so gedankenlos sein, einen Geist auf der Vorderbühne links auftreten zu lassen. Wir probierten es aus, indem wir eine Handlung in verschiedenen Bereichen identisch spielten. Harriet Charney und ich spielten zuerst eine Szene, in der wir über Regisseure stritten, und 121


trieben es immer wilder, bis wir in einem richtigen „Zickenkrieg“ endeten. Ehrlich gesagt, hatte ich großen Spaß dabei. Aus einem Streit zwischen Jimmy Walsh und Bob Carricart entwickelte sich eine Szene mit zwei Soldaten, der eine ein Nazi, der andere ein Saboteur. Die Improvisationen waren interessant, bewiesen jedoch nichts in Sachen Stimmungswert einzelner Bereiche. Wir redeten darüber, wo die Szenen von Fuente Ovejuna auf der Bühne stattfanden, und spielten einige der Szenen. Wie enttäuschend, nach der Produktion einen Ausschnitt des Stücks aus dem Zusammenhang heraus, dafür aber mit all seinen Mängeln zu sehen.

Dienstag, 17. April 1945 Regiebesprechung. Harriet Charney findet Medea interessant und wird wahrscheinlich die Regieassistenz mit mir teilen, sowas habe ich jedenfalls gehört. Theaterforschung. Herr Piscator sprach über Roosevelt und was er für uns Künstler bedeutet. Meine Notizen zu Herrn Piscators Vortrag sind es wert, dass ich sie hier festhalte. Weil es Zitate sind, teilweise ohne Zusammenhang, sind Grammatik und Aussagen etwas obskur, Herr Piscator sagte ungefähr: Das Leben eines großen Staatsmannes sollte man so betrachten, dass es der gleichen historischen Notwendigkeit entspringt wie die Arbeit des Künstlers. Der Mensch steht in der Nachfolge einer ungeheuren Menge an Menschen. Wie Blätter an einem Baum kommen sie und vergehen. Aber was sie erschaffen, ist größer als der einzelne Mensch. Roosevelts Größe lag in der berührenden Vision einer künstlerischen Seele. In seinen Reden lag etwas unter den Worten, nämlich eine idealistische Vision für die Zukunft der Menschheit. Sein Gesicht war wie das eines Schauspielers, es wurde beherrscht von einer Nachdenklichkeit, man konnte sie ihm ansehen. Ihr solltet diesen Mann als Kamerad, als echten Freund, als Vorbild betrachten. Das hat er euch hinterlassen. Wir sind keine Einzelnen. Wie Roosevelt zwölf Jahre lang eine denkende Welt geschaffen hat, müsst ihr mit Kunst eine konstruktive Welt schaffen. Ich lege all meine Energie in den Auftrag, euch weiterzugeben, was ich vor 20 Jahren gelernt habe. Damit ihr um 20 Jahre reicher seid. Ihr lebt ein kleines Leben, wo ihr ein großes leben solltet. Theater ist tatsächlich Konstruktion von Leben und das ist eine großartige, eine große Sache. Roosevelt war Künstler und Politiker. Ihr tragt ihn in euch. 122


Wenn Herr Piscator diese Sachen sagt, fühle ich mich, als könnte ich Berge versetzen. Und deshalb schreibe ich mit, obwohl ich viel lieber zuhören würde. So kann ich immer wieder nachlesen, das ist beinahe, als hörte ich ihm zu Wir fuhren fort, einzelne Leistungen in Fuente Ovejuna kritisch zu betrachten, und kamen zu Jimmy Walsh, der als Schauspieler weitaus mehr kann als das, was er abgeliefert hat. Als Laurencia nach ihrer Vergewaltigung zurückkehrt und ihren Vater anklagt, habe er sie weder beschützt noch verteidigt und es ist Jimmy nicht gelungen, die Gefühle zu zeigen, die ein Vater in dieser Situation gehabt hätte. Herr Piscator fragte: „Haben Sie eine Tochter?“ Jimmy verneinte lachend, er habe aber einen Hund. Herr Piscator fand, das könne ihm helfen die Situation zu verstehen. Herr Piscator erzählte von seinem lieben Dackel Trilby. Ständig musste er Steine nach Hunden werfen, die auf der Suche nach Trilby um das Haus streunten. Einer sei besonders aufdringlich, „so ein kleiner dreckiger Mischling mit schwarzen Augen“. Eines Morgens sei er aufgewacht und habe, wie er sagte, etwas Widerliches gesehen. „Dieser dreckige alte Mephisto auf meiner Trilby. Ich gab Mephisto einen Tritt, aber es war passiert. Die kleine Trilby bekam Junge und starb. Zu dieser Paarung hätte es nie kommen dürfen.“ Herr Piscator erzählte die Geschichte humorvoll und charmant, er wollte sagen, dass wir aus allen Erfahrungen fürs Spielen lernen. Ein Tier können wir genauso lieben wie einen Menschen. Dann erzählte er uns von seinem Dobermann, einem Tier, das er liebte und das von einem Auto überfahren wurde. Er habe den Tod des Hundes so intensiv erlebt wie den eines Menschen. Hätte er seine Gefühle spielen müssen, er wäre dazu nicht fähig gewesen, so stark seien sie gewesen. Jimmy sah ein, dass er seine Rolle in Fuente Ovejuna weder empfunden noch dargestellt hat. Dramenkanon wurde dazu genutzt, Medea zu besetzen. Margrit Wyler ist unsere Medea. Fräulein Montemuro und ich hörten uns das Vorsprechen an und besetzten Harriet als Chorführerin, Marian Cohen als Amme und Louis Guss als König Kreon. Für Jason müssen wir einen Schauspieler von außen engagieren, keiner unserer Schüler ist stark genug, als dass er sich als Margrit Wylers Gegenpart eignet. In Bühnenbild zeigte uns Herr Kerz im Theatre Arts Journal einige Entwürfe vom modernen japanischen Theater bis zu Meyerholds biomechanischen Konstruktionen. Keiner dieser Entwürfe war realistisch, keinen fand ich besonders schön. Meyerhold, dessen Theorien mich 123


beeindruckt haben, scheint in diesem Fall auf das extrem Hässliche aus zu sein. Das Bühnenbild sah aus wie ein ballet mécanique mit sehr vielen Spielern ohne jede Individualisierung, ohne jedes Profil, das sollte wohl ein komplexes Arrangement darstellen und ist noch unästhetischer als eine Kopie. Auf Grundlage zweier Bilder eines Stücks kann ich aber sein Talent als Regisseur schlecht beurteilen. Könnte man Piscator aufgrund von Fuente Ovejuna beurteilen? Am Abend gingen Lola, Sidney und ich zum Ballett, schlichen uns während der Pause hinein und sahen die letzten drei Nummern eines [Anthony] Tudor-Programms. Die erste Nummer war großartiges neues Ballett (zweite Vorstellung) mit einer psychologischen Dimension, es nannte sich Gegenströmung. Die Figuren hatten Namen aus obskuren Legenden, und obwohl die Geschichte manchmal unklar blieb, war die psychologische Entwicklung des Jungen erstaunlich. Die Szene der Geburt am Anfang war ein Meisterwerk und die Choreografie vollendet. Tudors Stil modern interpretiert, der Hintergrund hingegen mittelalterlich, Türme und Fledermäuse inklusive. [John] Kriza tanzte fantastisch, Gegenströmung muss ich öfter sehen, um alles richtig aufzunehmen. Dann weiß ich wenigstens, was ich alles nicht verstehe. Während der Pause traf ich Madame Beatrice Stavrova, meine erste Ballettlehrerin, ich hatte nur zwei Stunden bei ihr, darunter aber viele glückliche Momente. Sie war die russische Ballerina, die mir die Prinzipien des Balletts beigebracht hat. Ich hoffe, ich kann sie wiedersehen, vielleicht sogar noch ein paar Stunden nehmen. Sie lud mich in ihre Loge ein, aber ich konnte sie nicht mehr finden. Das Pariser Urteil bot eine kleine Verschnaufpause vor der exquisiten Feuersäule. Das Stück war atemberaubend mit Nora Kaye als Hagar und Janet Reed als kleiner Schwester. Nora Kaye ist die einzige Ballerina, die ich jemals als dermaßen stark und echt und menschlich bewundert habe. Das ganze Stück war so lebensnah und wahr, dabei war es von der ästhetischen Form her Ballett.

Mittwoch, 18. April 1945 Jetzt, wo ich mit Fräulein Montemuro zusammenarbeite, ist Stimmbildung erfolgreicher und erstaunlicherweise tatsächlich hilfreich. Seit meiner Kehlkopfentzündung und Fuente Ovejuna arbeite ich an meiner Stimme. Ich übertrage es aber nicht auf den Alltag und mein Sprechen wird täglich schlechter. 124


Im Tanzunterricht habe ich sehr hart gearbeitet, nachdem ich das Regiebuch für Medea fertiggestellt hatte. Noch immer wirkt das Ballett nach und diese merkwürdige Begeisterung, die in jedem, der Ballett sieht, den Wunsch erweckt, selbst Tänzer zu werden. Lola war sogar noch begeisterter als ich. Am Barren geht es mir zwar sehr gut, Schrittfolgen kriege ich nicht hin. Jedenfalls hatte ich sämtliche Energie schon verbraucht, dabei lag der ganze Tag noch vor mir. Schauspielunterricht und Heilige Johanna. Cherie Ross spielte die Heilige Johanna mit Hal als Inquisitor, kam aber nicht an den Kern, die Bedeutung der Szene heran. Lola versuchte etwas, empfand es tief, konnte es aber technisch nicht umsetzen, obwohl es aussah, als würde es gleich aus ihr hervorbrechen. Arla Gild versuchte es mit viel Gefühl und war ganz gut. Ihr Realismus überzeugt überraschenderweise, aber je mehr ich über Schauspiel lerne, umso mehr steuere ich das Gefühl mit dem Intellekt. Ich will vor allem denken und je mehr ich denke, umso besser wird mein Spiel, auch wenn Herr Piscator intellektuelles Spiel nicht gerade für das beste hält. Es gebe durchaus Schauspieler, die große Rollen ausschließlich mit dem Intellekt gestaltet haben, das sagt er auch. Was Arlas erstaunliche Ausdruckskraft angeht, ist es fraglich, ob sie das über 200 Vorstellungen durchhält, ohne zusammenzubrechen. Vorausgesetzt, es gelänge ihr, die Emotionen jedes Mal gleich stark herzustellen (ich glaube, sie kann das). Ich spielte den Inquisitor und Fräulein Wyler fand mich gut, das Beste, was sie bis dato von mir gehört habe, aber sie sagte: „Hier passt deine Stilisierung wunderbar.“ Meine „Stilisierung“, die ich zu überwinden versuche, ist wohl eher mein „Stil“ und wendet sich gegen den verdammten Naturalismus, wenn auch nicht absichtlich. Wenn ich zu Hause an der Heiligen Johanna arbeite, spiele ich so realistisch wie möglich, versuche aber, mich im Griff zu haben. Für meine Viola muss ich den richtigen Ton erst finden. Ich bin damit noch nicht weitergekommen. Wenn ich Priscillas und Graces Interpretationen irgendwann nicht mehr höre, finde ich meinen eigenen Weg. In Stil im Wandel der Zeit sprach Dr. Zucker über das 18. Jahrhundert in England. Ich war müde und fand die englische Malerei des 18. Jahrhunderts nicht besonders interessant, deshalb habe ich vom Vortrag kaum was mitgenommen. Die Malerei kam mir vor wie eine Vorstufe schlechter Postkarten, mit der rühmlichen Ausnahme Hogarth, dessen satirische Gemälde fast Karikaturen sind, und trotz seines moralisierenden Blicks auf die Dinge sind die Kupferstiche grandios. 125


Donnerstag, 19. April 1945 Stimmbildung mit dem Rest des phonetischen Alphabets, das ich zu meinem Vorteil schon kenne. Vielleicht können wir jetzt alle phonetisch sprechen, das mache ich gern, tendiere aber dazu, dabei etwas pedantisch zu sein. In meiner Freizeit arbeitete ich an Medea. Schon in diesem frühen Stadium etabliert Margrit Wyler mit ihrer schönen Stimme eine wunderbare Figur. In Geschichte und Soziologie sprachen wir über Dramaturgie, darüber, wie sich Drama von Theater unterscheidet. Es gibt zwei Arten, Theaterstücke zu betrachten: Die erste sieht das Drama als Literatur und findet, es müsse gelesen werden und gehöre also in die Bibliothek. Aristoteles, Lessing, und Voltaire vertraten diese Theorie. Die meisten Zeitgenossen plädieren für die zweite Art: Auf die Bühne, nicht auf das Bücherregal zielt ein Stück. Dr. Zucker redete über einzelne Teile des Dramas: die Exposition, eine ältere Form der Einleitung, in der sich Nebenfiguren, Diener zum Beispiel, über eine Situation unterhalten, oder die moderne Form, in der Hauptfiguren sich selbst erklären; es ging um Figurendarstellung und darum, was Handlung bedeutet; solche Themen. Als Beispiel für ein fast perfekt konstruiertes Stück werden wir uns Eugene O’Neills Der große Gott Brown ansehen, Dr. Zucker hält es für eins der besten modernen Dramen. In Kostümbild versuchten wir verlorene Zeit aufzuholen und zeichneten die wichtigen Trends in der Kleidung von 1600 bis 1890 in ein Diagramm. Die Änderungen waren rasant. Aus dem elisabethanischen Kleid entstand sehr schnell der elaborierte französische Stil von vor der Revolution. Schon ist die Revolution da, das Empire, dann folgen Bauschiges und die fröhlichen 90er Jahre. Wir malten alles an die Tafel und meine Lust an Kritzelei – Zeichnen würde ich das nicht nennen – verleitete mich dazu, die Seiten meines Notizbuchs mit mephistophelischen Fratzen vollzukritzeln anstatt mit Kostümen von 1690 bis 1725.

Freitag, 20. April 1945 Stimmbildung. Schauspielunterricht mit Herr Ben-Ari. Wir riefen uns die Gespräche aus dem Semesterbeginn in Erinnerung, um zu schauen, welche Fortschritte wir im Hinblick auf unsere individuellen Probleme gemacht haben. Ich fand, ich hätte als Schauspielerin große Fortschritte gemacht, Improvisieren macht mir aber immer noch Angst. Herr Ben126


Ari gab mir daraufhin eine Improvisation auf, die sich als schwierig herausstellte. Ich erhalte einen Brief von meinem Mann und erfahre, dass er in einem deutschen Kriegsgefangenenlager ist. Ich gehe in die Kirche, zünde eine Kerze an und bete. Dummerweise versuchte ich, wie Arla zu spielen und nicht wie ich, noch schlimmer war der früh erlernte Widerwille meiner Hände, sich zu bekreuzigen, und meiner Knie, vor dem Kruzifix niederzuknien. Ich versuchte es mehrmals, aber meine Hände zitterten und meine Knie knickten ein. Zu diesen Gesten fehlt mir jedes Sinnesgedächtnis, sie sind ein absolutes Tabu, etwas, das uns von unseren christlichen Freunden unterscheidet. Was fällt mir dazu ein? Meine Schulfreundin Mariya Lubliner, die aus lauter Panik, nicht in den Himmel zu kommen, in der Kirche an der 96. Straße Ecke Amsterdam Avenue zum Katholizismus konvertierte. Einmal ging ich mit ihr in die Kirche und beobachtete, wie sie niederkniete und sich bekreuzigte. Ich versuchte, meine Eindrücke von damals als Grundlage für mein Spiel zu nutzen, aber ich hatte sie kritisch angesehen und war so abgestoßen gewesen, dass ich ihr in ihrem Glauben nicht folgen konnte. Ich strengte mich an, die Rituale zu absolvieren, ich kniete zum Gebet, meine Unfähigkeit, aus dem Stand zu weinen, fiel mir ein, schließlich konnte ich dann doch still beten. Die Klasse sah sofort, dass mich das Zeremoniell weit mehr interessierte als mein Mann. In Fräulein Wylers Schauspielunterricht spielten Charles Coleman und Joel Rene If music be the food of love, kamen aber über gutes Sprechen kaum hinaus. Gene hat die Stimmung getroffen, sie nicht. Als Steffi Eliza Doolittle aus Pygmalion spielte, fand Fräulein Wyler, sie bewege sich zu schwerfällig. Ich glaube, sie hat kein Talent für Elizas brüske Zartheit und dass sie auf so goldige, unschuldige Art schmutzig ist. Als Nächstes improvisierte ich als Kellnerin in einem Restaurant und Fräulein Wyler fand, ich hätte ausgezeichnet beobachtet, das zeige sich darin, wie ich meine unsichtbaren Requisiten handhabte, auch in meiner Haltung gegenüber den Gästen und der Wirtin. Fräulein Wyler weiß nicht, dass ich zwei Jahre lang als Kellnerin gearbeitet habe und dass diese Erfahrungen automatisiert sind. Deshalb konnte ich die Rolle „glauben“, sie „leben“. Sobald ich in meinen Mitschülern Gäste sah, behandelte ich sie entsprechend. (Einige 127


hatte ich tatsächlich in Valeska Gerts Beggar Bar bedient!) Die Stunde wurde abgekürzt, weil wir noch Medea probten. In Dramenkanon wurde am Abend The Second Shepherd’s Play gespielt, ein Stück aus dem Mittelalter. Dr. Tannenbaum, eine Kapazität für Shakespeare und die Zeit davor, skizzierte in einem Vortrag die Geschichte des Dramas bis zum Mittelalter. The Second Shepherd’s Play ist eine nette Komödie. Als erste englische Farce hat es SlapstickElemente sowie eine rührend naive Handlung. Jede einzelne Rolle ein Meisterstück. Laura Curly spielte frei von der Leber weg die derbe, hässliche und plumpe Jill, die ein nerviger Besen ist. Charles Coleman spielte die drei Schäfer mit dem üblichen warmen Humor. Joel Rene spielte die erste Rolle gut, trotzdem fehlt ihm das gewisse Etwas, das Schauspieler ausmacht und das schwer in Worte zu fassen ist. Arthur Green hat allerdings riesige Fortschritte gemacht. Wenn sich Temperament und Exzentrik ähnlich entwickeln, kann etwas aus ihm werden. Buddy Stratton spielte in der Szene mit Laura sehr humorvoll den Schafsdieb Mac. Die Besetzung unterstrich den komischen Effekt noch – Laura ist 1,55 Meter und Buddy 1,84 Meter groß und der Größenunterschied wurde voll ausgespielt. Ihre Inszenierung und Regie zeigen, dass Esther zu Großem fähig ist. Ihr Talent ist angeboren und sie ist fast die Einzige, die tatsächlich aufnimmt, was Herr Piscator uns vermittelt, die im Unterricht hart arbeitet und nicht nur das Allernötigste macht. Ich denke, sie liebt Herr Piscator und den Workshop fast so sehr wie ich.

Samstag, 21. April und Sonntag, 22. April 1945 Proben für Medea.

Montag, 23. April 1945 Tanzunterricht. Manchmal große Angst vor Madame Piscator aufgrund meiner Schwierigkeiten. Meine Arbeit am Barren wird schnell besser, bei den Schrittfolgen bin ich schrecklich ungeschickt. Meine erste Schule, die nach dem Hunter-Modell arbeitete, mochte ich sehr, habe dort aber das Training der Schritte boykottiert (die Unterscheidung zwischen links und rechts müsse in Fleisch und Blut übergehen, das wäre im späteren Leben hilfreich). Jetzt, als 18-Jährige, bin ich in der dämlichen Lage, dass ich überlegen muss, wo rechts und links ist, und ich nicht mal die Grundschritte beherrsche. Mir fällt wieder ein, wie ich bei Hunter die kleine Kombination für den Stepptanz vorgetäuscht 128


habe. Einmal sollte ich den „Break“ lernen, den einzigen Schritt, den ich kenne. Bis heute. Ich liebe Tanzen und gebe mir solche Mühe, deshalb bedrückt mich meine Unfähigkeit umso mehr. Ich war so niedergeschlagen, dass ich Maskenbild geschwänzt habe – und die Proben für Medea. Im Seminar Neue Stücke sprachen wir über „Misserfolge“. Davon haben wir genug gesehen und sind Experten auf diesem Gebiet. Die meisten waren derart jämmerlich, dass man sich fragt, wie ein Dramatiker, ein Produzent und ein Regisseur so falsch liegen können, wo doch jeder Zuschauer schon im ersten Akt erkennt, wie schlecht das Stück ist. Wir sprachen darüber, wie man einem Stück folgt und mitgeht, statt es kritisch zu betrachten. Virginia Baker und ich gaben zu, dass wir Theaterstücke von außen anschauen, während wir bei Filmen eher mitgehen. Es kommt darauf an, sich einzulassen. Einen Film kritisch zu beurteilen, lohnt sich für mich nicht. Die technischen Aspekte kenne ich nicht und ich akzeptiere fast alles, was man mir vorsetzt, weil es sowieso leblos ist und aus der Konserve kommt. Aus intellektueller Sicht ist es uninteressant, also überlasse ich meinen Gefühlen das Feld, ohne einzugreifen. In Regie ging es weiter mit der technischen Seite der mise en scène, nach Dean der uninteressanteste Aspekt. Als Auftakt hielt Herr Piscator eine brillante Rede über Bühne und Raum. Er sagte: „Die Bühne selbst ist kein architektonischer Raum – sie ist leer, traumartig, der Raum entsteht nur durch unsere Kraft.“ Dann beschrieb er eigene Produktionen und solche von Meyerhold in Bezug auf den Bühnenraum. Für Gorkis Nachtasyl hatte er eine Riesentreppe gebaut, ein Element, das er von Leopold Jessner, seinem Lehrer, übernommen hat. Die Schauspieler saßen im Dunkeln auf der Treppe und leuchteten sich, während sie sprachen, mit kleinen elektrischen Lampen in die Gesichter, bis der Tag anbrach und die Leute durch die Straßen, an den Häusern vorbei die Treppe hinauf zur Arbeit gingen. Wer auf den unteren Stufen saß, ging langsam zur Arbeit, je weiter unten, desto langsamer wurden sie, bis zu denen, die der niedrigsten Arbeit nachgingen. Wer keine Arbeit hatte, harrte im Dunkeln aus: Sie waren die Letzten auf den untersten Stufen, „ganz unten“. In der Szene, in der sie sich auflehnen, stürmten die Schauspieler die Treppen hinab in Richtung Publikum und wurden vom Orchestergraben aus mit Waffen in Schach gehalten, um das Publikum vor der geballten Wut zu schützen. 129


Die „Jessnertreppe“ wurde auch in Ödipus Rex verwendet, wo der König als Held auf der obersten Stufe stand und jedes Mal, wenn er an Ehre oder eine Position einbüßt, musste er eine Stufe hinabsteigen, bis er, blind, ganz unten angekommen war. Die Ebenen als Indikator für Status zu verwenden, ist vielleicht etwas primitiv, dafür aber direkt. Anhand des Buchs von Dean ging es in viel bescheidenerem Rahmen um Status und Spielebenen.

Dienstag, 24. April 1945 Regiebesprechung. In Theaterforschung brachten wir die Diskussion über das ewige Fuente Ovejuna zu Ende und sprachen über die Vorstellung des Second Shepherd’s Play. Herr Piscator war mit allen Schauspielern recht zufrieden. Wir verglichen Arthur Greens Darstellung mit seiner Arbeit in Fuente Ovejuna, wo er dem Charakter Tiefe verlieh, indem er seinen komischen Charakter in einer tragischen Situation zeigte. Heute, erklärte er, sei es unmöglich Komödie und Tragödie zu mischen. Herr Piscator wies diese sehr bestimmt vorgetragene Feststellung lächelnd zurück und berichtete von seinen Erfahrungen mit Publikumsreaktionen. In einer angespannten Situation kann es durch Gelächter zu plötzlicher Entspannung kommen. Danach sind die Emotionen fast sofort wieder angespannt. Weil es sich aber kurz entspannt hat, kann das Publikum mit frischem Blick zum Ernst der Lage zurückkehren und begreift nun – durch den Kontrast – erst recht die Tiefe der Tragödie. Herr Piscator sprach recht mysteriös über den „Gast“. Da wir keinen Gast gehabt hatten, begriffen wir irgendwann, dass er von Charles Coleman sprach, dessen Maske so raffiniert war, dass Herr Piscator Chouteau während der Vorstellung fragte: „Wer ist das?“ Mit einem Augenzwinkern erwiderte sie, es handle sich um einen Gast, und er nahm es für bare Münze. Dass Charles, den Herr Piscator gut kennt, in der Rolle kaum zu erkennen ist, zeugt von gutem Schauspiel. In Dramenkanon bekamen wir unsere Aufgaben für den Kreidekreis zugeteilt. Mein Los fiel auf Kostüm. Die Kostüme werden in diesem Fall von einer Schneiderin per Hand angefertigt. Mir wurde zugesagt, dass ich die Kostüme nur bemalen müsse, aber ich habe Angst, dass ich nähen muss. Horror! Vielleicht kann ich zur Requisite wechseln, ich mag den Spirit: „Wenn du‘s nirgends findest, mach es eben selbst.“ In Bühnenbild ging es darum, wie man eine einfache Bühne entwirft. Wir bekamen ein Set, das aus drei Bögen besteht, und sollen 130


daraus fünf Szenen in unterschiedlichen Räumen eines Schlosses konstruieren, dürfen aber nur Vorhänge, Silhouetten oder den Rundhorizont nutzen. Einfache Dinge haben die größte Wirkung, leider neigt man dazu, alles vollzustopfen. Unsere Hausaufgabe: ein Hafen, ein Gewölbekeller, eine Terrasse, und zwei Interieurs.

Mittwoch, 25. April 1945 Stimme. Dann Tanzunterricht und weil kein Lehrer auftauchte, übernahm Alice Blue. Alice ist als Tänzerin schon ziemlich erfolgreich gewesen, ihre Bewegungen sind zart und lieblich, vermutlich auf ihr großes Talent und eher nicht auf den Unterricht bei [Michel] Fokine zurückzuführen. Wir absolvierten ein paar Koordinationsübungen und einige ihrer Routinen, aber das waren Schrittfolgen und deshalb zu viel für mich. Unser Schauspielunterricht wurde mit dem der Gruppe B zusammengelegt, um Margrits Kräfte für die Medea-Proben zu schonen. Ich war froh, dass ich meine Viola nicht zeigen musste, fürchte noch immer das Urteil der Fortgeschrittenen. Ich habe nicht generell Angst beurteilt zu werden: au contraire. Margrit Wylers oder Erwin Piscators Meinung bedeuten mir viel. Aber das schnelle Urteil einer jungen Person, die auch nicht besser ist, es nur denkt, ist unbedingt zu meiden. Viele Schüler kamen beim Vorsprechen dran, die neue und die ältere Gruppe im Wechsel, der Unterschied war aber gar nicht so groß. Mimi Rosenberg spielte Martha, eine Rolle aus Irwin Shaws Bury the Dead. Mimi kam an die emotionale Tiefe heran, ihre Darstellung einer Frau aus der Arbeiterklasse hätte mich fast überzeugt. Mimis Spiel ist aber eher Gefühl als Theater. Cherie probierte eine Szene aus Der Mann, der zum Essen kam. Sie spielte eine Schauspielerin, war aber naiv, was deren Kultiviertheit angeht. Margrit erklärte, auch wenn ein kultivierter Mensch so etwas durchschaue, sei vorgetäuschte Kultiviertheit eine echte Pose, sie müsse ebenso ernst genommen werden wie alles andere, was die Figur macht. Myrna Seld spielte ein Telefongespräch derselben Figur. Sie ist von Natur aus kultivierter als Cherie und konnte die Illusion gut spielen, auch wenn sie es abstreiten würde, hatte sie ständig diesen Unterton von „Nicht zu fassen!“ Die Szene hatte überdies den Überschwang, den sie braucht. Ich frage mich, ob Myrna auch tiefschürfende Rollen 131


spielen könnte, sie ist eines der eher logischen, modernen Exemplare des Huxley-Style und, abgesehen von Wut, kann ich mir Leidenschaft oder echte Emotion bei ihr schlecht vorstellen. Gerance Garie spielte dann im wunderbaren Rätselstück Dangerous Corner, wie Olwin Martins Tod beschreibt. Die Figur ist kühl, aber Gerance spielte sie emotionslos. Mir kam es vor, als erzähle sie eine Geschichte nach, die sie mal gehört hat, und nicht einen Vorfall, bei dem sie selbst dabei gewesen ist. Anna Curtis Chandler, „die Erzählerin“, hat mich mit ihrem Können tief beeindruckt. Ich spreche immer noch ein bisschen wie sie. Vor ein paar Wochen trug ich ein paar Leuten ein Gedicht von Ezra Pound vor. Jemand fragte anschließend: „Erinnert sie euch auch an diese Frau, die früher in der Bibliothek Geschichten vorgelesen hat?“ Ich fragte, ob sie Anna Curtis Chandler meinte, und so war es. Vor fünf Jahren war Fräulein Chandler meine Lehrerin und ich spreche immer noch wie sie. Es ist erstaunlich, wie wichtig Lehrer sind! In Stil im Wandel der Zeit zeigte uns Dr. Zucker uninteressante amerikanische Kunst des 18. Jahrhunderts, die niemand braucht. Aufregender als Herr Stuarts Porträt von Washington wird es nicht, berühmt und so stereotyp, dass es weh tut. Alles andere war so fantasielos, dass ich mich nicht erinnere, Notizen habe ich auch nicht gemacht.

Donnerstag, 26. April 1945 Stimme. In Geschichte und Soziologie diskutierten wir wieder die Elemente des Dramas. Wir lasen O’Neills Der große Gott Brown, dessen Qualität mich bei jedem Lesen aufs Neue erstaunt. Virginia spielte Dion mit ihrer berührenden Stimme. Arla spielte die andere Frau und Louis Guss und Charles Coleman übernahmen die Männerrollen. Als Stück fanden wir es nahezu perfekt. Schon in der ersten Szene erkennt man, wie gut Eugene O’Neill jede Zeile durchdacht hat. Keine Zeile, die nicht entweder der Figurenzeichnung dient, Handlung und Situation betrifft oder dem Publikum eine Vorahnung auf das Ende gibt. Es ist eine schlichte Szene, in der wenig passiert. Zwei Familien, zwei Geschäftsmänner mit ehrgeizigen Plänen für die Karrieren ihrer Söhne, zwei recht sentimentale Mütter und ein junges Mädchen, in das sich beide junge Männer verlieben. Der eine ist sensibel, schön, unschuldig, der andere prosaisch und spießig. Hier der junge Brown, nett und schlicht, da der junge Dion, durchgeistigt, poetisch, eine zerbrechli132


che Seele, die nichts Gutes verheißt. All das ist in einer einzigen Szene enorm wirkungsvoll aufgefaltet. In Kostümbild zeichneten wir Diagramme der Männermode von 1450 bis 1900 und fanden sie ebenso vielfältig wie die Mode der Frauen. Um 1450 ähnelten die Männer britischen Matrosen, enge Hosen, anliegende Oberteile mit V-Ausschnitt, fast wie die Briten von heute. Um 1500 kam ein Umhang dazu. Um 1625 gehen Oberteil und Strumpfhose in Richtung „puritanischer Anzug“, der sich in England hielt, während die Franzosen sich schon mit Bändern und Schleifen im Stil der Restauration schmückten, was uns, in etwas schlichterer Form, als „Kleidung der frühen Kolonialzeit“ vertraut ist. Von da an wurde alles schrittweise abgewandelt (Rüschen wurden abgeschafft, Jacken wurden schmaler, Hosen kamen hinzu) bis zur modernen Mode. Zu erwähnen sind noch die 1900er Jahre mit ihren geschmacklosen Mustern und geraden Schnitten. Während wir die Tafel vollzeichneten, zog Herr Kerz Vergleiche zwischen dem europäischen Theater der Vorkriegsjahre und dem amerikanischen Theater. Ich konnte nicht anders, als Partei für das europäische Theater zu ergreifen, aber jedes meiner Argumente konterte er dreifach. Sein Wissen über Theater und moderne Stücke flößt mir Demut ein, dabei habe ich mich auf dem Gebiet für eine Autorität gehalten. Ich muss noch so viel lernen, dass es fast zu viel ist.

