Florian Evers
Theater der Selektion Personalauswahl im Unternehmen als ernstes Spiel
Florian Evers – Theater der Selektion
Gedruckt mit Unterstützung der Richard Stury Stiftung. The research leading to these results has received funding from the European Research Council under the European Union’s Seventh Framework Programme (FP7/2007-2013)/ERC grant agreement n° 295759. Diese Arbeit wurde als Dissertation (D188) am Fachbereich Philosophie und Geisteswissenschaften der Freien Universität Berlin eingereicht, im Mai 2018 verteidigt und mit dem Gesamturteil summa cum laude bewertet.
Florian Evers Theater der Selektion Personalauswahl im Unternehmen als ernstes Spiel Recherchen 139 © 2018 by Theater der Zeit Texte und Abbildungen sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung, die nicht ausdrücklich im Urheberrechts-Gesetz zugelassen ist, bedarf der vorherigen Zustimmung des Verlages. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Bearbeitungen, Übersetzungen, Mikroverfilmung und die Einspeisung und Verarbeitung in elektronischen Medien. Verlag Theater der Zeit Verlagsleiter Harald Müller Winsstraße 72 | 10405 Berlin | Germany www.theaterderzeit.de Bearbeitung des Manuskripts: Gerke Schlickmann Gestaltung: Bild1Druck GmbH Umschlaggestaltung: Kerstin Bigalke Printed in Germany ISBN 978-3-95749-156-5
Florian Evers
THEATER DER SELEKTION Personalauswahl im Unternehmen als ernstes Spiel
Recherchen 139
In liebevoller Erinnerung an: Fritz Evers Ellen Döhring Michael Evers
(14. November 1932 – 21. Dezember 2017) (28. September 1926 – 21. Januar 2017) (17. Februar 1956 – 27. Oktober 2016)
EINLEITUNG 1 Vier Szenen 2 Theater der Selektion 3 Forschungsrahmen
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ASSESSMENT CENTER UND APPLIED THEATRE 1 Personalauswahl als theatrale Prozesse 34 2 Assessment Center avant la lettre 42 3 Applied Theatre 58 4 Theatrale Interventionen und ethische Ambivalenzen 76 5 Ernste Spiele in Rijswijk 93 6 Assessment Center: Theater der Persönlichkeitsdarstellung 123
ERNSTE SPIELE 1 Spieleinführung 2 Spielbegriffe 3 Spielästhetiken 4 Agon, Mehrwert und die Korruption der Spiele 5 Mise-en-abyme
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THEATRALE DISPOSITIVE 1 Jenseits der Aufführungsanalyse 2 Der Dispositivbegriff 3 Theater und Dispositiv 4 Der „zynische Darsteller“ 5 Spuren des Makrodispositivs
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RESÜMEE 1 Ausblick 2 Ergebnisse 3 Maschinensturm?
ANHANG
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EINLEITUNG
Eigentlich spielen wir hier alle Theater – die ganze Zeit!1 O. L., Human Resource Manager eines DAX-gelisteten, multinationalen Konzerns im Interview über seinen Arbeitsalltag
Nein, das ist kein Theater. Ich definiere Theater als Unterhaltung – ob es nun Komödie oder Tragödie ist – aber es ist Unterhaltung!2 S. C., Seminarschauspieler im Interview über sein Berufsfeld
1 Vier Szenen Rijswijk, Niederlande, 2. Juli 2014 In einem Development-Center-Prozess für Verkäufer eines großen deutschen Automobilherstellers spielt ein Mitarbeiter um seine berufliche Zukunft. Mehr noch, er spielt sich selbst. Oder er spielt denjenigen, der er gerne wäre. Vielleicht aber auch spielt er das vor, von dem er annimmt, dass es sozial erwünscht sei, spielt den Menschen, von dem andere fordern, dass er dieser zu sein hat, um eine berufliche Zukunft zu haben. All dies oder auch Mischformen dieses Konzepts seiner Außenwirkung laufen hier unter dem Label ‚Authentizität‘. Der Mitarbeiter wurde aufgefordert, so authentisch wie möglich zu sein. Er berät den Schauspieler, der seinen kaufkräftigen Kunden spielt, so versiert und freundlich wie möglich. Er spielt improvisiert in einer vorab konzipierten Theaterszene, spielt aber gewissermaßen auch um Punkte. Das Spiel weist als Spiel aus, dass er hier nicht wirklich einen Wagen verkaufen wird. Der Ernst des Spiels ist, dass sein Verhalten von drei machtvollen Blicken beobachtet, eingeschätzt und auf seine Arbeitsrealität zurückgebunden wird. Kiel, Deutschland, 16. Februar 2015 Der Facharzt für Allgemeinmedizin, Dr. med. S. H., leitet mit zwei Kollegen eine Gemeinschaftspraxis in einer Kleinstadt in Norddeutschland. Seinen Arbeitstag bestimmen gewöhnlich der Praxisalltag, Hausbesuche, Bereitschaftsdienst und gelegentlich auch Fortbildungen. Heute fungiert er als Prüfer für seine angehenden Fachkollegen, Studierende der Medizin am
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Einleitung
Universitätsklinikum Schleswig-Holstein, Standort Kiel, und wird damit zum Spielleiter einer theatralen Konstellation. Vor sechs Jahren wurde am UKSH-Kiel die sogenannte objective structured clinical examination für Studierende des zweiten Studienabschnitts implementiert. Sie stellt dabei eine Teilprüfung dar, um den Leistungsschein für das Fach Allgemeinmedizin an der Universität Kiel zu erhalten, und ist obligatorisch für den erfolgreichen Studienabschluss. Ausgesprochenes Ziel ist es, diesen klinischen Abschnitt möglichst realitätsnah zu prüfen, der Vorteil gegenüber einer Prüfung auf Papier sei dabei nicht zuletzt auch die Übung in ‚gesellschaftlichen Spielregeln‘ des Arzt-PatientenVerhältnisses.3 Die Prüfung, die Dr. S. H. abnehmen wird, findet in Räumlichkeiten des Hauses der Lehre auf dem Campus des UKSH statt. Im Raum anwesend sind der Prüfer, der Prüfling und ein Laienschauspieler, der vorab genauestens über seine fiktive Vita und seine Symptome informiert wurde. Die Haltung des angehenden Arztes gegenüber dem Patienten, seine Art der Fragestellung, seine Diagnostik anhand der geschilderten wie gespielten Symptome und seine Therapievorschläge werden von Dr. S. H. mit einer Liste abgeglichen und in Prüfungspunkte übersetzt. Innerhalb der zwanzigminütigen Prüfung zeigt der Prüfling eine Unsicherheit und wendet sich über die Schulter hinweg fragend an den Prüfer. Dr. S. H. verweist ihn darauf, dass die Fiktion der Theaterszene aufrechterhalten werden muss: Um ein Doktor zu werden, muss man einen Doktor spielen können. „Frankfurt, Deutschland“, 3. Oktober 2014 An einem Check-in-Schalter der Lufthansa wird ein Fluggast ausfallend. Der Mann mittleren Alters im schwarzen Sakko erhebt die Stimme und schlägt, um seiner Frustration Ausdruck zu verleihen, mit der flachen Hand auf den Servicedesk. Der Servicemitarbeiter des Bodenpersonals versucht alles, um die Situation zu deeskalieren – allein, er kann nicht zaubern, denn der Flug nach New York, den der Fluggast gebucht hat, ist überbelegt worden und er befindet sich in der unangenehmen Situation, seine Firma, die für diesen Umstand verantwortlich ist, zu repräsentieren und dieses Problem lösen zu müssen. Jedoch ist er hier zugleich lediglich jener sprichwörtliche, unglückliche ‚Überbringer der Botschaft‘, der den gesamten Frust des Fluggastes abbekommt, obgleich er persönlich ihm den Sitzplatz weder durch ein Versäumnis seinerseits geschweige denn aus Böswilligkeit genommen hat. „Wissen Sie, was das für mich bedeutet?“, brüllt ihn der Kunde an – er werde ein entscheidendes Casting in New York verpassen, wenn keine Lösung gefunden wird.
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1 Vier Szenen
Letztendlich bedeutet es aber nichts für den Mann im Sakko, denn dies ist kein Check-in-Schalter am Flughafen Frankfurt, es ist ein provisorischer Beistelltisch in einem Assessment-Center-Verfahren für Bodenpersonal der Airline im Lufthansa Flight Training Center in Berlin und nur der Servicemitarbeiter vollzieht hier Handlungen von Bedeutung über die Spielebene hinaus, denn er wird hier in seiner Kompetenz, Stressresistenz und Empathiefähigkeit im Arbeitsalltag eingeschätzt. Allein, auch das stimmt nicht, da dieses Spiel zwei Spielebenen hat. Diese Szene entfaltet sich weder in Frankfurt noch in Berlin, sondern in einer Kleinstadt in Nordrhein-Westfalen und dies ist ein Casting für Schauspielerinnen, die sich bei einem Anbieter für Unternehmenstheater auf eine Ausbildung als Seminarschauspielerinnen bewerben: ein Assessment-Center-Verfahren für Schauspielerinnen im Assessment-Center-Verfahren. Der Bewerber auf diese Stelle ist ein Schauspieler, der sich als Schauspieler bewirbt und dazu mit Unterstützung eines Schauspielers einen Schauspieler spielen muss, der einen Schauspieler spielt: eine mise-en-abyme der Spiele. Berlin, Deutschland, 25. Februar 2016 Die Performerinnengruppe Talking Straight führt im Studio des Maxim Gorki Theater in Berlin das ‚kapitalistische Lehrstück‘ Entertainment auf. Vor Beginn der Aufführung werden an die Zuschauerinnen Kopfhörer, ein Bewertungsbogen auf einem Klemmbrett und ein Stift ausgeteilt. Das Hören, das Verstehen, das Bewerten und Erlernen werden in den folgenden zwei Stunden eine wichtige Rolle einnehmen. Die Zuschauerinnen verfolgen die sechs Performerinnen auf der Bühne bei einem fiktiven Development-Center-Verfahren, bei dem Mitarbeiterinnen einer nicht näher benannten Firma unter Anleitung eines Coachs verschiedene theatrale und spielerische Trainingsmodule durchlaufen: die ‚Reise nach Jerusalem‘, ein kommunikationsförderndes Ballspiel, eine chorische Übung, Anleitungen für power napping, das Finden der eigenen Energielinien im Körper usw. Offenbar ist die Zuschauerin aufgefordert, durch den Bewertungsbogen, auf dem die Namen der Teilnehmerinnen des fiktiven Seminars auf der Bühne tabellarisch aufgelistet sind, diese in den einzelnen Modulen zu bewerten. Erschwerend kommt hinzu, dass das Dokument in einer nur teilweise verständlichen Kunstsprache gehalten ist. Die Komik liegt in der Aufführung dicht am Schmerz, denn aus der Außenperspektive wird klar, wie nah der überzogene, irgendwo zwischen Stress, Paranoia, Verzweiflung und fiebrigem Simulakrum liegende Gestus der parodistischen Modulübungen sich an den tatsächlichen Workshops von Unternehmenstheateranbietern und Kommunikationstrainern orientiert.