Freitag, 27. April 1945 Stimmbildung. Schauspielunterricht. Lola und ich haben improvisiert, meinem Eindruck nach war es wesentlich besser als alles, was ich bisher in der Richtung gemacht habe. Wir sollten uns zu folgendem Thema selbst vorbereiten: Ich will eine Frau damit konfrontieren, dass ich ihren Mann liebe. Ich betrete ihre Wohnung und stelle mich vor. Ich bin nervös und rechne damit, dass sie mir eine Szene macht, sobald ich ihr meine Liebe zu ihrem Mann gestehe und gegen ihre möglichen Einwände mein Recht einklage. Ich erkundige mich nach dem Mann und als ich höre, dass er nicht zu Hause ist, setze ich mich, um mein Anliegen vorzubringen. Lola erwähnt ein Mädchen, das ich (meine Figur) kenne. Sie schlägt mir vor, zu ihr zu gehen, denn er verbringe seine Abende oft mit ihr oder einer weiteren jungen Frau. „Er treibt sich halt ziemlich rum.“ Dieses ausgekochte Luder hat mich vollkommen aus dem Konzept gebracht, sodass ich gezwungen war, mich schmollend zurückzuziehen. Um die Verletzung noch mit Kränkung zu krönen, rief sie, 133


als ich ging, ihren Mann aus dem Nebenzimmer. Meinen Teil der Szene hat sie zwar ruiniert, trotzdem bewundere ich ihre Schlagfertigkeit. Ich hatte die dramatische Qualität der Szene unterschätzt. Als wir die Szene durchgingen, erzählte mir Lola, sie habe eine solche Situation tatsächlich selbst erlebt. Die Geschichte verlief genauso, nur war Lola nicht die Ehefrau, sondern die andere. Ich habe ganz anders reagiert und mir wurde klar, dass ich mir gar nicht erlaubt hatte, auf der Bühne zu denken. Folgender Prozess wäre möglich gewesen: Erst ist die Frau das Hindernis. Das Mädchen weiß, dass der Mann verheiratet ist, ihr Sieg bestünde darin, den Mann für sich zu gewinnen. Die andere Frau ist ein neuer Faktor. Es kommt zu Eifersucht und Wut. Die andere Frau ist in derselben Situation wie sie, sie ist also eine Rivalin. Wäre sie eine unter vielen, wäre das für die Frau erschütternd, eine völlig andere Situation. Sie hätte weinen können oder hysterisch werden. Steffi und Charles Coleman gelang eine originelle Improvisation. Charles war ein betrunkener Ehemann und Steffi seine Frau. Charles spielte wunderbar betrunken und Steffi reagierte perfekt wie immer. Ihr Zusammenspiel war für mich sehr interessant, Charles spielt nämlich wie ich mit dem Kopf, während Steffi völlig in der Rolle aufgeht. Vielleicht kann ich, wenn ich technisch weiter bin, natürlicher spielen, ohne nachzudenken. Charles spielt allerdings nur mit Technik und das funktioniert auch. Am Nachmittag bereiteten wir Medea vor. Beleuchtungsprobe, ein paar Kulissenteile und viel Aufregung. Herr Piscator kam zur Probe und sogar Margrits perfekte Darstellung profitierte von seiner einfühlsamen Kritik. Sein Verständnis für die Figur der Medea ist mir geradezu unheimlich. Ich hätte nicht gedacht, dass ein Mann eine so durch und durch weibliche Leidenschaft verstehen kann. Dramenkanon und Medea. Margrits Performance war absolut erstaunlich. Abgesehen von ihrem Spiel und ihrer Stimme, sah sie wirklich aus wie die wilde, herrliche Königin. Noch nie ist jemand so eindrucksvoll gewesen. David Lewis als Jason reichte fast an ihr Level heran, er spielte mit stiller Anspannung. Charles Coleman spielte Kreon würdig, konnte Medea aber nicht überschatten. Medeas Präsenz war jederzeit zu spüren. Nur durch sie lebten alle anderen, die Männer. Margrit Wyler war die treibende Kraft im Ensemble.

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Piscator in Tweedjackett

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Titelbild des Semesterplans 1942

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All the Kings Men

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Piscator vor dem Sommertheater in Sayville, Long Island, mit Studenten, unter ihnen Marlon Brando und Bernie Schwartz (Tony Curtis)

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Piscator mit Bühnenbildmodell

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Vor dem Eingang zum Dramatic Workshop

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Piscator unter Scheinwerfern

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Joseph Urbans Theaterraum an der New School, 1940

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Piscator mit Simone de Beauvoir und Saul Colin

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Frankenstein, The Living Theatre, 1967

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Judith Malina, Brad Burgess und Tom Walker proben History of the World, 2011 Judith Malina und Brad Burgess performen Occupy Your World, 2011

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Bildrechte

Alfred J. Balcombe, Institut für Theaterwissenschaft der Freien Universität Berlin. Copyright © Michael J. Balcombe: 135, 140, 143 Officina Edizioni, Teatrino dei Fondi: 136–139, 141, 142 The Living Theatre Archives: 144 Kennedy Yanko: 145 (oben) Cindy Ho: 145 (unten)

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Auszüge aus dem Notizbuch von Judith Malina

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Dritter Teil Das Epos geht weiter

Wir waren eine Generation junger Schauspieler, Schauspielerinnen, Bühnenbildner, Musiker und Judith und Julian gaben uns einen Ort. Viel von dem, was wir in den frühen 60ern machten, ist inzwischen in allen Theatern üblich geworden und das Living Theater experimentiert weiter – mit sozialen und politischen Themen, mit Improvisation, mit Publikumsbeteiligung, mit anspruchsvollem poetischem Drama.

Robert de Niro Die Arbeit, die Piscator initiiert hat, erlebt eine fortlaufende Transformation. Die Jahre nach seiner Rückkehr nach Deutschland entpuppten sich als weitere schmerzvolle Reise, aber dank seiner Ausdauer endeten sie erfolgreich. Als er beim Rückflug nach Deutschland im Tagebuch über sein Scheitern klagte, wusste er noch nicht, dass sein Lebenswerk noch vor ihm lag. In den elf Jahren als freier Regisseur, in denen er oft nah an der Verzweiflung war, verbreitete sich die Kunde seiner Arbeit in vielen Städten und beeinflusste eine ganze Generation von Schauspielern. Als Intendant der Freien Volksbühne in West-Berlin belebte er mit seinen drei großen Inszenierungen, das politische Theater neu, belebte auch Techniken des Straßen- und orts-spezifischen Totaltheaters; Brecht hatte von „seinen großen szenischen Innovationen“ gesprochen. Zum Ende dieses Buches liste ich die Stücke des Living Theatre aus 65 Jahren auf und benenne die szenischen und theatralischen Mittel, die ihren Ursprung in Piscators Experimenten haben. Viele Theater beziehen sich auf Piscator, ich aber schreibe über das eine Theater, das ich am besten kenne. 1990 gab ich an der New School zusammen mit Maria LeyPiscator ein Seminar über Piscators Werk. Madame Piscator nannte es The Dramatic Workshop II. Die Idee, die Schule neu zu etablieren, hat sie nie ganz aufgegeben. In unserem Seminar sprachen wir über die anhaltende Resonanz von Piscators Arbeit, wir analysierten die Ideen des progressiven Theaters und entdeckten sie neu. 151


Das Ende des Notizbuches und die ersten Stücke am Workshop Am 27. April 1945, mitten in der Arbeit an Medea, hörte ich mit meinen Aufzeichnungen auf. Ich war zu sehr in die Produktion involviert, um mir noch den Luxus zu erlauben, den Moment in der Weise festzuhalten, wie es ein Tagebuch verlangt. Ich wollte meine ganze Energie in das aktuelle Projekt stecken. Oft habe ich es bereut, die Notizen derart abrupt eingestellt zu haben. Im Trubel der Produktion hatte ich jedoch keinen Antrieb mehr zu schreiben, wollte einfach nur mitmachen. Als ich am 27. April mit den Notizen aufhörte, war ich bereits Requisiteurin für Klabunds Kreidekreis, im Mai bekam ich die Rolle der Spartanerin in Maria Piscators Metall-, Plastik- und Cellophan-Produktion von der Lysistrata des Aristophanes. Im Juni spielte ich eine Studentin in Das grüne Korn und sang „All through the Night“ unter der Leitung von Chouteau Dyers Fräulein Moffat. Das waren die Stücke, an denen ich in den ersten Monaten meines Studiums am Workshop beteiligt war, es war bei Weitem nicht alles, was ich dort zu sehen bekam. Piscators didaktischer Ansatz befand, um etwas Neues schaffen zu können, müsse man alle klassischen, akademischen und traditionellen Theaterformen beherrschen. In dieser Spielzeit sah ich am Workshop Molières Der eingebildete Kranke, O’Neills Trauer muss Elektra tragen, Shaws Androklus und der Löwe und Ibsens Peer Gynt. Meine allererste Rolle in einer Aufführung am Dramatic Workshop: Chormitglied in einer Dramenkanon-Aufführung von Racines Esther. Geprobt haben wir kaum; in meinem Notizbuch sind nur zwei Proben erwähnt. Bald meldete sich mein Lachkrampf-Problem. Ich versuchte es zu verstehen, zu überwinden, endgültig gelang das erst Jahre später. Zum Glück war ich nur Chormitglied und konnte mich verschämt hinter den anderen Stimmen verstecken. Niemand schien es zu bemerken, niemand hat es kommentiert. Während meines Studiums gelang es mir, den Defekt vor Piscator geheim zu halten. Für so etwas hatte er wenig Geduld, von seinen Schauspielern erwartete er dieselbe Selbstdisziplin, die er selbst an den Tag legte. Als Nächstes arbeitete ich für das Kostümteam von Der eingebildete Kranke, es handelte sich dabei um ziemlich anspruchsvolle historische Kostüme. Wir gingen auf sogenannte Tournee in eine öffentliche Schule in Brooklyn. Die erste von vielen. Später verbrachte ich einen Großteil meines Lebens auf Tour, oft schlugen wir uns da mit allerhand 152


praktischen Fragen herum: die Garderobe winzig, ein einziger Spiegel für viele, kein Wasser. Es war also eine gute Vorbereitung, aber in meinen Notizen beklagte ich mich, dass ich Unterricht verpasste. Zuerst sahen wir gar nicht ein, warum Produktionen für Piscator wichtiger waren als Unterricht. Während dieser Vorstellung hatte ich zum ersten Mal mit dem Phänomen der Publikumsbeteiligung zu tun. Wir spielten vor Kindern und konnten von der Form her ziemlich frei agieren. Molières Text wurde nur so ungefähr wiedergegeben, die Schauspieler spielten die Kinder an, sprangen von der Bühne ins Auditorium, machten große Gesten. Das Durcheinander, das dabei entstand, machte den Kindern Spaß. Als 1968 das Durcheinander von Paradise Now dem Publikum des Living Theatre Spaß machte, als die Regeln über Bord gingen, schien mit einem Mal alles möglich. Piscator hat die Produktion nie gesehen und ich bezweifle, dass er erkannt hätte, wie sehr sie sich an den Prämissen seiner Ideen orientierte. Für mich aber war Der eingebildete Kranke eine wichtige Lektion, was passieren kann, wenn sich der Spieler auf der Bühne frei fühlt. Die Produktionen entstanden zusätzlich zum vollen Stundenplan und waren integraler Bestandteil des Unterrichts.

Julian Beck Die Inszenierungen gehörten zum Hauptprogramms des Workshops, das Dramenkanon hieß, besucht habe ich es mit Julian Beck, einem abstrakten expressionistischen Maler. Von dem Moment an, als wir uns 1943 kennenlernten, bis zu seinem Tod 1985 war er mein Seelenverwandter. Julian Beck verbrachte viel Zeit im Workshop, sah alle Produktionen, saß mit mir im Unterricht, half manchmal bei Produktionen und obwohl er nie Kurse belegt hat, profitierte er mehr von Piscators Unterricht als viele seiner Schüler. Seine spätere Arbeit als Regisseur, Produzent und Bühnenbildner machte ihn zu einem treuen Piscator-Jünger. Besonders beeindruckt war Julian von Piscators geradlinigem politischen Engagement, das noch wichtiger war als seine Theaterästhetik. Kurz bevor ich am Workshop anfing, besuchte ich Peggy Guggenheims Herbstsalon in der Galerie Art of this Century, wo Julians Bilder neben Werken von Motherwell, Baziotes, Rothko, Jackson Pollock und de Kooning ausgestellt waren. Zwischen dem Living Theatre und der New Yorker Schule des abstrakten Expressionismus entwickelte 153


sich eine Beziehung, von der das Living Theatre auf ähnliche Weise profitierte, wie Piscators Werk von der Zusammenarbeit mit George Grosz, John Heartfield und den Dadaisten.

By Any Other Name und das Yiddish Art Theatre von Maurice Schwartz In der Sommerpause war der Dramatic Workshop geschlossen, das heißt, er wurde nach Sayville auf Long Island verlegt, wo Piscator ein Sommertheater leitete, an dem ich aus finanziellen Gründen nicht teilnehmen konnte. Einen Teil des Sommers spielte ich daher in der Komödie By Any Other Name im Cherry Lane Theater, wo das Living Theatre sechs Jahre später seine erste Saison eröffnete. Danach spielte ich einen Engel in Maurice Schwartz’ Three Gifts (Dray Matones) am Yiddish Art Theatre an der Second Avenue. Maurice Schwartz war eine Legende im jiddischen Theater in New York, ähnlich bekannt wie er waren sonst nur Mitglieder der Adler Familie. Da, wo später Loews Kino entstand, unterhielt Schwartz über 30 Jahre das Yiddish Art Theatre. Er führte jiddische Werke auf, aber auch Shakespeare, Ibsen und Wilde in jiddischer Sprache. Von Maurice Schwartz lernte ich eine vollkommen andere Spielweise. Sie hatte ihren Ursprung im jiddischen Theater in Vilnius, dessen Stil für die berühmte Dybbuk-Produktion kreiert worden war. Der ewige Kampf zwischen Ausbruch und Zurückhaltung. Der jüdische Aufschrei gegen die Unterdrückung. Im Oktober öffnete die Schule wieder und allmählich verstand ich, inwiefern die Dramenkanon-Produktionen Piscators Vision entsprachen. Sie waren die Etappen einer großangelegten Einführung von Aischylos bis O’Neill. Damals arbeitete ich hinter der Bühne an Molières Der eingebildete Kranke und spielte in den folgenden zwei Monaten eine kleine Rolle in Pirandellos Heute Abend wird aus dem Stegreif gespielt. Das Living Theatre hat das Stück später zwei Mal produziert, in den Jahren 1955 und 1960.

Piscators Grundfrage: Die Rolle des Publikums In seinem Artikel, „The Theatre of the Future“ schrieb Piscator im Februar 1942 im Tomorrow Magazine: Ziel des Dramas ist es, das Publikum in die Handlung einzubeziehen. Die Theatergeschichte besteht aus großen und kleinen Erfolgen im Hinblick auf … Beteiligung des Publikums. 154


Im gleichen Essay schrieb Walter Gropius, der Architekt, der Piscators Totaltheater entworfen hatte (das nie gebaut worden ist): Mit diesen technischen Mitteln (Projektionen, Gerüsten, beweglichen Bauten, etc.) wollen wir das Publikum in Kontakt mit der szenischen Handlung zwingen, wir zwingen es dazu, an der Handlung teilzunehmen, wir erlauben ihm nicht, sich hinter dem Vorhang zu verstecken.

Bedeutsam ist die Verwendung des Wortes „zwingen“. Was aber „in die Handlung einbeziehen“ angeht, wollte Piscator die Kontrolle behalten. Er wollte das geprobte Werk schützen und sich nicht mit dem Chaos improvisierender Zuschauer herumschlagen. Piscator wusste, dass es gesellschaftlich notwendig war, die elitäre Architektur des traditionellen Theaters hinter sich zu lassen, er spürte den revolutionären Imperativ der Partizipation. Ein Leben lang suchte er nach den dramaturgischen oder technischen Mitteln, diesem Imperativ zu entsprechen, und erfand die ungewöhnlichsten Apparate dafür. Den offensichtlichsten und naheliegenden Schritt konnte er nicht tun. Das blieb seinen Schülern überlassen, seinen künstlerischen Nachfahren: die Brücke zu schlagen zwischen Publikum und Darstellern.

Regisseurin werden: eine Beichte Ich schrieb mich im Workshop für Schauspiel ein, schließlich war ich als künftige Schauspielerin erzogen worden. Aber als ich Piscator bei der Arbeit zusah, wusste ich schon nach wenigen Tagen, dass ich das größere Feld brauchte, den Spielraum des Regisseurs, der das ganze Stück betrachtet, der dem Schauspieler und dem Publikum den Sinn nahebringt. Und der, wenn nötig, die Absicht des Autors neu interpretiert, der die historische Wahrheit sucht und die Aussage des Stücks mithilfe von Bühnenbild, Licht und Sound an die eigene Zeit und Umgebung anpasst. Ich wollte Regisseurin sein. In meinem Notizbuch ist knapp dokumentiert, wie ich Piscator sehr zittrig in seinem Büro aufsuchte. Majestätisch saß er vor der Karte, die den europäischen Kriegsschauplatz zeigte, und hörte mit kühlem Ausdruck meine Anfrage an. Ungeduldig erklärte er: „Frauen fehlt die Ausdauer fürs Theater. Oft heiraten sie und geben die Arbeit auf. Sie bleiben besser beim Schauspiel.“ Ich war niedergeschlagen. Was konnte ich sagen, das Beispiel meiner Mutter schien ihm recht 155


zu geben, wie konnte ich einen Misogynen vom Ernst meiner Absicht und meinem Durchhaltevermögen überzeugen? Ich schäme mich zuzugeben, dass ich eine alte Taktik anwendete, die Frauen oft benutzen, um Männer umzustimmen, die finden, Frauen sollten gewisse fordernde Berufe – angeblich Männerdomänen – nicht ausüben. Ich weinte. Und wurde zu Piscators Regieklasse zugelassen.

Joseph Urbans Architektur als Inspiration

Die New School of Social Research wurde 1930 von Joseph Urban entworfen. Sie ist ein aufregendes Beispiel für die Vision moderner Architektur in der Frühphase. Sie war die erste Institution, die ausschließlich für Erwachsenenbildung entwickelt worden war, und gilt als hervorragendes Beispiel des „International Style“ in der Architektur des 20. Jahrhunderts. Allein die Dramatik der Räume inspirierte die Studenten, vor allem das Sunburst-Auditorium, wo wir unsere Stücke spielten, aber auch Orozcos bewegende soziale Wandbilder und der wunderschöne Benton Room mit Thomas Hart Bentons großartigem Panorama von Szenen aus dem amerikanischen Leben. In den Jahren darauf war der Workshop im President Theatre untergebracht, einer kleinen Enklave in Midtown, in der unmittelbar am Broadway ernsthaft gearbeitet wurde. Später dann waren wir in einem alten Vaudeville-Haus von Minsky im Rooftop Theatre in der Lower East Side untergebracht, wo Piscator auf „proletarisches Publikum“ hoffte. Als ich das erste Mal im Urban-Gebäude Unterricht hatte, war es für mich ein geheimnisvoller Ort. Jeder Raum, jede Wand strahlte eine eigene Ästhetik aus, es war die Grundlage unserer Ausbildung. Genau das Richtige für Piscators Unterricht.

Eleanor Fitzgerald

Eleanor Fitzgerald, bekannt als Fitzi, war damals eine markante Theaterfigur. Sie war lange am Provincetown Playhouse gewesen und zwar zu der Zeit, als Eugene O’Neill und Edna St. Vincent Millay dort in schwierigen Zeiten die Fahne des künstlerischen Theaters hochhielten. Später schrieb sie ein Buch über das Playhouse. Sie war außerdem die langjährige Geliebte des Anarchisten Alexander Berkman. Sie hatte diese Energie, die sich an bestimmte geniale Männer heftet, sie ermutigt und ihnen beisteht. Laut Maria Piscator soll e. e. cummings über Fitzi gesagt haben: „Sie verkörperte das Mysteriöse des Individuums, die ganze Bandbreite zwischen tiefer Trauer und Freude, sie war außerdem ein großzügiger, leidenschaftlicher Mensch 156


von angstfreier Originalität.“ Piscator machte sich manchmal lustig über sie, er sagte: „Sie holt sich gerade ein flüssiges Sandwich“, schätzte sie aber sehr. Oft saß ich auf einer Ablage hinter dem Schalter und lauschte, wenn sie von der Liebe, dem Leben und dem Theater erzählte. Sie managte für Piscator die Kasse und das Abo-System und sorgte dafür, dass Publikum kam. Das tat sie, weil sie Piscator bewunderte und weil es ihrem Wunsch entgegenkam, einem Genie nah zu sein. Als Piscator und Albert Johnson, der Präsident der New School of Social Research, sich einigten, eine Theaterschule zu gründen, sagte Fitzi: „Wir brauchen eine Schule, die ein Theater ist, denn Piscator braucht ein Theater!“ Ihr ist es zu verdanken, dass im Workshop das Studiotheater gegründet wurde. Nachdem das Studiotheater finanziell am Ende war – Budgetangelegenheiten haben Piscators Arbeit immer wieder behindert –, gab es einen bescheideneren Plan: den Dramenkanon

Der Unterricht

Dramenkanon Unser Unterricht begann um zehn Uhr morgens, der Tag endete unter der Woche um 23 Uhr abends, freitags nach der Vorstellung.

JUDITHS STUNDENPLAN

Kasten 4

Montag Dienstag Mittwoch Donnerstag Freitag ________________________________________________________________________________________________ 10–11 RegieStimme Stimme besprechung ________________________________________________________________________________________________ 11–12 Theaterforschung Schauspiel ________________________________________________________________________________________________ 12–13 Theaterforschung Stimme Schauspiel ________________________________________________________________________________________________ 13–14 Tanz Tanz Dramenkanon ________________________________________________________________________________________________ 14–15 Tanz Dramenkanon Tanz Dramenkanon Schauspiel ________________________________________________________________________________________________ 15–16 Make-up Dramenkanon Dramenkanon Schauspiel ________________________________________________________________________________________________ 16–17 Make-up Dramenkanon Schauspiel Geschichte und Soziolodie des Theaters ________________________________________________________________________________________________ 17–18 neue Stücke Schauspiel ________________________________________________________________________________________________ 18–19 Bühnenbild Kostümbild ________________________________________________________________________________________________ 19–20 Bühnenbild Kostümbild ________________________________________________________________________________________________ 20.30–21 Regie Stilgeschichte Dramenkanon ________________________________________________________________________________________________ 21–22.30 Regie Stilgeschichte Dramenkanon

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Der Dramenkanon war der Kern „einer Schule, die ein Theater“ war. Als geradlinige pädagogische Idee präsentierte das Fach ein Panorama der Theatergeschichte von Aischylos bis in die Gegenwart. Piscators Schule konnte das aber nicht als Geschichtskurs ohne spezifische Verbindung zur Gegenwart anbieten, nicht ohne die Perspektiven von Marx und Toynbee, auch nicht ohne die Lehren aus Faschismus und Sozialismus, aus zwei Weltkriegen, nicht ohne das, was wir uns von der Zukunft erhofften. Hier zwei Seiten aus dem Stundenplan. DER DRAMENKANON Kasten 5 A.

Überblick. 2 Stunden John Gassner, Paolo Milano

Verpflichtend für alle Studenten, die sich in einem oder mehr Kursen des Dramatic Workshop eingeschrieben haben und das erste Jahr noch nicht abgeschlossen haben. Eine Schutzgebühr ist zu entrichten. Kursteilnehmer werden nicht als Schüler, sondern als Publikum betrachtet und beteiligen sich an den Lesungen der Stücke und Diskussionen dramatischer Kunstwerke. Diese stellen eine Art lebendiger Theatergeschichte dar, in der charakteristischer Ausdruck und Stil einer Entwicklungsstufe hervortritt. Dieser Kurs ist als Zentrale zu betrachten, die alle einzelnen Zweige des dramatischen Studiums im Drama zusammenführt. Meister des Dramas von John Gassner liefert Vorbereitung und Hintergrund um die kulturellen und sozialen Kräfte zu verstehen, auf die das Theater in den verschiedenen Epochen reagierte. Dr. Zuckers Kurs zur Stilistik in den Meisterwerken der Kunst und Unterricht in Tanzstilen durch Maria Ley und Vincenzo Celli ergänzen diesen Kurs. Wintersemester

Lektionen / Stücke

I

II

III

Primitive Rituale und Passionsspiele: Funktion des Dramas Aischylos und die Anfänge der Tragödie; der Dramatiker als Denker; Drama und das Epische Theater Agamemnon Sophokles und die Entwicklung der dramatischen Technik Antigone 158


IV

Euripides und das moderne Drama: das Problemstück; das psychologische Stück Die Troerinnen V Aristophanes und die römische Komödie Lysistrata VI Orientalisches Drama, Empfindsamkeit, Ethik und Mystizismus im Theater Shakuntala VII Das mittelalterliche Drama: kommunales Theater Jedermann und Hirtenspiel VIII Commedia dell’arte und die Renaissance IX Lope de Vega und Calderon: das goldene Zeitalter des spanischen Theaters Fuente Ovejuna X Marlowe und der Aufstieg des Elisabethanischen Dramas: das Theater des Willens und der Selbstvergewisserung Dr. Faustus XI Shakespeare: Das Drama des Individualismus; die Kunst der Charakterisierung Richard II. XII Shakespeare und die moderne Welt. Ben Jonson und der letzte Elisabethaner König Lear XIII Das klassische französische Drama – Racine, Corneille, Individualismus und Ordnung Phädra XIV Molière und die Gesellschaftskomödie Menschenfeind XV Congreve und die Restorationskomödie, Lessing und die Aufklärung, Rationalismus und das Drama Der Lauf der Welt, Nathan der Weise XVI Goethe und die Romantik; Drama des Strebens Faust XVII Victor Hugo und der Niedergang der Romantik: Scribe und der Aufstieg des „well-made-play“ Hernani

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Sommersemester I

II III IV V VI VII VIII IX X XI XII XIII XIV XV XVI

Ibsen: Aufstieg des Realismus in der Modernen Gesellschaft Peer Gynt Ibsen: Entwicklung des Realismus, Figur und Gesellschaft im Theater des Realismus Hedda Gabler Strindberg und das naturalistische Theater – Zola, Antoine, etc. Aufstieg des Naturalismus Hauptmann: Bedeutung und Wandel des Naturalismus Die Weber Neoromantik: Maeterlinck und Rostand Pirandello und Benavente: zerebrales Drama Sechs Personen suchen einen Autor Russischer Realismus von Gogol bis Tolstoi Der Revisor Anton Tschechow: das Drama der Erosion Der Kirschgarten Maxim Gorki und das Sowiet Drama: neue Aspekte des Realismus und Kommunalen Theaters Nachtasyl Expressionismus: Wedekind, Kaiser, Toller, Capek, etc. Das innere Drama, dramatische Verfremdung und Betonung Von morgens bis mitternachts Der Aufstieg des Epischen Theaters: Brecht und Piscator; epische Konzepte im Drama Eine amerikanische Tragödie Giraudoux, Bourdet etc.: Französisches Drama im 20. Jh., Drama und Unterhaltung Amphytrion 38 Das Erwachen des englischen Theaters: Shaw und seine Vorgänger Pygmälion Bernard Shaw und die Komödie der Sozialkritik Heilige Johanna Englisches Theater des 20. Jh.: Galsworthy, Barker, Barrie, Masefield etc. Strife Eugene O’Neill und das Erwachen des amerikanischen Theaters Gier unter Ulmen 160


XVII Amerikanisches Drama seit 1918: Anderson, Howard, Rice,

Paul Green, Behrman, Kaufman, Barry etc.

Winterset

XVIII Neue Kräfte im Amerikanischen Drama: das Sozialdrama,

The Living Newspaper und das Epische Theater

Awake and Sing

Freitagabends stellten John Gassner oder Paolo Milano eine Epoche vor und skizzierten die historische Perspektive. Sie präsentierten das jeweilige Stück als Beispiel für den Stil und die Politik seiner Entstehungszeit. Gassner und Milano, zwei führende Persönlichkeiten in den Disziplinen Theatergeschichte und Kritik, stellten den wirtschaftlichen und kulturellen Kontext vor. Sie zeigten die epische Qualität des Dramas im Lauf der Geschichte und erklärten, wie wir anhand der Stücke die jeweilige Zeit besser zu verstehen lernten. Danach präsentierte ein Regieschüler eine szenische Lesung des ausgewählten Stücks, gespielt von den Studenten. Jeder Regieschüler versuchte, mehr auf die Beine zu stellen als einen Halbkreis von Stühlen, mehr hinzukriegen als Schauspieler mit dem Textbuch in der Hand. Für die szenischen Lesungen gab es kein Budget, aber der Regisseur konnte immerhin einen Schal, eine Krone, einen besonderen Stuhl, Flötenmusik oder eine Schallplatte verwenden. Wenn der Regisseur Studenten besetzte, die bereit waren, den Text auswendig zu lernen, warum sich dann nicht auch frei bewegen? Als schließlich noch Licht hinzukam, wurden aus Lesungen, die lediglich die Vorträge aus dem Dramenkanon illustrieren sollten, Produktionen. Jede Woche wurde ein Stück gezeigt. Der Trend war nicht aufzuhalten. Die besten Produktionen gingen ins Repertoire des Dramenkanons ein – und da war sie: die Schule, die ein Theater war. Theaterforschung Theaterforschung war Piscators Seminar. In diesem Forum vermittelte er seine Ideen, er brachte uns bei, uns über unsere Ideen klar zu werden und sie umzusetzen. Er sagte: „Zweck der Theaterforschung ist es, eine Philosophie des Theaters zu schaffen.“ Ich zitiere aus der Broschüre der Schule: „Theaterforschung: Herr Piscators Vorlesung und Diskussionsrunde hat den Zweck, den Unterricht und alle Aktivitäten des Dramatic Workshop zu koordi161


nieren, sie auf eine kohärente Philosophie des Theaters zu beziehen. Aufbauend auf der Kritik der Produktionen untersucht und versteht der Kurs jeden Aspekt des Theaters als klassisches Erbe, als zeitgenössische Kunst und als moralische Institution.“ Dies war der Kurs, den jeder an der Schule belegen musste. Am Tag nach Roosevelts Tod sprach Piscator im Seminar über das Leben des verstorbenen Präsidenten, um uns die historische Dimension zu vermitteln. Ihm ging es um das Bewusstsein, dass wir Teil eines historischen Prozesses sind. Wir leben in der Geschichte, können uns entweder klar machen, dass wir Teil davon sind, oder wir leben völlig gedankenlos und empfinden keinerlei Verantwortung für unseren Part. Theaterforschung – Kritik Die Aufgaben für das Seminar Theaterforschung waren klar: Wir hatten eine schriftliche Kritik zur Dramenkanon-Produktion vom vorangegangenen Freitag zu präsentieren. Piscator sagte: Kritik ist nicht das billige Zeug, das wir heute in der Zeitung lesen; es ist eine noble Aufgabe des Theaters. Es gab große Kritiker wie Aristoteles und Lessing. Ohne Lessing hätte es weder Goethe noch Schiller gegeben. Die heutige Kritik orientiert sich an Vorurteilen – Geschmack ist Vorurteil. Wir müssen dialektisch (hegelianisch) denken – das heißt, wir müssen verschiedene Standpunkte einnehmen.

Für den Fall, dass wir das als Vorgabe schwierig fanden, und dies war der Fall, bekamen wir folgendes Schema, an dem sich die Kritik zu orientieren hatte: I.

Notwendigkeit des Stücks A. Ursprüngliche Absicht des Dramatikers B. Botschaft des Stücks heute

II. III.

Der Dramatiker – seine Welt, seine Perspektive Das Stück A. Plot: Geschichte des Stückes in einem Absatz, Ausgangslage, Konflikt und Resultat B. Handlung: Wie der Plot sich entwickelt, detaillierte Beschreibung der Geschichte C. Stil: verschiedene Charakteristika, spezifische Ausnahmen

162


IV.

Die Aufführung A. Regie a) Dramaturgie b) Stil – entspricht die Aufführung der beabsichtigten Stimmung und Botschaft? c) Über Schauspieler, Besetzung, Führung d) Regie – das übergeordnete Konzept B. Schauspiel – beschreibe einen Schauspieler genauer, die anderen allgemein C. Design – der Bühne, Kostüme, Requisiten D. Licht E. Sound und Musik F. Technische Durchführung

V.

Die persönliche Meinung des Kritikers A. Objektiv: Erreicht das Stück seinen Anspruch an Notwendigkeit? B. Subjektiv: Wie hätten Sie es gemacht?

Ich nahm dieses Schema recht wörtlich. Alle Punkte jede Woche abzuarbeiten, neben anderen Hausaufgaben und Proben für die nächste Produktion des Dramenkanons, war eine Riesenaufgabe. Ich wollte mich mit allem vertraut machen: Welt und Perspektiven aller Autoren von Sophokles bis Goethe, von Marlowe bis O’Casey – mithilfe von Gassner und Milano versuchte ich jedes Werk zu analysieren. Piscator gefielen meine Essays und er bat mich jede Woche, sie der Klasse vorzulesen. Allerdings hat er mich später als „Schreibmaschinenregisseurin“ bezeichnet, weil ich seinem Schema derart akribisch folgte. Jahre später erfuhr ich, dass die Essays meiner jungen Jahre im Piscator-Archiv an der Akademie der Künste in Berlin aufbewahrt werden und dort Wissenschaftlern und Forschern zugänglich sind. Und 60 Jahre später finde ich heraus, dass acht dieser theaterwissenschaftlichen Essays noch in meinem Besitz sind, es sind die Texte zu: Nathan der Weise, Faust, Trauer muss Elektra tragen, Claudia, The Goal Gate, Private Lives, Und das Licht scheint in der Finsternis und zu Piscators Film Der Aufstand der Fischer. Einige Mitschüler präsentierten ebenfalls ausgezeichnete Kritiken, folgten dem Schema aber weniger akribisch und gingen mehr auf die schauspielerischen Leistungen ein. Ich dagegen schrieb über literarische, historische und dramaturgische Aspekte. 163


Nachdem ein oder zwei Essays vorgelesen worden waren, besprach Piscator das Stück unter historischem Gesichtspunkt. Wenn man den historischen Kontext kennt, ist das epische Stück eine Art Gobelin mit einem Panorama. Im Vordergrund spielen die Performer, die den Kontext kennen, und der Regisseur macht aus den folgenden drei Grundelementen den einheitlichen Piscator-Stil: 1. 2. 3.

Epischer Hintergrund Unmittelbarkeit der Darstellung Nutzen der Aufführung für den Zuschauer

Piscators Kategorien: Die Vergangenheit = Geschichte, interpretiert von: 1. Dem Dramatiker 2. Dem Regisseur und Bühnenbildner 3. Den Darstellern 4. Dem Zuschauer-Teilnehmer Die Gegenwart = Das Stück im Theater 1. Totales Theater 2. Teilnahme des Zuschauers 3. Politisch-soziale Interpretation Die Zukunft = Die politischen Auswirkungen des Totalen Theaters

Die Stücke

Fuente Ovejuna

Fuente Ovejuna von Lope de Vega war die erste reguläre Produktion, in der ich im April 1945 am Dramatic Workshop auftrat. Lope de Vega hatte sich in der andalusischen Geschichte des 15. Jahrhunderts bedient. Das Stück erzählt von einer Romanze, die unter einem tyrannischen Herrscher spielt. Es handelt vom Widerstand der Bevölkerung der kleinen Stadt Fuente Ovejuna gegen den Tyrannen. Ein junges Paar schlägt dem Herrscher das Recht aus, die Hochzeitsnacht mit der Braut zu verbringen. Der Tyrann wird ermordet und die Bevölkerung gefoltert, damit sie den Namen des Mörders preisgibt. Alle antworten: „Fuente Ovejuna.“ 1920 schrieb Piscator in seinem Essay „Das Proletarische Theater: Seine Grundprinzipien und seine Aufgaben“: 164


Fast jedes bürgerliche Stück wird … dazu dienen können …, den Klassenkampfgedanken zu stärken, die revolutionäre Einsicht in historischen Notwendigkeiten zu vertiefen. … Auf diese Weise kann ein großer Teil der Weltliteratur der revolutionären proletarischen Sache dienstbar gemacht werden, ebenso wie die gesamte Weltgeschichte zur politischen Propagierung des Gedankens genutzt wurde.

In Fuente Ovejuna sind Klassenkampf und solidarischer Widerstand wesentlicher Teil der Handlung, wie immer hat Piscator aber Änderungen am Text vorgenommen. Ich spielte ein Kind aus dem Volk von Fuente Ovejuna. Piscator kündigte schon zu Beginn an, „das Volk ist der wahre Protagonist“ und wir, die wir die Menge spielen, hätten die Hauptrolle. Mit jugendlichem Eifer ging ich meine Rolle an. Ich erfand einen Charakter mit Namen und Geschichte und fühlte mich belohnt, als ich ein Wort sagen durfte. Ich hatte Text, ganz für mich allein. Als mein Spielkamerad gefoltert wird, sollte ich „Pedrito“ rufen, seinen Namen. Piscator inszenierte die Massenszenen selbst. Er achtete besonders darauf, dass alle Handlungen soziale Implikationen hatten und er sorgte dafür, dass wir die politische Bedeutung jeder Aktion verstanden. Die Folter inszenierte Piscator als Schattenspiel hinter einer weißen Leinwand. Als die Dorfbewohner einer nach dem anderen gefragt werden: „Wer hat den Commendador umgebracht?“, antworteten wir im Chor: „Fuente Ovejuna!“ Wir alle waren verantwortlich für den Akt der Rebellion gegen den Unterdrücker. Die Schauspieler lehnten sich vor und blickten das Opfer an. Die Folterer folgten de Vegas Text. Als das Opfer sich näherte, in unterschiedlichen Positionen einfror und einen Schrei ausstieß, zog das Tempo an und der Chor beantwortete die Frage „Wer hat den Commendador umgebracht?“ mit einem Wutanfall. Piscator zeigte die Premiere von Fuente Ovejuna im Urban-Auditorium der New School am 7. April. Am 8. April spielten wir noch einmal, weitere Vorstellungen waren für den 13. und 14. angesetzt. Am 12. April starb Franklin Roosevelt, der Unterricht wurde in der Folge abgesagt, die Schule und das Theater geschlossen, die Stadt und die ganze Welt standen unter Schock.

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Franklin D. Roosevelts Tod Am 17. April ging es mit dem Unterricht weiter, Fuente Ovejuna wurde aber erst ein Jahr später wieder aufgenommen. In Theaterforschung hielt Piscator einen denkwürdigen Vortrag über „das Leben eines großen Mannes“, das uns inspirieren könne, selbst „ein großes Leben zu führen“. Piscators uneingeschränkte Bewunderung für F. D. R. teilte ich nicht. Mein Vater hatte sich sehr dafür eingesetzt, die Immigrationsquote zu erhöhen, denn das hätte viele Leben gerettet. Alle Petitionen, Proteste und Anfragen halfen nicht. Roosevelt verteidigte den gesetzlichen Rahmen, der verhinderte, dass unzählige Juden der Naziverfolgung hätten entkommen können. Trotzdem war Roosevelt für Piscator der große Mann des Kriegs, der Agamemnon unserer Zeit. Mir aber trieb Piscators Sinn für Geschichte Tränen in die Augen. Fuente Ovejuna spielten wir im Jahr darauf am 6., 7., 13. und 14. April 1946 im President Theatre. Und nochmal vom 26. bis 30. März 1947 im Rooftop Theatre. In all diesen Vorstellungen konnte ich meine kleine Rolle spielen, die talentierte Elaine Stritch sang mein Lied „In knighthood’s most valiant tradition“. Piscator hatte mich gebeten, ein Lied über die Verliebtheit des jungen Brautpaars zu schreiben. Ich war unglücklich, dass mir Piscator als Schriftstellerin mehr zutraute denn als Schauspielerin. Die Living Theatre-Produktion Seven Meditations on Political Sado-Masochism hatte ihren Ursprung in diesem Stück. Julian Beck hatte mehrere Vorstellungen von Piscators Fuente Ovejuna gesehen und fand, das Thema der gesellschaftlichen Verantwortung hinterlasse einen starken Eindruck. In allen Living Theatre-Stücken erkenne ich das Echo von Piscators Fuente Ovejuna. Lysistrata Maria Ley-Piscator inszenierte Lysistrata und es glitzerte wie verrückt. Es gab nur eine Vorstellung am 25. Mai 1945 im Tanzstudio. Arla Gild spielte die starke Lysistrata. Ich bekam die Rolle der Spartanerin, was wohl ein Witz sein sollte, denn ich war klein und zierlich, die typische Spartanerin dagegen war groß, stark und unerbittlich. Die Ausstattung der Inszenierung war überladen, wir waren mit Alufolie und Konfetti umwickelt – ein Bild dafür, dass wir das sexuelle Verlangen unterbanden, um den Krieg zu stoppen. 166


Viele Jahre später, während der Demonstrationen gegen den Vietnamkrieg, als ich am Women’s Strike for Peace teilnahm, wurde immer wieder über einen Sexstreik gesprochen und man bezog sich auf den Plot der antiken Lysistrata. Die Frauen im Streikzentrum an der 8. Straße in Greenwich Village fanden das unpassend, ihre Partner seien schließlich alle Antikriegsaktivisten. Im Jahr 2003 während des mörderischen Irakkriegs gab es einen Monat lang weltweit Hunderte Produktionen von Lysistrata und der Protest trug den Titel The Lysistrata-Project. In der Piscator-Produktion aus dem Jahr 1945 musste das Antikriegsthema trotz Prunk und Glitter nicht extra betont werden. In seiner Rolle als Lehrer erklärte Piscator, wie kühn und revolutionär dieses Stück sei, er sprach von einer Friedensaktion von vor 2000 Jahren, die keine individuelle Rebellion war wie die der Antigone, sondern eine Widerstandsstrategie, die als Massenbewegung organisiert war. Die Gespenstersonate Am Jahresende bekam ich meine erste Aufgabe im Fach Regie, ich inszenierte Die Gespenstersonate von Strindberg. Piscator kam zur ersten Probe und erzählte, wie er im Januar 1920 im Tribunal, seinem Königsberger Theater, im Alter von 26 Jahren Arkenholtz gespielt hatte. Als er erzählte, er habe den Helden Arkenholtz am Anfang seiner Karriere gespielt, sprach er auch über seine hohen Ansprüche. Er erklärte, was dieses rätselhafte Stück im Kontext von Königsberg im Jahr 1920 bedeutet habe: Es handelte von Schuld und Verbrechen der vergangenen vergifteten Gesellschaft, davon, wie die unschuldige Jugend kämpfen muss, um nicht selbst zur Schande der Geschichte zu geraten. Der Erste Weltkrieg war gerade zu Ende gegangen, nah genug, seinen schmutzigen Schatten auf die junge Generation zu werfen. Die idealistische Idee einer neuen Philosophie rettet den jungen Mann vor dem Spuk der Vergangenheit. Piscator beschrieb die erste Szene: Heldenhaft hat der junge Arkenholtz ein Kind aus dem Feuer gerettet und den Schauplatz verlassen, bevor man ihm danken oder ihn ehren kann. Nachdem er sich als Held zu erkennen gegeben hat, wird er mit den schlimmsten Aspekten der verrotteten Gesellschaft konfrontiert, die Sünden der Väter sind allgegenwärtig. Die dekadente Gesellschaft, korrumpiert von heimlicher Schuld und Mord, will ihn verführen. Eine schöne junge 167


Frau betört ihn, doch er erkennt ihre Schwäche und steht in seiner Reinheit über dem Bösen. Er ist das Holz der Arche, die die Überlebenden in eine neue Welt bringen wird. Er repräsentiert, was die progressiven Künstler und Denker „die neue Objektivität“ nannten. Zwei Jahre bevor er Die Gespenstersonate spielte, war Piscator der kommunistischen Partei beigetreten. In jenen Tagen vor McCarthy redete er nicht darüber. Brecht und Eisler wurden bald darauf vor das Komitee für unamerikanische Umtriebe zitiert. Er machte uns mit den tiefen sozialen Implikationen dieser Geschichte vertraut, die von Liebe und Dekadenz handelte, und erklärte, wie der Schriftsteller dies angelegt hat. Eigentlich war ich noch nicht so weit, das Meisterwerk inszenieren zu können, aber die starke Besetzung half mir. Eugene Van Grona, ein wunderbarer Tänzer, der sich erst im mittleren Alter entschieden hatte, Schauspieler zu werden, spielte den alten Hummel. Ich wollte ihn ursprünglich als Arkenholtz, weil mich sein heroischer Stil beeindruckt hatte, als ich ihn in seinem Solo Rhapsody in Blue auf der großen Bühne der Radio City Music Hall tanzen sah. Meine Freundin Anna Berger, mit der ich mein ganzes Leben verbunden war, spielte die Köchin. Sie verlieh der Rolle jene fantastische Dynamik zwischen Charakter und Persona, die ihr später eine glänzende Karriere im Theater und in Hollywood bescherte. Ich musste mich mit dem Verhältnis zwischen Regisseurin und Schauspielerin erst vertraut machen. Ich inszenierte das Stück mit Leitern. Die Geister saßen über allen anderen und waren dennoch präsent. Piscator gefielen meine Leitern. Sie waren ein Low-budgetÄquivalent der Jessner-Treppen. Weil die Aufführung im Rahmen des Dramenkanon stattfand, wurde sie nur einmal gezeigt, nämlich am 14. Dezember 1945. Nach meinem Abschluss wurde das Stück im Jahr 1948 noch einmal im Workshop produziert. Howard Friedman führte Regie und bat mich, die junge Dame und die Mumie zu spielen. Louis Criss war Arkenholtz und Alexis Solomis der Hummel. Für das Living Theatre war Die Gespenstersonate ein wegweisendes Werk. 1954 produzierten wir es im Loft-Studio. Julian Becks dunkles Bühnenbild – in meinem Tagebuch beschrieb ich es als „schwarze Höhle, tief, düster, verkohlt … mit leuchtenden Farbflecken in Violett, Orange, Grün und Gold“ – nahm Bezug auf den Schauplatz, den Piscator zehn Jahre zuvor beschrieben hatte. „Stühle wie Spinnen verseuchen das alte Haus, es sind Manifestation der dekadenten Gesellschaft.“ 168


Alan Hovhaness lieferte eine perfekte Komposition für die Living Theatre-Produktion und Richard Edelman spielte Arkenholtz so groß, dass er Piscators Format entsprochen hätte, nur dass sich unsere Ästhetik nicht an der „neuen Objektivität“ orientierte. Piscator zeigte uns, wie man Strindbergs gequälte Welt, die Welt der Antike oder die der modernen Dramatik für eine epische Interpretation öffnet. Als Piscator Arkenholtz spielte, war das zwischen den Dada-Veranstaltungen, die er mit George Grosz 1919 in Berlin organisierte, und den Dada-Abenden in der Kunstgalerie Burchard, die er im Juni 1920 inszenierte. Von Strindbergs Theater, einer Mischung aus Romantik und Psychologie/Freud, ist es jedoch weit zu den wilden Experimenten der Dadaisten. Piscator inszenierte in dieser Zeit auch Wedekind, Kaiser, Gorki und Upton Sinclair! In Dramenkanon und in Theaterforschung lehrte uns Piscator, dass man alle Stücke politisch interpretieren kann, weil jedes Drama den Konflikt beinhaltet, in dem die wirtschaftlichen und hierarchischen Verhältnisse und die Kämpfe der Menschheit ausgetragen werden. Hanneles Himmelfahrt In den ersten drei Februartagen des Jahres 1946 spielte ich Flossie in Gerhart Hauptmanns Hanneles Himmelfahrt. Bei einer der Proben ging mir in ganzer Konsequenz auf, was Hingabe im Theater heißt. Am Ende der Probe gab Piscator bekannt, die nächsten Proben würden Freitagabend und Samstagmorgen stattfinden. Ich hatte schon öfter am Schabbes gearbeitet und jeden einzelnen Fall als Ausnahme entschuldigt. Vielleicht lag es am tiefreligiösen Geist des Stücks, das von einer jungen nach Reinheit strebenden Seele erzählt, jedenfalls kam mir ein Gedanke, den ich bis dahin verdrängt hatte: Ich musste mich zwischen dem Theater und dem Schabbes entscheiden. Da ich mich längst für das Theater entschieden hatte, blieb mir nichts übrig, als die Schabbeskerzen in meiner Garderobe anzuzünden oder in einem Hotelzimmer. So habe ich es mein Leben lang gemacht. Ich zeichnete eine junge Frau, die mit einem Plakat vor einer Synagoge sitzt und die Geistlichen schockiert: „Meine Arbeit ist Gebet und da komm ich nie zu spät.“ Hanneles Himmelfahrt wurde am Workshop zum ersten Mal im Januar 1944 produziert. Marlon Brandos Talent offenbarte sich der Welt in der Doppelrolle als Lehrer, der Hannele rettet, und Christusfigur, 169


die sie vor ihrem gewalttätigen Vater schützt. Auf Stella Adlers Drängen hin war der berühmte Agent Maynard Morris gekommen, er war überwältigt. Im Sayville-Sommertheater gab es eine weitere Aufführung. Als wir das Stück im Februar 1946 spielten, gehörte es bereits zum Mythos Brando. Es war kurz nachdem Marlon in die Welt des Broadways und in Hollywood eingeführt worden war. Hauptmanns großes Meisterwerk Die Weber, eine einfühlsame Dramatisierung des Aufstands der schlesischen Weber von 1844, hatte Piscator 1927 in Berlin inszeniert. Hauptmann befasste sich intensiv mit der sozialen Frage und war außerdem ein Dramatiker, der Geistiges zu behandeln verstand. Aristokraten Aristokraten von Nikolai Pogodin ist ein großartiges Stück über den Bau des Belomorkanals mithilfe von Zwangsarbeit. Als sowjetisches Dokument des Fünfjahresplans und seiner Arbeitseffizienz dramatisiert es die Anstrengung der Sowjetunion, ein technologisch anspruchsvolles Projekt mit Willenskraft, Mut und dem missbräuchlichen Einsatz von Zwangsarbeit durchzusetzen. Ich spielte eine sehr junge Gefangene und hatte ein paar schöne komische Szenen mit Anna Berger, die mich als „erfahrene“ Gefangene anzulernen versucht. 60 Jahre später erfreuen wir uns immer noch daran. Wir spielen die Szene nach, in der sie mir das Spucken beibringt und wie man einen Mann ersticht. Piscator wollte nicht, dass die Brutalität realistisch ist, aber ich fragte mich, warum er zögerte, die rohe Verzweiflung im Leben der Gefangenen zu zeigen. Chouteau Dyer, die hauptsächlich für die Regie von Akristokraten verantwortlich war, schrieb ein kleines Lied für uns weibliche Häftlinge, wir sangen es, als wir mit den Schaufeln zur Arbeit marschierten: Seht die Weiber, ihre Leiber wie sie graben in dem Gras, wie sie stecken fest im Dreck, bis zum … G’nick!

Piscator fand das zu heftig und wir bedauerten, dass wir es weglassen mussten. Wieder interessierte sich Piscator mehr für meine Texte als für mein Spiel. Er bat mich, für den Chor eine Kantate zu schreiben, die dem Stück einen epischen Rahmen gibt. Meine oratorische Kantate begann so: 170


Es war ein Händler namens Bakin, Er lebte 1789, Und der Händler Bakin Ging zum Zaren und sagte: Es gibt Gold und Kupfer und Öl Tief in Karelien, Bring es zum Weißen Meer, zum Wohle Russlands, und für mein Geschäft …

Dann erzählte sie die Geschichte des Belomorkanals, der natürlich nicht vom Zaren gebaut wurde, sondern von der Sowjetunion. Das Stück ignoriert die Unterdrückung der Gefangenen, auch Piscator ging nicht darauf ein, auch meine Kantate tat dies nicht. Stattdessen betonte das Stück den Triumph des kommunistischen Arbeitsethos, aufsässige Gefangene wurden als unkooperative Flegel dargestellt, die sich bessern sollten. Die Bühne hatte eine beispielhaft epische Konstruktion. Man spielte auf einer hölzernen Drehscheibe, die über der Bühne des President Theatre gebaut war. Die Drehscheibe war nicht motorisiert, sie wurde von Schauspielern mit zwei Seilen betrieben. Das sei schwerer, als den Belomorkanal auszuheben, klagten wir gern. In The Piscator Experiment schreibt Maria Piscator über das Bühnenbild der Aristokraten: Die Bühne war offen und leer. Auf der Drehscheibe vier bewegliche Leinwände, die mit Stahlrohren auf Wägen installiert waren und von vier Schauspielern in verschiedene Positionen und Formationen gerollt wurden. Wechselnde Bilder wurden auf die Leinwände projiziert, eine ganz andere Art zu erzählen. Mithilfe der Drehscheibe konnten Bühne und Leinwände unabhängig voneinander bewegt werden. Es entstanden Zimmer mit Wänden oder Baumreihen. Eine Leinwand zeigte das Bild von Gefängnisbaracken, eine andere die Karte des Gebietes; auf der dritten sah man eine Statistik zum Fortschritt, den die Baustelle machte, und auf der vierten die Arbeiter und ihre Slogans.

Nicht immer verursachte Piscators „Technik als künstlerische Notwendigkeit“ hohe Kosten. In der letzten triumphalen Szene, nachdem der Kanal fertig war, marschierten die Schauspieler an die Rampe, die 171


Leinwände gaben als große Banner die Richtung vor und sie sangen die letzte Strophe meiner Kantate im heroischen Stil der Sowjets: Das Stück hier handelt von Menschen, Von arbeitenden Menschen, Von Menschen, die den Sieg vorbereiteten, Von Menschen, die den Frieden vorbereiteten – nach dem Krieg – Menschen wieder vereint. Wir widmen diese Geschichte Der Einigkeit der Menschen, Der Einigkeit Aller Menschen!

Aristokraten wurde im President Theatre am 10. und 26. April 1946 uraufgeführt. Julius Bab rezensierte es am 2. Mai in der New Yorker Staats-Zeitung, das weiß ich noch, weil mein Name zum ersten Mal in einer Kritik erschien. Weitere Aufführungen fanden am 5. Mai und am 19. und 20. Dezember statt. Im Januar 1947, nach meinem offiziellen Abschluss am Workshop, als Julian Beck und ich bereits Pläne für das Living Theatre schmiedeten, gab es eine Wiederaufnahme im Rooftop Theatre. Mehrere Proben waren nötig, um die Inszenierung an den wesentlich größeren Raum anzupassen. Weitere Vorstellungen liefen vom 15. bis 19. und vom 22. bis 27. Januar. Dann im Februar am 1., 2., 8., 9., 15. und 16., in meinen Notizen ist es die letzte von vielen Aufführungen. Agamemnon Howard Friedman, Philosoph und unter den Studenten mein besonderer Freund, inszenierte Agamemnon für den Dramenkanon. Die Rolle des Königs gab er dem starken Schwarzen Schauspieler Marcus St. John. Ich spielte Kassandra in einem Kostüm, das meine Mutter aus einem alten Vorhang zusammengestückelt hatte. Um Friedmans wissenschaftlichem Anspruch gerecht zu werden, sprach Kassandra die ersten Verse auf Griechisch: Apollo, Apollo, mein Führer Wohin hast du mich geführt, Und zu welchem Haus?

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Wie üblich kam Piscator und redete mit dem Ensemble über das Stück, damit wir unsere Motivation besser verstanden. Er sagte: Die Könige sind mit den Göttern verwandt, man darf ihnen nicht widersprechen. Wenn wir uns gegen einen Gott stellen, dann nur mithilfe eines anderen Gottes – die Rivalität unter den griechischen Göttern war nämlich schlimmer und unerbittlicher als jeder Streit unter Sterblichen. Wir können uns mit dem einen gegen den anderen verbünden und wertvolle Allianzen schmieden. Der Trojanische Krieg erzählt von solchen Allianzen. Heutzutage kommen all diese Strategien und Kriegslisten ohne Unterstützung der Götter und Dämonen zustande, die irdischen Reichen und Mächtigen haben den Platz der himmlischen Mächte usurpiert, nun beherrschen sie uns und unsere Leidenschaften.

Friedman, ein echter Visionär, meinte, nur Brancusis Skulptur Bird in Space, dieses großartige Werk mit seiner reinen Form, die noch in der Starre Bewegung impliziert (es befreit das Konzept des Minimalismus von vielen Dummheiten, die in seinem Namen gemacht werden), könne Piscators Analyse von Aischylos’ Meisterwerk zum Ausdruck bringen. Er beauftragte einen Bildhauer eine golden bemalte Kopie aus Holz anzufertigen. Auf einem Podest beherrschte sie die Mitte der Bühne als Bildnis des göttlichen und menschlichen Unfriedens. Im vertikalen Bild des Flugs und im poetischen Bild des Vogels war die Überwindung des Unfriedens angelegt. Agamemnon wurde nur einmal aufgeführt, nämlich am 31. Mai 1946 für den Dramenkanon. Kreidekreis Im September 1925 hatte Max Reinhardt Klabunds Version des chinesischen Klassikers Kreidekreis mit Elisabeth Bergner als Hai-Tang zum ersten Mal am Deutschen Theater in Berlin inszeniert. 1931 hatte Piscator am Wallner-Theater in Berlin Tai Yang erwacht von Friedrich Wolf inszeniert, ein „Gegenentwurf“ zu Klabunds Version. Wolf konterte mit einer Geschichte über Arbeitsbedingungen in China, seine Heldin organisiert einen Arbeiterstreik in einer Spinnerei. Lebenslang war Wolf Piscators Kollege und Freund. Nach dem Krieg setzte er sich – gegen Piscators Widerstand und den der orthodoxen deutschen Kommunisten – ausdauernd dafür ein, Piscator zurück nach Deutschland zu holen. 173


Das Bühnenbild für Tai Yang erwacht hatte Piscators Mitarbeiter John Heartfield entworfen; die Bühne voller Banner mit Statistiken und politischen Aufschriften, die man auch als Leinwände für Projektionen nutzen konnte, eine Piscator-Technik. Sie nahm das Bühnenbild für Die Aristokraten am Dramatic Workshop vorweg. In London wurde Kreidekreis am New Theatre von Basil Dean inszeniert mit Anna Wong in der Titelrolle und Laurence Olivier als Prinz Pao. Am 24. Mai 1941 zeigte Piscator Klabunds Kreidekreis am Studiotheater in der Regie von James Light mit Dolly Haas in der Hauptrolle. Das Stück folgte als zweite Produktion im Studiotheater auf König Lear und blieb im Repertoire des Dramatic Workshop. Als ich dazukam, war James Light schon nicht mehr da. Chouteau Dyer inszenierte und Piscator hatte ein Auge darauf. Priscilla Draghi spielte Hai-Tang. Das Stück erzählt von einem Mord, außerdem geht es um einen Säugling mit unbekannten Eltern und darum, wie das alles salomonisch gelöst wird. Es handelt von einer mutigen Person, die in einer von Ungerechtigkeit und Ungleichheit zerrissenen Welt ein Leben zu führen versucht. Ich war zuerst für den Requisitentisch zuständig, der mit Fächern, Lampions und allen möglichen chinesischen Utensilien beladen war. Es war Mai 1945, ich war immer noch neu an der Schule und begeistert davon, backstage sein zu dürfen. Später, im Dezember 1946, spielte ich eins der drei Teehausmädchen. Die Produktion war ein deutlicher Kommentar zur Klassengesellschaft. Zu leichten asiatischen Klängen sangen wir: In Tongs Hof sind viele Männer ich bin Spielzeug gegen Geld, ihre Lust und ihr Verlangen, kriegen alles, nur nicht, was ich denk.