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Einleitung
Kernelement dieses ‚kapitalistischen Lehrstücks‘ von Talking Straight aber ist die Sprache, denn auch der komplette Ablauf des fiktiven Development-Center-Prozesses ist in einer für die Performance entwickelten Kunstsprache gehalten, in der sich die Schauspielerinnen wie selbstverständlich bewegen. Die Kopfhörer für die Zuschauerinnen dienen dazu, die feinen Nuancierungen und den intersozialen Ton dieser fiktiven Fortbildung sprachlich genau erfahrbar zu machen, denn er ermöglicht den mit Mikrofonen ausgestatteten Schauspielerinnen, nicht für den ganzen Raum sprechen zu müssen. Der Bewertungsbogen gibt ebenfalls Aufschluss über das fremde Vokabular: Einige Wörter sind dem Deutschen so sehr ähnlich, wie es im Niederländischen oder in den skandinavischen Sprachen der Fall ist, zudem fallen zahlreiche Anglizismen der Businesssprache ins Auge, deren Gebrauch sich auch auffällig auf der Bühne häuft – „Supervisionshoggen“, „Performsqualifise“, „Dinenchallenge“, „Evaluazion“. Auf diesem Bogen sollen die Leistungen der Teilnehmerinnen der Fortbildung bei den einzelnen Übungen bewertet werden. Die Zuschauerinnen bekommen von Talking Straight durch den Bewertungsbogen Handlungsmacht suggeriert. Doch hat sich dabei unmerklich das Dispositiv auf sie zurück gerichtet4: Die Bewertung am Ende des Stückes bleibt aus und ist irrelevant. Weder küren die Zuschauerinnen eine Schauspielerin am Ende des Abends zur Gewinnerin noch werden ihre Bewertungen in irgendeiner Weise ausgezählt. Dreh- und Angelpunkt des ‚Lehrstücks‘ ist, dass gerade durch die universal gebrauchten Worthülsen der Business-Neologismen die Zuschauerin sich im Verlauf der Aufführung immer mehr in die erfundene Sprache einfinden kann und so nach der anfänglichen Irritation ein Verstehen einsetzt, das die ideologische Gleichschaltung des Habitus in der neoliberalen Business-Kultur der westlichen Industrienationen unter den Bannern von rhetorischen buzzwords wie Selbstoptimierung, Kreativität, Flexibilität oder Team- und Kommunikationsfähigkeit unterstreicht wie persifliert – eine Kultur, in der leistungssteigernder Druck durch Fortbildungsseminare mit dem Charme eines New-Age-Selbstfindungskurses aufrecht erhalten wird. Was eint, was trennt diese Beispiele, die stellvertretend, aber nicht alle Facetten abdeckend, den ersten Eindruck einer hier zu beschreibenden Theaterform geben sollen? Eine Szene gelangt zur Aufführung, im vierten Beispiel im Setting des Kunsttheaters, doch auch die Prüfung im Universitätsklinikum, der Mitarbeiter im Potentialanalyseverfahren und der Bewerber im Assessment-Center-Prozess stehen auf einer ‚Bühne‘ und spielen vor Zuschauerinnen eine Rolle. Nur weil diese Beispiele sich statt
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1 Vier Szenen
durch Guckkastenarrangement, zahlendes Publikum und die Kunstsphäre des Staatstheaters durch eine absolute Zweckgerichtetheit, Abschottung, ja, fast möchte man sagen, Geheimhaltung auszeichnen, verlieren sie nicht ihren theatralen Charakter. Die Assessment-Center-Verfahren der ersten drei Beispiele sind spezielle Formen von Theater und gehören, so wird im Folgenden dargelegt werden, zum Korpus des Applied Theatre. Sollen sie im Verlauf dieser Studie zunächst der Applied-Theatre-Ausrichtung des Unternehmenstheaters zugerechnet werden, weisen sie zugleich auch eine Verwandtschaft zur theaternahen Therapie und anderen Formen dieses Feldes auf, die Fragen bezüglich der Ästhetik wie der Ethik des angewandten Theaters an sich aufwirft. Das Spiel, immer auch ein verwandter Terminus des Theaters, erscheint weiterhin von besonderer Bedeutung in den vier unterschiedlichen, performativen Formen. Im ersten Beispiel spielt die Bewerberin sich selbst, spielt gleichzeitig um Punkte wie um großen Einsatz: die berufliche Zukunft; im zweiten Beispiel spielt ein Studierender den Beruf, den er anstrebt, um ihm mit bestandener Prüfungssituation näher zu kommen; das dritte Beispiel verflicht die Spielebenen und die Situation des Schauspielers, der sich im Spiel für eine Ausbildung qualifizieren und gegen Mitbewerberinnen durchsetzen will, zu einem durch die Sprache nur noch schwer entwirrbaren Konstrukt; das vierte Beispiel zeigt ebenfalls Spielende, die Spielende spielen, und manipuliert subtil die Haltung des Publikums zum Schauspiel durch den ausgeteilten Bewertungsbogen. Bewertungen gehen wohl mit den meisten Theatersituationen einher, sei es der Grad des Applauses, sei es die veröffentlichte Kritik, sei es das stets ausverkaufte Haus oder der private Austausch der Beteiligten um Gefallen oder Missfallen untereinander. Das Theater der ersten drei Beispiele jedoch kennt keinen Applaus, kennt keine Zeitungskritik, kein ausverkauftes Haus oder kunstästhetisches Urteil und verläuft unter strengen Datenschutzauflagen. Dennoch ist die Bewertung der Performance das Kernstück dieser Theaterszenen der Selektion durch „agonales“5 Spiel, in dem ein binäres System von Gefallen/Missfallen – wie es etwa Applaus oder sein Ausbleiben ausdrücken würde – vollkommen unterkomplex wäre. Und so halten mit dem Spielbegriff (im Sinne des englischen game in Abgrenzung zu play) die Messbarkeit, die Wertungsnoten und die gedrosselte Kontingenz des Theatralen in diese Theaterformen Einzug. Der Spielbegriff wirft neben der Kategorie des agonalen Wettstreits aber zugleich auch Fragen auf, die die „Konsequenzverminderung“6, die Machtasymmetrien und das Oszillieren zwischen verschiedenen Spielebenen und dem Konstrukt, das man zunächst heuristisch als ‚Realität‘ vom Spiel abgrenzen möchte, betreffen. Offenbar scheint es sich hier um Spiele mit brüchigen Rahmen – um Ernste
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Spiele – zu handeln, eine zunächst vielleicht widersprüchlich erscheinende Umschreibung, die in den Fokus der Analyse gestellt werden soll. So geht mit dem Begriff des Spiels in diesen Beispielen die Frage einher, welches Konzept ihm gegenübersteht – die Realität, die Wirklichkeit, der Ernst oder einfach Nicht-Spiel? Die Frage betrifft nicht nur die mit geringem ästhetischen Aufwand vermittelte Teilfiktionalisierung der exponierten Zeit und des hervorgehobenen Raums dieser Theaterszenen der Prüfungen und Personalauswahlverfahren. Sie lässt sich auch auf die Persönlichkeit der Spielenden ausdehnen. Die in den beschriebenen Prozessen fallenden Begriffe wie ‚Natürlichkeit‘ oder ‚Authentizität‘ – die Forderung, ‚einfach man selbst zu sein‘, und vice versa der Umstand, dass der Schauspieler, wie noch aufgezeigt werden soll, in einigen Bereichen der modernen Unternehmensphilosophien zum Experten wie Rollenmodell erhoben wird, werfen Fragen über Spiel und Subjektivierung wie über das Theater als Mittel zur „Subjektivation“7 auf. Nicht zuletzt sind die Theaterformen der ersten drei Beispiele, deren Parodie das vierte ist, komplexe Anordnungen, die auf die Formbarkeit von Gebaren, Kommunikationsfähigkeit und Haltung gegenüber der Arbeit abzielen, um eine Gemeinschaft von Mitarbeiterinnen oder im dritten Fall Studierenden zu bilden und auch zu verändern. Eine heterogene Struktur aus Anordnungen, Dienstleistungen, Wissensgenerierung, Ratgebern, Architektur, Psychologen und Firmenphilosophien richtet sich auf einen theatralen Subjektivierungsprozess aus. Auch hier scheint die Verwandtschaft zum Applied Theatre durch. Dieser Dispositivcharakter8 hinter den eingangs beschriebenen Theaterformen verlangt nach einer eigenen Form der Aufführungsanalyse, die die scheinbar freien und spontanen Emergenzen dieser improvisierten Spiele vor dem Hintergrund der unsichtbaren, reglementierenden Machtgeflechte analysiert, in die sie eingebunden sind.
2 Theater der Selektion Assessment Center und Theater Die vorliegende Studie, Theater der Selektion – Personalauswahl im Unternehmen als ernstes Spiel, stellt zunächst eine simple These auf: Einige – nicht alle – Module von erweiterten Personalauswahlverfahren können als Theater bezeichnet werden. Geschenkt, mag die Wissenschaftlerin mit einem Wissen um Theatralitätsphänomene und das Konzept der c ultural performance antworten. Wenn Festkultur, Marktschreier oder Aktionärsversammlungen unter einem erweiterten Begriff von Theater, einer anthropologisch-soziologisch eingefärbten Theatermetapher oder zumin-
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2 Theater der Selektion
dest unter dem Aufführungsbegriff ihren Platz im Diskurs der Disziplin der Theaterwissenschaft finden, so wird kaum ein Innovationsgrad darin liegen, nun auch die Rollenspiele innerhalb erweiterter Personalauswahlverfahren hier zu verorten. Doch der Teufel steckt im Detail. Aktuelle Assessment-Center-Verfahren sowie speziell das Seminarschauspiel in diesen Kontexten werden in dieser Studie erstmals ausführlich im theaterwissenschaftlichen Diskurs verortet und als Applied Theatre ausgewiesen. Aus der zunächst einfach und schnell zu belegenden Ausgangshypothese, Assessment Center seien eben auch theatrale Veranstaltungen, ergibt sich somit bei genauerer Betrachtung eine wesentlich komplexere These: Die Rollenspielmodule dieser Personalauswahlverfahren sind dem Korpus des Applied Theatre, genauer gesagt dem Applied-Theatre-Sektor des Unternehmenstheaters, zuzurechnen. Diese Perspektive erlaubt es nicht nur, theatrale Assessment- und Development-Center-Prozesse erstmalig unter Fragestellungen von Ästhetik zu betrachten, sondern zugleich auch, den Diskurs um Ethik und Politiken des Applied Theatre zu erweitern. Applied Theatre – in erster Linie ein Theater, das sich Menschen zuwendet, um zu helfen, ein therapeutisches, pädagogisches, liberalisierendes Theater – steht als Dispositiv an einer funktionalen Scharnierstelle zwischen Theatralität und Theater in einem System neoliberaler „Selbsttechnologien“ und „Herrschaftstechniken“9: Theater hat demzufolge offenbar einen Anteil daran, in Gesellschaften privilegierte Teilhabe von prekärer zu scheiden. Unter dieser These fragt die vorliegende Arbeit nach der Ethik, Ästhetik und Politik eines Theaters der Selektion. Neben der Einordnung des Assessment Centers in den Korpus von Applied Theatre stellt insbesondere die Methode zur Untersuchung dieses systemischen Geflechts aus Ästhetik, Ethik und Politik einen zusätzlichen Innovationsgrad dieser Studie dar. Die Untersuchungsmethode, deren Entwicklung sich über drei Kapitel dieses Buchs erstreckt, verbindet dabei Diskursanalyse, theaterhistoriographisches Arbeiten und eine empirische Methode, die über verschiedene Ansätze theaterwissenschaftlicher Aufführungsanalyse hinausgeht und eine gewisse Verwandtschaft zur ethnologischen Feldforschung wie zum ethnographischen Schreiben birgt: Aufführungsanalyse wird hier mit der empirischen Analyse der Prozessbegleitung, mit qualitativen Interviews, aber auch mit Diskursanalyse der Ratgeberliteratur und der wissenschaftlichen Auseinandersetzungen mit erweiterten Personalauswahlverfahren ins Verhältnis gesetzt und mit Fragen nach Macht in Subjektivierungsprozessen verbunden. Die hier vorgeschlagene und im Verlauf dieser Studie dargelegte Methode ist eine Dispositivanalyse unter theaterwissenschaftlichen Vorzeichen. Selbstverständlich kontextualisiert theaterhistoriographisches Arbeiten seinen Ge-
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genstand immer auch in einem gesellschaftlichen wie politischen Umfeld und natürlich bleiben verschiedenste Methoden aufführungsanalytischer Beobachtung nicht nur einfach dabei stehen zu beschreiben, was sich, kurz gefasst, zwischen dem Öffnen und dem Schließen eines Vorhangs abspielt. Die hier entwickelte Methode jedoch ist explizit ein neuartiger analytischer Versuch, eine Form von Theater in ihrer Wirkmacht von der Selbsttechnologie bis zur Herrschaftstechnik zu konturieren. Selektion Der titelstiftende Begriff des ‚Theaters der Selektion‘ rahmt keinesfalls leichtfertig diese Arbeit mit einem so ambivalenten und je nach Kontextualisierung in seiner Tragweite durchaus heiklen Terminus. Er ließe sich zunächst recht profan aus dem Werktitel der allerersten Publikation über moderne Assessment-Center-Verfahren im Kontext des US-amerikanischen Auslandsgeheimdienstes Assessment of Men – Selection of Personnel for the Office of Strategic Services herleiten.10 Der Terminus ,selection‘, der zunächst einfach mit dem Wort ‚Auswahl‘ ins Deutsche zu übertragen wäre, zieht sich in Umschreibungen als „selection procedure“11, „selection tool“12, „selection device“13 oder „selection technique“14 durch die anglo amerikanische Fachliteratur zum Assessment Center.15 Im Deutschen dagegen findet der Begriff der Selektion zunächst im Kontext der Biologie, vornehmlich in evolutionstheoretischen Zusammenhängen, Verwendung,16 während man vom Assessment-Center-Prozess als ,Personalauswahlverfahren‘ spricht. Der Begriff der Selektion, gedacht als eine Auswahl der Kompetentesten aus einem Bewerber- oder Mitarbeiterpool, ist jedoch auch dem deutschen Diskurs innerhalb der Fach- und Ratgeberliteratur um Personalauswahlverfahren keinesfalls fremd und findet sich somit als Terminus biologistischer Prägung durch eine Kontextübertragung dominant in sozioökonomischen Zusammenhängen wieder: Mit diesem intensiven Testprogramm werden nicht nur Stellenbewerber genauestens unter die Lupe genommen, zunehmend müssen sich auch langjährige Mitarbeiter bei Potenzialanalysen und Selektionen beweisen.17 So kann man es etwa in einem Artikel zu Assessment-Center-Prozessen im Internetauftritt der im deutschsprachigen Raum verbreiteten Hesse/SchraderBewerbungsratgeberreihe lesen. Auch andere Ratgeberseiten übersetzen und verwenden den Terminus ,selection‘ nicht mit ,Auswahl‘, sondern mit ,Selektion‘ und legen in den diskursiven Feldern, die sie aufbauen, bis weilen selbst die assoziative Nähe zur biologistischen Verwendung offen:
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Durch den Online-Test wird eine Negativselektion der Bewerber vorgenommen, das heißt, es sollen diejenigen Bewerber identifiziert werden, die mit hoher Wahrscheinlichkeit nachfolgende Auswahlstufen nicht ,überstehen‘ würden.18 Die ,feinste Selektion‘, das kann im Deutschen assoziativ durchaus positiv mit erlesener Küche, mit der Auswahl des besten Produkts durch kulinarische Experten einhergehen, nichtsdestoweniger greift etwa ein Schweizer Schokoladenhersteller bei einer seiner Produktreihen für Pralinen auf das englische Wort ,selection‘ zurück, um diese Süßwaren im deutschsprachigen Raum zu bewerben: Die ,Selektion‘ als Produktname für eine Pralinenschachtel, die vielleicht mit Liebe verschenkt werden soll, erscheint ebenso befremdlich wie es der Ausdruck ,Mitarbeiterselektion‘ anstatt von Personalauswahl wäre. Das Wort ist im Deutschen eben nicht unbelastet durch seine Verwendung im Kontext der Verbrechen des Dritten Reichs. Fällt der Begriff ,Selektion‘, so eröffnet er auch einen konnotativen Raum zur Rampe von Auschwitz, zur mörderischen Unterteilung von Opfern des deutschen Faschismus in noch Arbeitsfähige und sofort zum Tode Verurteilte. Es soll deutlich betont werden, dass die Argumentation dieser Arbeit in keiner Weise neoliberale Härte mit einer derartigen Mordmaschinerie auch nur lose verknüpfen möchte. Wohl verweist der Titel und das Schreiben um ein Theater der Selektion aber auf den makabren Umstand, dass der Diskurs der Ratgeber- und Fachliteratur offenbar ohne ein Problembewusstsein auf dieses semantische Feld der natürlichen Auslese und evolutionären Zuchtwahl im Kontext der Personalauswahl zurückkommt. Obschon ,Selektion‘ auch einfach die gehobene Ausdrucksweise für die ,Auswahl‘ darstellt, erscheint der Begriff in sozioökonomischen Zusammenhängen doch auf gewisse Weise belastet und unangebracht, wenn es um die neutrale oder affirmative Beschreibung der Auswahl und Aufteilung der Mitarbeiterinnen in die Kompetenten und die Ungeeigneten geht. Ohne diese Ambivalenzen in der semantischen Übertragung unbedacht fortschreiben zu wollen, rekurriert der Titel wie der im Folgenden verwendete Begriff des Theaters der Selektion weiterhin auf einen neoliberalismuskritischen Diskurs der Soziologie. Hier kann also die Argumentation der vorliegenden Studie in Bezugnahme auf eine kritische Kultursoziologie einen assoziativen Zwischenschritt zwischen neutraler und pejorativer Verwendung des Terminus aufzeigen. Den theoretischen Überbau für die menschenverachtenden Konnotationen des Selektionsbegriffs lieferten der Sozialdarwinismus und die Eugenik, in deren Diskursen ebenfalls der Selektion eine zentrale Stellung zukommt. Anhand des Bei-
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trags „Menschenökonomie, Humankapital. Eine Kritik der biopolitischen Ökonomie“ von Ulrich Bröckling wird dabei deutlich, dass zum einen aus historischer Perspektive Eugenik und Sozialdarwinismus durchaus in einem gedanklichen Austausch mit Wirtschaftstheoretikern ihrer Zeit standen und Paradigmen um das erhaltenswerte und das überflüssige Leben auch in der Ökonomik ihren Platz hatten.19 Zum anderen zeichnet der Politologe Wolfgang Fach in seiner Diskursanalyse „Staatskörperkultur – ein Traktat über den ‚schlanken Staat‘“ nach, dass solche Paradigmen des Denkens um die Selektion auch wie gespenstische Wiedergänger im rezenten neoliberalen Diskurs als Sprachbilder nachzuweisen sind.20 Der Titel dieser Arbeit verweist somit in kritischer Absicht auf ebendiese Realität konstituierenden Sprachbilder. Nicht zuletzt führt aber auch der Soziologe Luc Boltanski in seiner neoliberalismuskritischen Schrift Die Vorhölle den Begriff der Selektion an zentraler Stelle ins Feld, wenn er die Scheidung der privilegierten von der prekären Teilhabe in unseren westlichen Gesellschaften als makabre Kantate vorlegt.21 Was diese Auswahlprozesse, die ambivalente Rede von der Selektion und das säkulare ,Gleichnis‘ der Vorhölle mit dem Theater, mit dem Agonalen, dem Wettbewerb im Spiel um das Existenzielle22 verbindet, soll im Folgenden in dieser Studie dargelegt werden. Assessment Center und Applied Theatre Der theaterwissenschaftliche Forschungsstand zu aktuellen Praktiken von erweiterten Personalauswahlverfahren ist schnell dargelegt: Die Theaterwissenschaft hat sich dem Assessment Center in seinen gegenwärtigen Formen bisher nicht angenommen. Ausnahmen bilden nur die vor dem Hintergrund der hier vorliegenden Forschungsarbeit verfassten Beiträge zum Seminarschauspiel „Personalauswahlverfahren als intervenierendes Spiel“23 aus dem Jahr 2015 und der 2016 erschienene Beitrag „Forced Participation – Seminarschauspiel in der Personalentwicklung“24, ebenfalls vom Autor dieser Studie in Ko-Autorschaft mit dem Theaterwissenschaftler Fabian Lempa. Aus theaterhistorischer Perspektive jedoch fußt die Auseinandersetzung der hier vorliegenden Arbeit mit modernen Personalauswahlverfahren auf lediglich einem weiteren theaterwissenschaftlichen Beitrag, der Assessment Center unter dem Vorzeichen des Theaters betrachtet: Der Artikel „Spekulative Praktiken. Zur Vorgeschichte des Assessment Centers“25 der Theaterwissenschaftlerin Katja Rothe stellt den einzigen Beitrag der Disziplin dar, der Theater und Personalauswahlverfahren zusammenzudenken sucht. Rothe fokussiert sich dabei auf die Frühgeschichte und Entstehung des Assessment-Center-Verfahrens im Kontext des deutschen
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und US-amerikanischen Militärs in seinen Wechselbeziehungen zur Persönlichkeitspsychologie und Ökonomik von den 1910er bis in die -50er Jahre. Sie schreibt von den Verfahren als „Theater der Selbstaufführung“26 und fasst ihre theatrale Dimension vornehmlich in Goffman’scher Terminologie einer soziologischen Theatermetapher. Im Rahmen der theaterwissenschaftlichen Beschäftigung mit Assessment Centern soll hier auch Michael Hüttlers umfassende Studie Unternehmenstheater – Vom Theater der Unterdrückten zum Theater der Unternehmer27 genannt sein. Hüttler widmet sich keinesfalls Assessment-Center-Prozessen, dennoch, so soll im Verlauf der Argumentation des ersten Kapitels gezeigt werden, können die in der hier vorliegenden Studie fokussierten Theaterformen unter dem von ihm ausführlich untersuchten Dachbegriff des Unternehmenstheaters eingeordnet werden. Umgekehrt ließen sich viele der Beispiele Hüttlers für Personalentwicklung durch partizipatorisches Theater als Assessment-Center-Prozesse lesen, wenn man sie um die agonale Dimension eines Spiels gegen Mitbewerberinnen um eine neue Position im Unternehmen erweiterte. Angrenzend an die theaterwissenschaftliche Disziplin liefern weiterhin die Arbeiten der Persönlichkeitspsychologen Lothar Laux, Karl-Heinz Renner und Astrid Schütz im Rahmen des interdisziplinären DFG-Schwerpunktprogramms Theatralität einen wesentlichen Beitrag dazu, in dieser Studie das Schauspiel des sogenannten Persönlichkeitsdarstellers28 im Assessment-Center-Prozess mit dem Theatralitätsbegriff zu koppeln.29 Nicht zuletzt verweist Rothes theaterhistorische Forschung zur Vorgeschichte des Assessment-Center-Verfahrens zudem auf einen Beitrag aus dem Diskurs um die Anthropologie der Arbeit, der die Begriffe Assessment Center und Theater in einer angrenzenden Disziplin zusammendenkt: In „Test und Theater. Zur Anthropologie der Eignung im 20. Jahrhundert“30 verortet die Literatur- und Kulturwissenschaftlerin Eva Horn Assessment-Center-Verfahren zunächst wie Rothe in historischer Perspektive im Kontext von Psychologie und Militär. Auch eine der Ausgangsformen des Applied Theatre, Jacob L. Morenos Psychodrama, wird dabei, rein formal und ohne historische Bewegungslinien nachzuzeichnen, von ihr mit diesen Verfahren ins Verhältnis gesetzt.31 Horn bezeichnet in ihrem Essay das Theater zur Eignungsprüfung als Machttechnologie der Spätmoderne, die Menschen in ihrem Selbstverhältnis formen soll32 – eine Perspektive, die zahlreiche Anknüpfungspunkte zur Applied-Theatre-Debatte anbietet. Hier wird mehr als deutlich, dass die Theaterwissenschaft aufgerufen ist, an diesen Diskurs anzudocken: Der theaterhistoriographischen Forschungsleistung Rothes soll mit der vorliegenden Arbeit eine Studie zu den aktuellen Formen folgen, während zugleich das Spiel des Persönlichkeits-
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darstellers nach Laux, Renner und Schütz analytisch in einem Theatersetting verortet werden soll. Hüttlers Studie zum Unternehmenstheater kann um Assessment-Center-Verfahren erweitert sowie an den Diskurs des angewandten Theaters angebunden werden und Horns kulturhistorischsoziologische Analyse eines Theaters zur Menschenformung soll mit theater wissenschaftlichen Methoden zur Aufführungsanalyse kombiniert und mit der Applied-Theatre-Debatte verknüpft werden. Im Rahmen dieser Studie wird also, wie dargelegt, davon ausgegangen, dass es sich bei den theatralen Modulen von Assessment-Center-Verfahren sowie verwandten Potentialanalyseverfahren und Prüfungen um Formen des Applied Theatre handelt. Diese Perspektive kann sich für die Betrachtung beider Gegenstände, der Assessment-Center-Verfahren wie des Applied Theatre, als fruchtbar erweisen. Gibt es auf der einen Seite zwar eine Fülle von wirtschaftswissenschaftlichen, soziologischen sowie arbeits-, betriebs- und organisationspsychologischen Zugängen zum Assessment-Center-Verfahren, die Verbreitung, Standards, Effizienz, Aufbau, Implementierung und Auswertung betrachten,33 so stellt doch die theaterwissenschaftliche Annäherung an das Thema mit ihrem eigenen methodologischen Werkzeug bis auf wenige Ausnahmen34 ein Novum dar, das Erkenntnisse über die politischen, ethischen und ästhetischen Dimensionen dieses Personalauswahlverfahrens verspricht. Im ersten Kapitel dieser Studie – Assessment Center und Applied Theatre – soll daher zunächst aufgezeigt werden, welche Aspekte und Module des breiten Spektrums an Methoden erweiterter Personalauswahlverfahren theatral, welche gar Theater zu nennen wären. Zum einen wird dabei im Verlauf dieses Kapitels auf Erkenntnisse von prozessbegleitender Beobachtung in Unternehmen zurückgegriffen, zum anderen dienen zur Diskursanalyse wie zur grundlegenden Definition verschiedener, dem Simulationsprinzip folgender Assessment-Center-Module Standardwerke der Arbeits-, Betriebs- und Organisationspsychologie zu solchen Personalauswahlverfahren. Valide quantitative Erhebungen über Verbreitung und Ausformung von Assessment Centern im deutschsprachigen Raum selbst durchzuführen, liefen dem Forschungsansatz dieser Studie wie ihrer Disziplin zuwider. Aussagekräftige Statistiken zum Assessment Center werden an anderer Stelle mit entsprechender Methodik im regelmäßigen Turnus erstellt. Wo immer in der hier vorliegenden Arbeit also Aussagen über statistische Häufungen, Ausformungen und Verbreitung in Anwendungskontexten fallen, wird auf die Umfragen des Arbeitskreises Assessment Center e. V. aus den Jahren 2012 und 201635 sowie auf dessen Publikation AC-Standards – Standards der Assessment Center Methode36 zurückgegriffen, die hier mit freundli-
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cher, schriftlicher Genehmigung der Autoren vom 7. Juli 2017 zitiert werden. In einer Doppelfunktion zwischen theaterhistorischer Quelle zur Diskursanalyse und Forschungsliteratur werden im ersten Kapitel weiterhin Standardwerke der Arbeits-, Betriebs- und Organisationspsychologie aus dem angloamerikanischen Raum, wie William Thorntons Assessment Centers in Human Resource Management37 sowie Frederick C. Wendels und Ward Sybouts Assessment Center Methods in Educational Administration: Past, Present, and Future38 im Hinblick auf den Einsatz von Rollenspielen und Simulationsübungen im Kontext von Personalauswahl herangezogen. Vor allem hervorzuheben ist hier der gesamte Sammelband Applying the Assessment Center Method39 von Joseph L. Moses und William C. Byham sowie speziell noch einmal der darin enthaltene Beitrag From Selecting Spies to Selecting Managers – The OSS Assessment Program40 von Donald W. MacKinnon. Die Organisationspsychologen Moses und Byham sind zentrale Figuren sowohl in der Forschung über als auch der Umsetzung und Verbreitung von Assessment-Center-Verfahren in den USA. Moses arbeitete dabei selbst als Personalmanager für das amerikanische Telekommunikationsunternehmen AT&T, für das Unternehmen also, in dem das Assessment Center erstmals in einer Studie privatwirtschaftlich zur Anwendung kam und sich als Methode von dort aus zuerst in anderen amerikanischen Konzernen etablierte und schließlich global ausbreitete. MacKinnon wiederum schildert in seiner Funktion als Direktor der Station S des amerikanischen Auslandsgeheimdienstes OSS die hier zur Anwendung gekommenen Rollenspielverfahren und kann somit im Kontext dieser Studie auch zugleich als eine theaterhistorische Quelle bezeichnet werden. Nachdem also der Gegenstand dieser Studie grundlegend vorgestellt wurde, werden die historischen Wurzeln von Assessment-Center-Verfahren – jene Eignungsprüfungen von Militär und Geheimdiensten – sowie die Entwicklung des Applied-Theatre-Sektors der Theaterarbeit in Unternehmen in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts nachgezeichnet werden, um theatrale Personalauswahlverfahren als Unternehmenstheater ausweisen zu können. Hierbei wird der eingangs vorgestellte Beitrag Rothes mit den Texten von Moses, Byham und vor allem MacKinnon sowie mit der Studie Hüttlers zum Unternehmenstheater in den Dialog gebracht werden. Nach dem historischen Abriss der Entwicklung der erweiterten Personalauswahlverfahren und ihrer Einordnung in den Sektor des Unternehmenstheaters soll im ersten Kapitel dargelegt werden, dass es sich bei Assessment-Center-Verfahren um Applied Theatre handelt. Daher wird zunächst der Diskurs um den Begriff Applied Theatre anhand einschlägiger Beiträge von James Thompson41, Christopher Balme42, Monica Prendergast und Juliana Saxton43, Judith Ackroyd44 sowie dem Forschungsprojekt The