Interessant, dass man sich noch an die Lieder erinnert, wenn die Geschichte längst vergessen ist. Klabund war das Pseudonym für Alfred Henschke. Wie Wolf war er Piscators Studienkollege und enger Freund gewesen. Klabund war Dichter und Pazifist, er war mit der bekannten Schauspielerin Carola Neher verheiratet. 1944 schrieb Brecht Der kaukasische Kreidekreis, eine Bearbeitung des Stücks von Klabund. Als Brecht das Stück in Amerika schrieb, hatte er an den Broadway gedacht, konnte aber keinen Produzenten 174


finden. 1948 wurde das Werk am Carleton College in Northfield, Minnesota, in Eric Bentleys Übersetzung zum ersten Mal aufgeführt. Bentley inszenierte es am Hedgerow Theatre in Philadelphia und in den USA blieb es jahrelang Brechts beliebtestes Stück. Die Fliegen von Jean-Paul Sartre Piscators Produktion von Die Fliegen ist ein hervorragendes Beispiel, wie man mithilfe eines antiken Mythos zeitgenössische Politik und Philosophie betrachten kann. Eine Redewendung sagt: „Die Orestie wird nie langweilig.“ Die antiken Werke lassen sich immer wieder neu interpretieren – ob tiefsinnig oder frivol, progressiv oder reaktionär, politisch oder philosophisch. Sartre nimmt die Figur des Orest und die ihn verfolgenden Furien und zeigt, wie wir uns von der Last der Schuld, der Bürde unserer Verbrechen befreien können. Indem Orest sich von den Furien befreit, befreit er sein Volk von der Tyrannei. In Die Fliegen spielte ich die Chorführerin. (Ich gebe gern damit an, dass ich die Hauptrolle spielte.) Wir trugen schwarze Trikots, unsere Gesichter hinter schwarzen Netzen verborgen. Wir schwirrten und tanzten um den schlafenden Orest und Elektra herum und sangen: „Wir setzen uns auf dein verfaultes Herz! Wie Fliegen auf ein Stück Brot –“ Als Orest uns am Ende wegjagte, sprangen wir über den Orchestergraben und verschwanden in den Gängen im Zuschauerraum. Immer wieder scheiterte jemand an diesem Sprung und landete mit verknackstem Knöchel im Orchestergraben. Wir Furien wurden immer weniger. Für uns war Orests Triumph über seine Schuld also eine riskante Sache. Piscator bat mich, ein Lied zu schreiben, das eine Verbindung zwischen der antiken Geschichte und dem besetzten Frankreich herstellte. Als Sartre aus der Kriegsgefangenschaft entkommen war, hatte er sich dem Widerstand angeschlossen. Das Stück sollte seine Erfahrung spiegeln. Ich schrieb das Lied und Piscator hatte eine noch bessere Idee. Als Prolog projizierte er Filmmaterial, auf dem zu sehen war, wie die Nazis auf den Champs Élysées und durch den Arc de Triomphe marschieren. Charles Dullin hat Die Fliegen 1943 im Theatre de la Cité im besetzten Paris uraufgeführt. Maria Piscator glaubte, die Deutschen hätten die Aufführung nur erlaubt, um ihre kulturelle Überlegenheit zu 175


beweisen. In The Piscator Experiment schreibt sie: „Die Fliegen waren mehr als ein existentielles Credo, sie waren Aufruf zum Widerstand.“ Mit dem filmischen Prolog löste Piscator eine Kontroverse aus. Während der Generalprobe sprachen sich mehrere Leute, auch John Gassner, dagegen aus. Sie meinten, der Effekt des Prologs schwäche die klassische Struktur. Als die Nachricht der Kontroverse Sartre erreichte, schickte er Simone de Beauvoir als Abgesandte nach New York. Piscator schlug vor, die Voraufführungen in zwei Versionen zu zeigen, einmal mit und einmal ohne den Film. Es war offensichtlich, dass das Publikum enthusiastischer reagierte, als es mit Vorspann gezeigt wurde. Auch Simone de Beauvoir war dafür und nannte die Inszenierung „ein seltenes Experiment, in dem das Theater über seine geistlose Selbstgerechtigkeit hinauswächst und dem Publikum eine aktive Rolle zugesteht“. De Beauvoir kam hinter die Bühne, um unsere Arbeit zu loben. Unter einem Pappmaché-Zeus posierte sie mit uns, Piscator und Maria Ley, Maia Abiliea, Dan Matthews, der Orest spielte, Carol Gustafson als Elektra, Jack Burkhard als Zeus, Walter Matthau als einfacher Soldat und Frances Adler, die der berühmten Theaterfamilie entstammte, als Klytaimnestra. Wir warteten auf die Kamera und ich hörte, wie de Beauvoir zu Piscator sagte: „Dieses Stück spielt nicht in der Vergangenheit, sondern in der Zukunft. Es zeigt die moralische Krise unserer Zukunft.“ Piscator widersprach höflich: „Nein, wir spielen die moralische Krise der Gegenwart.“ Im Programm steht: „Regie: Paul Ransom, Supervision: Erwin Piscator“. Ich zitiere aus Maria Piscators The Piscator Experiment: „Mit ‚Supervision‘ meinte Piscator, dass wir als Gruppe arbeiten, als Einheit, so, als seien wir eine einzige Person. Theater ist ein Kollektiv – äußerst herausfordernd und ambivalent und am Ende setzt sich immer einer durch.“ In meiner Erinnerung an die Proben war Piscator ein mächtiger Supervisor. Paul Ransom leitete die tägliche Probe, aber Piscator setzte seinen Willen durch. Am 17. April 1947 hatte Die Fliegen Premiere. Die letzte Vorstellung fand am 21. Dezember statt. Abgesehen von einer Vorstellung der Gespenstersonate, die Howard Friedman für den Dramenkanon inszenierte, war das mein letztes Stück am Workshop. Es war die Zeit, in der Piscator überlegte, ob er nach Deutschland zurückkehren sollte. Dort wurde diskutiert, ob man ihn als Intendant einladen sollte, um die deutsche Kulturszene wieder aufzubauen. Die176


jenigen, die das Theaterleben in der sowjetischen Besatzungszone, der späteren DDR, aufbauten, sahen Sartre und den Existenzialismus kritisch. Wie der Surrealismus orientiert sich auch der Existenzialismus am Individuum, nicht am Kollektiv. Sogar Wilders Unsere kleine Stadt sahen sie kritisch, weil am Ende die Toten sprechen, und das ihrem Sinn für Realismus widersprach. Brechts Antigone stand in der Kritik, weil es darin um die Entscheidung einer einzelnen Person geht. Für Sartres Orest ist die existenzielle Entscheidung persönlich und deshalb steht er für einen gefährlichen Individualismus, auch wenn er sein Volk befreit. Die Kritik an Piscators Produktion der Fliegen hat es ihm nach seiner Rückkehr nach Deutschland schwer gemacht. Wie in den USA misstrauten viele seiner politischen Einstellung. In Amerika betrachtete man ihn als potenziellen Kommunisten, in Deutschland fand man, er sei nicht kommunistisch genug. Das war der Grund, weshalb Piscator, als er 1951 nach Deutschland zurückgekehrt war, zunächst in Provinztheatern arbeiten musste. Deshalb dauerte es elf Jahre, bis er in Berlin ein eigenes Theater bekam. Heute Abend wird aus dem Stegreif gespielt – Pirandello: Zum Publikum vorstoßen Luigi Pirandello formulierte auf der Bühne grundsätzliche Theaterfragen, ohne dass darüber die Poesie verloren ging. Durch Piscators Inszenierung von Heute Abend wird aus dem Stegreif gespielt beschäftigten Julian Beck und ich uns erstmals mit der Frage, wer der Schauspieler im Verhältnis zum Zuschauer eigentlich ist. Piscator experimentierte in seiner großen Inszenierung von Heute Abend wird aus dem Stegreif gespielt mit den theatralischen Konzepten, die ihn beschäftigten und die später auch für die Arbeit des Living Theatre so wichtig wurden. Fiktion und Realität des Theaters kollidieren in Heute Abend wird aus dem Stegreif gespielt mit der Realität der Schauspieler und dem Hier und Jetzt der Zuschauer. Oft wissen wir nicht, welcher Wirklichkeit wir glauben sollen, und es fällt schwer, die Dualität des Schauspielers zwischen echter Präsenz und fiktiver Rolle zu fassen. Im Workshop spielte ich in dem Kabarett, in dem der Protagonist Samponetta der traurigen Sängerin begegnet, die Rolle des von Absinth betrunkenen Gasts. Meine Mitschülerin Elaine Stritch, Nichte eines Kardinals und später am Broadway berühmt, spielte die Sänge177


rin. In Heute Abend wird aus dem Stegreif gespielt sang sie das Lied, mit dem Piscator mich für diese Gelegenheit beauftragt hatte: Für Liebe die Seele verkauft und nun nur noch Lücke, Bevor ich sie querte, verbrannte die Brücke. Die Seele ist futsch, höllentief sie versenkt. Keine Welt zu gewinnen für mich, Aber Sünden hab ich mir geschenkt.

Wie schon der Titel nahelegt, ist Theater das Thema von Heute Abend wird aus dem Stegreif gespielt. Die Schauspieler spielen ein Familiendrama, bleiben dabei immer Schauspieler und werden vom Regisseur manipuliert, der selbst Schauspieler ist. Am Ende verschmelzen die Realitäten und die Hauptdarstellerin spricht, sterbend und misshandelt, Pirandellos großen Monolog darüber, was Theater wirklich ist. Pirandello hatte die Rolle für seine geliebte Marta Abba geschrieben, eine wunderbare Schauspielerin, die, solange sie lebte, nicht erlaubte, dass eine andere Schauspielerin diese Rolle spielte, nicht mal, als sie dafür schon viel zu alt war. Sie wurde 88 Jahre alt. So lange stand das Stück also im Regal und durfte nur in Schulen gespielt werden, u. a. im Workshop. Am Ende des zweiten Aktes geht die Familie ins Theater, in den Augen der Sizilianer unmöglich, sie halten das für skandalöses neapolitanisches Benehmen der Mutter. Die Mutter, ihre Töchter und deren Freunde, die der italienischen Luftwaffe angehören, betreten den Theatersaal und stiften Chaos. Diese Art der vermischten Realität war für Piscator bedeutsam und für das Living Theatre war sie der Grund, aus dem es sich später zwei Mal entschied, das Stück zu produzieren. In der Inszenierung des Living Theatre ersetzten wir den Namen des Regisseurs Hinkfuss durch Beckfuss, um auf Julian Becks Regiekonzept und die deutsche Wurzel hinzuweisen, die Pirandello sicher im Sinn hatte. Die meisten Kritiker meinten, dies spiele auf Max Reinhardt an. Das erste Mal produzierte das Living Theatre Heute Abend wird aus dem Stegreif gespielt im Jahr 1955 im Loft Theatre am Broadway Ecke 100. Straße. Ich spielte die von Marta Abba beanspruchte Rolle der Mommina, im Workshop hatte Priscilla Draghi sie gespielt. In der ersten Stegreif-Produktion besuchte die Familie eine Vorführung von Julians Film Sicily, Land of Passion, den er mit einer 8-mm-Kamera gedreht hatte. Er zeigte Animationen abstrakter Zeichnungen und 178


Madonnenfiguren. In der zweiten Produktion 1960, im damaligen Stammhaus des Living Theatre an der 14. Straße, ging die Familie in die Oper, wo Jerry Raphael als Pagliacci playback zu einer kratzigen Schallplatte sang. 1955 suchte das Living Theatre nach einer anderen Rolle für die Zuschauer und ging weiter, als Piscator oder Pirandello es erlaubt hätten. Als wir den Zuschauerraum betraten, setzte sich Mommina, die koketteste der Schwestern, auf den Schoß eines Zuschauers. Als ihr eifersüchtiger Freund will, dass sie aufsteht, bittet sie den Zuschauer um Beistand. Der Zuschauer musste entscheiden, wie er sich verhalten solle, er musste sich fragen, ob es für ihn gefährlich werden könne. Weder Pirandello noch Piscator waren bereit gewesen für eine Reaktion des Publikums, das improvisierte oder sich verantwortungslos verhielt. Das gesamte Ensemble musste sich darauf einlassen, sich all dem zu stellen, und das erforderte größeres Vertrauen ins Publikum, als Piscator es aufbringen konnte. Das Living Theatre verpflichtete sich zu diesem Experiment. Kandinskys große Erkenntnis Bei der ersten Ausstellung der Impressionisten in Moskau im Jahr 1888 stand Kandinsky vor Monets Strohschober im Sonnenlicht und war wie vom Blitz getroffen, es war einer der wichtigsten Momente in der modernen Kunst. Kandinsky erkannte, dass Farbe für die Malerei wichtiger ist als das Sujet. Und das veränderte alles in der Kunst. Auf ähnliche Weise erkannte Piscator, als er die Prinzipien dessen formulierte, was er objektive Spielweise nannte, dass das Publikum für den Schauspieler wichtiger ist als die fiktive Handlung des Dramas. Für Kandinsky war Farbe die eigentliche Realität. Monets Strohschober war ein Konstrukt, das Monet dem Betrachter durch das Medium Farbe vermittelte. Die Präsenz des Publikums ist echt. Das Drama ist ein Konstrukt, das dem Publikum vom Autor, den Schauspielern und dem Regisseur vermittelt wird. In Actors on Acting sagt Piscator über den objektiven Schauspieler: „Er spielt im Bewusstsein, dass das reale Leben wichtiger ist als das Stück, er weiß aber auch, dass es in diesem Moment kein passenderes Beispiel für das Leben gibt als dieses Stück. Es ist die Begrenztheit des Theaters gegenüber der Grenzenlosigkeit des Lebens.“ 179


Piscator und das Publikum Piscator lehrte keine spezifische Schauspieltechnik. Ihm war wichtig, dass die Lehrer an seiner Schule uns mit verschiedenen Disziplinen vertraut machten. Piscator brachte dem jungen Schauspieler bei, sich des Publikums bewusst zu sein. Der Fokus des Schauspielers sollte nicht etwa in der Bühnenmitte liegen, sondern beim Publikum. Der Schauspieler sollte dem Zuschauer ins Auge blicken, der Blick sollte also gerade nicht „über die Köpfe der Zuschauer gleiten, als seien sie gar nicht da“. Piscator schrieb: Ich finde solches Verhalten fast beschämend, weil es den Schauspieler demütigt. Sein Kontakt mit dem Publikum geht verloren, es bringt ihn in eine falsche und unfaire Lage. Man kann zusehen, wie sich die Situation verändert, wenn er das Publikum anschaut. Die Bühne erwacht zum Leben. Mit seinem direkten Blick schafft er eine echte Verbindung zwischen Schauspieler und Publikum, er stellt Kontakt her und verleiht so der Handlung Realität.

Objektive Spielweise ist keine Schauspieltechnik, sondern eine ästhetisch politische Haltung. Unter den Schauspiellehrern am Dramatic Workshop waren führende Vertreter der Methoden von Stanislawski, Meyerhold, Wachtangow und der Commedia dell’arte. Darunter auch Stella Adler, die vor meiner Zeit dort unterrichtet hatte. Herbert Berghof blieb dem Workshop als Gastschauspieler erhalten, nachdem er sein eigenes Studio gegründet hatte. Und Lee Strasberg, bei dem ich zwei Kurse belegte, bis mir klar wurde, dass seine Methode nichts für mich war. Später leistete er mit dem Actor’s Studio großartige Arbeit. Was für Piscator zählte, war Intensität in der Kommunikation, sie sollte auch frei sein von Emotion. Wenn es authentisch ist, findet der Schauspieler Mittel für eine gelingende Kommunikation. Piscator aber blieb beim Blick stehen, beim Augenkontakt. Warum soll der Schauspieler den Zuschauer nicht direkt ansprechen können? Und warum kann der Zuschauer nicht antworten, Worte finden, streiten, schreien … spielen? Für Piscator war das Publikum zwar das Epizentrum, er hatte aber auch Angst davor. In Actors on Acting schrieb er: Wenn wir ein intelligentes Publikum haben wollen, für das Theater mehr ist als Unterhaltung, müssen wir die vierte Wand einreißen.

(Cole and Chinnoy, 1949) 180


Schon 1929 hatte er geschrieben: Indem man jede Barriere zwischen Bühne und Zuschauer abbaut, jeden einzelnen Zuschauer in die Handlung einbezieht, schmiedet man das Publikum zu einer Masse, für die Gemeinschaft kein angelesenes Konzept mehr ist, sondern eine Erfahrung im Theater.

Die Bühne war ein abgeschotteter Raum und wir Schauspieler gefangen in der Sicherheit, der Sorglosigkeit des Proszeniums, der Vorhänge, der Lichtkegel und der sie umgebenden Dunkelheit, all das Aspekte einer Gefangenschaft, in der wir sicher waren – fern des Schmerzes und der Gefahren des Lebens. Piscators Theater drückte die Tür auf zu diesem Raum und im Spalt, der uns die Sicherheit der Tradition kostete, lag die Befreiung, die das Theater für immer veränderte. Die Schauspielerin kann nicht mehr tun, als wäre sie jemand anderes, ihre Präsenz ist keine Erfindung, wir stehen im Licht der Realität. Schauspiel kann nicht mehr so tun als ob. Zwar können wir dem Zuschauer den Charakter der Hedda Gabler oder des Julius Caesar zeigen, aber nur noch im Sinne des Erzählers, der in Piscators Theater eine Realität der anderen gegenüberstellt und uns zeigt, wie und warum sie einander ähneln oder sich unterscheiden. Das heißt, ich bin nicht Antigone, ich zeige euch, was Antigone, meiner Auffassung nach, fühlte, was sie wusste, wie sie sich bewegte, was sie tat, als sie sich der Autorität widersetzte. 1927 sagte Piscator, „Die Massen haben die Wichtigkeit unseres Theaters erkannt. Sie wissen, daß hier ein Teil der Front ist, an der um ihr Schicksal gekämpft wird.“ Während seiner Karriere erlebte Piscator zwei Phasen, in denen er vom Publikum tief enttäuscht war. Das erste Mal, das notierte er 1929, als das Proletariat, die Arbeiterklasse, sein Berliner Theater trotz der niedrigen Kartenpreise nicht besuchte. Er klagte: Leider haben die Arbeiter ihre Unterstützung aufgekündigt trotz der intensiven Werbearbeit, die in allen Betrieben und Organisationen geleistet wurde, das Theater blieb leer. Soweit es in meiner Kraft steht, soll das Theater wieder Instrument des Kampfes werden. Auf lange Sicht reicht mein Wille nicht aus. Die Arbeiterschaft muss endlich erkennen, dass die Piscator-Bühne … und die Volksbühne Objekte sind, die sie sich erkämpfen muß. Je mehr Plätze im Theater die Arbeiterschaft einnimmt, desto stärker wird die Piscator181


Bühne ihre Gedanken, ihre Kämpfe und Probleme zum Ausdruck bringen können. Ein revolutionäres Theater ohne sein lebendigstes Element, nämlich ein revolutionäres Publikum, ist ein Unsinn. An Eurer Aktivität wird es zum großen Teil liegen …, ob die PiscatorBühne wieder den Vorhang fallen lassen muß, in der bitteren Erkenntnis, daß wohl die Zeit reif ist für ein revolutionäres Theater, nicht aber das Proletariat.

Was für ein tragischer Absatz! Die zweite, noch tragischere Enttäuschung bestand darin, dass die Deutschen Hitler und dem Nazismus die Macht überließen. Mit diesen Einsichten rechtfertigte er die Notwendigkeit des Erzählers im Theater, denn das Publikum brauche jemanden, der „erklärt“. Man könne dem Publikum nicht zutrauen, auf Basis von Informationen „eigene Entscheidungen zu treffen“. Dieser Vertrauensverlust, den Piscator als Erster formuliert hat, war gleichbedeutend mit einem Vertrauensverlust ins Volk. Er hatte auch Folgen für Piscators Vertrauen ins eigene Tun. Historisch gesehen bedeutete der Faschismus das Scheitern aller. Wenn wir uns entmutigen lassen, bedeutet das, dass der Faschismus siegt, und das können wir nicht zulassen. Piscator verzweifelte nicht gänzlich am Publikum, er fand nur, er müsse es stärker anleiten.

Objektive Spielweise Episches Theater erforderte nach Piscators Ansicht „einen neuen Schauspieler“. Weder der deklamatorische Stil des klassischen Schauspielers noch, wie Piscator es ausdrückte, der „tschechowsche Schauspieler, der sich hinter der vierten Wand selbst hypnotisiert“, erfülle den Zweck der epischen politischen Kunst. Brechts Behauptung, Verfremdung sei der Ausweg aus Stanislawskis Sackgasse, war in Piscators Augen ein romantisches Konzept. Seiner Meinung nach „formuliert auf Basis des klassischen Theaters des Orients“. Er stimmte aber mit Brecht überein, dass „die Handlung vorgeführt werden solle, anstatt uns mit Empathie hineinzuziehen“. Piscator sagte: Ich will den ganzen Menschen erreichen. Ich will Intellekt und Gefühl höchstens trennen, um sie auf einer höheren Ebene wieder zu 182


vereinen. Der Schauspieler muss sich stark kontrollieren, damit ihn seine Gefühle nicht überwältigen. Er braucht das, was ich als „neue Objektivität“ bezeichne.

„Neue Objektivität“ war eine Formulierung, die Künstler inspirierte, als im April 1919 die Münchner Räterepublik ausgerufen wurde. Die politische Freiheit, wie sie sich im Experiment einer anarchistischen Gesellschaftsorganisation ausdrückte, fiel mit der künstlerischen Suche nach neuen Formen zusammen. Damals besetzten Künstler die Regierung, sie hatten nämlich vor, das Wagnis des künstlerischen Experiments in die politische Arena einzuführen. Der Versuch endete in einem blutigen Massaker. Unter den visionären Anführern, die verhaftet wurden, waren der Dichter Erich Mühsam und der Dramatiker Ernst Toller. Der Philosoph Gustav Landauer wurde von rechtsextremen Sturmtruppen, den Freikorps, erschossen. Während der Haft schrieb Toller das politische Drama Die Wandlung, das im September 1919 in Piscators Theater Die Tribüne aufgeführt wurde. Und dann war das Konzept der „neuen Objektivität“ für Jahrzehnte vergessen. Den Begriff objektive Spielweise habe ich im Workshop nie gehört. Durch Maria Ley hörte ich später davon, ich las Piscators Definition in seinem Beitrag für den Band Actors on Acting. Um Piscators Theorie der objektiven Spielweise wurde viel zu viel Gewese gemacht. Objektive Spielweise meint ein Spiel, das seine Motivation aus der Anwesenheit des Publikums bezieht, anstatt es hinter der vierten Wand zu ignorieren. Objektive Spielweise bedeutet, dass das Theater vom Zuschauer inspiriert ist, vom Zuschauer transformiert wird, dass es gegenüber dem Zuschauer Verantwortung trägt. Sie unterscheidet sich hierin von Stanislawskis Konzept, bei dem sich die Schauspielerin auf die fiktionale Figur bezieht und sich in die Fiktion versetzt. In ihrer wichtigen Studie, Erwin Piscator im Exil in den USA erklärt Thea Kirfel-Lenk Piscators Essay Objektive Spielwiese so: Piscator erklärte eindringlich, daß einer der beiden Pole im Theater der Zuschauer ist, der den gleichen Anteil an der Sache hat, die auf der Bühne abgehandelt wird, wie der Schauspieler. Für den Darsteller muß das Zentrum seiner Aufmerksamkeit im Zuschauerraum liegen und nicht, wie es Stanislawski lehrte, auf der Bühne. Er muß den Zuschauer in den Spielprozeß einbeziehen, er muß ihn 183


befähigen, mit ihm zusammen quasi über die Schulter des Schauspielers zu blicken. Selbstverständliche Voraussetzung dafür ist, daß er die im Naturalismus wurzelnde und auf der amerikanischen Bühne noch heimische Als-ob-Haltung ablegt, die zur Verstellung zwingt, weil sie die Anwesenheit der Zuschauer leugnet. Piscator sah im Schauspieler den Unterhalter und vor allem den Erzieher des Zuschauers zu einem intelligenten Partner, von dem er über „das Wunder Welt“ etwas erfahren will. Dieser Kontakt wirkt auf die Erkenntnisfähigkeit und Urteilsbildung des Zuschauers wie des Schauspielers ein. Beide müssen Partner sein, einer ist ohne den andern der Objektivität nicht fähig; erst gemeinsam schaffen sie ein wahrheitsgetreues Bild der Realität.

(Kirfel-Lenk, 1984, S. 107) In seinem Kurs The History of Performance behauptete Mel Gordon an der New York University, objektive Spielweise sei ein Mythos. Jeder Student, der dafür eine befriedigende Definition liefern könne, bekäme eine Eins. Meine Tochter Isha Manna Beck studierte bei ihm. Als sie Maria Piscator zu diesem Thema interviewt hat, berichtete sie: In Madame Piscators Archiv gibt es eine Metallkiste mit mehreren hundert Karteikarten – rund 300 Stück, sagt Frau Piscator, mit Schauspielübungen, die sie der Forschung gern zu Verfügung stellen würde. Wie viele dieser Übungen Piscator selbst entwickelt hatte, ob einige oder alle nach seiner Rückkehr nach Europa aus seinen Schriften abgeleitet wurden, als Madame das Piscator Institut gründete, das ist alles nicht erforscht.

Als Maria Piscator 1999 im Alter von 101 Jahren starb, wurde ihr umfassendes Archiv in verschiedenen Institutionen untergebracht. In den letzten Jahren machte sie sich große Sorgen um Piscators Dokumente. Das meiste wurde zu ihren Lebzeiten der Akademie der Künste in Berlin und der Morris-Bibliothek an der Southern Illinois University in Carbondale übergeben. Jahrelang bog sich ihr Esstisch unter Fotografien und Manuskripten, die sie und ihre Assistenten und Praktikanten unentwegt sortierten. Ich erinnere mich sehr gut an die Metallkiste mit den 300 Karteikarten, von der sie Isha Manna erzählt hat. Mir gegenüber erwähnte sie sie nie, weil sie wusste, ich hätte sie mir umgehend anschauen wollen. Damals gaben wir an der New School gemeinsam ein Seminar über Piscator. 184


Ich vermute, Maria Ley-Piscator hat absichtlich vertuscht, was Piscators Theorie der objektiven Spielweise bedeutet, und zwar weil sie entweder deren Intention nicht verstanden hatte oder weil sie deren politische Bedeutung sehr wohl verstanden hatte, Piscator aber vor dem Wagnis beschützen wollte, seine politischen Ideale zu offenbaren. Wie die Poesie, so ist auch das Theater zuerst eine Form der Kommunikation. Tausende von Menschen schaffen reine Poesie, wenn sie Lieder, Madrigale oder Epen singend durch den Wald spazieren. Wenn das nicht kommuniziert wird, haben nur die Poeten selbst etwas davon. Die Künstlerin hat ihre Seele in Worte gelegt, vertraut sie dem Papier an, trägt oder singt sie jemandem vor und berührt nicht nur sich selbst, sondern den anderen und der andere ist das Ziel der objektiven Spielweise. In der objektiven Spielweise hat der andere die Aufmerksamkeit des Schauspielers, so schafft er ein soziales, ein politisches Feld. Objektive Spielweise ist politisches Theater. Die politische Bedeutung der objektiven Spielwiese hängt an der Rollenverteilung in der sozialen Struktur des Theaters. Der objektive Schauspieler ist nicht mehr bezahlter Angestellter des Publikums, sondern Partner einer gemeinsamen Forschung. Das aktiv teilnehmende Publikum ist nicht mehr passiver Beobachter der Handlung, sondern treibende Kraft, die dem Drama die Richtung gibt und die Schauspieler mit Energie auflädt. So wird das Stück Beispiel für unser Leben, es weist in Richtung Utopie, in der alte Herrschaftsstrukturen und Unterdrückung – siehe Klassenkampf – durch eine neue, produktivere Beziehung ersetzt werden, die alle Anwesenden vereint. Objektive Spielweise ist keine Technik. Weder ist sie eine Art zu unterrichten, noch ist sie eine Methode. Sie ist Anerkennung aller Anwesenden durch die Schauspielerin und Verpflichtung, ihre persönliche Haltung, ihre Wahrheit darzustellen. Wenn alle Schauspieler, der Regisseur und alle an der Produktion Beteiligten sich auf dieser Ebene gegenseitig anerkennen, ist Episches Theater möglich.

Zwischen zwei Welten Eines Nachmittags, ein paar Tage nachdem der Krieg in Europa zu Ende war, bat Piscator fünf Leute in sein Büro, darunter einige seiner Lieblingsschüler und andere, die Deutsch sprachen. Wer außer Gene Van Grona und Chouteau Dyer noch dabei war, weiß ich nicht mehr. 185


Zuerst sprach Piscator über das Ende des Krieges. Daraus, dass wir diesen historischen Moment erlebten, den Anfang eines neuen Kapitels in der Weltgeschichte, leite sich für uns eine Verantwortung ab. Nach Kriegsende werde er nach Berlin eingeladen, damit er seinen Posten an der Freien Volksbühne wieder einnehmen könne, meinte er. Uns fünf bat er, ihn und sein Team zu begleiten! Der Gedanke, mit Piscator in der gerade befreiten Stadt zu arbeiten, aus der Hauptstadt der Nazis heraus unsere schöne neue Welt zu erschaffen, erfüllte uns mit Ehrfurcht! Es sei noch vieles zu klären, sagte er. Ich ging davon aus, dass er von einer Rückkehr in den Ostsektor sprach, dorthin hatte er tragfähige Verbindungen. Die trennende Mauer wurde erst Jahre danach erbaut. Er erwartete also, in einen der Berliner Teile (Ost?, West?) abberufen zu werden, aber das passierte nicht. Wir waren auf ein großes Abenteuer vorbereitet. Wir warteten. Wochen vergingen. Piscators Gesicht wurde trauriger. Mit uns redete er nicht darüber. Zumindest nicht mit mir. Während die Monate vergingen, wurde aus Hoffnung Verzweiflung. Jahre vergingen, keine Einladung. Im Januar 1947 schloss ich mein Studium am Workshop ab und bereitete mit Julian Beck die Gründung des Living Theatre vor. Den Plan, mit Piscator nach Deutschland zu gehen, ließ ich hinter mir. Mir war nicht klar, dass Piscator die Nachrichten mit wachsendem innerem Konflikt verfolgte. Er lebte zwischen zwei Welten, hier die New Yorker Fleischtöpfe, da die qualmenden Ruinen von Berlin. Schließlich wurde er nach Berlin eingeladen, aber es lief anders, als er sich das vorgestellt hatte. Am 4. Juni 1946 schrieb der Dramatiker Friedrich Wolf an Piscator und bot ihm an, in Berlin einen Film zu drehen: Jetzt starten wir unsere DEFA-Film Gesellschaft. Hättest Du nicht einmal Lust, Dir Dein altes, verwüstetes, dennoch vital unverwüstliches Berlin anzusehen? Für den Film habe ich ein Treatment geschrieben über den Kampf eines BVG-Ingenieurs und einer Straßenbahnschaffnerin während der letzten Tage Hitler-Berlins und der ersten Tage unseres neuen Berlins, also 1. Mai–1. Juli 1945. Es fehlt uns bisher hierzu der Regisseur – Piscator?

Aus mehreren Gründen zögerte Piscator, das Angebot anzunehmen. Hätte er die USA verlassen, hätte er bei der Rückkehr wohl kein Einreisevisum mehr bekommen, außerdem war er sich über die politische Situation in Nachkriegsdeutschland sehr unsicher. 186


Hermann Haarmann dokumentiert in Erwin Piscator und die Schicksale der Berliner Dramaturgie (1991), wie Günther Weisenborn die Neuanfänge der Berliner Theater im Jahr 1945 beschrieb. In den Ruinen des Hotels Eden hingen Staub und Rauch der letzten Tage des Naziregimes, Fensterglas war durch Pappe ersetzt worden, man konnte dort eine Art Cocktail bestellen, der sich Heißgetränk nannte, eine Mischung aus warmem Wasser und Chemie. Dort, inmitten von Ruinen, rief der Regisseur Karl-Heinz Martin anti-faschistische Schauspieler zusammen, die in Berlin überlebt hatten. Sie nannten sich „Kammer der Kunstschaffenden“ und fingen an, das deutsche Theater und die deutsche Kultur neu zu organisieren. Boleslaw Barlog war dabei, der spätere Intendant des Schlossparktheaters, Fred Wisten, später Intendant des Theaters am Schiffbauerdamm. 1949 inszenierte er dort Sartres Die Fliegen. 1950 wurde er Intendant der Ostberliner Volksbühne, außerdem waren anwesend: Wolfgang Langhoff, der das Deutsche Theater übernahm, und Ernst Legal, der 1930 als Intendant des Preußischen Staatstheaters auf Jessner folgte. Das Heißgetränk in der Hand besprachen sie den Wiederaufbau in praktischer Hinsicht. Ein paar Schauspieler besaßen Fahrräder (ein kostbarer Gebrauchsartikel), fuhren damit durch die Ruinen der Stadt und berichteten: Dach noch in Ordnung … Bühne wenig zerstört … Vorhänge verschwunden … Gestühl teils verheizt, Haus aber bespielbar …

Piscator war nicht dabei. Während er sich in New York mit Brecht noch über die Inszenierung von Furcht und Elend des Dritten Reiches zankte, rechneten die Berliner mit ihm. Seit Langem hatte er seine Rückkehr nach Deutschland geplant. In „Theater für ein Nachkriegseuropa“ schrieb er: „Nachdem wir über das Thema den ganzen Abend gesprochen hatten, schrieb Albert Bassermann am 12. Januar 1943 in mein Gästebuch: ‚Heute gründeten wir das erste Nachkriegstheater.‘ Kaiser fügte hinzu, ‚Ich bin dabei!‘ und Elsa Bassermann, ‚Ich auch!‘“ Als das Fundament gesetzt wurde, war Piscator allerdings nicht dabei. Jahre der Korrespondenz folgten, in denen Piscator zögerte. Brecht und Wolf und viele seiner Freunde drängten ihn zu kommen. Wolf schrieb: Könnten wir Dich aus Deinen zwei Theatern fischen, Dich in ein zerstörtes Berlin holen, wo es an vielem fehlt, wo es gleichzeitig so 187


viel Neues und Wichtiges zu tun gibt? Kannst Du die Sicherheit Deiner Position drüben aufgeben zu Gunsten unserer irgendwie unübersichtlichen Situation?

Als am 14. August 1945 das Hebbel-Theater in Berlin mit Brechts Dreigroschenoper in der Regie von Karl-Heinz Martin eröffnet wurde, war auch Brecht nicht dabei. Die Genossen beschwerten sich sehr, denn sie fanden, „Erst kommt das Fressen, dann kommt die Moral“ sei dem neuen Deutschland als Sentiment unwürdig und „Verfolgt das Unrecht nicht zu sehr“ beleidige jeden Antifaschisten und Widerstandskämpfer. Am 4. Juni 1946 schrieb Friedrich Wolf Piscator, im Januar sei sein Stück Professor Mamlock, die Geschichte über den moralischen Konflikt eines jüdischen Professors, der in den 1930er Jahren den bewaffneten Widerstand gegen den Nationalsozialismus ablehnt, in Karl-Heinz Martins Hebbel-Theater im Januar 1946 zur Premiere gekommen und habe 50 ausverkaufte Vorstellungen gehabt. Leopold Lindtberg hatte das Stück 1934 in Zürich inszeniert. Am 17. April 1947 zeigte Piscator Sartres Die Fliegen am Dramatic Workshop in New York. Wie schon Brechts Antigone wurde es von den deutschen Genossen als Fortsetzung des „Personenkults“ und „Aufruf zum Individualismus“ kritisiert. Piscator wollte mit dem Existenzialismus untersuchen, wie man sich von Schuld befreit, eine Haltung, die der damaligen Auffassung nicht entsprach. Nachdem er vor dem Komitee für unamerikanische Umtriebe verhört worden war, verließ Brecht die USA abrupt am 31. Oktober 1947, um in der Schweiz seine Antigone zu inszenieren. Sie kam am 15. Februar 1948 in Chur zur Uraufführung. Erst im Oktober 1948 zog Brecht nach Berlin um, wo er am 11. Januar 1949 Mutter Courage aufführte. Am 9. Februar 1949 schrieb er an Piscator: Ich bin jetzt drei Monate in Berlin, habe die Courage inszeniert und das Ergebnis meines mich Umschauens ist folgendes: Es ist sehr nötig und absolut möglich, das Theater hier wieder in Schwung zu bringen. Das Publikum, d. h. das Arbeiterpublikum ist ausgezeichnet. Schauspieler gibt es nicht mehr viele. Regie fast gar keine.

Haarmann fragt: „Wie konnte er trotz einer solchen Ermutigung zögern?“ Zwischen dem Kriegsende 1945 und Piscators Rückkehr nach Deutschland im Jahr 1951 war die künstlerische und finanzielle Situation am Dramatic Workshop dauerhaft instabil. 1944 drohten die Ge188


werkschaften dem Workshop. Als Piscator bei der New School vergeblich 20 000 Dollar anfragte, zog der Aufsichtsrat die Schließung in Betracht. Am Ende schob der Brandschutz (immer die letzte Instanz) dem Theater in der New School den Riegel vor. Damit hatte sich auch das Thema „Betragen der Schüler“ und der Vorwurf (oder die Beobachtung) erledigt, der Workshop ziehe zu viele „egozentrische und unsoziale Individuen“ an. Ich nehme an, meine Freunde und ich waren gemeint. Wir sehnten uns nach dem freien Lebensstil und der freien Kunst, die uns erst die 60er Jahre bescherten. Als der Workshop die New School verließ, konnte er das President Theatre und das Rooftop Theatre nicht mehr halten. Piscator war gefangen zwischen diesen Problemen und der immer stärkeren Bedrohung durch die Hexenjagd des Kongresses. Schließlich verließ er New York und gab den Dramatic Workshop in Maria Piscators Obhut. Piscators letzte Inszenierung am Dramatic Workshop war Macbeth im President Theatre am 28. Februar 1951. Danach mussten das President Theatre und das Rooftop Theatre aufgegeben werden. Maria Piscator brachte den Workshop in der kleineren Unterkunft des Capitol-Theatre-Gebäudes auf zwei Stockwerken unter, wo er noch einige Spielzeiten überlebte. Julian Beck und ich inszenierten dort Čapeks R.U.R. unter schwierigen Umständen und als Maria gehen musste, halfen wir ihr beim Umzug der Kostüme und Requisiten. „Wenn uns Piscator jetzt sehen könnte, er würde lachen“, sagte sie, bepackt mit Satin und glitzernden Kronen und lachte bitter. Aber Piscator hätte nicht gelacht, denn es war das Ende des Dramatic Workshop. Für den langen Rest ihres Lebens sprach Maria Piscator davon, den Dramatic Workshop II zu gründen, und sie träumte davon, dass all ihre Freunde und frühere Schüler dabei wären. Ohne Piscators Charisma und sein theatrales Genie wurde leider nichts daraus.

Piscator: Erfolg und Scheitern Hatte sich Piscators Scheitern in Erfolg verwandelt? Seine zwölf Jahre in Amerika bedeuteten jede Menge Kampf und Durchhalten, sie hatten außerdem Einfluss auf die Entwicklung des modernen Theaters, der jedoch keine Anerkennung fand. Piscator riss die vierte Wand nieder, er holte politische Themen auf die Bühne, er setzte alle verfügbaren technischen Mittel ein, vom „Bild“ wegzukommen und die Bühne in einen dynamischen Organismus 189


zu verwandeln. Mit dem Ziel der objektiven, ans Publikum gerichteten Spielweise, öffnete Piscator die Tür zur Publikumsbeteiligung, ließ die Teilung des Hauses hinter sich. Unser Haus ist ein geteiltes Haus. Zwei verschiedene Gruppen sind da: Eine auf der Bühne und eine im Zuschauerraum. Die einen werden bezahlt, die anderen zahlen. Die einen präsentieren die Handlung, die andern lassen sich überraschen. Die einen sprechen, und die andern sollen still sein. Die einen sind im Licht, die andern im Dunkeln.

Es ist der Mikrokosmos unseres Klassensystems und seiner sozialen Struktur. Dieses Klassensystem wollen wir abschaffen.

Piscators Rückkehr nach Deutschland und nach Berlin Nie gab Piscator die Hoffnung auf, dass sein Theater die visionären Ideale verwirklichen könne, mit denen er in den 1920er Jahren angetreten war. Die neuere Theatergeschichte sah er als Kontinuum und er schrieb an Wolf: Ich habe mir nichts anderes vorgestellt, als dass wir dort wieder anfangen müssen, wo wir gezwungenerweise aufhören mußten. Wir können ja nur froh sein, wenn wir da wieder anfangen können und nicht noch weiter zurückgeschleudert worden sind … Wir wissen jetzt, dass wir vorsichtiger und realistischer handeln müssen, als wir es in den zwanziger Jahren getan haben.

César Klein, der 1926 die Bühne für Piscators Michael Hundertpfund entworfen hatte, schrieb im Mai 1947: „Das Deutschland, das Sie verließen, ist gestorben“, dazu eine Liste der acht aktiven Theater in Berlin und ihrer Intendanten. Im Jahr 1947 waren diese Posten besetzt. Piscator wurde nie die Intendanz eines dieser Theater angeboten. Er meinte, man habe ihn „absichtlich übersehen“. Piscator hatte zu lange gewartet. Die Gelegenheit, sich an der Reorganisation der Berliner Theater zu beteiligen, hat er nicht ergriffen. Brecht schrieb an Berthold Viertel: „Als Piscator New York verließ, war es zu spät für ihn, als Intendant eines Theaters eingesetzt zu werden. 1949 war noch viel im Fluss, aber viel beginnt sich schon zu verhärten. Produktionsstätten werden zu Posten und Positionen.“ 190


Er bekam viele Angebote, keines davon bot die finanzielle Sicherheit, die er erwartete, keines hatte das Niveau, das er für sich beanspruchte. Am 6. Oktober 1951 flog Piscator nach Westdeutschland. Er war 58 Jahre alt, 20 Jahre war er weg gewesen. Im Flugzeug notierte er verzweifelt: … gegen den Flug, die Richtung, das Ziel sich stemmend … Das Ziel? Was sollte ich auch dort? Fremder als fremd schien mir dies, dem das Flugzeug zustrebte … Beruf ? Niemand hatte mich gerufen, weder die im Westen noch die im Osten.

In den Archiven der Akademie der Künste in Berlin und der MorrisBibliothek in Carbondale stapeln sich die Einladungen, Filme und Stücke zu inszenieren, darunter auch Brechts Angebot, ein Stück am Berliner Ensemble zu inszenieren – kein Angebot, die Freie Volksbühne zu übernehmen. Willett zitiert eine Liste, die Piscator während des Flugs anfertigte, sie zeugt von Unsicherheit in Bezug auf seine Staatsbürgerschaft: 1. Deutschland: die Staatsbürgerschaft weggenommen 2. Frankreich: Personalausweis 3. Amerika: Staatsbürgerschaft verweigert 4. Wieder ein Deutscher 5. Israel: keine Antwort 6. Dasselbe vom Osten: keine Antwort 7. Sie empfehlen: Chile oder … Haarmann schreibt: Piscator wird keineswegs mit offenen Armen empfangen. Das politische Klima, die Verhärtung zwischen Ost und West ist zudem kein fruchtbarer Boden für einen Künstler, der durch die Erfahrungen seines Exils ein umso überzeugterer Verfechter des politischen Theaters ist.

Er ließ sich auf seinem alten Familiensitz in Dillenberg nieder, unweit seines Geburtsorts, und kam zwei Monate später am Deutschen Schauspielhaus in Hamburg mit Virginia heraus, einem Stück das für ihn zum „kolossalen Mißerfolg und zu einer großen Belastung wurde“. Nach diesem Flop schlug er sich als freier Regisseur an kleineren Provinztheatern durch. Ein Schicksal, das er stets gefürchtet hatte. In den folgenden elf Jahren inszenierte er Stücke in Marburg, Gießen, 191


Oldenburg, Mannheim, Tübingen. Zwar beklagte er sich in Briefen an seine Frau Maria in New York bitter über dieses nomadische Arbeiten, wie viel epische Energie mag er andererseits mit seiner lebendigen Gegenwart in der Provinz verbreitet haben. Er appellierte an den Berliner Senat und schrieb dem Bildungssenator: Ich bin zu einer Arbeit gezwungen, die meiner Tradition und Arbeitsmethode widerspricht, denn von Stadt zu Stadt zu ziehen, kann bestenfalls Zufallsresultate liefern, niemals künstlerisch durchgeführte Konzeptionen, und dient der Entwicklung der deutschen Theaterkultur nicht in dem Maße, wie sie es könnte … Ich könnte mir denken, dass Berlin dafür Sorge tragen könnte …

Erst 1956 konnte Piscator in Berlin inszenieren. Am 4. Mai brachte er am Schiller-Theater Krieg und Frieden heraus und wurde heftig angegriffen. Der Großkritiker Friedrich Luft schrieb, Piscators Versuch Tolstois Meisterwerk auf die Bühne zu bringen, gleiche dem Versuch, „das Meer mit einem Eimer auszuschöpfen“. Im Juni 1956 schrieb Piscator verzweifelt: „In Rußland wurde mir der Todesstoß versetzt. In Frankreich – trotz Namen – 2 Jahre Null! … Amerika: kein Landen möglich. Die Bedingungen waren unmöglich, auch meine Unfähigkeit mich anzupassen! 14 Jahre Todeskampf, Deutschland ab 1951 – … tot. Dantons Tod wurde verspätet der Meine.“ Nach Jahren der Verzweiflung, gab man ihm schließlich, was er brauchte. Vielleicht weil der Sozialdemokrat Willy Brandt zum Bürgermeister von Berlin gewählt worden war. An Piscators 70. Geburtstag schrieb ihm Brandt: Seien Sie sicher, daß wir alle froh sind, Sie wieder unter uns in Berlin zu haben. Nicht nur, weil Ihr Name ein Stück Kontinuität unserer freiheitlichen Berliner Tradition repräsentiert, sondern weil wir glauben, daß wir heute in Berlin eine Reihe von Aufgaben haben, die uns niemand abnehmen kann. Unter anderem die Aufgabe, eine Ästhetik für das 20. Jahrhundert zu formulieren und in Modellen sichtbar zu machen. Denn die Zeiten sind vorbei, da noch ohne Einschränkung die Definition galt, die Kunst habe Wohlgefallen zu erregen. Daß diese Zeiten vorbei sind, daran, lieber Erwin Piscator, haben Sie entscheidend mitgewirkt. 192


Waren es die kontinuierlichen Bemühungen von Brecht, Wolf und anderen Freunden, wurde Piscators enormes Talent endlich anerkannt oder lag es daran, dass die Freie Volksbühne innerhalb von vier Jahren drei erfolglose Intendanten gehabt hatte? Im Frühjahr 1962 wurde Piscator jedenfalls zum Intendanten der Freien Volksbühne berufen. Jetzt war alles neu und alles möglich. Willett sagt: „Zum ersten Mal im Leben konnte er Stücke so inszenieren, wie es seinen Ansprüchen entsprach.“ Unter diesen idealen Bedingungen arbeitete er vier Jahre lang bis zu seinem Tod im Jahr 1966. Er inszenierte sechs Stücke, von denen drei Theatergeschichte schrieben: Der Stellvertreter, In der Sache J. Robert Oppenheimer und Die Ermittlung. Alle drei wurden zu wertvollen Dokumenten der modernen Geschichte. Piscator stand sämtliche Technik eines großen Hauses zur Verfügung, er hatte ausgezeichnete Schauspieler und einen Etat, mit dem seine Vision umzusetzen war. Alle drei Stücke handeln von Verfolgung. Der Stellvertreter erzählt, dass die katholische Kirche und der Papst sich in den 40er Jahren weigerten, gegen die Judenverfolgung einzutreten. Als Hochhuth ihm das Stück überreichte, sagte Piscator: „Ein solches Stück lohnt, Theater zu machen.“ Das Stück machte Furore und galt als „umstrittenstes Stück unserer Zeit“. In der Sache J. Robert Oppenheimer von Heinar Kipphardt handelt von einem Wissenschaftler, der Opfer einer Hexenjagd wird, während er versucht, die moralischen Probleme einer Erfindung zu lösen. Die Ermittlung dramatisiert die Frankfurter Auschwitz-Prozesse von 1963 bis 1965. Es war Piscators letzter Erfolg. Dieses große Gerichtsdrama thematisiert die Verbrechen in den Konzentrationslagern. Den Text hatte der Dramatiker Peter Weiss aus den Aussagen ehemaliger Mitglieder der SS komponiert. Es war als Oratorium oder „Szenische Kantate“ konzipiert. Schreckliche Fakten und grausame Rechtfertigungen der Nazis, unterbrochen von intensiven Intermezzi aus der Feder des bedeutenden italienischen Komponisten Luigi Nono. Die emotionale Qualität der Musik stand Piscators Theorie der Objektivität zwar entgegen, die Dimension des Themas verbat uns jedoch, „kühl zu bleiben“, während wir an die unmenschliche Hitze in den Öfen der Vernichtungslager dachten. Während Piscator Die Ermittlung herausbrachte, gastierte das Living Theatre mit Mysteries, Die Zofen, The Brig und Frankenstein an der Akademie der Künste in Berlin. Dass er unsere Stücke damals 193


nicht sah, ist verzeihlich, schließlich arbeitete er an einer großen Inszenierung, dass er aber kein einziges Stück des Living Theatre jemals gesehen hat, macht mich sehr traurig. Die letzte Vorstellung von Frankenstein wurde an der Akademie der Künste am 17. Oktober 1965 gespielt, am 19. Oktober kam die Die Ermittlung an der Freien Volksbühne heraus. Als ich mir das Stück ansah, hätte ich nicht gedacht, dass ich Piscator zum letzten Mal sehen würde. Vor der Vorstellung begrüßte er mich in dem schroffen Ton, in dem er mit all seinen Schülern, auch seinen Lieblingsschülern redete. Es ist eine ärgerliche Angewohnheit der Deutschen, Vertrautheit hinter barschem Gehabe zu verstecken. Ich hätte während unserer Tour der Presse gegenüber gar nicht von meinen Anfängen an seiner Schule gesprochen, schimpfte er. Ich hätte mit großem Stolz über Piscator gesprochen, entgegnete ich, das mache ich immer, habe aber keinen Einfluss darauf, was gedruckt wird. Dass ich ihm auch bei unserem letzten Treffen nicht sagte, wie sehr ich ihn verehrte, macht mich traurig. Für Die Ermittlung war ein riesiger Gerichtssaal gebaut worden, der auch das Publikum einzuschließen schien. Dass Piscator nach so vielen Jahren im engen Auditorium der New School, dem kleinen President Theatre und dem ruinösen Rooftop Theatre endlich in einem Raum arbeiten konnte, der seiner epischen Vision eines Panoramas gerecht wurde, war wunderbar. Viel Platz. Hinter dem Halbkreis der Zeugen spannte Piscators Bühnenbildner Hans-Ulrich Schmückle riesige Leinwände auf. Darauf wurden die Gesichter der Angeklagten projiziert, sodass man, während sie ihre Aussagen machten, ihre Gesichtsausdrücke viel genauer sah, als das im Theater normalerweise möglich ist. Mithilfe von Nahaufnahmen ermöglichte Piscator dem Publikum, Teil der Ermittlung zu werden. Nonos Sounds waren überwältigend, elektronischer Lärm, dessen Schreien, Stöhnen und Ächzen alles menschliche Leid enthielt. Das Living Theatre hatte mit Luigi Nono an dem Stück Escalation zusammengearbeitet. Es basierte auf einem Text von Hermann Kahn. Dirigiert von Luigi Nono, schuf das Ensemble ohne musikalische Begleitung selbst ein Klangstück, das sich von militärischer Aggression bis in die nukleare Zerstörung hineinsteigerte. Nono war ein engagierter politischer Künstler, ein Kommunist, der, anders als Piscator, seine Überzeugung oder Zugehörigkeit nie verschleiert hat. Zusammen mit Nono und Giovanni Pirelli, Schriftsteller und Partisanenführer, arbei194


tete das Living Theatre an einem großen dramatischen Werk, das allerdings nicht vollendet wurde. Denn durch die Taktik von Pirellis bewaffneten Freiheitskämpfern geriet der Pazifismus des Living Theatre in Gefahr, kompromittiert zu werden. Mit der Ermittlung gelang es Piscator, zusammen mit den besten progressiven Künstlern seiner Zeit noch einmal (wie er immer gehofft hatte) Geschichte mit den Mitteln der Kunst als kraftvolle Erkenntnisquelle darzustellen. Es ist bedeutsam, dass Piscator drei exemplarische politische Dramen unserer Zeit inszeniert hat, die heute in vielen Sprachen auf der ganzen Welt produziert werden und in Universitäten als maßgebliche Beispiele zeitgenössischen politischen Theaters gelten: Der Stellvertreter, In der Sache J. Robert Oppenheimer und Die Ermittlung.

Eric Bentley Eric Bentleys The Playwright as Thinker aus dem Jahr 1946 brachte das amerikanische Theater im Hinblick auf politisches Engagement und geschichtliche Verantwortung entscheidend voran. Am Dramatic Workshop wurde die Veröffentlichung als Ereignis gefeiert und der Text galt als grundlegende Theorie. Als ich 2005 mit Eric Bentley über Piscator sprach, lachte er verschmitzt: „Er hat mich zum Duell herausgefordert!“ Bentleys Witz ist legendär. Mit 94 Jahren ist er noch immer lebhaft und von den Gebrechen des Alters so gut wie verschont. Fröhlich, aber mit dem zynischen Humor der 1940er und 1950er Jahre, erzählte er, wie er sich zum ersten Mal mit Piscator unterhalten hatte. In seinem Buch hatte er Piscator einen Kommunisten genannt und ihn so in Schrecken versetzt. Piscator fühlte sich durch die Enthüllung bedroht, fürchtete, seinen unsicheren Außenposten in Amerika zu verlieren. Saul Colin überbrachte Bentley die Herausforderung, der fragte nur: „Schwerter oder Pistolen?“ „Worte!“, entgegnete Piscator und forderte ihn also statt zum Duell zum Streitgespräch heraus. Saul Colin war einer der Assistenten, die unbedingt mit Piscator arbeiten wollten. Er hatte schon einiges erlebt. Als Verwaltungsmensch fiel er in der Schule nicht auf, mir war aber zu Ohren gekommen, er sei Pirandellos Sekretär gewesen. Bentley, ganz Historiker, erinnerte mich daran, dass Colin in dieser Funktion den Faschismus gestützt und linke Dramatiker wie Clifford Odets denunziert hatte. 195


Colin habe auch versucht, Einsteins Sekretär zu werden, erzählte Bentley, er suchte immer die Nähe der historisch bedeutsamsten Person. Einstein sei er wegen des Jobs dermaßen auf die Nerven gegangen, dass dieser die Geduld verlor und ihn anschrie: „Saul, wenn Sie keine Ruhe geben, bring ich Sie um!“ Also arbeitete Saul für Piscator. Ich bat Eric, mir von dem Streitgespräch zu erzählen. Ich fragte, wie er den Stellenwert von Piscators Arbeit damals eingeschätzt habe. Der Streit sollte auf der Bühne im Rooftop Theatre ausgetragen werden, in dem Bühnenbild, in dem wir damals Fuente Ovejuna spielten. Eric konnte sich zwar an die Vorstellung erinnern, bei dem Streitgespräch war ich aber nicht dabei gewesen. Entweder hatte ich Probe oder wir Schüler waren nicht eingeladen. Ich fragte also Bentley, was da gesprochen wurde und warum Piscator, der ihn ja bewunderte, ihn herausgefordert hatte. Erst musste er eine Episode von Saul Colin zum Treffen der beiden Streithähne loswerden. „Ich komme nur, wenn Sie mir Karten zu Gielguds Ernstsein ist alles (Bunbury) besorgen“, hatte Bentley gesagt. Es war das beliebteste Stück der Spielzeit und komplett ausverkauft. Julian und ich hatten schon lange Karten bestellt und sahen es in der Matinee am 24. April 1946. (Am gleichen Abend spielte ich in einer Vorstellung von Die Fliegen.) Colin rief als Herr Gielguds Sekretär in der Theaterkasse an, bestellte zwei Karten für Eric Bentley, das klappte und dann sagte Bentley zu. Ich bat ihn, etwas zu Piscators Werk und zu seinem Einfluss zu sagen. Piscator hat gegen die Geschichte verloren. Meyerhold und Stanislawski haben heute mehr Einfluss, weil Russland zuerst da war. Das revolutionäre Theater kommt aus Russland. Meyerhold wurde ermordet, Piscator aber konnte kämpfen und tat es noch eine ganze Weile. Deutschland ist schuld, dass Piscator einen Großteil seines kreativen Lebens verloren hat.

Er meinte wohl den Teil, den Piscator am Dramatic Workshop verbracht hatte. Bentley fuhr fort: Dass er so überzeugt vom sowjetischen Kommunismus war, hat mich überrascht, sein politisches Denken steckte in den 30er Jahren fest. In mancher Hinsicht wollte Piscator stalinistischer als Stalin sein. Er sei schon Kommunist gewesen, als Stalin noch nicht geboren war. In den Vereinigten Staaten schloss er sich natürlich keiner kommunistischen Gruppe an.

Das war nicht der Piscator, den wir am Dramatic Workshop gekannt hatten. Ich erinnere mich an ein Stück von Eugenio Barba am Odin 196


Teatret in Holstebro, in dem am Ende die Gesellschaft komplett zusammenbrach, Bühnenbild und Requisiten lagen als Haufen auf der Bühne. Der Schauspieler, der den Schriftsteller spielte und während des Stücks meist an der Schreibmaschine gesessen hatte, stand auf. Als er den Trümmerhaufen betrachtete, entdeckte er ein kleines Pamphlet. Vermutlich Das kommunistische Manifest. Er blickte sich um. Als er sicher war, dass ihn niemand beobachtete, steckte er es in die Hemdtasche und verließ – das Manifest am Herzen – die zerstörte Welt. Als ich das Stück in Dänemark sah, dachte ich an Piscator in New York und wie er seine Agenda unter einem gebügelten weißen Hemd verborgen hielt. Bentley hatte einen anderen Blick auf die Zeit und das Feld, das er so genau erforscht hatte. Bentleys Ehefrau war die Tochter von Hallie Flanagan, deren Buch Arena die Chronik der mutigen Arbeit des Federal Theatre war. Flanagan hatte es gegründet und geleitet, ein Meilenstein in der Entwicklung eines künftigen Theaters. Bentley hat ein Dutzend Bücher über das politische Theater geschrieben, er war auch der maßgebliche Herausgeber von Thirty Years of Treason, einem umfangreichen Band mit Ausschnitten aus den Verhören, die vor dem Komitee für unamerikanische Umtriebe stattgefunden hatten. Bentley glaubte, Piscator sei über die Politik der 30er Jahre nicht hinausgekommen. Mit wichtigen moralischen Fragen habe er sich nicht beschäftigt. Die Marxisten hätten beispielsweise nicht verstanden, was Antisemitismus ist. Sogar Brechts Stück zeige Hitler als Idiot, dabei habe Hitler Krupp herumgeschubst. Als ich Piscator zum ersten Mal traf, bot er mir einen kleinen Job an, 50 Dollar pro Vortrag und ich lehnte ab. Jahre später war ich es, der ihm den Text Das Spiel der Macht gebracht hat. Aber Piscator war immer offen. Anders als Brecht. Als Gegenleistung für ein Visum für die Vereinigten Staaten hatte Brecht den Sowjets versprochen, Stalin nicht zu kritisieren. Brecht meinte nämlich, er könne die Tücken des Sowjetsystems umgehen – Piscator dagegen, ach, Piscator wollte ein Schillerdenkmal sein.

Piscators Einfluss Über Piscators Einfluss auf das moderne Theater zu schreiben, ist schwierig, weil er kleinteilig und universell ist, weil seine dramaturgischen Theorien und dramatischen Formen kaum gesondert zu betrachten sind. Man könnte sagen, das moderne politische Theater 197


wurde von Piscator und Brecht erfunden. Ich bin sicher, jedes moderne Theater weist Aspekte ihrer Experimente auf. Mit Piscator behaupte ich, dass Theater immer, ob absichtlich oder unabsichtlich, politisches Theater ist. Immer geht es um Gesellschaft, immer wirft es Klassenfragen auf. Es wäre interessant, die amerikanische SoapOpera auf ihr durchschlagendes, übles Klassenbewusstsein zu untersuchen. Als Brecht sagte, Piscator sei „wahrscheinlich der größte Theatermann aller Zeiten“, hat er erkannt, wie tiefgreifend Piscator die Regeln änderte. Kaum ein Stück am Broadway oder am Londoner Westend, das nicht in irgendeiner Form Piscators Erfindungen nutzt. Seit dem vierstöckigen Gerüst für Piscators Hoppla, wir leben! und seit sich bei Rasputin der Globus drehte, hat sich die Technik entwickelt. Das mehrgeschossige Bühnenbild von Les Misérables am Broadway, das riesige bewegliche Bild von Cats, Schauspieler, die in den Zuschauerraum ausschwärmen, ein Flugzeug, dass in Nixon in China auf der Bühne landet, das sind aktuelle Beispiele der szenischen Innovationen, die auf Piscators Arbeit zurückgehen: erfunden von Bühnenbildnern und Regisseuren, die sich nicht mal vorstellen können, dass wir Schauspieler am Dramatic Workshop in Kostüm hinter der Bühne an Seilen zogen, um sie zu drehen. Piscators Lehrsätze beinhalteten – das wurde am Workshop gelehrt – das Doppel von großem Engagement und Totalem Theater: Das erste fordert Kenntnis und Interpretation des Inhalts, das zweite die Mittel, dem Zuschauer die Interpretation nahe zu bringen. Seit Piscators frühen Stücken der 1920er Jahre, ist in jedem Jahrzehnt unter politisch engagiertem Theater etwas anderes zu verstehen gewesen. Auf jeden Fall gilt das für Piscators Arbeit am Workshop in den 1940er Jahren. Die 1920er und die 1940er Jahre waren Nachkriegszeiten, in denen es darum ging, die Hoffnung der Menschheit auf Frieden auszudrücken. Man wollte die Vision einer besseren Welt zeigen. In den 1920er Jahren nahmen sich die Künste der Politik als Aufgabe an. Die idealistische Linke förderte die Sache des Kommunismus, eine Mischung aus Stalinismus und bösartigen rechten Kräften machte das wieder zunichte. In den 1940er und 1950er Jahren mied die Kunst Politik als würdelose Propaganda, die Arbeit politischer Künstler wurde marginalisiert. Ich schreibe jetzt zu Beginn des 21. Jahrhunderts, in dem politische Kunst und politisches Theater wieder Anerkennung finden. 198


Die deutschen Stadttheater und die französischen Maisons de la Culture eröffnen kaum eine Spielzeit ohne mindestens ein offensiv politisches Stück. Das gilt auch für die amerikanischen Regionaltheater. Entweder ist es eine kollektive Arbeit, das Werk eines neuen Dramatikers, ein Dauerbrenner von Arthur Miller oder Jean Genet, selten etwas von Brecht. In lateinamerikanischen Ländern sind politische Kunst und politisches Theater dauerhaft aktuell. Wegen der strengen Zensur extrem repressiver Regimes arbeiten sie oft im Untergrund. Kollektive Arbeit war für Piscator seit dem ersten Piscator-Kollektiv im Jahr 1929 eine integrale Aufgabe. Obwohl er seine Vision nie komplett realisiert hat, inspirierte Piscator mit richtungsweisenden Werken eine ganze Generation zu diesem kreativen Experiment. Der Einsatz von Technik ist wohl der beste Beleg für Piscators Einfluss. Er nutzte Technik vor allem, um das Publikum zum Denken zu „zwingen“, und dazu, Entscheidungen zu treffen. Wie auch der Erzähler, war Technik ein Mittel, den gesellschaftlichen Kontext zu betonen und das unwissende Publikum aufzuklären. Meiner Meinung nach bestand eine von Piscators Schwächen darin, dass er dem Publikum nichts zutraute. Dass er den Erzähler als Heilmittel gegen das Unwissen des Publikums sah erstaunt mich. Diese Idee, dass ein weiser Lehrer alles erklären kann, entspricht vielleicht dem deutschen Bildungskonzept. Auf der ganzen Welt ist heute der Erzähler (oder Kommentator) im Theater verbreitet, auch in Film und Fernsehen. Manchmal übernimmt eine der Figuren diese Rolle, dann wieder steht der Erzähler als eine Art Chor außerhalb der Handlung oder seine Stimme kommt aus dem Off. Das Konzept Ortsspezifik, Integration des Zuschauers, Produktionen, die ohne Bühnenbild oder Kostüme auskommen, über solche und ähnliche Konzepte hat Piscator geschrieben und gesprochen, aber es blieb der nächsten Generation überlassen, all das auszuprobieren. Immer noch arbeiten wir daran. Am 19. Februar 1950 lud Piscator die Dramatic-Workshop-Alumni zu einer Versammlung ins President Theatre. Ich schrieb in mein Tagebuch: Piscator spricht. Eine Flamme lodert auf. Unter vielen kleinen Stimmen seine klare, starke Stimme, von innerer Erregung belebt. Er ist enttäuscht, dass der Dramatic Workshop in Amerika keine Kämpfer 199


für das politische Theater hervorgebracht hat. Despektierlich spricht er von gewissen Alumni, u. a. Tennessee Williams, die seine politische Inspiration nicht übernommen hätten. Piscator sagt: „Ich wollte aus jedem Schauspieler einen Denker, aus jedem Dramatiker einen Kämpfer machen.“ Mir kommt es vor, als richte er seinen Blick auf mich, als klage er mich an, zwinge mich zum Handeln. Ich bezweifle, dass er mich persönlich meint, ich glaube nicht, dass er den Ernst meiner Absichten erkennt. Am Ende des Vortrags fragen wir Piscator, was der nächste Schritt sei. Er spricht von der Notwendigkeit einer Massenaktion: „In unserer Zeit reicht es nicht, individuell zu handeln.“ Er redet über Marx und sagt: „Wir müssen unsere Arbeit als persönlichen Beitrag verstehen, wir müssen der Partei beitreten, die unserer gesellschaftlichen Idee am nächsten kommt.“ Aber Marx hat nichts dergleichen getan. Er hat etwas Neues formuliert, so wie wir etwas Neues formulieren müssen. Immerhin kann individuelles Handeln zu einer Massenaktion inspirieren. Als ich 1950 diesen Tagebucheintrag notierte, wusste ich nicht, dass Piscator ernstlich darüber nachdachte, nach Deutschland zurückzukehren. Brecht war schon in Berlin, er hatte dort seine Mutter Courage aufgeführt. Brecht und Wolf drängten Piscator zur Rückkehr in die Heimat. Er war im Begriff, das Rooftop Theatre zu verlieren, er bereitete gerade Macbeth vor, seine letzte New Yorker Inszenierung. Ein Jahr später würde er New York verlassen und nie mehr zurückkehren. Es war also seine Abschiedsrede vor den Ehemaligen und er drängte uns zur Arbeit, damit seine Zeit in den USA nicht vergebens gewesen wäre.