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Aesthetics of Applied Theatre45 vorgestellt werden, um dann maßgeblich angeregt durch die kritischen Reflexionen Ackroyds aufzuzeigen, dass die Betrachtung erweiterter Personalauswahlverfahren als angewandtes Theater dazu beitragen kann, einen toten Winkel in den Debatten über diese Theaterformen zu beleuchten: Innerhalb des Diskurses um Applied The atre spielt, so soll im weiteren Verlauf des Kapitels nachgezeichnet werden, der gesamte Bereich der Theaterarbeit in Unternehmen eine untergeordnete Rolle, was bei genauerer Betrachtung weniger der Logik einer Gattungstrennung oder einer ästhetischen Differenz gehorcht denn derjenigen von politischer Antipathie. Unter diesem Gesichtspunkt wäre Theater in Unternehmen lediglich das ‚schwarze Schaf‘ der Familie Applied Theatre, oft unerwähnt oder nur mit einer Randnotiz bedacht, da der AppliedTheatre-Diskurs von einem Theater sprechen möchte, das sich den Menschen in einem „Gestus“46 der Fürsorge zuwendet, sei es zur Therapie, zur Erziehung, zur Resozialisierung oder zur sogenannten Entwicklungshilfe. Der Diskurs wurde dabei nicht zuletzt auch von Personen geprägt, die in einer Doppelfunktion als Durchführende und Theoretikerinnen dieser Felder des Applied Theatre fungieren. Ein Theater, das dieselben Methoden, die zur HIV-Aufklärung oder zur Friedensarbeit verwendet werden, für die Effizienz des Marktes oder die Kommunikation von Vorgaben des Managements an die Mitarbeiterinnen nutzt, wird hierbei, Ackroyd folgend, im Diskurs nicht als dieselbe Form von Theater mit anderem politischen Impetus, sondern – zugespitzt – als eine Art Perversion der Inhalte, Ausrichtung und Werte betrachtet. Somit soll im weiteren Verlauf des ersten Kapitels ausführlich anhand von Beiträgen von Jonothan Neelands47, Thompson48, Ackroyd49, Victor Ukaegbu50, Michael Etherton gemeinsam mit Tim Prentki51, Julius Heinicke52, Ananda Breed53, Hüttler54 und anderen diskutiert werden, dass es neue Perspektiven auf den inhärenten ethischen Diskurs um Applied Theatre eröffnet, Unternehmenstheater, und damit auch das Assessment Center, mit all seinen ethischen Ambivalenzen seinem Korpus zuzurechnen, denn hier müssen immer auch Fragen von Manipulation, ungewollten Emergenzen, Machtasymmetrien, neokolonialem Sendungsbewusstsein55 und unfreiwilligen Spielen gestellt werden.56 Ein Theater, das so verflochten mit rahmengebenden politischen, ethischen, gesellschaftlichen und ökonomischen Faktoren ist, verlangt, wie eingangs dargelegt, nach einer eigenen Form der Analyse. Im Verlauf der gesamten Studie wird daher der Versuch erfolgen, eine theaterwissenschaftliche Methodik der Aufführungsanalyse mit einer hier zu entwickelnden, von poststrukturalistischer Theoriebildung inspirierten „Dispositivanalyse“57 zu verbinden, die die rahmengebenden Machtstrukturen in den Blick nimmt, in denen sich die Aufführungen des Assessment Centers
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entfalten. Dabei wird davon ausgegangen werden, dass das Theater der Selektion sich parallel in den heterogenen Ensembles von Dispositiven sehr verschiedener Größenordnungen, die hier heuristisch in der Betrachtung in ein Mikro-, ein Meso- und ein Makrodispositiv aufgeteilt werden sollen, situiert. Am Ende des ersten Kapitels wird dabei eine erste Mikrodispositivanalyse als Aufführungsanalyse vorgestellt werden, die im konkreten Aufführungskontext eines Development-Center-Verfahrens bei einem Automobilhersteller in den Niederlanden die Blick- und Machtstrukturen analysiert, unter denen sich ein Spiel entfaltet, das auf ökonomische Realität – auf Habitus und berufliche Zukunft eines Mitarbeiters und auf die Effizienz einer Serviceabteilung – einwirken soll. Ernste Spiele Ernste Spiele, das zweite Kapitel dieser Studie, widmet sich der Frage nach der Ästhetik des Assessment Centers. Dem ästhetischen Begriff des Spiels wird in diesem Kapitel eine zentrale Rolle zukommen, denn er legt eine Klammer um die äußerst heterogenen Theaterformen des Applied Theatre. Der Terminus erhält zunächst sehr pragmatisch über die Sprache Einzug in die Betrachtung, denn im Allgemeinen spricht man nicht davon, dass im Assessment-Center-Prozess ‚Theater‘ gespielt würde, wohl aber wären sich Laie, Praktikerin und Theoretikerin darüber einig, dass hier ‚Rollenspiele‘ gespielt werden. Eine komplette Diskursgeschichte des Spielbegriffs auch nur im Ansatz nachzeichnen zu wollen, würde den Rahmen eines Buchs, das sich nicht ausschließlich auf Spielbegriffe fokussiert, zwangsläufig sprengen und so wird in einer notwendigen Begrenzung zunächst einleitend anhand von Arbeiten von Erika Fischer-Lichte58, Helmar Schramm59, Andreas Kotte60 und Christopher Balme61 das Wechselverhältnis von Theater und Spielbegriffen dargelegt. Warum nun spielt man innerhalb einer so reglementierten Sphäre wie der der Arbeit, wenn Spiel doch durchaus mit Freizeit, Kindheitsaktivität, Zweckfreiheit und Spaß assoziiert erscheint und im Alltagsverständnis die Arbeit eher eines der zahlreichen Antonyme des Spiels darstellt? Die Spiele des Applied Theatre nun aber scheinen brüchige Rahmen zu haben, wenn sie produktiv als Instrumente der Menschenformung, der Außenpolitik oder der Produktivität des Marktes eingesetzt werden können. Der Applied-Theatre-Experte Kennedy C. Chinyowa inspiriert hier den auch im Untertitel dieser Arbeit wiederzufindenden Begriff des Ernsten Spiels, wenn er, auf Victor Turner rekurrierend, auf den maskierten Ernst im Spiel (play) des Applied Theatre hinweist. 62 Ernstes Spiel, in dieser Arbeit konsequent groß geschrieben, avanciert hier dennoch nicht zu einem Konzept oder einer eigenständigen Unterkategorie von Spiel, sondern soll
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als heuristischer Arbeitsbegriff betrachtet werden. Neben der prägnanten Beobachtung Chinyowas zum Applied Theatre als ,serious play‘ kann als Inspirationsquelle für diesen Arbeitsbegriff weiterhin die Computerspielgattung der „serious games“63 gelten. Dieser Name wird im medienwissenschaftlichen Diskurs um gamification auf das 1970 veröffentlichte Buch Serious Games des Pädagogen und frühen Game Designers Clark C. Abt zurückgebunden, das unter dem Titel Ernste Spiele in Deutschland erschien.64 Ebendiese speziellen Ernsten Spiele sind – entsprechend der angloamerikanischen Trennung von game und play, Computerspiele, die, wie die Spiele des Applied Theatre, eingesetzt werden, um mit scheinbar spielerischer Leichtigkeit politisch zu bilden, pädagogisch oder militärisch zu erziehen, therapeutische Abläufe zu begleiten oder auch den Alltag von Mitarbeitern zu strukturieren und Arbeitsleistung zu steigern. Denkt man, Joost Raessens folgend, zu diesen gamification-Prozessen auch die zweckorientierten Spiele jenseits des Mediums Computerspiel hinzu, so erweitert sich die Perspektive zur „Ludifizierung“65 als Praxis in Gesellschaft, Politik und Ökonomie. So zeugen die Ernsten Spiele in den Bereichen der erweiterten Personalauswahl- und Potentialanalyseverfahren von einem Spielbegriff, der im Wechselverhältnis zu sich wandelnden Arbeitsfeldern steht. Im Verlauf des zweiten Kapitels werden Spielbegriffe der klassischen Ludologie vornehmlich von Johan Huizinga66, Roger Caillois67 und Gregory Bateson68 vorgestellt und vor dem Hintergrund des Ernstes im Spiel und der Ästhetik des Theaters der Selektion mit aktuelleren Spielbegriffen und Analysen aus anderen Disziplinen befragt werden. Gerade Spielbegriffe beinhalten dabei auch das agonale Prinzip der theatralen Personalauswahl- und -entwicklungsverfahren – ein kompetitives Moment, das zunächst nicht zwangsläufig der Theateraufführung per se zugesprochen wird und in dem das Theater als Mess- und Bewertungsinstrument und die Schauspielerin in der Gesellschaft nicht länger als Expertin für den unterhaltenden, spielerischen Schein, sondern für die ernste Sphäre der Ökonomie in Erscheinung tritt. Zugleich bergen Spielbegriffe aber auch das Potential, Fragen nach einem Theater zu beantworten, das – ähnlich wie das immersive Theater und andere partizipatorische Formen – dazu herausfordert, grundlegende Begriffe der Theatersituation wie Aufführung, Schauspielerin und Zuschauerin erneut zu diskutieren. Die Wirkungsversprechen des Assessment- Center-Verfahrens, wie auch anderer Formen des Applied Theatre, richten sich weniger an eine Position, die man mit dem Wort ,Zuschauerin‘ beschreiben könnte denn an Partizipierende, die auf unterschiedliche Weisen aktiv gestalterisch handelnd in ein Spiel involviert sind.69
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Weiterhin bietet der Spielbegriff die Möglichkeit, Machtrelationen zu beschreiben, die wiederum in partizipatorischen Formen des Theaters, dem immersiven Theater, Applied-Theatre-Formen, aber auch verwandten populärkulturellen theatralen Veranstaltungen, wie Live action role-playing games oder historical reenactments, Fragen der Suggestion von Handlungsmacht und Realitätskonstruktion durch das Mitspielen in einer Diegese aufwerfen, deren Spielrahmen verunklart ist und die, so soll anhand der Arbeiten von Jen Harvie70, Gerke Schlickmann71, Claire Bishop72, Nicolas Bourriaud73 und Rebecca Schneider74 nachgezeichnet werden, zwischen konsequenzhaft und konsequenzgemindert sowie zwischen fiktiv und real oszilliert. Allerdings wird im Verlauf des zweiten Kapitels anhand des Beitrags „Das Spiel und die Arbeitsgesellschaft. Über den Wandel des Verhältnisses von Arbeit und Spiel“75 von Gunter Gebauer auch darauf eingegangen werden, dass Spielbegriffe der klassischen Ludologie nach Huizinga oder Caillois, die mit Zweckfreiheit und Unproduktivität einhergehen, eine Nuancierung erfahren müssen, wenn man sie im Verhältnis zu den hier fokussierten Phänomenen der Ludifizierung der Arbeitswelt betrachtet. Nicht zuletzt erscheint ein Begriff von Spiel als verbindende ästhetische Kategorie des Applied Theatre attraktiv, da einige Formen des angewandten Theaters und insbesondere die theatralen Module von Personalauswahlverfahren den Kunstrahmen gänzlich verlassen. Das Ernste Spiel liefert dabei als heuristische Analysekategorie Antworten auf die Frage, wie sich Theater, Spiel und Arbeit ins Verhältnis setzen, wenn ein Unternehmen, das auf Effizienz und Kompetitivität ausgerichtet ist, in Prozessen der Personalentscheidung, Schulung und Potentialanalyse auf das Theater zurückgreift. Den Abschluss des zweiten Kapitels bildet die Analyse eines Assessment-Center-Prozesses mit verschachtelten und gleichzeitig brüchigen Spielrahmen. Theatrale Dispositive Am Ende des ersten Kapitels wird der Versuch unternommen, anhand der Aufführung der Persönlichkeitsdarstellung innerhalb eines Development-Center-Prozesses eine neuartige Analyseform zu entwickeln. Der hier vorgeschlagenen Aufführungsanalyse sind dabei experimentell Perspektiven hinzufügt worden, um das heterogene Ensemble eines Mikrodis positivs zu beschreiben. Im dritten Kapitel dieser Studie – Theatrale Dispositive – nun treten die machtdynamischen Rahmungen der Aufführung und die determinierenden Handlungsspielräume des Subjekts auch jenseits dieser theatralen Settings in den Vordergrund. Reglementierte Als-ob-
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Haltungen und Aufführungen der Persönlichkeit finden sich im Arbeits alltag auch jenseits der Theatersituationen von Assessment Centern. Die erweiterten Personalauswahlverfahren können somit letztendlich auch als Praktiken zur Auswahl und Formung von Menschen für einen von The atralität durchwebten Alltag beschrieben werden. Zunächst soll mit einer intensiveren Diskussion des Foucault’schen Dispositivbegriffs76 und seinen Bezügen zum Theater dargelegt werden, dass das Mikrodispositiv der Aufführung sich, Gilles Deleuze folgend,77 in Immanenz mit einem Dispositiv der Meso- wie einem der Makroebene befindet. Denn die Assessment-Center- und Potentialanalyseverfahren sind eingebettet in Strukturen nächsthöherer Ordnung, die sich ebenfalls als Geflechte beschreiben lassen, in denen sich durch die Relation von Hierarchie, Architektur, Anordnungen, Wissensgenerierung, Diskurs und Persönlichkeitsdarstellung machtvolle Mechanismen auf die Formung von Subjektivität ausrichten. So wird auch der von Judith Butler geprägte Begriff der „Subjektivation“78 im Kontext dieser theatralen Dispositive verortet werden. Die einzelne Aufführung in diesen Bereichen gewinnt weiterhin erst Relevanz durch den Vergleich zu anderen Aufführungen, seien es diejenigen der Mitbewerberinnen, seien es die der Persönlichkeitsdarstellung der Kandidatin im von Theatralität geprägten Arbeitsalltag im Unternehmen jenseits der Prüfungssituation. Diese Immanenz zwischen ästhetischem Mikrodispositiv und Dispositiven nächsthöherer Ordnung wird im dritten Kapitel exemplarisch anhand eines medienwissenschaftlichen Beitrags zum Diskurs ausgeführt: Entgegen des Kanons seiner Disziplin betrachtet der Medienwissenschaftler Markus Stauff nicht das Einzelmedium als dispositive Anordnung, sondern legt anhand der filmwissenschaftlichen Apparatustheorie und dem Fernsehen als dispositiver Struktur dar, wie ein ästhetisches Mikrodispositiv in Immanenz zu einem gesellschaftlichen Dispositiv analysiert werden kann.79 Anschließend daran wird der Gebrauch des Dispositivkonzepts in der Theaterwissenschaft nachgezeichnet. Vor allem eine Passage Matthias Warstats zu Blickregime und Machtrelationen im Hinblick auf sowohl explizite Theatersettings als auch Theatralitätsphänomene kann dabei als ein Ausgangspunkt der Beschäftigung mit theatralen Dispositiven in dieser Studie angeführt werden.80 Hervorzuheben sind im Bereich der theaterwissenschaftlichen Forschung zum Dispositiv zudem die Arbeit des DFG-Projekts Theater als Dispositiv und im Kontext dieses Forschungsprojekts speziell die Publikationen Theater als Dispositiv von Gerald Siegmund, Lorenz Aggermann und Georg Döcker81 sowie die Online-Publikation „Theater als ästhetisches Dispositiv“ von Siegmund82. Hier wird, analog zu
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der vorliegenden Studie, im Hinblick auf das Kunsttheater als dispositives Gefüge postuliert, dass in dieser Form theaterwissenschaftlicher Analyse die zentrale Stellung der Aufführung eine Nuancierung erfahren muss.83 Eine Dispositivanalyse, wie sie hier als theaterwissenschaftliche Methode vorgeschlagen wird, kann demzufolge nicht lediglich auf der Mikro ebene der Aufführung stehenbleiben, sondern muss die Immanenz mit den Dispositiven nächsthöherer Ordnung in den Fokus nehmen: Auf der Ebene der Institutionen soll hier ein von Theatralität geprägtes Arbeitsumfeld betrachtet werden, das dem Mikrodispositiv der Aufführung ein inszenatorisches Mesodispositiv überordnet. So wird das dritte Kapitel im weiteren Verlauf eine Lesart von Erving Goffmans Selbstdarstellung im Alltag84 unter den Vorzeichen des Dispositivbegriffs vorstellen, um dann analytische Beobachtungen aus der Feldforschung mit der Betrachtung des Mesodispositivs der Theatralität in Unternehmen zu verbinden. Den Ausklang des dritten Kapitels wie der Studie insgesamt bildet ein Versuch der Betrachtung der Immanenz mit den Makrodispositiven des Neoliberalismus anhand der Arbeiten von Deleuze85, Boltanski86, Ève Chiapello87, Giorgio Agamben88, Andreas Reckwitz89 und Ullrich Bröckling90. Hier erscheint das Assessment Center als ein gesellschaftlich wirksames Scharnier zwischen Theater und Theatralität: Ein möglicher Zugang zur privilegierten Teilhabe am Gesellschaftssystem des Neoliberalismus, wie er sich in den westlichen Industrienationen herausgebildet hat, ist nicht zuletzt offenbar ein Theater der Selektion.
3 Forschungsrahmen Das vorliegende Buch ist das Resultat einer der zwei Forschungsschwerpunkte des Teilprojekts Corporate Theatre des European-Research-CouncilProjekts The Aesthetics of Applied Theatre. Im Rahmen des an der Freien Universität Berlin ansässigen Drittmittelprojekts wurden die ethischen, politischen und ästhetischen Dimensionen des angewandten Theaters untersucht. Die Studie basiert zum einen auf der vorangehend dargelegten theoretischen Einbettung des Gegenstandes in den Korpus des Applied Theatre wie Diskursen aus der Theaterwissenschaft, der Ludologie und des Poststrukturalismus. Zum anderen wurden über den Verlauf des Teilprojekts in Kooperation mit Unternehmen, Anbietern für Unternehmenstheater und freiberuflichen Seminarschauspielerinnen in Deutschland und den Niederlanden unter Wahrung strenger Datenschutzauflagen entsprechende Prozesse begleitet und Interviews geführt. Die aus dieser Feldforschung
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entstandene Materialsammlung bildet das Kernstück der hier theoretisch eingebetteten Beobachtungen. Zur Wahrung des Schutzes von Daten und Persönlichkeitsrechten erfolgt eine konsequente Anonymisierung und Pseudonymisierung aller in der Studie erwähnten Interviewpartner, anderweitig an Prozessen teilhabenden Personen sowie Unternehmen, deren Nennung Rückschlüsse über entsprechende Interviewpartner zulassen würde. Zur Durchführung der prozessbegleitenden Beobachtung war zu Beginn der Studie ein Akquiseprozess von Kooperationspartnern aus den Bereichen von Großunternehmen wie Unternehmenstheateranbietern notwendig. Ziel der Feldforschung war es dabei nicht, eine statistische Breite abzudecken,91 sondern verschiedene Formen des Gegenstandes dieser Studie beobachtend zu begleiten und qualitativ zu analysieren. Sorgsam wurde mit Informationsschreiben und Einverständniserklärungen sichergestellt, dass alle Beteiligten über Art und Ziel der Beobachtungen transparent informiert wurden und ihr Einverständnis gaben. Auch wurden Unternehmen darüber aufgeklärt, dass es nicht Ziel der Prozessbegleitung wie der daran anschließenden Publikation ist, die entsprechenden Personalauswahlverfahren in ihren Firmen effizienter zu gestalten, sondern dass vielmehr die Studie einen kritischen Blick auf den Einsatz von Theater in Unternehmen werfen werde. Diese Transparenz gegenüber den Unternehmen führte in vielen Fällen zu einer Absage, in einigen aber auch zu einer bemerkenswerten Offenheit gegenüber Kritik sowie für in ihrem Kontext unkonventionelle Perspektiven. In den Analysen der begleiteten Prozesse wird der Studienleiter selbst in der dritten Person beschrieben. Dieser unübliche Gestus der Analysemethode wurde gewählt, da sich anders als in einem klassischen Kunsttheatersetting der den Prozess beobachtende Forscher in einer vollkommen anderen Situation als in anderen Aufführungskontexten situiert sieht.92 Er ist weder Teil des Publikums, auf den dieses Theater ausgerichtet ist, noch ist er Anleiter, involvierter Mitspieler oder Schauspieler. Als Fremdkörper und stiller Beobachter könnte daraus die Entscheidung resultieren, seine Anwesenheit aus den Beschreibungen zu tilgen. In dem Versuch einer Verschränkung aus Aufführungs- und Dispositivanalyse, die zugleich die Blick- und Machtkonstellationen während des Prozesses mitbedenken möchte, käme dies jedoch einer Unterschlagung gleich, da der Forscher am Prozess beteiligt ist, sich selbst vom Wohlwollen der Initiatoren abhängig sieht und zugleich die Aufführung in seiner Anwesenheit minimal stört und nuanciert. Für eine Verflechtung der Methoden der Dispositiv- und Aufführungsanalyse, wie sie hier entwickelt werden soll, darf seine Anwesenheit also nicht ignoriert werden, da er Teil des heterogenen Netzes ist,
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das es zu beschreiben gilt. Die Ich-Perspektive wurde als Stilentscheidung abgelehnt, obgleich man hier den Vorwurf einbringen könnte, dass sich damit eine Pseudo-Objektivierung einer subjektiven Sicht auf den Prozess im Stil manifestiert. Da aber alle Aufführungsanalysen zugleich objektiv von allen Zuschauerinnen geteilte Aspekte mit subjektiven Assoziationen, Konnotationen und möglichen, nachvollziehbar gemachten, zwar nicht beliebigen, aber auch nicht ausnahmslos verbindlichen Vergleichsmomenten amalgamieren, ist dies von jeher eine Problematik der Methoden verschiedener Aufführungsanalysen.93
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Einleitung 1 Evers, Florian: „Personalauswahlverfahren als intervenierendes Spiel“, in: Warstat, Matthias u. a.: Theater als Intervention – Politiken ästhetischer Praxis (= Recherchen 121), Berlin 2015, S. 87–91, hier S. 87 (im Folgenden zitiert als: Evers: „Personalauswahlverfahren als intervenierendes Spiel“). O. L., Personalmanager, Pharma-AG, zuständig für die Neuimplementierung eines Assessment-Center-Verfahrens in einem multinationalen Konzern, im Interview mit dem Autor am 29. Oktober 2013. 2 S. C., Seminarschauspieler, Freiberufler, Coach und Spielpartner in Assessment-Centerund Potentialanalyseverfahren, Rhetoriktrainer, Synchronsprecher, im Interview mit dem Autor am 25. Juni 2014. 3 Dr. med. S. H., Facharzt für Allgemeinmedizin, zuständig für Prüfungen im Rahmen der objective structured clinical examination für Studierende der Medizin des zweiten Studienabschnitts der UKSH-Kiel, im Interview mit dem Autor am 8. Mai 2015. 4 Die aufmerksame Zuschauerin konnte noch während des Spiels einen Verweis darauf finden: Während einer power-napping-Übung richteten sich alle Teilnehmerinnen auf der Bühne in einer Rahmung, die man in ihrer Hervorhebung durch Musik, Beleuchtung und Handlungsablauf als eine Art Traumsequenz identifizieren konnte, in ihren Liegestühlen auf und blickten minutenlang verschiedene Zuschauerinnen mit prüfender Miene an, um dann anscheinend ihrerseits Notizen auf einem Bewertungsbogen zu verfassen. 5 Caillois, Roger: Die Spiele und die Menschen – Maske und Rausch, Frankfurt a. M., Berlin, Wien 1982, S. 21f. (im Folgenden zitiert als: Caillois). 6 Zum Konzept der Konsequenzverminderung im Spiel und Theater, wie es im Folgenden in dieser Studie verwendet werden wird, vgl. Kotte, Andreas: Theaterwissenschaft. Eine Einführung, Köln, Weimar, Wien 2005, S. 41f. (im Folgenden zitiert als: Kotte). 7 Butler, Judith: Psyche der Macht. Das Subjekt der Unterwerfung, Frankfurt a. M. 2001, S. 8 (im Folgenden zitiert als: Butler: Psyche der Macht). 8 Vgl. Evers, Florian/Lempa, Fabian: „Forced Participation – Seminarschauspiel in der Personalentwicklung“, in: Warstat, Matthias u. a. (Hg.): Applied Theatre – Rahmen und Positionen (= Recherchen 129), Berlin 2017, S. 236–250, hier S. 239 (im Folgenden zitiert als: Evers, Lempa). 9 Zur Relevanz der Foucault’schen Begrifflichkeiten der „Selbsttechnologien“ und „Herrschaftstechniken“ im Kontext neoliberaler Gouvernementalität vgl. Lemke, Thomas/Krasmann, Susanne/Bröckling, Ulrich: „Gouvernementalität, Neoliberalismus und Selbsttechnologie“, in: dies. (Hg): Gouvernementalität der Gegenwart. Studien zur Ökonomisierung des Sozialen, Frankfurt a. M. 2000, S. 7–40, hier S. 29ff. (im Folgenden zitiert als: Lemke, Krasmann, Bröckling). 10 OSS Assessment Staff, The: Assessment of Men – Selection of Personnel for the Office of Strategic Services, New York 1948. 11 Thornton, George C.: Assessment Centers in Human Resource Management, Colorado State University 1992, S. 202 (im Folgenden zitiert als: Thornton). 12 Boche, Alan: „Management Concerns About Assessment Centers“, in: Moses, Joseph L./Byham, William C. (Hg.): Applying the Assessment Center Method, New York 1977, S. 243–262, hier S. 246. 13 Ebd. 14 Ebd. 15 Um den selbstverständlichen Gebrauch des Begriffs ,selection‘ im Zusammenhang mit Personalauswahl im angloamerikanischen Raum nachzuzeichnen, kann das gesamte Standardwerk Applying the Assessment Center Method von Joseph L. Moses und William C. Byham angeführt werden, in dem der Begriff von verschiedenen führenden Experten für Personalauswahl ihrer Zeit bedient wird. Vgl. Moses, Joseph L./Byham, William C. (Hg.): Applying the Assessment Center Method, New York 1977 (im Folgenden zitiert als: Moses, Byham). Hierin soll speziell auf den Titel des Beitrags von Donald W. MacKinnon zu den ersten Assessment-Center-Verfahren im Kontext des US-amerikanischen Auslandsgeheimdienstes verwiesen werden: MacKinnon, Donald W.: „From Selecting Spies to Selecting Managers – The OSS Assessment Program“, in: Moses, Byham: S. 13–30, hier S. 13 (im Folgenden zitiert als: MacKinnon). 16 www.duden.de/rechtschreibung/Selektion (zuletzt aufgerufen am 23. Januar 2018). 17 „Assessment Center. Persönlichkeit gewinnt“, in: www.berufsstrategie.de/bewerbung-karriere-soft-skills/assessment-center-auswahlverfahren.php (zuletzt aufgerufen am 23. Januar 2018). 18 „Online-Assessment: Das musst Du wissen“, in: https://www.trainee-gefluester.de/tipps/ vorstellungsgespraech/online-assessment (zuletzt aufgerufen 23. Januar 2018). Auch in
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3 Forschungsrahmen der Publikation um qualitative und ethische Standards des Assessment-Center-Verfahrens durch den Arbeitskreis Assessment Center e. V. fällt der Begriff in Form des Fachterminus der sogenannten Selbstselektion. Arbeitskreis Assessment Center e. V.: AC-Standards. Standards der Assessment Center Methode, 3. vollständig überarbeitete Fassung 2016, S. 1–15, hier S. 8 (Verwendung des Textes mit Genehmigung des AKAC vom 7. Juli 2017) (im Folgenden zitiert als: Arbeitskreis Assessment Center e. V.: AC-Standards). 19 Vgl. Bröckling, Ulrich: „Menschenökonomie, Humankapital. Eine Kritik der biopolitischen Ökonomie“, in: ders./Bühler, Benjamin/Hahn, Markus u. a. (Hg.): Disziplinen des Lebens. Zwischen Anthropologie, Literatur und Politik, Tübingen 2004, S. 275–296, hier S. 280ff. (im Folgenden zitiert als: Bröckling: „Menschenökonomie, Humankapital“). 20 Vgl. Fach, Wolfgang: „Staatskörperkultur – ein Traktat über den ‚schlanken Staat‘“ in: Lemke, Krasmann, Bröckling: S. 110–131, hier S. 117ff (im Folgenden zitiert als: Fach) sowie in diesem Zusammenhang auch Lemke, Thomas: „Die Regierung der Risiken. Von der Eugenik zur genetischen Gouvernementalität“, in: Lemke, Krasmann, Bröckling: S. 227–264, hier S. 240 u. 256 (im Folgenden zitiert als: Lemke). 21 Vgl. Boltanski, Luc: Die Vorhölle, Berlin 2011, S. 60 (im Folgenden zitiert als: Boltanski: Die Vorhölle). 22 Vgl. Lorber, Michael: „Visio Thurkilli – Theater als Höllenstrafe“ in: Warstat, Matthias u. a. (Hg.): Applied Theatre – Rahmen und Positionen, Berlin 2017, S. 31–58, hier S. 52 (im Folgenden zitiert als: Lorber). 23 Evers: „Personalauswahlverfahren als intervenierendes Spiel“. 24 Evers, Lempa. 25 Rothe, Katja: „Spekulative Praktiken. Zur Vorgeschichte des Assessment Centers“, in: ILINX – Berliner Beiträge zur Kulturwissenschaft: Ökonomische Praktiken, 3, 2003, S. 57–73 (im Folgenden zitiert als: Rothe). 26 Ebd., S. 64. 27 Hüttler, Michael: Unternehmenstheater – Vom Theater der Unterdrückten zum Theater der Unternehmer, Stuttgart 2005 (im Folgenden zitiert als: Hüttler). 