Piscators Einfluss: Die Arbeit des Living Theatre In vielen Theatern, zum Beispiel im Werk der großen polnischen Regisseure Tadeusz Kantor und Jerzy Grotowski und bei der polnischen Gardzienice-Kompanie lässt sich Piscators Einfluss nachweisen. Sie alle stehen beispielhaft für bisher unerschlossene Arbeitsfelder des Theaters. Ariane Mnouchkine hat den Bühnenraum neu erfunden, indem sie Mephisto auf einer Doppelbühne zeigte: der edle Faust auf einer Seite einer riesigen Opernbühne, auf der anderen Seite sieht man auf einer kleinen Bühne satirisch politisches Kabarett. Das Publikum sitzt auf Drehstühlen und wendet sich dem einen oder anderen zu. 200


Seit vielen Jahren befasst Mnouchkine sich mit dem Dilemma der Vertriebenen. Ihr Theater, die Cartoucherie de Vincennes, hat sie zeitweise in eine Flüchtlingsunterkunft umfunktioniert. Das eindrucksvollste Beispiel von Totalem Theater, wie es Piscator vorschwebte, habe ich in Victor Garcias spektakulärer Inszenierung von Genets Der Balkon in São Paulo gesehen. Er ignorierte die Architektur des Zuschauerraums und baute eine Spirale aus Sitzen von der Bühne aufwärts bis in den obersten Rang, auf der die Zuschauer saßen. Die Revolutionäre brachen von unten durch den Bühnenboden. In der Mitte gab es einen Lift, der je nach Handlung auf und ab fuhr. Wenn zum Schluss die Revolution ausbricht, fallen die Spiralkonstruktionen, auf denen die Zuschauer sitzen, auseinander und schwingen gefährlich nach außen. Derweil klettern die nackten und schweißglänzenden Revolutionäre, Schwüre und Drohungen ausstoßend, am Gerüst empor. Kein Zweifel am Zusammenhang zwischen Leidenschaft und Politik. Unter den vielen Theaterregisseuren, die sich mit ihrem politischen Engagement aktuell auf Piscator beziehen, sticht der Brasilianer Augusto Boal hervor, dessen Theater der Unterdrückten die Zuschauer abholt, indem es Kontroversen aus der Tagespresse nachspielt. Annet Hennemans Verborgenes Theater in Italien arbeitete zunächst mit Gefangenen der Festung Volterra. Jetzt konzentriert sie sich auf Forderungen der Flüchtlinge und deren Ruf nach Gerechtigkeit. Zu erwähnen ist auch John Malpedes kluges Los Angeles Poverty Department, Theater für die Obdachlosen im Zentrum von Los Angeles sowie seine ortsspezifische Arbeit über das Leben der Bergarbeiter in Kentucky. In New York ist Fred Newmans brillantes Repertoire politischer Stücke am Castillo Theater zu sehen, sein All-Stars-Projekt vermittelt jungen Leuten aus der Stadt, was Theater ist. Auch Richard Schechners kühnes Experiment zu einem antiken Thema in Dionysus 69 wäre ohne Piscators Pionierarbeit nicht denkbar gewesen. Am besten aber kenne ich das Living Theatre, ein Langzeitprojekt, das es seit über 50 Jahren gibt. Zusammen mit Julian Beck und Hanon Reznikov und einer Truppe engagierter Künstler habe ich versucht, eine Version von Piscators Vision umzusetzen. Ich skizziere Beispiele, wie das Living Theatre an Piscators Werk anknüpfte und seine Ideen weiterzuentwickeln suchte. Julian Beck und ich eröffneten unser erstes Theater 1951 in unserer Wohnung. Wir nannten es „Theater im Zimmer“. Das erste Pro201


gramm bestand aus vier kurzen Stücken und nahm unsere spätere Arbeit vorweg. Wir begannen mit Brechts Der Jasager und der Neinsager, einem seiner besten Lehrstücke. Für den engen Raum schuf Beck einen kleinen Piscator-Apparat. Er legte eine Planke auf den Teppichboden und befestigte daran einen Stock. An diesem hing ein Stein an einem Strick. Wenn ein Schauspieler im engen Gang die Planke betrat, schwang der Stein und wurde mit jedem Schritt schneller, bis der junge Ja- und Neinsager (von dem fabelhaften Tänzer Remy Charlip gespielt) von der Klippe springt. Ohne große Bühnenmaschinerie und ganz einfach haben wir so Piscators bewegliches Bühnenbild umgesetzt. Im selben Programm spielten wir Paul Goodmans Childish Jokes, eine Metakomödie über das Wesen des Theaters, geschrieben von unserem Hausphilosophen. Und von Federico Lorca, einem der besten modernen politischen Dichter/Dramatiker den Dialog vom Mannequin und dem Jüngling aus Sobald fünf Jahre vergehen. Und Ladies’ Voices von Gertrude Stein, ein Text, in dem die Sprache de- und rekonstruiert wird. Noch im gleichen Jahr eröffneten wir das Living Theatre im Cherry Lane Theatre mit Dr. Faustus Lights the Lights von Gertrude Stein. Julian Becks Bühnenbild bestand aus verschieden großen Rechtecken, die auf drei Seiten der Bühne standen. Sie wurden für Auftritte und Abgänge der Schauspieler verwendet, hauptsächlich aber brauchten wir sie für die Lichteffekte. Die Scheinwerfer fuhren wir von einem separaten Tisch aus, sie boten das, was Stein in der Regieanweisung „A Very Grand Ballet of Lights“, ein sehr großartiges Lichtballett, genannt hatte. Suche nach Aufklärung [Enlightenment, A. O.] und die politischen Konsequenzen waren für Piscator zentral. Er wollte Held und Masse gleichstellen, griff aber immer wieder auf das heroische Individuum zurück, von Arkenholtz in der Gespenstersonate bis zu Orestes in Die Fliegen. Als Zweites produzierte das Living Theatre am Cherry Lane Theatre Kenneth Rexroths Beyond the Mountains, eine weitere dichterische Nacherzählung der Orestie, Rückgriff auf den Mythos, wie ihn Piscator mit den Fliegen unternommen hatte. Pablo Picassos Le Désir attrapé par la queue hatte im Living Theatre den Collagencharakter, den Piscator in der Zusammenarbeit mit John Heartfield entwickelt hat. Als Piscator in den 1920er Jahren DadaSpektakel inszenierte, waren auch sie rau, das wiederum stachelte Picasso an, ähnlich kühn zu sein wie die Dada-Schule. 202


Picassos Politik – in der Kunst und Kulturwelt heiß diskutiert – ist ein Rückgriff auf Piscators Gedanken aus dem „Schrei nach Kunst“: „‚Von der Kunst zur Politik – und zurück‘ – ach, lass mich doch fliehen vor dieser Politik, die nach wie vor der Zufall lenkt – von dieser Kunst – der es nie gelingt, die reale Wahrheit auszudrücken … Vor den Menschen selbst, die beides nicht wollen, ohne doch zu wissen, was sie sollen.“ Le Désir attrapé par la queue erzählt von einer Gruppe surrealistischer Künstler, die die Nazibesatzung in Paris überleben und ihr Leid mithilfe von Kunst zu überwinden versuchen. Morton Feldman, John Cages Bruder im Geist, komponierte für T. S. Eliots Sweeney Agonistes eine Partitur für ein elektrisch verstärktes Metronom, das während des gesamten Dialogs den Rhythmus schlägt, eine unterschwellige Anspielung darauf, dass wir in „der Zeit feststecken“. In Paul Goodmans Faustina fällt die römische Kaiserin in Pirandello-Manier aus der Rolle und stellt sich als „objektive Darstellerin“ dem Publikum mit ihrem eigenen Namen vor. Sie hält dem Publikum vor, dass es den Schrecken des Menschenopfers hinnehme: „Ihr hättet die Bühne umzingeln, in die Handlung eingreifen müssen.“ Aber Julie Bovasso, die großartige Schauspielerin, die die Kaiserin spielte, wollte diese Szene nicht spielen. Als sie ihren eigenen Namen nicht sagen und es auch nicht in eigene Worte fassen wollte, schlug der Autor vor, sie solle sich selbst den Text schreiben. Er bot an, ihn zu redigieren, damit er stilistisch zum restlichen Stück passe. Aber sie konnte sich dazu nicht durchringen. Andere Schauspielerinnen wurden gefragt, auch sie sträubten sich gegen diese Szene. Letztlich traute sich Walter Mullen, ein Alumnus des Workshops, in der Persona eines surrealen Crossdressing-Shamanen an die kleine, entscheidende Rolle heran. Walter Mullen hatte verstanden, was Piscator uns über die Begegnung mit dem Publikum beigebracht hatte. Interessant, wie schwer der Übergang zur objektiven Spielweise für eine Schauspielerin ist, die an die Rückendeckung der Fiktion und das Sicherheitsglas der vierten Wand gewöhnt ist. Piscator hätte dem Publikum eine solche Herausforderung niemals zugemutet. Wie hätte er reagiert, wenn das Publikum tatsächlich auf die Bühne gekommen wäre? Heute sind im Theater so viele Barrieren durchbrochen und die meisten Schauspieler nehmen den Wegfall der vierten Wand an. Als das Living Theatre Antigone, Mysteries und Seven Meditations on Political Sado-Masochism spielte, sind Zuschauer unerwartet auf die 203


Bühne gekommen. Das Ensemble des Living Theatre ist damit immer theatral umgegangen, schwierig wurde es, als Zuschauer der Seven Meditations versuchten, die Folterszene zu stoppen, genau wie von Goodman vorgeschlagen. Piscator hätte Alfred Jarrys König Ubu inszenieren sollen. Der Stil des Dada-Konstruktivismus hätte gut zu Jarrys antiautoritärem Thema gepasst. Vielleicht war es ihm zu anarchistisch. Aber Maria Piscator lobte das Stück, als „Explosion, deren Wellen bis heute zu spüren sind, sie befreiten das Theater vom Realismus“. W. H. Audens Zeitalter der Angst erfüllte Piscators Diktum, im modernen Theater werde ein Erzähler gebraucht. Weil er desillusioniert war, was eigenständiges Denken des Publikums angeht, folgerte Piscator, eine belehrende Stimme müsse helfen. Das spricht dafür, dass der Regisseur etwas erklären will und zwar vollständig; es spricht für die ewige Frustration des Künstlers, nicht deutlich genug zu sein, dass die Verständigung nicht abgeschlossen ist, dass sie niemals abgeschlossen wird. Ich saß als Erzählerin auf einem Barhocker und las die schönen Verse, die das Publikum in einer Welt voller Kriegsangst durch die nächtlichen Abenteuer von vier New Yorkern führt. Dass ich die Rolle der Erzählerin mit der der Regisseurin verknüpfte, passte gut. Strindbergs Gespenstersonate hat in meiner Erzählung eine lange Geschichte. Die Bilder der infektiösen Korruption, der Schuld, die von einer Generation an die nächste weitergegeben wird, sind in jeder Ära relevant. Als junger Mann spielte Piscator 1920 die Hauptrolle in Königsberg. Am Dramatic Workshop gab es zwei Produktionen, im Dezember 1945 führte ich Regie, 1948 inszenierte Howard Friedman und ich spielte die Mumie und die junge Dame. 1954 produzierten wir das Stück in unserem Theater an der 100. Straße, es wurde zu einem Meilenstein im Repertoire des Living Theatre. Am Dramatic Workshop lobte Piscator meine Inszenierung, in der drei Gespenster die Handlung von drei Leitern aus beobachteten. Julian Becks höhlenartiges, verkohltes schwarzes Bild dagegen entsprach dem, was Piscator uns von der Bühne in Königsberg erzählt hatte, wo das verseuchte alte Haus mit all seinen Spinnweben und Spinnen für die Dekadenz der Gesellschaft stand. Piscator hat nie ein Stück von Cocteau inszeniert, aber oft von ihm gesprochen. Das Living Theatre war fasziniert davon, wie Cocteau die griechischen Mythen aktualisierte. Unsere Orpheus-Produktion 204


betonte die surrealen Elemente seines Ansatzes: das sprechende Pferd, die Todesengel, die geheimnisvollen Vorkommnisse, Wände, die mit Bildern bemalt waren, die wiederum an antike Skulpturen erinnerten. Maria Piscator schreibt in The Piscator Experiment: „In La Machine Infernale hat Cocteau das Haus des Atreus nicht interpretiert, er hat Griechenland neu erfunden.“ Wir spielten seinen Orpheus, als habe er auch die alten Götter neu erfunden. Claude Fredericks Idiot King ist ein pazifistisches Stück voller Poesie und Idealismus. Trotz der innovativen Form wäre Piscator mit der politischen Aussage wohl kaum einverstanden gewesen. Es handelt von einem König, der unfähig ist zu töten und dessen Königreich zerfällt. Eine gesellschaftliche Lösung präsentiert er nicht, insistiert aber: „Wo Liebe ist, ist nichts als Liebe.“ Das Stück formulierte einen Extremismus, nach dem das Living Theatre suchte, den Piscator aufgeben musste, weil er meinte, er bekomme es mit den Untiefen politischer Korruption zu tun. Als das Living Theatre Heute Abend wird aus dem Stegreif gespielt inszenierte, trat es in des Meisters Fußstapfen. Julian Beck spielte den Regisseur mit Anleihen bei Piscator, dabei ähnelte Pirandellos germanischer Regisseur mehr Reinhardt. Für die Pausenszene, in der der Regisseur auf der Bühne die Situation „Flughafen bei Nacht“ inszeniert, spann Julian Beck mit silbernen Schnüren ein Spinnennetz, das den Bühnenraum so durchkreuzte, dass niemand mehr auftreten konnte. Das gleißende Netz reflektierte das Licht. Julian Beck interpretierte Pirandellos Kritik an modernistischen Regisseuren wie Reinhardt und Piscator und ihren unbespielbaren Bühnenbildern abstrakt-expressionistisch. Mit Racines Phaedra kehrten wir ins Reich des antiken Mythos zurück, spielten die Korruption der Gefühle auf einem weiß-samtenen Boden, den jeder Schritt zu verschmutzen drohte. Mit The young disciple interpretierte Paul Goodman die Christusgeschichte radikal neu. Es war eine Geschichte über die mangelnde Bereitschaft der Menschen zur Veränderung, zu Transzendenz und Aufklärung. Am Ende seines Lebens kehrte auch Piscator zu diesem Thema zurück. Als er in einer Starnberger Klinik im Sterben lag, besuchte ihn Peter Weiss, dessen Stück Die Ermittlung Piscator kurz zuvor inszeniert hatte. Er machte Notizen an seinem Lager. Piscator riet Weiss: 205


Bitte lassen Sie doch alles liegen – ich sage das im vollen Bewußtsein einer großen Verantwortlichkeit – und begeben wir uns an das Christus-Thema. Das richtig angepackt, kann die Welt nach vielen Seiten hin erschüttern – Kommen Sie her, daß wir es besprechen! Die Zeit ist reif und drängt.

(Haarmann 1991) Haarmann fährt fort: Die Beschäftigung mit der Christus-Figur führt Piscator zur Frage der Notwendigkeit eines kultischen Theaters im 20. Jahrhundert: Ein kultisches Theater, ein Theater des direkten Einwirkens, der direkten Reaktion, ein Theater, in dem er noch einmal den Kampf aufnehmen wollte mit den repressiven Kräften seiner Umwelt. Das moderne politische Theater kehrt gleichsam zu den Ursprüngen zurück. Das Kultische versprach und verspricht gleichsam die Identität von Bühne und Publikum. Die gemeinsame ästhetische Aktion schon ist die politische und umgekehrt. Das moderne politische Theater unter der Strahlkraft des kultischen Theaters neu beleuchten zu lassen, ist die letzte utopische Vision. Und in ihr kommen alle weltanschaulichen und philosophischen Erfahrungen Piscators wieder zusammen. Sie zeigt ihn als das, was er zeit seines Lebens stets gewesen ist: ein aufgeklärter Moralist im Sinne des 18. und ein Vernunftpolitiker auf der Bühne des 20. Jahrhunderts.

The young disciple über die Anfänge des Christentums warf ein ganz neues Licht auf unser politisches Theater. Many Loves von William Carlos Williams ist ein Stück im Stück, eigentlich drei Stücke als Diskussion zwischen einem jungen Dramatiker, seinem Produzenten und einer Schauspielerin über den Sinn und die Implikationen der drei Einakter. Die drei Figuren sind eine ausgeklügelte Variante des Erzählers, die Handlung wird nicht mehr nur von einem, sondern von mehreren Gesichtspunkten aus erklärt. The Cave at Machpelah ist ein weiteres Stück von Paul Goodman zu einem biblischen Thema. Er ging bis zu Abraham zurück und setzte sich mit den Wurzeln des patriarchalischen Mythos auseinander, der unsere Gesellschaft bis heute belastet. The Connection des jungen Jack Gelber war ein Meilenstein in der Geschichte des Living Theatre. Wie Many Loves ist es ein Stück im Stück. Thema waren Drogen und Jazz und die Verbindung zwischen diesen 206


beiden Ebenen menschlicher Erfahrung. Der Dramatiker und der Produzent erzählen, aber es gibt eine weitere Dimension: Zwei Fotografen filmen die Junkies in der Wohnung. Wie es Piscator entsprochen hätte, richten die Schauspieler sich direkt ans Publikum. Als wir Directing the Play von Alexander Dean lasen, betonte Piscator, wie wichtig es sei, dass wir die Bedeutung des Bühnenraums kennen. Jeder Bereich der Bühne habe sein eigenes Gewicht, lehrte Dean und Piscator pflichtete dem bei. Hinten links hat mehr Gewicht als hinten rechts. Hat an einem Ort eine dramatische Handlung stattgefunden – der Mord in der ersten Szene vorne links – spielen die Folgen der Tat in den folgenden Szenen ebenfalls dort. In der Living Theatre-Produktion von The Connection befanden sich die Musiker (zufällig waren alle Schwarz) – Klavier, Kontrabass, Saxofon und Schlagzeug — auf der rechten Seite, die weißen Süchtigen, die auf den Schuss warteten, hielten sich links auf. Sam, der einzige Schwarze unter den Junkies, lag hinten mittig auf einer Liege unter dem Wandbild einer Pyramide, das die Bühne in zwei Hälften teilte. Es war nicht offensichtlich, aber sobald ein Schauspieler oder Musiker von der einen Seite auf die andere ging, spürte das Publikum, wie sich das Gleichgewicht leicht verschob, wie bei einer Waage. Alle Schauspieler traten auf dieselbe Seite als eine Figur eine Überdosis nahm und der Effekt war schwindelerregend. Ähnlich wie Piscator für Der brave Soldat Schwejk in der Szene, in der die Kriegsversehrten vor Gott aufmarschieren, körperlich Versehrte besetzt hatte, hatten wir die Schauspieler und Musiker in The Connection zum Teil mit Abhängigen besetzt. Darunter renommierte Jazzmusiker der Zeit. Das war deshalb möglich, weil jemand, der wegen Drogenbesitzes vorbestraft war, nicht mehr in Lokalen auftreten durfte, die Alkohol servierten. Das galt damals für fast alle Jazzclubs. Ezra Pound hat in Die Frauen von Trachis Sophokles in seine großartigen Verse übersetzt. Nach dem Zweiten Weltkrieg war Pound jahrelang als Verräter in der Psychiatrie des St.-Elizabeth-Krankenhauses in Washington D. C. eingesperrt und propagierte einen üblen Antisemitismus, über den er später vieldeutig schwieg. Konnte so jemand ein Stück schreiben, das das Living Theatre produzieren wollte? Ja. Mit The Marrying Maiden von Jackson Mac Low erforschte das Living Theatre die Grenzen von Inszenierung und Sprache auf eine Weise, von der Piscator geträumt und geschrieben, die er aber nie auf 207


einer Bühne realisiert hat. Auf von Piscator nie geahnte Weise ließen wir Grenzen hinter uns. Mac Low war Anhänger von John Cage und experimentierte mit Zufallsstrukturen. Mit dem I Ging als Material erstellte er mithilfe eines komplizierten Würfelsystems das Skript. Auf der Bühne warf einer die Würfel, teilte Karten mit Regieanweisungen an die Schauspieler aus und die Würfel entschieden, wie die Partitur abgespielt wurde, die Cage anhand von Stimmschnipseln der Schauspieler vorbereitet hatte. Derart willkürliche Mittel verlangten den Schauspielern hohe Disziplin und Flexibilität ab. Ein solches Format kannte Piscator von seinen frühen Dada-Experimenten. Ohne das satirische Element des Dada spielten wir damit. Unsere theatralischen Experimente kamen ohne „Stilisierungen“ aus, gegen die sich auch Piscator vehement ausgesprochen hatte. Es war eine völlig neue Form von Theater. Als Julian und ich 1961 Helene Weigel im Berliner Ensemble besuchten, begrüßte sie uns mit den Worten: „Da sind ja die Frechdachse, die Im Dickicht der Städte spielen!“ Zur Zeit der Hardliner in der Partei in Ost-Berlin hatten wir das Stück produziert, das Berliner Ensemble lehnte das Stück damals als unzeitgemäß ab, weil Brecht es 1922 geschrieben habe, also bevor er „Marxismus studiert“ hatte. Die Geschichte über die Korruption durch Geld war in unseren Augen damals und heute relevant. Vielleicht kam ihn das teuer zu stehen, aber Piscator hat sich nie an limitierende Standards gehalten, mit denen wir es heute in Form der „politischen Korrektheit“ zu tun haben. Manchmal war er aber auch zu vorsichtig, seine politische Meinung zu vertreten. Viele seiner amerikanischen Schüler ließ er in dem Glauben, er sei ein apolitischer Künstler. Wenn wir an einem Brecht-Stück arbeiteten, konnten wir feststellen, was Brecht in formaler Hinsicht von Piscator gelernt hat: Manche Szenen sind als Schattenspiel konzipiert, manche Regieanweisungen legen nahe, das Stück in einem Boxring zu spielen, um den Wettkampfcharakter herauszustreichen. Wie schon Piscator ignorierten auch wir die Anweisungen des Autors. The Apple war Jack Gelbers zweites Stück. Es spielt in einem kleinen Kabarett, das von einer prägenden Figur geführt wird, gespielt von James Earl Jones, und es spielte ganz offensichtlich auf das Living Theatre an. Neben der realistischen Ebene kam darin auch eine Reise durch die Bardos-Existenz aus dem Ägyptischen Totenbuch vor, also 208


das Sterben, den Nach-Tod-Zustand und die Wiedergeburt. Die Schauspieler trugen kunstvolle Tiermasken von Ralph Lee. Sie waren auf der Suche. Piscator hatte es so beschrieben: „Das Geheimnis hinter der Maske, dort, wo die Wahrheit liegt.“ The Brig war unser erster Versuch, die Form von politischem Theater umzusetzen, die Piscator Zeittheater nannte. Natürlich wurden wir verhaftet, wanderten ins Gefängnis und unser Theater wurde dichtgemacht. Der Realismus des Stücks dokumentiert den militärischen Wahnsinn. Die Schauspieler nahmen den Wahnsinn von Artauds aufopferungsvollem Leid auf sich, der „Signale durch die Flammen“ sendet, dies jedoch gemäßigt durch Piscators rationalen Humanismus. In meinem Essay „Directing The Brig“ (Den Knast inszenieren) schrieb ich: „The Brig ist eine Struktur … Die starre Struktur ist der Feind. Die in die Struktur gesperrten Männer sollen Teil von ihr werden. Der Reiz und der Schrecken von The Brig liegt darin, dass man zuschauen kann, ob es funktioniert oder scheitert, wenn der Knast sich diejenigen, die er einsperrt, in sein physisches Sein einzuverleiben versucht … Wo Artaud nach Wahnsinn schreit, vertritt Piscator Ratio, Klarheit und Kommunikation.“ (Malina, 1965, nachgedruckt in Brown, 1965) Einmal sagte Piscator im Unterricht zu mir: „Wir wissen, dass es noch mehr gibt, aber wir sind zu dem zurückgekehrt, was wir sehen können. Was wir sehen, können wir organisieren... wir stellen uns gegen die Dimensionen der Struktur, finden den Grundstein, das Fundament, wir orten die Türen. Wir sprengen die Schlösser und reißen die Tore aller Gefängnisse auf.“ Mysteries and Smaller Pieces war eine Erfindung, die sogar uns Erfinder überrascht hat. Ursprünglich für eine einzige Vorstellung am American Center in Paris gedacht, hielt sich die Produktion über 40 Jahre im Repertoire des Living Theatre. Es war eine Serie von acht rituellen Handlungen ohne Erklärung, sechs davon ganz ohne Text, und sie schickt das Publikum auf eine elysische Reise. Die erste Szene nutzt die Worte, die auf dem Ein-Dollar-Schein stehen, eine andere, „Street Songs“, greift Slogans auf, die auf Demonstrationen gerufen werden. Das Publikum wiederholt sie und erfindet tagesaktuell neue Formeln. Jackson Mac Low hat beide Formate erfunden. Piscator schrieb: Ich wollte immer ohne Bühne spielen, ohne Kostüme, Kleider oder Requisiten, nackt – nicht physisch nackt – aber mit nackter Seele. 209


Was ich wirklich will: das Geheimnis hinter der Maske finden, wo die Wahrheit liegt, die schlichte buchstäbliche Wahrheit, die unserem Leben zugrunde liegt – der echte Grund, die Gesetze. Wenn wir diese Gesetze kennen, können wir unsere Arbeit danach ausrichten.

(Ley-Piscator, 1967) Mysteries wird ohne Bühne, Kostüme oder Requisiten gespielt. „Nacktheit“ aber hatten wir in seelischer wie in körperlicher Hinsicht noch vor uns. Die Zofen ist eines von vielen Meisterwerken des Genies einer Sexualpolitik der Revolution. Als ich am Workshop studierte, war Genets Werk noch unbekannt und Piscator hat ihn nie erwähnt. Erst im Jahr 1962 inszenierte er Genets Balkon in Frankfurt. Niemand hat ein annähernd so leidenschaftliches Bild von Klassensystem und Klassenkampf gezeichnet wie Genet. Piscators Dilemma, Gesellschaftsstruktur bildlich klar und unmissverständlich darzustellen, ohne die sinnlichen und erotischen Aspekte der menschlichen Existenz aus dem Auge zu verlieren, ist in Der Balkon und Die Neger tragisch gelöst. Dasselbe gilt für Die Zofen, wo der tödliche Machtkampf zwischen Herrin und Zofen, letztere dazu bringt, einander zu zerstören, während sie der Unterdrückerin ergeben sind. Das Bühnenbild von Frankenstein war ein dreistöckiges Gerüst, das auf Piscators Entwürfe für Hoppla, wir leben! und Rasputin zurückging. Mary Shelleys Geschichte eines künstlichen Menschen, dem sie den Untertitel Der neue Prometheus gab, wird im Stück verbildlicht. Die Handlung findet in und vor einem rechteckigen Metallgerüst statt. Vertikale Röhren und horizontale Plattformen unterteilen die Fläche in 15 gleichmäßig große Kästen. Das Stück beginnt mit einer Meditation und dem Versprechen, eine in der Mitte sitzende Person zum Schweben zu bringen. Das Versprechen wird nicht gehalten und der Betrug löst einen Strudel der Gewalt aus, in dessen Verlauf die Schauspieler einer nach dem anderen grausam hingerichtet werden. Das Ensemble formt aus seinen Körpern „die Kreatur“, die über drei Stockwerke reicht und mit roten Lampenaugen ins Publikum glotzt. Im zweiten Akt formten wir auf dem Metallgitter im Gegenlicht das Profil eines menschlichen Kopfs. Das Bild erinnerte an Piscators berühmte Silhouette vor dem dreistöckigen Gerüst von Hoppla, wir leben! In den Kopf projizierten wir im Piscator-Stil auf einer Leinwand menschliche Attribute, auf die wir uns während des kollektiven Pro210


zesses geeinigt hatten: ganz unten die animalischen Instinkte, das Unbewusste, Erotik; Darüber: Intuition, Vision, Imagination, das Kreative, Liebe; obendrüber auf der Stirn den Sarg (Bewusstsein von Sterblichkeit) Ego, Weisheit und Wissen. Jeder Schauspieler stellt ein Attribut dar, durch sie alle bahnt sich das Ego seinen Weg und erscheint als Kreatur des Dr. Frankenstein. Mit dem Anfang von Mary Shelleys fabelhaften Monolog lernt es zu sprechen: „Nur unter größten Schwierigkeiten erinnere ich mich an die erste Etappe meines Daseins“ Er beschreibt die Hoffnung und dann die Verzweiflung der Menschheit, die sie in den Tod führt. Piscator-Epik par excellence: die Geschichte der Menschheit, die von der eigenen Technologie überwältigt wird, Schöpfung, die sich gegen ihren Schöpfer wendet. Piscators Pionierleistung, moderne Technologie ins moderne Theater einzuführen, war das Mittel, seine politische Überzeugung zu vermitteln. In „Über Grundlagen und Aufgaben des Proletarischen Theaters“ schrieb er: Die neuen technischen Möglichkeiten waren für mich nie Selbstzweck. Jegliche Mittel, die ich in der Vergangenheit genutzt habe, waren dazu da, die Handlung auf der Bühne auf ein historisches Niveau zu heben, nicht etwa dazu, die technischen Möglichkeiten der Bühnenapparatur zu erweitern. Ich behaupte nicht, dass neue Techniken das Theater retten. Ich behaupte nur, dass man mit ihnen neue dramatische Inhalte darstellen kann, indem sie die schöpferischen Kräfte der Dramatiker, Regisseure und Schauspieler befreien.