28 Laux, Lothar/Renner, Karl-Heinz/Schütz, Astrid u. a.: „Theatralität, Körpersprache und Persönlichkeit – Von Self-Monitoring zur Persönlichkeitsdarstellung“, in: Fischer-Lichte, Erika/Horn, Christian/Warstat, Matthias (Hg.): Verkörperung, Tübingen, Basel 2001, S. 239–255, hier S. 254 (im Folgenden zitiert als: Laux, Renner, Schütz: „Theatralität, Körpersprache und Persönlichkeit“). 29 Laux, Lothar/Renner, Karl-Heinz: „Theater als Modell für die Persönlichkeitspsychologie“, in: Fischer-Lichte, Erika u. a. (Hg.): Theatralität als Modell in den Kulturwissenschaften, Tübingen, Basel 2004, S. 83–110 (im Folgenden zitiert als: Laux, Renner: „Theater als Modell für die Persönlichkeitspsychologie“) sowie Laux, Renner, Schütz: „Theatralität, Körpersprache und Persönlichkeit“. 30 Horn, Eva: „Test und Theater. Zur Anthropologie der Eignung im 20. Jahrhundert“, in: Bröckling, Ulrich/dies. (Hg.): Anthropologie der Arbeit, Tübingen 2002, S. 109–125 (im Folgenden zitiert als: Horn). 31 Vgl. ebd., S. 120. 32 Vgl. ebd., S. 124f. 33 Vgl. Moses, Byham; Wendel, Frederick C./Sybouts, Ward: Assessment Center Methods in Educational Administration: Past, Present, and Future, Lincoln, Nebraska 1988 (im Folgenden zitiert als: Wendel, Sybouts); Thornton sowie Arbeitskreis Assessment Center e.V.: AC-Standards. 34 Bei den Ausnahmen handelt es sich um den eingangs vorgestellten Beitrag der Theaterwissenschaftlerin Katja Rothe zur Vorgeschichte des Assessment Centers, vgl. Rothe, sowie um die theaterwissenschaftliche Beschäftigung mit Unternehmenstheaterformen, die in Anteilen auch unter die Definition von Potentialanalyseverfahren und Development Center fallen würden, durch Michael Hüttler, vgl. Hüttler. 35 Obermann, Christof/Höft, Stefan/Becker, Jan-Niklas: Assessment Center-Praxis 2016: Vorläufiger deskriptiver Ergebnisbericht zur AkAC-AC-Studie 2016, Arbeitskreis Assessment Center e. V., 2016 (im Folgenden zitiert als: Obermann, Höft, Becker: Assessment Center-Praxis 2016). Verwendung der Studie mit Genehmigung der Autoren vom 7. Juli 2017. Obermann, Christof/Höft, Stefan/Becker, Jan-Niklas: Die Anwendung von Assessment Centern im deutschsprachigen Raum: Vorläufiger deskriptiver Ergebnisbericht zur AkACAC-Studie 2012, Arbeitskreis Assessment Center e. V., 2012, (im Folgenden zitiert als Obermann, Höft, Becker: Die Anwendung von Assessment Centern im deutschsprachigen
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Einleitung Raum: Vorläufiger deskriptiver Ergebnisbericht zur AkAC-AC-Studie 2012). Verwendung der Studie mit Genehmigung der Autoren vom 7. Juli 2017. 36 Arbeitskreis Assessment Center e. V.: AC-Standards. 37 Thornton. 38 Moses, Byham. 39 Wendel, Sybouts. 40 MacKinnon. 41 Thompson, James: Applied Theatre – Bewilderment and Beyond, Oxford 2003 (im Folgenden zitiert als: Thompson: Applied Theatre). 42 Balme, Christopher: „Applied Theatre“, in: ders.: The Cambridge Introduction to Theatre Studies, Cambridge 2008, S. 179–194 (im Folgenden zitiert als: Balme: „Applied Theatre“). 43 Prendergast, Monica/Saxton, Juliana: Applied Theatre: International Case Studies and Challenges for Practice, Bristol, Chicago 2009 (im Folgenden zitiert als: Prendergast, Saxton). 44 Ackroyd, Judith: „Applied Theatre: Problems and Possibilities“, in: Applied Theatre Researcher, Number 1, 2000 (im Folgenden zitiert als: Ackroyd: „Applied Theatre: Problems and Possibilities“) und Ackroyd, Judith: „Applied Theatre – an Exclusionary Discourse?“, in: Applied Theatre Researcher, Number 8, 2007 (im Folgenden zitiert als: Ackroyd: „Applied Theatre – an Exclusionary Discourse?“). 45 Warstat, Matthias u. a.: Theater als Intervention – Politiken ästhetischer Praxis, Berlin 2015 (im Folgenden zitiert als: Warstat u. a.: Theater als Intervention) und Warstat, Matthias u. a. (Hg.): Applied Theatre – Rahmen und Positionen, Berlin 2017 (im Folgenden zitiert als Warstat u. a.: Applied Theatre – Rahmen und Positionen). 46 Zum Begriff des „Gestus“ im Applied Theatre vgl. Warstat u. a.: Theater als Intervention, S. 23f. und insbesondere S. 45–48. 47 Neelands, Jonothan: „Taming the political: the struggle over recognition in the politics of applied theatre“, in: Research in Drama Education: The Journal of Applied Theatre and Performance, 12:3, 2007, S. 305–317 (im Folgenden zitiert als: Neelands). 48 Thompson, James: „Ein Hacken und Stechen“, in: Warstat u. a.: Applied Theatre – Rahmen und Positionen, S. 154–181 (im Folgenden zitiert als: Thompson: „Ein Hacken und Stechen“). 49 Ackroyd: „Applied Theatre: Problems and Possibilities“ und Ackroyd: „Applied Theatre – an Exclusionary Discourse?“. 50 Ukaegbu, Victor: „The Problem with Definitions“, in: Ackroyd, Judith/Neelands, Jonothan (Hg.): Drama Research, Bd. 3: National drama 2004, S. 45–54 (im Folgenden zitiert als: Ukaegbu). 51 Etherton, Michael/Prentki, Tim: „Drama for change? Prove it! Impact assessment in applied theatre“, in: Research in Drama Education: The Journal of Applied Theatre and Performance, Vol. 11, No. 2 (Juni 2006), S. 139–155 (im Folgenden zitiert als: Etherton, Prentki). 52 Heinicke, Julius: „Zwischen Narrenfreiheit und neokolonialem Protektorat“, in: Warstat u. a.: Theater als Intervention, S. 60–66 (im Folgenden zitiert als: Heinicke: „Zwischen Narrenfreiheit und neokolonialem Protektorat“) sowie Heinicke, Julius: „Koloniale Fallstricke erkennen und meiden – Perspektiven für die interkulturelle Theaterarbeit von der Finanzierung über die Ästhetik bis zur Evaluation“, in: Warstat u. a.: Applied Theatre – Rahmen und Positionen, S. 111–136 (im Folgenden zitiert als: Heinicke: „Koloniale Fallstricke erkennen und meiden“). 53 Breed, Ananda: „Environmental aesthetics, social engagement and aesthetic experiences in Central Asia“, in: Research in Drama Education: The Journal of Applied Theatre and Performance, 20:1, 2015, S. 87–99 (im Folgenden zitiert als: Breed: „Environmental aesthetics, social engagement and aesthetic experiences in Central Asia“). 54 Hüttler. 55 Vgl. Heinicke: „Zwischen Narrenfreiheit und neokolonialem Protektorat“, S. 61f. sowie Heinicke: „Koloniale Fallstricke erkennen und meiden“, S. 111–136, zur Verwendung des ästhetischen Begriffs „Gestus“ in diesem Kontext hier insbesondere S. 111. 56 Zu den ethischen Ambivalenzen des Applied Theatre vgl. Warstat, Matthias u. a. (Hg.): „Einleitung“, in: dies. (Hg.): Applied Theatre – Rahmen und Positionen, Berlin 2017, S. 7–28, hier S. 10f. (im Folgenden zitiert als: Warstat u. a.: „Einleitung“). 57 Die hier zu entwickelnde Dispositivanalyse als Aufführungsanalyse zieht ihre Inspiration maßgeblich aus der filmwissenschaftlichen Apparatustheorie. Aktuell erhält der
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3 Forschungsrahmen Foucault’sche Begriff aber auch in der Soziologie und an anderer Stelle in der Theaterwissenschaft eine Renaissance, vgl. Bührmann, Andrea/Schneider, Werner: Vom Diskurs zum Dispositiv. Eine Einführung in die Dispositivanalyse, Bielefeld 2008 (im Folgenden zitiert als: Bührmann, Schneider). Vgl. auch Siegmund, Gerald: „Theater als ästhetisches Dispositiv“. www.nachtkritik.de/index.php?option=com_content&view=article&id=9800:leipziger-thesen-zur-theaterwissenschaft-xii&catid=101&Itemid=84 (zuletzt aufgerufen am 12.Oktober 2017) (im Folgenden zitiert als: Siegmund: „Theater als ästhetisches Dispositiv“). 58 Vgl. Fischer-Lichte, Erika: Ästhetik des Performativen, Frankfurt a. M. 2004, S. 47f. (im Folgenden zitiert als: Fischer-Lichte: Ästhetik des Performativen). 59 Vgl. Schramm, Helmar: „Spiel“, in: Fischer-Lichte, Erika/Kolesch, Doris/Warstat, Matthias (Hg.): Metzler Lexikon Theatertheorie, Stuttgart, Weimar 2005, S. 307–314 (im Folgenden zitiert als: Schramm). 60 Vgl. Kotte: S. 31–41. 61 Vgl. Balme, Christopher: Einführung in die Theaterwissenschaft, Berlin 2003, S. 57. 62 Chinyowa, Kennedy C.: „Revisiting monitoring and evaluation strategies for applied drama and theatre practice in African contexts“, in: Research in Drama Education: The Journal of Applied Theatre and Performance, 16:3, 2011, S. 337–356, hier S. 345 (im Folgenden zitiert als: Chinyowa). 63 Vgl. Ganguin, Sonja/Hoblitz, Anna: „Serious Games – Ernstes Spielen? Über das Problem von Spielen, Lernen und Wissenstransfer“, in: Freyermuth, Gundolf S./Gotto, Lisa/Wallenfels, Fabian (Hg.): Serious Games. Exergames. Exerlearning – Zur Transmedialisierung und Gamification des Wissenstransfers, Bielefeld 2013, S. 165–184. 64 Ebd., S. 165f. sowie Abt, Clark C.: Ernste Spiele. Lernen durch gespielte Wirklichkeit, Köln 1971. 65 Mit dem Begriff der „Ludifizierung“ wird sich diese Studie der These von Joost Raessens anschließen, dass die sogenannte gamification – also die Übernahme von Aspekten und Mechanismen des Computerspiels in Arbeits-, Lern- und Therapiekontexte – nur eine Manifestation einer Ludifizierung verschiedenster Lebensbereiche darstellt, die vormals nicht vom Spiel durchdrungen erschienen: Die gamification gehört ebenso zur Ludifizierung, wie die Ästhetik des Drohnenkriegs auf der Seite der Piloten, das Unternehmenstheater oder Spielaspekte in politischen Prozessen, auf die Raessens sich fokussiert, vgl. Raessens, Joost: „The ludification of culture“, in: Fuchs, Matthias u. a.: Rethinking Gamification, Lüneburg 2014, S. 91–114, hier S. 94 (im Folgenden zitiert als: Raessens). 66 Huizinga, Johan: Homo Ludens. Vom Ursprung der Kultur im Spiel, Reinbek 2013, S. 22 (im Folgenden zitiert als: Huizinga). 67 Caillois. 68 Bateson, Gregory: „Eine Theorie des Spiels und der Phantasie“, in: ders.: Ökologie des Geistes, Frankfurt a. M. 1985, S. 241–251 (im Folgenden zitiert als: Bateson). 69 Vgl. Warstat u. a.: Theater als Intervention, S. 8. 70 Harvie, Jen: Fair Play – Art, Performance and Neoliberalism, Basingstoke, New York 2013 (im Folgenden zitiert als: Harvie). 71 Schlickmann, Gerke: „Wir müssen über SIGNA reden – Larp und Performance-Installationen“, in: Bienia, Rafael/dies. (Hg.): LARP und die (anderen) Künste, Braunschweig 2016, S. 55–78 (im Folgenden zitiert als: Schlickmann: „Wir müssen über SIGNA reden“) und dies.: Adventure and Meeting. Eine Einführung in Live-Rollenspiel aus theaterwissenschaftlicher Perspektive, Braunschweig 2015 (im Folgenden zitiert als: Schlickmann: Adventure and Meeting). 72 Bishop, Claire: Artificial Hells. Participatory Art and the Politics of Spectatorship, London, New York 2012 (im Folgenden zitiert als: Bishop). 73 Bourriaud, Nicolas: Relational Aesthetics, Dijon 2002 (im Folgenden zitiert als: Bourriaud). 74 Schneider, Rebecca: Performing Remains. Art and War in Times of Theatrical Reenactment, New York 2011, (im Folgenden zitiert als: Schneider). 75 Gebauer, Gunter: „Das Spiel und die Arbeitsgesellschaft. Über den Wandel des Verhältnisses von Arbeit und Spiel“, in: Paragrana 5, 1996, S. 23–39 (im Folgenden zitiert als: Gebauer). 76 Vgl. etwa Foucault, Michel: Dispositive der Macht. Michel Foucault über Sexualität, Wissen und Wahrheit, Berlin 1978 (im Folgenden zitiert als: Foucault: Dispositive der Macht) und ders.: Überwachen und Strafen. Die Geburt des Gefängnisses, Frankfurt a. M. 1994 (im Folgenden zitiert als: Foucault: Überwachen und Strafen).
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Einleitung 77 Deleuze, Gilles: Lust und Begehren, Berlin 1996, S. 18f. (im Folgenden zitiert als: Deleuze: Lust und Begehren), vgl. auch ders.: Foucault, Frankfurt a. M. 2013, S. 60f. (im Folgenden zitiert als: Deleuze: Foucault). 78 Butler: Psyche der Macht, S. 8. 79 Vgl. Stauff, Markus: Das neue Fernsehen: Machtanalyse, Gouvernementalität und digitale Medien, Münster 2005. Hier zitiert wird die der Publikation zugrundeliegende, ungekürzte Dissertationsschrift: Stauff, Markus: Das neue Fernsehen. Machteffekte einer heterogenen Kulturtechnik, Dissertationsschrift, eingereicht an der Fakultät für Philologie der Ruhr-Universität Bochum 2004 (im Folgenden zitiert als: Stauff). 80 Vgl. Warstat, Matthias: „Theatralität“, in: Fischer-Lichte, Erika/Kolesch, Doris/ders. (Hg.): Metzler Lexikon Theatertheorie, Stuttgart, Weimar 2005, S. 358–364, hier S. 363f. (im Folgenden zitiert als: Warstat: „Theatralität“). 81 Aggermann, Lorenz/Döcker, Georg/Siegmund, Gerald (Hg.): Theater als Dispositiv. Dysfunktion, Fiktion und Wissen in der Ordnung der Aufführung, Frankfurt a. M. 2017 (im Folgenden zitiert als: Aggermann, Döcker, Siegmund). 82 Siegmund: „Theater als ästhetisches Dispositiv“. 83 Vgl. Aggermann, Lorenz: „Die Ordnung der darstellenden Kunst und ihre Materialisationen. Eine methodische Skizze zum Forschungsprojekt Theater als Dispositiv“, in: Aggermann, Döcker, Siegmund: S. 7–32, hier S. 10f. (im Folgenden zitiert als: Aggermann). 84 Goffman, Erving: The Presentation Of Self In Everyday Life, Edinburgh 1956. In dieser Studie wird im Folgenden die aus der Perspektive der Theatralitätsforschung z. T. leider freier übersetzte, aber in dieser Form nicht zuletzt in der Praxis des Unternehmenstheaters so in den Diskurs eingeflossene, deutsche Ausgabe verwendet werden, vgl. Goffman, Erving: Wir alle spielen Theater. Selbstdarstellung im Alltag, München, Zürich 2013 (im Folgenden zitiert als: Goffman). 85 Deleuze, Gilles: „Postskriptum über die Kontrollgesellschaften“, in: ders.: Unterhandlungen 1972–1990, Frankfurt a. M. 1993, S. 254–262 (im Folgenden zitiert als: Deleuze: „Postskriptum über die Kontrollgesellschaften“). 86 Boltanski: Die Vorhölle und ders./Chiapello, Ève: „Die Arbeit der Kritik und der normative Wandel“, in: Menke, Christoph/Rebentisch, Juliane (Hg): Kreation und Depression. Freiheit im gegenwärtigen Kapitalismus, Berlin 2012, S. 18– 37 (im Folgenden zitiert als: Boltanski, Chiapello). 87 Chiapello, Ève: „Evolution und Kooption. Die ‚Künstlerkritik‘ und der normative Wandel“, in: Menke, Christoph/Rebentisch, Juliane (Hg): Kreation und Depression. Freiheit im gegenwärtigen Kapitalismus, Berlin 2012, S. 38–51 (im Folgenden zitiert als: Chiapello). 88 Agamben, Giorgio: Was ist ein Dispositiv?, Zürich, Berlin 2008 (im Folgenden zitiert als: Agamben). 89 Reckwitz, Andreas: Die Erfindung der Kreativität, Frankfurt a. M. 2012 (im Folgenden zitiert als: Reckwitz: Die Erfindung der Kreativität). 90 Bröckling, Ulrich: Das unternehmerische Selbst. Soziologie einer Subjektivierungsform, Frankfurt a. M. 2016 (im Folgenden zitiert als: Bröckling: Das unternehmerische Selbst) und ders.: „Totale Mobilmachung. Menschenführung im Qualitäts- und Selbstmanagement“, in: Lemke, Krasmann, Bröckling: S. 131–167 (im Folgenden zitiert als: Bröckling: „Totale Mobilmachung“) sowie ders: „Menschenökonomie, Humankapital“. 91 Wie dargelegt, wird für valide quantitative Aussagen über Verbreitung und Ausformung von Assessment Centern im deutschsprachigen Raum auf die Umfragen des Arbeitskreises Assessment Center e. V. aus den Jahren 2012 und 2016 sowie auf dessen Publikation „AC-Standards – Standards der Assessment Center Methode“ zurückgegriffen, die hier mit freundlicher, schriftlicher Genehmigung der Autoren vom 7. Juli 2017 zitiert werden. 92 Vgl. Heinicke, Julius: „Wohin denn ich? Das Dilemma von Aufführungsanalysen im Applied Theatre“, in: The Aesthetics of Applied Theatre (Blog), April 2014. www.geisteswissenschaften.fu-berlin.de/v/applied-theatre/Blog/Julius-Heinicke/Wohin-denn-ich_-Das-Dilemma-von-Auffuehrungsanalysen-im-Applied-Theatre.html (zuletzt aufgerufen am 13. Juli 2018) (im Folgenden zitiert als: Heinicke: „Wohin denn ich?“). 93 Vgl. Erika Fischer-Lichte zur Problematik der „Pseudo-Objektivität“ in aufführungsanalytischen Kontexten: „Der Betrachter muss daher selbst zum Gegenstand der Analyse werden, ebenso wie die Rolle, die er im Prozess der Aufführung spielt. Eine Analyse der Aufführung losgelöst von der Subjektivität des Analysierenden und den Erfahrungen,
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3 Forschungsrahmen die er während der Aufführung gemacht hat, stellt daher einen Widerspruch in sich dar.“ Fischer-Lichte, Erika: „Aufführung“, in: dies./Kolesch, Doris/Warstat, Matthias (Hg.): Metzler Lexikon Theatertheorie, Stuttgart, Weimar 2005, S. 16–26, hier S. 23 (im Folgenden zitiert als: Fischer-Lichte: „Aufführung“).
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ASSESSMENT CENTER UND APPLIED THEATRE
1 Personalauswahlverfahren als theatrale Prozesse Assessment-Center-Verfahren sind Praktiken zur Personalauswahl, -entwicklung oder Potentialanalyse,1 die über ein Bewerbungsgespräch hinaus in den Bereich der Einschätzung von sozialer und methodischer Kompetenz, Fachwissen sowie Persönlichkeit, Auftreten und Kreativität reichen.2 Teile dieser Praktiken haben einen theatralen Charakter. Sie können von Unternehmen unter Mitarbeit von Führungskräften, Personalmanagern, Vertretern der Human-Resources-Abteilungen und betrieblichen Mitbestimmungsgremien, Vorständen oder unter Zuhilfenahme externer Psychologen und Dienstleister durchgeführt werden,3 um die Kompetenzen des Personals einzuschätzen, Mitarbeiter zu schulen und eine vakante Stelle firmenintern oder durch Neurekrutierung mit der qualifiziertesten Bewerberin zu besetzen. Gegenüber dem einfachen Bewerbungsgespräch auf der Basis der Informationen aus einem Bewerbungsschreiben mit Zeugnisanlage bergen diese komplexen Verfahren den Vorteil der intensiveren Eignungsprüfung, der direkten Vergleichbarkeit von Kompetenzen unter mehreren Bewerberinnen sowie der Objektivierung der Personalentscheidung, die bei Einstellung oder Beförderung statt auf das Bauchgefühl eines Entscheidungsträgers auf erhobene Daten und Fakten zurückgreift.4 Assessment Center sind vorwiegend eine gängige Praxis in Großunternehmen – 25 der DAX-30-Unternehmen setzten im Jahr 2016 diese erweiterten Personalauswahl- und -entwicklungsverfahren ein.5 In mittelständischen Betrieben unter einer gewissen Anzahl an Mitarbeiterinnen und Neurekrutierungen ist das Verfahren tendenziell eher unüblich,6 da der zeitliche und finanzielle Aufwand für diese Unternehmen nicht angemessen wäre. Jedoch findet man auch außerhalb der freien Wirtschaft, wie etwa beim Militär, im öffentlichen Dienst oder in Universitäten, Varianten dieser Personalauswahlverfahren.7 Rekrutiert oder geschult werden dabei vornehmlich Führungskräfte aller Ebenen, Fachkräfte sowie Trainees und Auszubildende.8 Je nach Personalpolitik und Art der Rekrutierung der jeweiligen Unternehmen oder Institutionen finden Assessment-Center-Verfahren nach akutem Bedarf oder aber auch in einem regelmäßigen Turnus statt.9 Neben dem ‚klassischen‘
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erweiterten Personalauswahlverfahren zur Einstellung gibt es auch Varianten wie ‚Bewerbertage‘, ‚Development Center‘, ‚Potentialanalyseverfahren‘ u. ä., die Unterformen von oder aber firmenspezifische Bezeichnungen für Praktiken sein können, deren formaler Charakter ähnlichen Gesetzmäßigkeiten gehorcht, die unter Umständen jedoch mit jeweils leicht nuancierter strategischer Zielsetzung zum Einsatz kommen.10 Bewerbertage z. B. können dabei durchaus in vielen Fällen tatsächlich lediglich Einstellungsverfahren sein, die in der jeweiligen Firma unter diesem Namen durchgeführt werden. An anderen Stellen haben Bewerbertage in ihrer strategischen Zielsetzung einen proaktiveren Charakter der Personalrekrutierung durch ein Unternehmen als die Einladung zu einem erweiterten Personalauswahlverfahren, die auf eine Bewerbung folgt. Auch hier können ludische oder theatrale Methoden zum Einsatz kommen, um Teilnehmerinnen für die Eignung als Mitarbeiterin eines Unternehmens auf die Probe zu stellen. Bisweilen jedoch erscheinen diese Subformen stärker daraufhin ausgerichtet, interessierte Bewerberinnen nicht nur nach erfolgter Bewerbung nach Kompetenz zu selektieren, sondern gesuchte Fachkräfte einzuladen und ihr Interesse für die Arbeit im jeweiligen Unternehmen zu wecken. So gestaltet sich der Bewerbertag mitunter als eine Mischform aus Personalauswahl- und -rekrutierungsverfahren mit Zügen eines ‚Tages der offenen Tür‘ für kompetente Fachkräfte, bei dem auch eine noch nicht erfolgte Entscheidungsfindung für die Firma von Seiten der Bewerberin berücksichtigt wird, was sich auf Strategie und Machtrelationen dieser Rekrutierungsform auswirkt: Hier bewirbt sich nicht nur die Bewerberin, bis zu einem gewissen Grad wird sie auch von der Firma umworben.11 Development Center und Potentialanalyseverfahren wiederum sind Varianten von Assessment-Center-Verfahren, die zur Qualitätssicherung, zur Weiterbildung, zur Prüfung von Kompetenzen sowie zur firmeninternen Vergabe vakanter Positionen mit dem bereits bestehenden Mitarbeiterstab durchgeführt werden. Hierbei geht es nicht um die Entscheidung, eine externe Bewerberin einzustellen, sondern um eine firmeninterne Neubesetzung oder darum, Wissen über die bereits Angestellten zu generieren und so Selbstoptimierungsprozesse anzustoßen. In zweiter Reihe kann es allerdings auch um den Erhalt oder Verlust des Arbeitsplatzes gehen, da hier auch Wissen darüber generiert wird, wer ‚erhaltenswert‘ ist und über wem in Zukunft das Damoklesschwert der Entlassung hängen könnte.12 Modulform der Assessment-Center-Verfahren Das Assessment-Center-Verfahren ist ein äußerst heterogenes Phänomen, das sich historisch wie von Firma zu Firma, als auch firmenintern unterschiedlich darstellen kann und je nach Bedarf der vakanten Stelle in seiner
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Assessment Center und Applied Theatre
Modulform angepasst wird. Dabei treten auch Segmente auf, die keinen oder nur einen sehr geringen theatralen Charakter aufweisen, wie etwa ein erweitertes Auswahlgespräch, Präsentationen, schriftliche Aufsätze, computergestützte Aufgaben, Intelligenztests, Bastelaufgaben in Gruppen und mathematische Tests. Selbstverständlich können auch eine Präsentation von kurzen, erarbeiteten Themen vor einer Gruppe oder das erweiterte Personalgespräch mit dem Vokabular der Theatralitätsforschung oder einer soziologisch eingefärbten Theatermetapher analysiert werden. Von Interesse sollen hier aber zunächst jene Formen sein, deren Charakter sich dem Korpus des Applied Theatre annähert und die explizit nicht lediglich als ‚theatral eingefärbt‘, sondern als Theater bezeichnet werden sollen. Es werden also Methoden in diesen erweiterten Personalauswahlverfahren eingesetzt, die sich von einer Arbeitsprobe der Fachkompetenzen oder sogenannten Hard Skills, wie etwa der Prüfung von fachspezifischen Sach-, Fremdsprach- und IT-Kenntnissen, oder aber auch von der Einschätzung von personaler, sozialer sowie Sachkompetenz in einem erweiterten Auswahlgespräch durch Aspekte unterscheiden, die die Sphären von Theater, Spiel und Wirtschaft enger als andere Module verflechten. Mehr noch, den Modulen mit einem im Verlauf dieses Kapitels noch näher zu erläuternden theatralen Charakter wird ein nicht unerhebliches Gewicht innerhalb des gesamten Verfahrens zugesprochen: Im Mai 1975 hielten Arbeits-, Betriebs- und Organisationspsychologen (ABO-Psychologen) sowie Personalreferenten aus Unternehmen den Third International Congress on the Assessment Center Method ab und definierten erstmals gemeinsam Qualitätsstandards und ethische Richtlinien einer Personalauswahl- und -schulungsmethode, die bis dato eher informell implementiert und weiterentwickelt wurde. Unter den Mindestvoraussetzungen für ein standardisiertes Assessment-Center-Verfahren forderte die Task Force on Assessment Center Operations: At least one of these techniques must be a simulation. A simulation is an exercise or technique designed to elicit behaviors related to dimensions of performance on the job by requiring the participant to respond behaviorally to situational stimuli.13 An diesem Prinzip wird bis heute weitestgehend festgehalten. Der Arbeitskreis Assessment Center e. V., der sich um die Standards des Verfahrens im deutschsprachigen Raum bemüht, schreibt im Jahr 2016 im Zusammenhang mit Simulationsübungen anders als die US-amerikanische Task Force on Assessment Center Operations zwar nicht von obligatorischer Minimal-
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1 Personalauswahlverfahren als theatrale Prozesse