(Piscator 1920)6 Mit Brechts Antigone fegten wir die Arena von Piscators Epischem Theater aus. Kein Fetzen Bühnenbild blieb übrig, kein Thron, kein Schwert, nicht einmal das Brett, auf dem Antigone den Leichnam ihres Bruders trägt, wie von Brecht vorgesehen. Mysteries and Smaller Pieces, eine Serie abstrakter Rituale überraschte das Publikum. Es war unsere Antwort auf Piscators Satz: „Ich wollte immer ohne Bühne spielen, ohne Requisiten, ohne Kostüme.“ Antigone ist ––––––––––––––––– 6

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Es handelt sich hier nicht um ein wörtliches Zitat, sondern um eine recht grobe Zusammenfassung, Anmerkung der Übersetzerinnen.


ein beliebtes antikes Stück und sein Stammbaum wimmelt vor heiligen Kühen: Sophokles, Hölderlin, Brecht. Wir befolgten Brechts kühnen Vorschlag, die Bühne gleichmäßig in weißes Licht zu tauchen. Die Schauspieler trugen Alltagskleidung, keine grellen Farben. Wir unterteilten den Raum in Theben und Argos: Die Bühne stellte Antigones Stadt Theben dar, das Publikum saß in der feindlichen Stadt Argos. Zu Beginn etablierten wir die feindselige Beziehung. Dazu nutzten wir den Blick, von dem Piscator gesprochen hatte. Die Schauspieler betrachteten das Publikum, der Saal war nicht vollständig dunkel. Wenn jemand zurückschaute, hielt die Schauspielerin dem Blick stand und zwar mit dem Subtext: „Du spielst den Feind und wir werden uns gegenseitig zerstören.“ Der Schauspieler sollte sich an entscheidenden Stellen diesem Zuschauer zuzuwenden, insbesondere wenn wir uns unters Publikum mischten und wenn wir unter Tränen den Chor rezitierten: „Ungeheuer ist viel und nichts ungeheurer als der Mensch.“ Brecht stellte dem antiken Stück einen Prolog voran. Nach der Bombardierung Berlins entdecken zwei Schwestern – ähnlich Ismene und Antigone – den Leichnam ihres erhängten Bruders und streiten, ob es gefährlich sei, ihn abzuschneiden. Kühn wie Piscator ersetzten wir Brechts Prolog durch eine Szene, in der wir mit Geräuschen und Gesten die Bombardierung spielten, wir nahmen die Haltung ein, die amerikanische Schulkinder im Fall eines Luftangriffs einnehmen sollen. Paradise Now! war der Beitrag des Living Theatre zu den Ereignissen des Jahres 1968. Piscator starb 1966, die Zeit des Fiebers und der Wut erlebte er also nicht mehr. Ich habe mich oft gefragt, was er von der Welle utopischen Optimismus gehalten hätte. Hätte er sich, wie in seinen kommunistischen Tagen, auf die Seite der Revolution geschlagen? Oder hätte ihn der Aufstand entmutigt, weil er nicht von proletarischen Idealen getragen war und auch nicht der leninistischen Entschiedenheit entsprach, die zu wissen glaubte, wie die Gesellschaft neu zu organisieren sei? Ich fürchte, auch Paradise Now! hätte Piscator nicht gefallen, obwohl es den Anspruch seiner kämpferischen Rhetorik erfüllte. Mit Paradise versuchten wir, möglichst viele Gepflogenheiten des konventionellen Theaters zu brechen. Wir stachelten das Publikum zum Mitmachen an, wir zogen uns so weit aus, wie es das Gesetz erlaubte (und weiter), animierten auch das Publikum dazu, umarmten es, holten die Stühle aus dem Zuschauersaal und stapelten sie auf der Bühne, wir verbrannten Geld, ließen die Leute singend auf die Straße ziehen. 212


Was wie Chaos aussah, basierte auf einer strengen Matrix, einem sorgfältigen Plan. Das Publikum bekam eine Anleitung und das Spektakel wurde zum Exempel jener liberalen Ordnung, vor der sich die Welt fürchtet. Angst verhindert die tiefgreifenden sozialen Veränderungen, die das Living Theatre „The Beautiful Non-Violent Anarchist Revolution“ nennt. Das Programmheft war eine Karte so groß wie ein Plakat, auf der zehn Stufen abgebildet waren, die vom Guerilla-Theaterritual vor den Toren des Paradieses zur Vision einer permanenten Revolution führen. Jede Stufe bestand aus je einem Ritual, einer Vision und einer politischen Handlung, an der sich das Publikum beteiligt, die es sogar initiiert hatte. Was nach Chaos aussah, war eine fließende Bewegung hin zu anderen, höheren Formen. Es war das große Experiment, von dem Piscator geträumt hatte. Zwar hat er es nicht durchführen können, aber ohne seine Pionierarbeit wäre es niemals zustande gekommen. Auf Einladung brasilianischer Künstler, deren Theaterarbeit vom Militärregime unterdrückt wurde, ging das Living Theatre im Jahr 1970 nach Brasilien. Dort entwickelte die Kompanie einen Zyklus aus Stücken, die auf keiner Bühne, sondern auf der Straße und an anderen Orten gespielt wurden: The Legacy of Cain. Schüler führten Six Dreams about Mother am Muttertag mit Unterstützung von Müttern und Lehrern in einer Turnhalle auf. Eine Schülerin, die von der Lehrerin festgehalten wird, entkommt. Als sie ihren Mitschülern in die Arme springt, zerreißt sie in der Luft das Band aus Krepppapier, das sie mit ihrer Mutter verband. Ein typischer Piscator-Effekt. Die antiautoritäre Botschaft brachte die Ordnungshüter derart auf, dass die Gruppe verhaftet wurde. Im Gefängnis kreierten die Männer ein Stück für ihre Mitgefangenen inklusive Wächter und Besucher und nach fast drei Monaten Haft wurde die Truppe des Landes verwiesen. Bei der Rückkehr nach New York fühlte sich das Living Theatre so heimatlos, entwurzelt und entfremdet, wie Piscator sich in den USA gefühlt hatte. Das erste Stück, das wir für den Zyklus The Legacy of Cain schufen, war Seven Meditations on Political Sado-Masochism, eine Reaktion auf die Erfahrungen, die wir in Brasilien gemacht hatten. Die Schauspieler sitzen im Kreis, stellen politische Beobachtungen und Analysen an, während in ihrer Mitte entwürdigende Handlungen gezeigt werden. Darunter die plastische Darstellung einer Foltermethode, die in den brasilianischen Gefängnissen üblich ist. Um ihre 213


Grausamkeit hervorzuheben, spielten wir sie in Zeitlupe. Auch diese Technik hatten wir von Piscator gelernt. Mit dem Strike Support Oratorium, einem Straßentheater, das den Trauben- und Salat-Boykott der United Farmworkers unterstützte, folgten wir ebenfalls Piscators Beispiel. Auch er hatte streikende Gewerkschafter unterstützt. Im Stil der Biomechanik, von Meyerhold abgeleitet, zeigte eine Prozession den physischen Schmerz des Bückens, den unterbezahlte Wanderarbeiter aushalten. Die Schauspieler bildeten menschliche Barrikaden vor Geschäften, die Boykottware verkauften, ihre Körper behinderten den Handel. The Legacy of Cain bestand aus ungefähr zwölf ortsspezifischen Stücken, darunter Turning the Earth. In dem Stück pflanzten Anwohner und Kinder in einem Ritual Gemeindebeete. Entlang der Straßen und auf den Brachen Pittsburghs, der ersten Stadt, wo wir The Legacy of Cain vollständig aufführten, würden Bohnen und Mais wachsen. Six Public Acts, mit dem Untertitel Changing the City war ein Spektakel aus sechs Akten und einem Prolog, das über den Tag verteilt, an sieben Orten stattfand. Von einer Bank, dem „Haus des Geldes“, wo wir Geld verbrannten, führte unser Marsch zu einer Polizeiwache, dem „Haus der Macht“, wo wir der Polizei Brot und Rosen anboten und sie baten, freundlich zu sein, zum „Haus des Staates“, einem Gerichtsgebäude oder einer Behörde. Dort legten wir uns auf den Boden und animierten das Publikum, es uns gleichzutun und, in Gedenken an all jene, die dem Staat zum Opfer gefallen waren, die Fassade mit Blut aus unseren Fingern zu beschmieren. Für das „Haus des Grundbesitzes“ bauten wir eine mobile zweistöckige Konstruktion aus Holz – eine Art Piscator-Gerüst für 14 Schauspieler, das wir Die Bastille nannten. Von da aus erklärte Proudhon, was Besitz bedeutet, und die Kompanie spielte es vor. Im „Haus von Liebe und Tod“ fesselten wir einander in einem sadomasochistischen Ritual und harrten darauf, dass uns das Publikum befreite. Piscator hätte es dem Publikum zwar nicht zugetraut, aber in Brasilien, Pittsburgh, Italien, Deutschland und Frankreich hat es tatsächlich funktioniert. Die dramatische Struktur von The Destruction of the Money Tower war ein Rückgriff auf die Jessner-Treppe, in Piscators Augen das Idealbild für Gesellschaftsstruktur und Klassenkampf. Der Geldturm ist eine runde dreidimensionale Version der Jessner-Bühne. Der Turm geht auf eine Zeichnung aus dem Jahr 1911 zurück, die durch die IWW (Industrial Workers of the World, eine anarchistische Gewerkschaft, 214


liebevoll „Wobblies“ genannt, das Living Theatre ist seit 1971 Mitglied) verbreitet wurde. Die Zeichnung zeigt ein fünfstöckiges Gerüst mit Zwischenböden. Unten die Armen und Arbeiter, unterdrückt und verzweifelt, auf ihnen lastet die gesamte Struktur. „Wir arbeiten für alle, wir ernähren alle“, rufen sie. Auf der nächsten Ebene die Arbeiterklasse, sie verarbeitet die Rohstoffe, die sie von unten bekommt. Darüber die „Freizeitgesellschaft“, die in Luxus speist und verkündet.: „Wir essen für euch.“ Darüber die Soldaten mit aufgepflanzten Bajonetten: „Wir schießen auf euch.“ Darüber Kleriker im kirchlichen Talar: „Wir belügen euch.“ Und ganz oben kreischen ein paar silbern gekleidete Kapitalisten: „Wir regieren euch.“ Über all dem prangt ein eineinhalb Meter hohes neongrünes Dollarzeichen. Das Living Theatre wollte das Tower-Stück vor den Toren der Stahlwerke in Pittsburgh aufführen. Dort zeigte es ganz unten Bergleute, die „Dritte Welt“ und das Lumpenproletariat. Wir hatten recherchiert, wie im Stahlwerk gearbeitet wird. Auf der zweiten Ebene stellten wir mit den Mitteln der Biomechanik die Arbeiter dar. Über der Mittelklasse, die mit Verpacken und Vermarkten beschäftigt war, eine Mischung aus Klerus und Staat, und dann, direkt unter dem grün leuchtenden Dollarzeichen, die Reichen. Wir zeigen, wie der Tod eines Arbeiters den revolutionären Funken entfacht, der zum Generalstreik führt. Das Geldsystem bricht zusammen und mit ihm das zwölf Meter hohe Gerüst, das singend und feierlich auseinandergenommen wird. Die Arbeiter aus dem Stahlwerk staunten, wie geschickt wir ein so großes Gerüst auf- und abbauten. 1975 blieben in Pittsburgh immerhin 200 von 2000 Stahlarbeitern nach der Schicht, sahen sich das Stück an und unterhielten sich mit uns. Inzwischen sind die Stahlwerke in Pittsburgh geschlossen. Als wir nach acht Jahren Straßentheater wieder Theaterräume bezogen, schufen wir aus Texten von Aischylos und Shelley und den Ereignissen der Russischen Revolution das epische Stück Prometheus at the Winter Palace. Die universelle Aussage stützt sich auf die Antike und die Geschichte und thematisierte gleichzeitig das Elend heutiger politischer Gefangener. Zunächst fand das Publikum Schauspieler vor, die unbeweglich waren, an ihre Sitze gefesselt. Es verstand, dass es sie losbinden musste, damit das Stück beginnen konnte. Als nackter Prometheus kletterte Hanon Reznikov an die Spitze des piscatorartigen Metallgerüsts, das das Proszenium überspannte, und zitierte dort oben Aischylos. Am 215


Ende des ersten Aktes fordert Julian Beck als Lenin das Publikum auf, die antike Geschichte als Geschichte der Russischen Revolution nachzuerzählen. Während der Pause rekrutierte Beck Zuschauer für die Rote Armee, die Weiße Garde, pazifistische Tolstoi-Anhänger und Anarchisten und probte mit ihnen in verschiedenen Räumen, auf der Bühne, in den Gängen und im Foyer, die Erstürmung des Winterpalastes. Sie wurde vom Publikum gespielt mit zusammengerollten russischen Zeitungen als Gewehren. Wie in den fünf legendären frühen PiscatorInszenierungen sangen die Schauspieler nach dem Sieg mit dem Publikum Die Internationale. Wir zogen eine Parallele zwischen dem antiken Mythos und der modernen Geschichte. Aus Zeus wurde Lenin und aus Prometheus der Anarchist Alexander Berkman, der 14 Jahre lang im Gefängnis in Pittsburgh saß. Aus Io, von einem Quälgeist (von Tom Walker gespielt) von Küste zu Küste getrieben, wird Emma Goldman, die den Großteil ihres Lebens im Exil verbrachte. Piscator hatte es vorgemacht, als er Lenin und Trotzki (und den deutschen Ex-Kaiser) als Figuren in sein Rasputin-Stück einbaute. Am Ende des Stücks zogen wir mit dem Publikum in einem stummen Marsch zum nächstgelegenen Gefängnis, hielten Wache, schauten an den Mauern empor und meditierten über die Abschaffung von Strafen. 1978/79 spielten wir hauptsächlich in Italien, wo die Gefängnisse aufgrund der Unterdrückung der Roten Brigaden voller politischer Häftlinge waren. Die Szene war dort noch eindringlicher. Am 21. Januar 1948 schrieb ich in mein Tagebuch: „In Tollers Masse Mensch, dem besten politischen Stück, das ich kenne, sind Gut und Böse gut zu erkennen.“ Das Living Theatre brachte Masse Mensch erst 1980 auf die Bühne und zwar in München, wo das Stück zwar spielt, bis dahin aber nie aufgeführt worden war. Im Jahr 1921 hatte Piscator eine Produktion geplant, der Berliner Polizeikommissar aber verlängerte die Lizenz des Proletarischen Theaters nicht; stattdessen brachte die Volksbühne das Stück heraus – ohne Piscator. Der Text ist ganz und gar piscatoresk, er zeigt den Konflikt zwischen revolutionären Idealisten und dem bewaffneten Kampf. Piscator hätte unsere Inszenierung bestimmt gefallen. Das Bühnenbild bestand aus klappbaren Metalltoren, aus denen immer wieder ein Gefängnis gebaut wurde. Weil alles auf Räder montiert war, konnte man auch Wände und sogar Kanonen daraus machen. Mit The Yellow Methuselah verwob Hanon Reznikov zwei sehr unterschiedliche Werke zu einem Epos über die Weltgeschichte, das 216


auch etwas über die Zukunft aussagte. George Bernard Shaw erzählt in Zurück zu Methusalem, wie die Menschheit nach Unsterblichkeit strebt und zwar seit dem Paradies bis ins Jahr 20000 und „soweit der Geist reicht“: Wassily Kandinskys Bühnenkomposition Der gelbe Klang ist dagegen eine originelle Mischung aus Figuren, Farben, Klängen und anderen abstrakten Elementen. Zusammengefasst hoben uns diese beiden Stücke auf eine höhere Bewusstseinsebene. Shaw und Kandinsky diskutieren im Stück über Lebensdauer. Mit einem Mikrofon ausgestattet, mischte sich Julian Beck als Bernard Shaw unter das Publikum und interviewte Zuschauer über Hoffnungen und Ängste in Bezug auf langes Leben und Unsterblichkeit. Die Zuschauer dachten, ihre Stimmen würden nur verstärkt, tatsächlich wurden die Antworten aufgenommen und hinter der Bühne montiert. Später in der Vorstellung wurden sie eingeblendet und bildeten das Ende der Debatte. Von dieser technischen Neuerung ahnte Piscator noch nichts – aber: er stellte sich Techniken vor, die seiner Zeit voraus waren. The Archaeology of Sleep war Julian Becks letztes Stück, eine Arbeit über verborgene Schichten des Geistes und den Missbrauch von Wissenschaft. Es setzte sich mit der Arbeit des Traums auseinander. Piscator sagte: Aber Träume besitzen in der Kunst Realität. Teil meines Traumes ist es, das Theater zu seiner eigentlichen Funktion als bester Lehrer der Welt zurückzuführen. Ursprung und Wesen des Theaters gehen nicht auf irgendwelche exklusiven Qualitäten griechischen Geistes zurück, sondern auf den Verstand ganz allgemein … Theater interessiert mich nur, wenn es sich auf die Gesellschaft bezieht – wenn es über ein sinnvolles Universum spricht … Zu manchen Zeiten müssen wir Erfahrungen unbedingt mit höheren Realitäten verbinden – denen des Epischen Lebens.

(Ley-Piscator, 1967) In The Archaeology of Sleep fuhr auf dem hinteren Teil der Bühne auf einem erhöhten Gleis ein „Zug der Gedanken“ und beförderte den „Schlaf der Stadt“ und diverse Figuren, die den schlafenden Schauspielern im Traum erscheinen und sie in Piscators „höhere Realitäten“ hievten. Die Zuschauer werden zum Mitmachen animiert, zum Schlafen. Wenn das Licht angeht, sind sie allein auf der Bühne, die Schauspieler sind weg. Sie sind wach, die Realität hat sich verschoben. 217


Karen Malpedes Drama Us handelt von vier Menschen, die von zwei Personen gespielt werden: ein Paar, seine Mutter und ihr Vater. Um das Universelle an Malpedes Weltbild in diesem ödipalen Generationenstück zu betonen, entwarf ich ein Bühnenbild, in dem alle Szenen wie ein Querschnitt durchs Leben vor einer hohen, breiten Wand angeordnet waren. Die Schauspieler fanden es schwierig, die regalartigen Ebenen zu bespielen, die Ilion Troya im konstruktivistischen Stil gebaut hatte. Aber das war emblematisch für die schwierigen Beziehungen, die sie darstellten. Dieses technische Mittel entlehnten wir Piscators Inszenierungen Hoppla, wir leben!, Rasputin und Des Kaisers Kulis. Sie alle waren auf den multiplen Spielflächen des innovativen Bühnenbildners Traugott Müller gespielt worden. Poland/1931, Jerome Rothenbergs dichterisches Gedenken an Juden und Polen, Immigration und Assimilation, spielte in einem niedrigen Raum. Das Publikum saß entlang der Wände in einer Reihe. Unsere Produktion kam mit einem Minimum an Kostümen und Requisiten aus, das einzige szenische Element waren sechs Holzbänke, die von den Schauspielern in jeder Szene anders arrangiert wurden. VKTMS von Michael McClure versetzte die antiken Figuren Orest, Elektra und Pylades in Streitwagen, die von ihren Sklaven geschoben werden. Es zeigt den Moment des blutigen Massakers, in dem alle für immer verharren. Schrecklicher Missbrauch durch die Klassenstruktur: der verwundete und unversöhnliche Adel, die Sklaven, die ihn hassen, ihm aber dienen, ein Thema, das Piscator in antiken wie modernen Stücken behandelt sehen wollte. Die Fliegen von Sartre, von Piscator am Dramatic Workshop inszeniert, ist eine existenzialistische Version dieser Geschichte, Orest wird darin von den Furien erlöst. McClure dagegen zeigt die Figuren, wie sie für immer in der alten Geschichte gefesselt sind, beladen mit Furcht und der Schuld ihrer vergangenen Verbrechen. Unsere Streitwagen waren großartig konstruiert vom Graffitikünstler Rammellzee. Er stellte unter Beweis, dass die heutige Ikonografie dem Mythos neues Leben einhauchen kann. Eine weitere Variante mit Mythos und Geschichte umzugehen, war Armand Schwerners The Tablets. Hier war Piscators Erzähler als Gelehrter/Übersetzer die zentrale Figur. Er versucht, die Vergangenheit zu verstehen, die aber ist schlauer, und die alten Tafeln wenden sich direkt an die Zuschauer. Wir müssen sehr viel tiefer schürfen, mahnen sie, um ihre Sprache und unsere tatsächlich zu verstehen. 218


Hanon Reznikov hatte das lange epische Gedicht The Tablets in enger Kooperation mit dem Dichter als Drama bearbeitet. Else Lasker-Schüler war Dichterin und, wie Piscator, Pionierin der Kunstbewegung der Moderne. Obwohl sie aufgrund ihrer Exzentrik ihr ganzes Leben lang marginalisiert war, zog sie eine ganze Generation moderner Künstler magnetisch an. Ich weiß nicht, ob sie Piscator je getroffen hat, auf jeden Fall war sie Teil der Berliner Szene, bevor sie 1933 flüchtete. Ihr restliches Leben verbrachte sie in Jerusalem. Ihr Stück IchundIch könnte darauf hinweisen, dass sie Piscators Theater kannte, denn es ist ein überbordender Pastiche aus FaustGeschichte und Nazi-Intrigen. Es spielt im Himmel und in der Hölle, sowohl Nazifiguren als auch die Ritz Brothers treten auf. Die Handlung folgt der Odyssee der Dichterin, während sie versucht, ihr Stück mit Max Reinhardt als Produzent auf die Bühne zu bringen. Das Stück spielt in einem Zimmer in der Hölle, während die Nazis mit dem Teufel über eine Öllieferung verhandeln. Dank eines von George Grosz inspirierten Piscator-Apparats sieht man, wie das deutsche Heer endlos marschiert. Der Bühnenbildner Ilion Troya, der konstruktivistische und expressionistische Kunst studiert hatte, entwarf eine rotierende Walze mit flachen Soldatensilhouetten. Piscator hätte das Stück unbedingt inszenieren müssen. Vermutlich kannte er es nicht, dabei klagte er ständig, seinem Theater fehlte es an Dramatikern. The Body of God wurde kollektiv erarbeitet, wie Piscator es propagiert hatte. Der Titel bezieht sich auf Eric Gutkind, den jüdischen Philosophen, der sich unter dem „Körper Gottes“ die Menschen vorstellte – und zwar ausnahmslos alle Menschen. Wir wollten das Publikum auf die Obdachlosen aufmerksam machen, die in der New Yorker Lower Eastside in der Gegend unseres Theaters an der Dritten Straße auf der Straße lebten. Zuerst diskutierte die Gruppe über das Thema und stellte eine Textkollage zusammen. Dann luden wir acht Obdachlose ein mitzuspielen, einige von ihnen lebten in nahen Unterkünften, andere auf der Straße. Ihre Geschichten und ihre Bedürfnisse waren Thema unserer Texte und unseres Spiels. Unsere obdachlosen Kollegen empfingen das Publikum, reichten Plastiktüten für die Habseligkeiten und ein Stück Pappe, mit dem sie sich irgendwo auf dem Boden niederlassen sollten. Die Zuschauer mussten sich selbst einen Platz suchen. Als sie später aufgefordert wurden, Platz zu machen, weil die Bühne während der Vorstellung 219


umgebaut wurde, spürten sie womöglich, wie Obdachlose, einen Hauch Scham und Unsicherheit. German Requiem ist Eric Bentleys Bearbeitung von Kleists Familie Schroffenstein. Ein dichterisches Traktat über den Kreislauf von Gewalt und gewachsener Feindseligkeit und zeitlos gültig. Wir unterteilten unseren Raum in zwei Schlösser, die von einem Berg getrennt waren, die Zuschauer waren Partisanen und gehörten jeweils einer Seite an. Ich wollte das noch ausbauen, indem jede Seite Familienfarben und Banner tragen sollte, aber das gelang nicht. Während einer der Vorstellungen wurde klar, was eine solchen Fehde bedeutet. Zwei rivalisierende Straßengangs bekämpften einander während der Pause vor unserer Tür. Gebannt schaute das Publikum durch die Fenster des Foyers. Bis Streifen- und Krankenwagen eintrafen, um die Verletzten abzutransportieren, war es davon ausgegangen, das Schauspiel gehöre zur Vorstellung. Rules of Civility and Decent Behavior in Company and in Conversation ist eine Liste von Verhaltensregeln aus der Feder des jungen George Washington. Hanon Reznikov hatte daraus ein Ensemblestück gemacht. Es zeigte, wie aus allzu strikten Grenzen falsch verstandener Moral ein ethisches Vakuum entsteht, das Kriege zu rechtfertigen scheint. Am Ende des Stücks führt ein doppelter George Washington, einmal als Kind und einmal als Erwachsener, das Publikum zur Mahnwache für Frieden auf die Straße. Nach der Vorstellung in Rom spazierten wir zur amerikanischen Botschaft und protestierten mit den Mitteln des Theaters gegen den Ersten Golfkrieg. Die Polizei stoppte uns. Maria Piscator schreibt in The Piscator Experiment: „Intellektuelle schrieben über das Epische Theater und gaben ihm verschiedene Namen, z. B. Politisches Theater, Dokumentarisches Theater, Engagiertes Theater, Zeittheater, Piscator-Bühne, Lehrstück …“ Echoes of Justice ist im wahrsten Sinn ein Zeitstück, vielleicht sogar ein Dokumentarstück. Es entstand als Hanon, ich und Exavier Muhammad Wardlaw, ein Mitglied unserer Kompanie, bei Radio Unnameable zu Gast waren, einem Programm von Bob Fass beim New Yorker Sender WBAI [nicht kommerzieller, linksgerichteter Sender, A. O.]. Wir nahmen Anrufe entgegen. Larry Davis, Insasse des Gefängnisses auf Rikers Island, erzählte davon, wie er misshandelt wurde, weil er auf die Polizei geschossen hatte, als sie seine Wohnung stürmte, wo er sich mit Frau und Kindern aufhielt. Da wir über Politisches Theater sprachen, schlug er vor, wir könnten doch seine Geschichte dramati220


sieren. Exavier setzte sich daran, bekam die Prozessakten von den Rechtsanwälten und entwickelte das Stück Echoes of Justice. In Anarchia zeigten wir, wie eine Reportage über den italienischen Anarchisten Errico Malatesta Spuren in der Redaktion einer angesagten Zeitschrift hinterließ. Malatesta hatte die Journalisten darauf aufmerksam gemacht, wie sehr sie in ihrer Arbeit gefangen waren. Einige Büroangestellte führten vor dem Redaktionsgebäude Straßentheater im Agitprop-Stil auf, um gegen die Kriegssteuer zu protestieren. Im Spiel werden sie von Terroristen attackiert und bitten das Publikum um Hilfe. Manche Zuschauer reagierten, andere nicht und je nachdem, wie das verläuft, gibt es am Ende jeder Vorstellung unterschiedlich viele Leichen und Überlebende. Das Publikum entscheidet über das Ende des Stücks. Wir stellen uns vor, dass es Piscator gefallen hätte. The Zero Method stellt Wittgensteins sieben Annahmen des Tractatus Logico-Philosophicus einer persönlichen Beziehung gegenüber. Mitten im Stück unterbrechen wir Schauspieler, um mit dem Publikum zu diskutieren. Wir fragten: „Was halten Sie vom Stück?“ und „Wie beurteilen Sie unser Verhältnis in wirtschaftlicher Hinsicht?“ oder „Wie viele haben bezahlt?“, „Wer hat Freikarten bekommen?“, „Wenn Sie bezahlt haben, ist die Vorstellung ihr Geld wert?“ In einer anderen Szene zitieren zwei Schauspieler Schlagzeilen aus der Tageszeitung und spielen sie vor. Zeitungsartikel zu verwenden, ist aber nicht neu. Hallie Flanagans Federal Theatre Project produzierte mit The Living Newspaper engagierte Dokumentarstücke, die ihr Publikum über Ausmaß, Art und Ursprung sozialer Probleme informierten und aufforderten, etwas dagegen zu tun. Das hat auch Piscator inspiriert. Maria Piscator schreibt in The Piscator Experiment: „Die Living Newspaper-Technik wurde in den frühen Piscator-Inszenierungen der 20er Jahre angewendet. Es läßt sich noch weiter zurückverfolgen bis zu den Montagen von Eisenstein und Meyerhold. The Living Newspaper, von Piscator nach dem Modell Dokumentarfilm mit schnell aufeinander folgenden Szenen erfolgreich weiterentwickelt, wurde in England während des Zweiten Weltkriegs als Bildungs- und Propagandaformat für die Armee verwendet. Inzwischen ist es auch von Radio und Fernsehen adaptiert worden.“ Augusto Boal und sein Theater der Unterdrückten entwickelte das Living Newspaper in Peru für ein Alphabetisierungsprogramm und spielte später in Brasilien unter dem Label „Zeitungstheater“. Boal wurde 1971 in São Paulo verhaftet und gefoltert. Dank seiner vielen 221


Anhänger wird sein Projekt für Agitation und Erfindung neuer Spielarten politischen Theaters auch nach seinem Tod im Jahr 2009 weitergeführt. Mit Utopia gelang dem Living Theatre ein Experiment, von dem es lange geträumt hatte: Wir entwickelten ein ganz und gar positives Stück, das sich an dem universellen Wunsch orientiert, eine bessere Welt zu schaffen. Im Workshop hatte Piscator mich einmal gebeten, Utopien der Weltliteratur zusammenzustellen. Mein Versuch begann bei Thomas Morus und Campanella. Ob ich den Essay fertigschrieb, ihn Piscator jemals aushändigte? Ich weiß es nicht mehr. Aber es kam meiner Lust entgegen, mir die ferne Landschaft einer Welt auszumalen, in der wir gerne leben. In Utopia ging es vor allem darum, den Visionen aus dem Publikum gerecht zu werden, seine Sehnsüchte zu erfüllen. Im Laufe des Abends brachten wir die Zuschauer dazu, ihre Sehnsüchte zu artikulieren und auch zu sagen, was ihnen entgegenstand, damit sie mit uns im Spiel die Hindernisse überwinden, das Ziel erreichen konnten. Anhand einer Szene aus Shakespeares Wintermärchen besiegte das Publikum am Ende den Tod, das war die utopischste aller Visionen. Not in my Name ist ein Proteststück gegen die Todesstrafe. Wir haben es schon lange im Programm. An Tagen, an denen in den USA jemand hingerichtet wird, spielen wir es auf der Verkehrsinsel am Times Square. In den letzten Jahren standen mehr als 3000 Menschen auf der Liste der zum Tode Verurteilten und pro Woche fanden ein oder zwei Hinrichtungen statt7. Mit unserem Straßentheater versuchen wir den Kreislauf der Gewalt zu unterbrechen. Wir blicken einem Zuschauer fest in die Augen und schwören, ihn oder sie nicht zu töten. Der Augenblick des Kontakts soll den mörderischen Kreislauf durchbrechen. Piscators Betonung der ökonomischen Basis aller dramatischen Werke, seien sie nun antik oder modern, dadaistisch oder realistisch, inspirierte uns zu einem Stück über das kapitalistische System, seine Funktion und Entstehung. Fernand Braudels Sozialgeschichte des 15. – 18. Jahrhunderts diente Reznikov als Grundlage, die wirtschaftliche Situation von Menschen unterschiedlichen Status in verschiedenen Ländern während dieser Zeitspanne zu illustrieren. Damit das ––––––––––––––––– 7

Die Statistik der letzten dreißig Jahre weist seit einem vorläufigen Höhepunkt 1999 mit 98 Hingerichteten, eine abnehmende Tendenz auf. Im Jahr 2023 wurden in den USA 24 Personen hingerichtet. Anmerkung der Übersetzerinnen.

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Publikum tatsächlich Transaktionen erlebte, öffneten wir in den Pausen eine Börse, bei der die Darsteller Anteile ihrer künftigen Figur zum Kauf anboten. Gegen echtes Geld verkauften sie Aktienzertifikate, die man am Schluss des Stücks einlösen konnte. Manche Aktien gewannen an Wert, aber immer auf Kosten anderer. Resistenza war von der Gegend inspiriert, in der wir es entwickelten, der kleinen italienischen Stadt Rocchetta Ligura. Sie war durch ihren Widerstand gegen die deutsche Besatzung bekannt geworden. Partisanen von damals erzählten uns Geschichten über ihren mutigen Widerstand gegen die Nazis. Als wir ihren Kampf spielten, stand das Publikum auf und zog mit uns los. Es erinnerte mich daran, wie Piscator Fuente Ovejuna inszeniert und die Dorfbewohner dem Tyrannen gegenübergestellt hatte. Auch eine oft erzählte Geschichte kam mir in den Sinn: Die Oper La Muette de Portici wurde aufgeführt und im letzten Akt trieb das Lied der Rebellen das Publikum auf die Straße, wo es die Revolution vom Zaun brach. A Dream of Water von Hanon Reznikov dokumentiert, gerahmt von einer ausgedachten Geschichte, den Bau des Drei-Schluchten-Damms in China. Es handelte von menschlichem Leid und ökologischem Schaden. Außerdem ist es eine Hymne auf jenes Element, auf dem alles Leben beruht. Mitten in der Aufführung diskutierten wir mit dem Publikum über Wassermanagement. Piscator hat sich immer dafür eingesetzt, das Theater zu einem Forum zu machen. Ausprobiert hat er es nur in den frühen Inszenierungen. Das Niveau der Publikumsdiskussionen während unserer Vorstellungen hätte ihn beeindruckt. Enigma war eine Hommage an Julian Becks theatralischen Geist. Nachdem das Kollektiv über Wochen Julians Werk und die Dilemmata der kreativen Arbeit diskutiert hatte, schrieb Hanon Reznikov das Stück. Maudie and Jane ist ein Stück für zwei Frauen. Es handelt von der Schieflage in unserer Gesellschaft, den Vorurteilen gegenüber älteren Mitmenschen, dem ökonomischen Ungleichgewicht zwischen reich und arm, den Erfolgreichen und den Entmündigten. Piscators Betonung der Klassenfrage klingt an, wenn eine schöne, erfolgreiche junge Frau auf eine 80-Jährige trifft und deren schwachen Körper betrachtet. Eureka!, Hanon Reznikovs letztes Stück, habe ich nach seinem Tod zu Ende inszeniert. Von allen Stücken, die ich inszeniert habe, kommt es in Sachen vollständiger Publikumsbeteiligung und inhaltlicher Konsequenz Piscators Vision am nächsten. 223


Keine Sitzplätze. Sobald die Zuschauer eintreten, sind und bleiben sie Teil der Handlung. Am Anfang spielen sie den Urknall, den Ursprung des Universums, am Schluss tanzen sie aus Protest gegen die Theorie über die Endlichkeit des Universums. Edgar Allen Poe und Alexander von Humboldt führen einen Dialog über ihr Geschichtsverständnis, die Zuschauer spielen mit den Schauspielern die Entwicklung von Evolution und Zivilisation durch, die Gefahr durch Militarisierung, den ökologischen Irrsinn. Bei jeder Vorstellung dachte ich: Genau das hatte Piscator im Sinn. Da das Publikum von Anfang bis Ende spielte und sprach, ist Eureka! in gewisser Hinsicht das ultimative Piscator-Stück und ich bin glücklich, dass ich wenigstens dieses eine Mal seine Vision vollständiger Publikumsbeteiligung umgesetzt habe. Mit ihrem Stück Red Noir befasste sich Anne Waldman mit der verzweifelt kriminellen Welt des Film Noir. Eine glamouröse Detektivin ist tief in Intrigen verstrickt. Den Rahmen aus Negativität kontrastierte das Living Theatre, Piscators utopischem Beispiel folgend, mit Gedichten derselben Autorin, hoffend, dass es den freudvollen, anarchistischen und mitfühlenden Idealen gelingt, die Ödnis zu durchbrechen. In Korach setzte das Living Theatre eindeutig Piscators Ideen um. Die biblische Figur stellt Moses Autorität in Frage, manche nennen ihn auch „den ersten Anarchisten der Geschichte“. Poetisch wie spirituell wird die Frage der Macht verhandelt, eine große Gruppe von Israeliten und Rebellen kämpft in einem wüstenartigen Bühnenbild: Die Handlung spielt auf einer höher gelegenen Plattform, umgeben vom Publikum, das auf niedrigen Podesten sitzt. In History of the World führt jeder Schauspieler einen oder mehrere Zuschauer/Teilnehmer durch die Geschichte, aus der Höhle hinaus und hin zur „Beautiful Non-Violent Anarchist Revolution“. Am wirksamsten setzen wir unsere kollektive Arbeit in den Workshops um, die das Living Theatre seit vielen Jahren gibt. Wir diskutieren ein Thema, das 20 bis 80 Teilnehmer betrifft. Ich führe die zwei Prinzipien ein, die Piscator uns im Workshop lehrte: das Prinzip des Totalen Theaters und das Prinzip des Engagements. Wir fordern die Leute auf, unter Berücksichtigung dieser Prinzipien zu bestimmten Themen Gruppen zu bilden. Wenn eine Gruppe sich auf ein Thema geeinigt hat, erstellt sie den Text nach der dichterischen Methode der Surrealisten: Exquisite Corpse. Jeder Spieler schreibt zwei Zeilen zum Thema, der Nächste sieht nur die letzte Zeile und führt den Gedanken 224


weiter. Mit verschiedenen Techniken, die wir in Übungen vermitteln, entwirft jede Gruppe eine zum Thema passende Szene und schließlich fügen wir die Szenen zu einem Stück zusammen, das sich auf der Straße oder an öffentlichen Orten aufführen lässt. Stücke, die von Workshop-Teilnehmern kollektiv erarbeitet und aufgeführt wurden, sind: A Day in the Life of New York City in Reaktion auf den 11. September wurde Ende September und Anfang Oktober in öffentlichen Parks in Manhattan und Brooklyn aufgeführt. 2004 wurde The Code Orange Cantata bei Straßenprotesten während des Parteitags der Republikaner gespielt. No Sir! wurde auf einer Verkehrsinsel am Times Square an der 43. Straße und am Broadway vor der berühmtesten Rekrutierungsstelle der USA gespielt, genau dort, wo auf einer Riesenleinwand alle sieben Minuten ein Werbevideo läuft. No Sir! dauert genauso lange wie der Loop. Aus dem Werbevideo wurde also ein Bühnenelement unseres Antikriegsstücks. Das ist die Geschichte, wie ein Theater, das Living Theatre, während seiner langen Geschichte den Grundsätzen von Piscators Inszenierungsarbeit folgte, um für die eigene Politik einzustehen. Aber jenseits all dessen und all dem zu Grunde liegend, war es der Geist, mit dem Piscator unermüdlich nach Theaterformen suchte, der seinem großen Ziel am besten diente: die Welt besser zu machen durch die Kunst des Theaters.

Epilog Politisches Theater, theatralische Politik: Episches Theater im 21. Jahrhundert Und wie steht es im dritten Millennium um das politische Theater? Das Konzept der „politischen Korrektheit“ hat dazu geführt, dass wichtige europäische Theater eine Anzahl relevanter Stücke in ihre Spielpläne aufnehmen. Viele dieser Stücke nutzen Piscators Erfindungen: Durchbrechen der vierten Wand, Narration, epischer Einsatz von Film und Video, aber zu oft fehlen engagierte Spieler als wesentliches Element, es fehlt ein Ensemble, das den Sinn und die Interpretation des Dramas und seiner Figuren begreift, das seine gesellschaftliche Relevanz analysiert. 225


Wo ist das neue politische Theater? Es ist nicht verschwunden. Heute kann ich sagen, ich habe es erlebt und wir waren Teil davon. Das neue politische Theater, zu dem Julian Beck in der letzten Szene von Paradise Now aufrief, findet auf der Straße statt. Dort ist es zu entdecken. Bei den Großdemonstrationen, die in den letzten Jahren in den Städten stattfanden, wo die G8 und die Welthandelsorganisation zu Gipfeltreffen kamen, um über die Zukunft der Weltwirtschaft zu beraten und über ihre Folgen für Leben und Sterben von Millionen Menschen; wir haben gesehen, wie Hunderttausende Aktivisten gegen den Kapitalismus protestiert haben! Piscator würde zustimmen. Unser größtes politisches Problem ist das kapitalistische System „mit all der Ungleichheit und den Ungerechtigkeiten und der Armut und all den Kriegen, die es stützen“. Die Demonstrationen sind reines Theater. Im Juli 2001, als die G8 in Genua zusammenkamen, marschierten und performten 200 000 Leute. In den Medien erregte leider ein blutiger Vorfall das größte Aufsehen. Der junge Demonstrant Carlo Giuliani musste sterben, weil er einen Feuerlöscher gegen ein Polizeiauto geworfen hatte. In den kommerziellen Medien heißt es: „Blut ist gut für die Auflage.“ Blutvergießen hat Nachrichtenwert; ohne Blut keine Nachricht. Zweck des Theaters ist es, Blutvergießen zu vermeiden, es auszumerzen, das hat uns Piscator gelehrt. In seinem Artikel „Das Theater der Zukunft“, den er 1942 für das Tomorrow Magazine schrieb, sagte er: Krieg ist mir verhasst, so verhasst, dass ich mich nach dem bitteren Debakel von 1918 dem politischen Kampf um andauernden Frieden verschrieben habe.

In Genua waren Hunderte Gruppen mit verschiedenen Anliegen vertreten. Feministinnen, Anarchisten, Kriegsgegner, Kommunisten, Sozialistinnen, Ökologen, und Walschützerinnen. Das gemeinsame Anliegen war: Der Kapitalismus kann unsere Bedürfnisse nicht befriedigen. Das Bemühen um dramatischen Ausdruck war noch diverser: Es gab Fahnen und Banner, Kostüme und Musik, Sprechgesang und Lieder, Stücke und Pantomime, Technotricks, Konfetti und Begegnung mit dem Publikum, Tänze, Akrobatik, Trommeln. Alle suchten das passende Mittel zu sagen, was sie zu sagen hatten. Mutig, laut, griffig, sodass es im Straßengewühl und im Chaos der Demonstration zu hören war. 226


Diese Arbeit, diese Suche ist die Frucht von Piscators Werk. Er träumte von „einem weltweiten Netz politischer Theater“ und war der Katalysator eines internationalen Netzwerks von Theateraktivisten. Das ist mehr, als er hoffen konnte. Während der gigantischen Parade von 200 000 Menschen und dem szenischen Durcheinander spielte das Living Theatre ein mobiles Stück. Wir nannten es Resist Now!. Mit 40 Aktivisten, einige hatten Theatererfahrung, andere nicht, haben wir es in Genua erarbeitet. Eine Woche lang gaben wir Workshops in den Open-Air-Pavillons an der Promenade, wo Hunderte von Gruppen ihre Protestaktionen vorbereiteten. Aus unseren Körpern formten wir eine wandernde Pyramide, sie zitierte das Moloch-Kapitel von Allen Ginsbergs Howl. Vor uns schritt in dunklen Gewändern die Abteilung der argentinischen Madres de Plaza de Mayo in feierlicher Klage um ihre vermissten Söhne und Töchter. Auf dem Wagen hinter uns Transvestiten aus Berlin, ausstaffiert mit Perlen, Federn und Pailletten, performten sie unter Kreischen und Geschrei eine Parodie ihrer selbst. Sowohl die trauernden Mütter als auch die kreischenden Transvestiten erkannten die Motive der anderen Demonstranten an, sie alle hatten legitime Gründe gegen Regierungen zu protestieren, die Oppositionelle ermorden und sexuelle Freiheit unterdrücken. So viele unterschiedliche Themen, vor dem Treffen der Großmächte auf den Straßen performt, sind der Inbegriff des Epischen Theaters. 1939 schrieb Piscator in „Der Schrei nach der Kunst“: Vielleicht hat sich der Sinn des „Politischen Theaters“ verwandelt und heute fordern wir „Die Theatralische Politik“.

Und 80 Jahre später beginnen wir die Früchte zu sehen. 2009, 2010 und Anfang 2011 wurde in Iran demonstriert. 2011 verfolgten wir die mutigen und friedlichen Aktionen in Ägypten, die Besetzung des Tahrir-Platzes zwang die tyrannische Regierung zum Rücktritt und inspirierte den Arabischen Frühling zu prodemokratischen Aktionen, von Jemen über Bahrain, bis nach Syrien und Libyen. Im Herbst versammelten sich Tausende von Menschen an der New Yorker Wall Street um gegen die Gier und Herzlosigkeit unseres Wirtschaftssystems zu protestieren. Nicht nur „Missverhältnisse und Ungerechtigkeiten“ oder „Armut und Kriege“ wurden angeprangert, sondern das ganze System, das den Missbrauch bedingt. Man weigerte sich, den Protest auf einen Missstand zu begrenzen, zielte auf die ge227


samte Struktur und die Philosophie, die es stützt. Man lenkte den Blick auf die Menschlichkeit, auf das Sklavensystem, in dem ein Prozent den Profit einstreicht und die restlichen 99 Prozent sich abrackern. „Kapitalismus abschaffen“ ist ein großes Ziel. Die kleinen Schritte sind noch nicht formuliert. Aber das ist so rein und tief, es hätte Piscator gefallen. Die Welt braucht das. Wir wissen noch nicht, ob dies der Beginn einer revolutionären Bewegung ist, die die Welt verändern wird. Wir werden gewalttätige Reaktionen erleben, ungeduldige Streitkräfte, die verzweifelt versuchen, den gesellschaftlichen Frieden aufrechtzuerhalten, und dabei Blutvergießen verursachen. Während ich dies schreibe, breitet sich eine führerlose Bewegung aus. Sie nennt sich Occupy Wall Street und schwappt von Stadt zu Stadt, von Land zu Land, über die Wall Street und New York City hinaus. Besetzungen, Demonstrationen und Straßentheater gehören auch dazu. Wir zeigen einen Ausschnitt aus Seven Meditations on Political Sado-Masochism, beginnen mit der Meditation über Geld, wenden uns ans Publikum und fragen: „Was können wir tun?“ Schließlich diskutieren wir Wege zu einer besseren Gesellschaft. Wir sind eine von tausend Gruppen und Individuen, die daran arbeiten, diese Sache zu theatralisieren. Ja, Piscator, Julian Beck hat dein Konzept verkündet: „Das Theater findet auf der Straße statt!“ Und da ist es jetzt, wir danken unserem weisen Lehrer. Heutzutage breiten sich Informationen schneller aus als jemals zuvor. Kommunikationsnetzwerke haben die Entscheidungsprozesse staatlicher Gesetzgeber und Entscheider abgehängt, das gilt für Staaten wie für Unternehmen. Das gesellschaftliche und politische Leben hat sich erneuert. Wir haben keine Vorbilder. Während wir voranschreiten, erfinden wir den Prozess. Piscator hat uns beigebracht: Nicht was wir tun müssen, sondern dass wir Menschen werden, die wissen, was in einer sich wandelnden Kultur zu tun ist. Alle Facetten der menschlichen Natur zu begreifen, weil sie uns nicht fremd sind, und sie zu spielen. Damit wir, wie Brecht es von Piscator sagte, in der Lage sind, der Menschheit mit allen Mitteln des Theaters zu dienen. New York City, Oktober 2011 228


Nachbemerkung der Herausgeberin zu den Zitaten Judith Malina hat die Zitate aus Piscators Originaltexten hier meist nicht originalgetreu zitiert, sie stattdessen zusammengefasst. Für diese Ausgabe wurden die Zitate den Originalwortlauten behutsam angenähert. Auch bei dem einleitenden Brecht-Zitat handelt es sich nicht um ein wörtliches Zitat. Es geht auf den Text Der Messingkauf zurück. Die Zitate aus der Heiligen Johanna von George Bernard Shaw sind der deutschen Ausgabe Gesammelte Stücke in Einzelausgaben entnommen. (Deutsch von Wolfgang Hildesheimer, herausgegeben von Ursula Michels-Wenz, Bad 12). Für das Hamlet-Zitat wurde die Übersetzung von Frank Günther verwendet. Der Satz aus Sartres Die Fliegen wurde auf Deutsch den Gesammelte Werken entnommen. (In Zusammenarbeit mit dem Autor und Arlette El Kaim-Sartre, hg. Traugott König, Die Fliegen, Neuübersetzung Traugott König, Reinbek, 1991) Die Worte von Frankensteins Geschöpf auf Deutsch nach der Ausgabe: Frankenstein oder Der neue Prometheus, dt. von Ana Maria Brock, Berlin 2023.

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Zwei Leben in einem Buch Ein Nachwort Judith Malinas Hommage an ihren Lehrer Erwin Piscator in die deutsche Sprache zu übersetzen, zusammen mit der New Yorker Kollegin Beate Hein Bennett, das war der vorläufige Abschluss einer aufregenden Wiederbegegnung mit dem New Yorker Living Theatre. Zusammen mit Beate hatte ich zuvor im Auftrag der Berliner Festspiele das Manifest Das Theater leben von Julian Beck übersetzt, Malinas langjährigem Partner und künstlerischen Weggefährten. Auf Thomas Oberenders Initiative gab es 2021 den Fokus Living Theatre beim Theaterreffen, Erinnerung an eine feine Laus im Pelz des etablierten Betriebs, der, wo er auf die Welt reagieren sollte, oft sich selbst umkreist. Becks Texte erzählten von einem Theater, das sich aufmachte, in der Welt zu sein. Sich zu ihren Zumutungen künstlerisch und menschlich zu verhalten. Jene zum Sprechen zu bringen, die im allgemeinen Diskurs oft keine Stimme haben. In Becks Textsammlung wurde Piscator ein paar Mal als Säulenheiliger für die ästhetische Utopie des Living Theatre erwähnt. Kunst müsse darauf abzielen, sich selbst überflüssig zu machen, soll er gesagt haben. Das Schwierige zuerst, das Unmögliche dauert noch einen Moment. Große Worte, große Ziele, für bare Münze genommen und beherzigt von den Schülern und Jüngerinnen Malina und Beck. Etwas Nützliches tun, das war Inspiration und Kompass des Living Theatre. Beeindruckt wie ich war, von der Analyse und Konsequenz, vom Momentum, mit dem Beck und Malina ihr Leben schreibend und spielend in die antibürgerliche Kunst investiert hatten, suchte ich weiter und stieß auf Judith Malinas The Piscator Notebook. Im Jahr 2012, am Ende ihres Lebens erzählte die Künstlerin von ihrem Lehrer und führte noch einmal aus, was sie lebenslang in all ihren Interviews und O-Tönen als Mantra wiederholt hatte: wie viel und was sie Piscator und ihrem Studium am Dramatic Workshop verdankte. Die Notizen sind Zeitzeugnis und Hommage an den Avantgarde-Theatermacher, dessen große Zeit die 20er Jahre in Berlin gewesen sind. Seine Arbeitsweisen und Bühnenapparate, seine Dramaturgie, seine Grundsätze im Umgang mit der dramatischen Literatur, sein Wille, Theater als Mittel der Politisierung einzusetzen. In einem breiten Spektrum des zeitgenössischen Regietheaters lebt all das fort, ohne dass Piscators 231


Vorreiterrolle in Sachen Projektionen und Bühnentechnik präsent wäre. Im Gegensatz zum Kollegen und Miterfinder des epischen Theaters Bertolt Brecht ist Piscator mitsamt seinen prägenden Modernisierungsleistungen auf der Theaterbühne so gut wie vergessen. Diesem Vergessen hoffte Judith Malina, mit ihrem Projekt entgegenzuwirken. Im Zuge des Zweiten Weltkriegs, auf der Flucht vor den Nazis in Berlin, den Stalinisten in Moskau, hatte es Erwin Piscator 1939 nach New York verschlagen. An der legendären New School for Social Research gründete er, als sich abzeichnete, dass er am Broadway nicht würde inszenieren können, den Dramatic Workshop. Piscator wurde Lehrer. Fünf Jahre später sprach die damals 19-jährige Judith Malina bei ihm vor. Und weil sie den Meister überzeugte, erhielt sie ein Stipendium und zwängte sich, gegen seine Überzeugung, Regie sei nichts für Frauen – wie er fand –, in die Regieklasse hinein. Wenn ihr eigenes Theater auch anders aussah als Piscators Inszenierungen, sie blieb eine ernsthafte Nachfolgerin. Ihre Begegnung sei vorherbestimmt gewesen, so Malina in den einleitenden Sätzen der Notizen. In ihrem Text gelang ihr die historische Klammer. Sie erinnerte an den ästhetischen Aufbruch im brodelnden Berlin der 20er Jahre des 20. Jahrhunderts und an die Umstände einer politisierten, kraftvollen Avantgarde im New York der 50er Jahre. Heute, 70 Jahre später, in den 20er Jahren des 21. Jahrhunderts, in denen die glückliche Ära des Friedens in Europa sich dem Ende zu nähern scheint, lohnt es, diesen Zusammenhängen nachzugehen. Das Ineinander von politischer und ästhetischer Überzeugung, für die Erwin Piscator und Judith Malina stehen, prägt die Theaterarbeit und die Performancekunst bis heute. Recherche in New York Als ich mich im Februar 2022 auf den Weg nach New York machte, mitten im Winter – die Theater öffneten nach der Corona-Epidemie gerade wieder ihre Türen –, fand ich, vermittelt durch Beate Hein Bennetts Netzwerk, bald Zugang zu Freunden und Gefährtinnen des Living Theatre. Der Spirit war noch da. In den Überzeugungen der Personen, die mit Judith Malina zusammengearbeitet hatten. In den Anekdoten und Berichten. In den letzten Jahren entwickelte das Living Theatre immer konsequenter partizipative Formate. Es bot Workshops zu brennenden Fragen an, es lebte Theater als soziale Skulptur, als 232


Anleitung, hier und jetzt zu sprechen, den Zirkel der Gewalt durch Straßenaktionen zu durchbrechen. Auf der Suche nach ihrem Erbe traf ich in New York Malinas Wegbegleiterinnen aus den 70er und 80er Jahren. Richard Schechner erzählte mir, wie er sie mit einem Megafon von der Straße aus interviewt hatte, nachdem ihr Theater von der Steuerbehörde geschlossen worden war. Die Dramaturgin Anne Cattaneo betrachtete das Living Theatre vor allem als Experiment und erzählte von den guten Netzwerken der Exilanten. Ich traf junge Schauspieler, die sich in den letzten Jahren mit Malina und dem Living Theatre verbunden hatten. Am Abend, als die Notizen im Martin E. Segal Center ihre Premiere feierten, sei sie mit Malina im Taxi nach Hause gefahren, erzählte eine Schauspielerin. „Jetzt mache ich Piscator berühmt“, habe diese gesagt. Fasziniert erzählte sie von Judith Malinas unerschöpflicher Energie. Sie sei bei Veranstaltungen aufgestanden; „Ich habe dazu etwas zu sagen.“ Sich konstruktiv einmischen, niemals aufhören. Immer weiter lieben, weiter arbeiten. Unstoppable. Acht Jahre nach Malinas Tod war das Andenken an die Gründerin des Living Theatre lebendig. Nicht alle, mit denen ich gesprochen habe, sind Fans, aber alle sprachen von ihr mit großem Respekt und Faszination. Aus Lektüren in der Bibliothek, aus Anekdoten und Begegnungen entstand das Bild einer Künstlerin, die charismatisch und nahbar gewesen sein muss. Mensch unter Menschen. Meine Kollegin Beate Hein Bennett hatte Judith Malina in den 80er Jahren nach einem Vortrag angesprochen. Die kleine, energische und exzentrisch gekleidete Person habe sie an Else Lasker-Schüler erinnert, die deutsch-jüdische Dichterin, zu der sie gerade in Jerusalem geforscht hatte. Sie kannte Porträts. Beate schlug Malina vor, Lasker-Schülers Fragment IchundIch zu inszenieren, eine individuelle und historische Auseinandersetzung mit Gut und Böse. Gesagt getan. Beate wurde die Dramaturgin der Produktion. Entstanden ist eine in New York und Berlin überaus erfolgreiche Theaterarbeit und eine lange Freundschaft. Beate berichtete, wie sie viel später mit Judith Malina zusammen an der Übersetzung der Notizen gearbeitet hatte. Malina wohnte zu dieser Zeit schon im Actor’s Home in New Jersey. Ihr Deutsch sei zwar aus einer anderen Zeit, aber noch sehr lebendig gewesen, erzählte Beate. Die beiden sprachen deutsch. Wenn Freunde zu Besuch kamen, habe man irgendwo in einem verborgenen Winkel des Gartens gemeinsam ein Joint durchgezogen. 233


Bis heute ist Beate Hein mit der Living Theatre Crowd in Kontakt: Lois Kagan Mingus, Ilion Troya. Den im März 2024 verstorbenen langjährigen Weggefährten Tom Walker, hatte sie mir im Februar 2022 vorgestellt. Tom erklärte sich bereit, mich durchs East Village zu führen und mir Arbeitsorte der Truppe zu zeigen. Als wir uns Ende Februar 2022 ausgerechnet vor dem legendären ukrainischen Restaurant Veselka trafen, hatte Russland die Ukraine gerade überfallen. Die schrecklichen ersten Tage des Angriffskriegs. Krieg und Frieden. Piscators Thema, Malinas Thema. Während Tom Walker mich durchs Village führte, auch unser Thema. Wir stemmten uns gegen den Februarwind und die Kälte. Die Spielstätte in der Clinton Street beherbergte nun das Caveat, eine Art Varieté. Wir sahen uns um. Tom, sichtlich berührt von den Erinnerungen, schlug der Geschäftsführerin vor, er könne hier bei Gelegenheit über die Arbeit des Living Theatre sprechen, erntete nur höfliches Interesse. Judith Malina habe in der Wohnung obendrüber gewohnt, erzählte er mir, als wir wieder draußen waren und auf dem Weg zum Catholic Worker, einer Anlaufstelle für die Ärmsten der Straße. Beeindruckt von Malinas Charisma, habe der Sohn des iranischen Hausbesitzers 2012 den Dokumentarfilm Love and Politics gedreht, weiß Tom, ein letztes filmisches Porträt der greisen Künstlerin. Im selben Jahr sind die Notizen zu Piscator erschienen. Die Recherche in New York führte mich in verschiedene Abteilungen der New York Public Library, jener ehrwürdigen Institution im Herzen von Manhattan. In der Dorot Jewish Division hörte ich das biografische Interview, das Judith Malina im Januar 1993 der damaligen Studentin und heutigen Professorin für Dramatik Cindy Rosenthal im Auftrag der William E. Wiener Oral History Library of the American Jewish Committee gegeben hatte. Ein ganzes Leben, mit großer Klarheit erzählt. Wie ihr Vater, ein Rabbi, nach seiner Flucht aus Kiel im Jahr 1929 alles getan habe, die amerikanische Öffentlichkeit über den Nazi-Terror aufzuklären. Wie sie aus der Tatsache, dass sie selbst verschont worden war, den Auftrag ableitete, sich dem Pazifismus zu verschreiben. Von Piscators dringlicher Botschaft, für die sie offen und empfänglich war. Als ich in meiner Unterkunft im Online-Katalog der New York Public Library stöberte, stieß ich auf das Piscator Notebook, bestellte es und machte einen Termin im Lesesaal. Am Tresen der stillen Abtei234


lung wurde mir einige Tage später freundlich eine Schachtel ausgehändigt, die ich mit an meinen Platz nehmen durfte. Das OriginalNotebook! Ich betrachtete es, las, fotografierte, fuhr andächtig mit den Fingern darüber. Eine Followerin schaut zurück Monate später begann ich in Berlin, Beate Hein Bennetts Übersetzung der Notizen zu überarbeiten, schöpfte aus meinen Eindrücken. Ich hatte das raue Pflaster New Yorks unter meinen Sohlen gehabt. Nach all den Begegnungen und Lektüren verstand ich, warum Malina im Alter von 80 Jahren im Archiv der Berliner Akademie der Künste die Piscator-Sammlung gesichtet hatte, auf der Suche nach Fundstücken, mit denen sich die Geschichte besser erzählen ließ. Es ging auch um ihr Lebenswerk als Teil der Geschichte des politischen Theaters. Beim Stöbern fand Malina einen Briefentwurf Piscators an seinen vielleicht berühmtesten Schüler Marlon Brando, aus dem sie im Buch zitiert. In fast allen Interviews wird Brando erwähnt, weil Stars nun mal von besonderem Interesse sind. Das Living Theatre war Ende der 60er Jahre für eine gewisse Zeit weltberühmt und geriet, indem es zunehmend aktivistische und partizipative Projekte verfolgte, an den Rand der Theateröffentlichkeit. Im Archiv stieß Malina auf ihre eigenen Essays, Kritiken, die sie während des Studiums geschrieben hatte. Piscator hatte sie tatsächlich aufgehoben. Als Autorin habe er sie besonders geschätzt, wie sie in den Notizen immer wieder betrübt erwähnt. Viel lieber wäre sie ihm als Schauspielerin aufgefallen! Die Begeisterung scheint insgesamt einseitig gewesen zu sein. Piscator hat keine Vorstellung des Living Theatre besucht, in Berlin wäre das durchaus möglich gewesen. Auch das schmerzte die ehemalige Schülerin. Um über ihren Weg und damit über Piscator zu schreiben, führte Malina Gespräche mit ehemaligen Mitstudentinnen am Dramatic Workshop, bohrte in der Geschichte. Blickte zurück auf ihr Leben in und mit der Kunst. Die Prägung durch Piscator im Fokus. Malina hatte sich seine Prinzipien angeeignet und wurde nicht müde zu betonen, wie sie seine Ideen weiterentwickelt habe. Wie das Living Theatre die vierte Wand niedergerissen und das Publikum in das Bühnengeschehen einbezogen habe. Mit ihren Erzählungen über Piscators Leben vor und nach dem Zweiten Weltkrieg schuf sie einen Rahmen für das Herzstück des Textes: 235


ihre Notizen, im Nachhinein kaum bearbeitete Zusammenfassungen und Kommentare zum Unterricht am Dramatic Workshop. Über einen Zeitraum von zwölf Wochen, vom 5. Februar bis zum 27. April 1945, hatte Malina das Gelernte protokolliert. Von einem Tag auf den anderen war Schluss. Die Erfordernisse des Studiums, Proben, Hausaufgaben, Übungen ließen keinen Raum mehr für Dokumentation. Im Sommer 1947 kurz vor dem 21. Geburtstag schloss Malina das Studium am Workshop ab. Der österreichische Regisseur Harald Brixel habe ihr, bevor er nach Österreich zurückkehrte, aus diesem Anlass drei Notizbücher geschenkt und geraten, Tagebuch zu führen. Den Rat habe sie beherzigt, schreibt Malina, die Notizen seien der Prototyp ihres Tagebuchs gewesen. Die eigene Geschichte rekonstruieren, sie festhalten und in den historischen Kontext fügen, gegen die Gleichgültigkeit der verstreichenden Zeit. Judith Malina schrieb mit den Notizen auch gegen die Flüchtigkeit des Theaters an. Brecht, so behaupten einige, sei deshalb so präsent in der Theatergeschichtsschreibung, weil er ein reichhaltiges Konvolut an Stücken hinterlassen habe. Erwin Piscator und Judith Malina haben Schriften hinterlassen, keine Theaterstücke. Das Ziel, die Welt mittels Theater zu einem friedlicheren Ort zu machen, hat sich –gerade erleben wir es schmerzhaft – nicht erfüllt. Piscators und Malinas künstlerisches Erbe ist in die zeitgenössische Theaterpraxis eingegangen und lebt fort, so lässt sich hoffen, indem es weitergeschrieben wird. Anna Opel


Das Manifest des Living Theatre

Julian Beck Das Theater leben. Der Künstler und der Kampf des Volkes herausgegeben von Thomas Oberender Aus dem Englischen von Beate Hein Bennett und Anna Opel. Paperback mit 280 Seiten ISBN: 978-3-95749-343-9 Verlag Theater der Zeit

Theater und Leben – nicht zu trennen für Julian Beck! Zusammen mit seiner Frau, Judith Malina, gründete der amerikanische Aktivist, Poet und Maler das weltberühmte „Living Theatre“ – eine Institution gegenkulturellen Aufbegehrens. Seine gesammelten Schriften sind ein Klassiker des politischaktivistischen Theaters, die nun erstmals in deutscher Übersetzung vorliegen.

Darüber hinaus enthält das Buch Beiträge von Judith Malina, Thomas Oberender, Milo Rau sowie bislang unveröffentlichte Fotos des Living Theatre von Bernd Uhlig. Weitere Informationen und Leseprobe (QR-Code)

www.tdz.de

Theater der Zeit




Am Ende ihres Lebens veröffentlichte Judith Malina, New Yorker Ikone des politischen Theaters, ihre Notizen zu Piscator. Das Buch ist eine Hommage an den prägenden Lehrer an der New School for Social Research. Erwin Piscator hatte den Workshop gegründet, als er 1939 in die USA emigrierte. Die Ideen des Epischen Theaters, die objektive Spielweise und die Raumbühne hatte er im Gepäck. Gab all dies in seinen Seminaren und unzähligen StudioInszenierungen an die illustre Gruppe seiner Studenten weiter. Sein Credo: Theater muss nützlich sein!

Die Notizen zu Piscator enthalten Malinas Originalmitschriften aus den Seminaren in ihrem ersten aufregenden Jahr am Dramatic Workshop. Darüber hinaus erzählt Malina Piscators Lebensweg und skizziert seinen Einfluss auf das USamerikanische Theater. Vor allem zeichnet sie die Zusammenhänge zwischen Piscators Erbe und dem Living Theatre nach. Beate Hein Bennett, geboren in Lindau am Bodensee, lebt als freischaffende Dramaturgin und Übersetzerin in New York City, wo sie u. a. mit Judith Malina und dem Living Theatre die amerikanische Erstaufführung von Else LaskerSchülers IchundIch realisierte.

Anna Opel, geboren in Limburg an der Lahn, lebt seit 1989 in Berlin. Sie ist Schriftstellerin und Übersetzerin. Ihre Biografie zu Judith Malina wird 2026 anlässlich Malinas 100. Geburtstags erscheinen. Außerdem überträgt sie die preisgekrönte Dramatik von Tracy Letts, David Lindsay-Abaire u. a. in die deutsche Sprache.


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