bedingung, legt aber dennoch eine starke Emphase auf diese Module, wenn er betont: Herauszustellen ist die Nutzung von Simulationen als spezifisches Charakteristikum des AC-Ansatzes (Simulationsprinzip), die einen unmittelbaren Zugang zu komplexen berufsbezogenen Verhaltenskompetenzen ermöglichen. 14 Der Einsatz von Methoden, anhand derer Kompetenzen durch Simulation einer Alltagsszene aus dem Arbeitsumfeld oder einem spielerischen Setting sowie der beobachteten Performance eines Kandidaten eingeschätzt wird, ist in der Praxis also nicht lediglich ein mögliches Modul unter vielen, sondern theatrales Herzstück eines jeden Assessment-Center-Verfahrens. So findet man etwa die spielerische Inszenierung von Alltagsrealität im Unternehmenskontext wie die Postkorbübung, die einen typischen, komplexen Arbeitsvorgang in der Firma simuliert. Hier kann je nach Art der Ausführung bereits ein starker Grad von Fiktionalisierung durch einen Spielrahmen sowie gleichzeitig ein performativer Charakter der selbstreferentiellen und Wirklichkeit konstituierenden Handlung vor Zuschauenden in der Prüfung identifiziert werden, in der die Bewerberin sich zu verschiedenen, imaginierten Terminkonflikten und Druck erzeugenden, narrativ gesetzten Rahmenbedingungen verhalten muss.15 Sie soll hier z. B. aufzeigen, wie sie unter Stress typische Arbeitsabläufe priorisieren kann, so dass ihre Handlungen zugleich in fiktiver Rahmung als auch realitätskonstituierend zu qualifizieren sind. Wird in der Postkorbübung zumeist kein direkter Spielpartner der Bewerberin eingesetzt, zu dem sie sich in irgendeiner Weise verhalten müsste, um ihre kommunikativen und intersozialen Fähigkeiten unter Beweis zu stellen, ist sie zur Beobachtung ihrer Reaktionen doch auf eine Art von Bühne mit fiktionalisierenden Elementen gehoben. So muss sie in einer gesetzten Zeitspanne und einer exponierten Raumposition Handlungen für Beobachter durchführen, mit denen zwar durchaus konkrete Kompetenzen wie organisatorisches Talent abgeprüft werden. Allerdings kann man auch davon sprechen, dass sie bereits in dieser vergleichsweise reduzierten Spielsituation ohne Spielpartner fähig sein muss, ‚sich selbst zu spielen‘. Denn hinzu kommt eine fiktionalisierende Rahmung um diese Aufführung der Arbeitspersönlichkeit herum, die die Spielsituation vorgibt: Die Bewerberin muss – ein zukünftiges Ideal-Ich entwerfend – sich bereits auf der Stelle imaginieren, für die sie sich erst bewirbt. In einer Variante der „willing suspension of disbelief“16 werden die anwesenden Prüferinnen ignoriert und auch die Terminkonflikte, die
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Assessment Center und Applied Theatre
die E-Mails, Klebezettelnotizen von Kolleginnen, ein schriftlicher Terminkalender oder auch ein Telefonanruf erzeugen, sind rein fiktional und haben, bezogen auf ihren narrativen Gehalt, eine konsequenzverminderte17 Bedeutung über die Spielebene hinaus. Wird etwa ein fiktionales Meeting aufgrund von Priorisierung anderer Arbeitsabläufe abgesagt, so hat dies, da der Termin lediglich Teil eines Spiels ist, selbstverständlich auch keine Konsequenzen für die rein fiktiven Teilnehmerinnen des Meetings. Bedeutungslos ist das narrative Versatzstück außerhalb der Klammer ‚Spiel‘ allerdings auch nicht, da aus ihm Rückschlüsse auf die Realität außerhalb des Spielrahmens, nämlich auf Stressresistenz, Eignung und Kompetenz der Bewerberin, gezogen werden. Die Postkorbübung verflechtet Spiel, Simulation und Arbeit und gehört zu jenen Modulen von Personalauswahlverfahren, in denen ein theatraler – und mehr noch – ein Applied-Theatre-Charakter identifizierbar ist. Darauf, was es im Zusammenhang von Eignungsprüfung und Applied Theatre bedeuten mag, davon zu sprechen, ‚sich selbst zu spielen‘, soll an späterer Stelle in diesem Kapitel eingegangen werden. Auch Gruppendiskussionen mit anschließenden Peer-Ranking- und -Rating-Prozessen können mit einem narrativisierenden, fiktionalen Spielrahmen einhergehen, der in den meisten Fällen allerdings keine Simulation beinhaltet, wenig theatral ausgeschmückt, kaum immersiv ist und dementsprechend auch nicht performativ ausgeschöpft wird. Eine Gruppe von Bewerberinnen oder Mitarbeiterinnen in der Potentialanalyse wird hier etwa vor die Aufgabe gestellt, sich auszumalen, sie würden gemeinsam zum Survival-Urlaub auf eine einsame Insel aufbrechen oder aber auch in ihrer Raumstation gebe es ein Problem mit dem Lebenserhaltungssystem. Zu dieser Spielrahmung wird meist in schriftlicher Aufgabenstellung eine Liste mit Dingen zur Verfügung gestellt – Draht, Fernseher, Schweizer Taschenmesser, Plastikplane, Handy, Konservendose, Nagellack etc. Die Bewerbergruppe wird im Verlauf des Moduls von den Anleitern der Übung aufgefordert zu erwägen, welche dieser Dinge etwa zum Survival-Urlaub mitgenommen werden sollten. Dabei ist die Anzahl der Gegenstände, die ausgewählt werden können, begrenzt, so dass durch die Diskutanten eine Auswahl getroffen und vertreten werden soll. Ziel der Übung – dies ist kein Geheimwissen, sondern vielen Bewerberinnen, die sich durch Ratgeber, Internetforen oder persönlichen Austausch auf ein erweitertes Personalauswahlverfahren vorbereiten, vertraut – ist hierbei keinesfalls, die pragmatischste und effizienteste Prioritätenliste zu erstellen. Im Fokus steht vielmehr, mit welchen kommunikativen Strategien die Bewerberin in der Gruppe für ihre Gegenstände wirbt und wie sie dazu beiträgt, die Liste zu erstellen. Ist man aggressiv, passiv, wird man zur Wortführerin,
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1 Personalauswahlverfahren als theatrale Prozesse
verhandelt man mit Empathie, Witz oder Starrköpfigkeit? Die sich entfaltende Szene, die von den Übungsleiterinnen beobachtet und ausgewertet wird, trägt Anteile von Spiel wie von psychologischem Experiment in sich und ist in ihrer Anordnung von Zuschauerinnen und exponierten Spielern theatral zu nennen, obgleich das authentische Ausspielen der fiktionalen Rahmung, die etwa in einem Rollenspielmodul obligatorisch wäre (hier etwa Verzweiflung und Trauma aufgrund des zusammenbrechenden Lebenserhaltungssystems der Raumstation), selbstredend sozial unerwünscht und deplatziert wäre. Eine Art unfreiwilliges wie unsichtbares ‚Theater‘ ist das Beispiel des seltener und meist18 nur bei mehrtägigen Gruppen-Assessments zum Einsatz kommenden Gabeltests. Bei einem den Tag beendenden Abendessen kommen hier alle Bewerberinnen und Anleiter in nur scheinbar ungezwungener Atmosphäre zusammen. Allerdings ist der Assessment-Prozess keinesfalls vorbei, denn die Bewerberinnen befinden sich weiterhin unter Beobachtung und sind auf eine Bühne gehoben, die ihre soziale Interaktion auf die Probe stellt. Dies kann, wenn die Bewerberin aufmerksam bleibt oder durch Ratgeber und vorbereitende Kurse vertraut mit solchen Verfahren ist, mit ihrer Kenntnis, durchaus aber auch ohne ihr Wissen geschehen. Der Rahmen dieses Moduls wird als ‚ungezwungen‘, als ‚lockere Atmosphäre‘ in Abgrenzung zum Stress der Tests, Präsentationen, Rankings und Rollenspiele gesetzt, gerade um zu sehen, wer unter den Bewerbern es geschafft hat, eine seriöse und kompetente Maske nur so lange aufrecht zu erhalten, bis eine Situation auftritt, die als Grauzone zwischen Arbeit und Freizeit ausgelegt werden kann und in ihrer Mehrdeutigkeit nicht transparent gerahmt ist. Reden die Bewerberinnen nun am Tisch über sozial inakzeptable Themen? – Gewarnt wird in Bewerbungsratgebern etwa vor Politik oder Krankheit.19 Beherrscht man den Ton des Smalltalks, der auch bei Arbeitsessen mit Geschäftskunden erwünscht wird, ist man zu introvertiert, verabschiedet sich zu früh aus den Gesprächen oder ist man zu ausgelassen, schrill oder geschmacklos? Trinkt man gar zu viele Gläser Wein oder sein Bier aus der Flasche? Bedeutet die Anweisung, in business casual zu erscheinen, in einem alteingesessenen, westdeutschen Dax-Konzern etwas anderes als in einem Berliner Start-up-Unternehmen? Ist es dort wiederum ein Fauxpas, das Bier aus dem Glas zu trinken, da casual die neue Uniform ist? Im Vorteil scheinen sowohl der gut vorbereitete wie der ‚paranoide‘ Bewerber, der kompetente, stets selbstidentisch auftretende Selbstdarsteller wie der „High-Self-Monitorer“20, der darum bemüht ist, zwar dazuzugehören, aber deswegen nicht einfach nur mit der Masse zu verschmelzen, sondern an den richtigen Stellen mit pointierten Setzungen aufzufallen. Aber auch die Möglichkeit, dass der Bewerberin
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Assessment Center und Applied Theatre
die gewünschten Kompetenzen vermeintlich in die Wiege gelegt wurden, so dass sie kaum Energie für die Inszenierung des Selbst aufbringen muss, sollte nicht ausgeschlossen werden. Es kann generell nicht davon ausgegangen werden, dass nur eine Technik der authentischen Inszenierung des Selbst zum Ziel führt, doch gerade im Modul des Gabeltests steht insbesondere die ‚Authentizität‘, die als Konzept von jeher einen rezeptionsästhetischen Effekt auf Zuschauende beschreibt und damit dennoch nicht lediglich Schein, sondern gerade auch durch ästhetische Inszenierung hervorgebrachte Wirklichkeit meint,21 auf dem Prüfstand. Meistern kann diesen Authentizitätstest dabei sowohl diejenige, die sich in ihrer Rolle am Abend als selbstidentisch empfindet, als auch derjenige, der ein hohes Maß an Energie in Selbstdarstellungstechniken und Kontrolle investiert.22 Auch an dieser Form der Prüfung wird deutlich, wie letztendlich alle theatralen Module von Assessment-Center-Verfahren zugleich als Theater als auch als antitheatral zu qualifizieren sind, da mit Mitteln des Spiels, bewusst durch Irritation und Stress herbeigeführter Bruchmomente und der markierten wie unmarkierten Rahmensetzung um soziale Situationen geprüft wird, ob die erwünschten Masken so fest sitzen, dass sie nicht vom Gesicht fallen, wenn man an ihnen zerrt, oder aber, ob das Gesicht nie eine Maske trug.23 Eines der häufigsten24 Module von Assessment-Center-Verfahren aber ist das Rollenspiel. Hier tritt am deutlichsten der theatrale Charakter in den Vordergrund. In diesen Simulationsmodulen wird die Bewerberin mit der Forderung nach ‚Authentizität‘ in einer Spielrahmung beobachtet, die ihrer späteren Alltagssituation auf der Arbeit entsprechen soll. Sowohl Laienschauspieler – etwa Mitarbeiter aus der entsprechenden Firma – als auch professionelle Schauspielerinnen, die sich auf Personalauswahlverfahren spezialisiert haben, können hier zum Einsatz kommen und schwierige Kunden, problematische Mitarbeiterinnen, Geschäftspartnerinnen oder Kollegen in einem Meeting verkörpern.25 Schon in einer frühen Studie zur Implementierung von Assessment-Center-Prozessen aus dem Jahr 1977 merkt William C. Byham, Arbeits-, Betriebs- und Organisationspsychologe, Gründer und Vorsitzender der Unternehmensberatung Development Dimensions International, den man als einen der Väter der Verbreitung der Assessment-Center-Methode nennen kann, zum Rollenspielpartner des zu prüfenden Kandidaten in theatralen Modulen ästhetische Probleme der Schauspielqualität an: Many assessment exercises call for an assessor to respond to a partic ipant in some way. The assessor may play the role of an employee with whom the participant must conduct an appraisal interview, an
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1 Personalauswahlverfahren als theatrale Prozesse
irate customer whom the participant must interrogate and appease, a customer whom the participant must sell, or a top executive receiving a report of an analysis delivered by a subordinate employee (assessee). Detailed instructions on how to play these roles are provided assessors [sic]. The opportunity for assessors to practice role playing prior to acting as an assessor is a must. Assessors exhibit a marked tendency to overplay roles unless well trained.26 Auch der ABO-Psychologe George C. Thornton beschreibt in seiner Studie zur Implementierung von Assessment-Center-Prozessen aus dem Jahr 1992 Herausforderungen beim Einsatz von Rollenspielmodulen, deren Lösung späterhin die Entwicklung des sogenannten Seminarschauspiels27 lieferte: One disadvantage of the interview simulation is the need for a role player, which increases staffing needs. A solution is to have the assessor play the role of the interviewee, but this in turn causes another problem for the assessor who must then carry out two difficult functions simultaneously. Another potential problem of one-on-one exercises is that the interviewee may not play his or her role consistently from one participant to the next. This problem can be controlled through proper training of role players and careful monitoring by assessors.28 Die für die hier vorliegende Studie relevante und im Folgenden noch näher zu fokussierende Applied-Theatre-Variante des Seminarschauspiels antwortete offenbar direkt auf diesen Bedarf und ließ die Auswahlkomitees die Verantwortung für die Qualität des Rollenspiels zurück an den Beruf des Schauspielers delegieren. Externe Anbieter von Seminarschauspiel für Assessment- und Development-Prozesse wiederum argumentieren explizit bei der Bewerbung ihrer Methoden für die gleichbleibende Qualität des Spiels im Rollenspielmodul, die gerade durch den Seminarschauspieler aufgrund von dessen professioneller Schauspielausbildung gewährleistet wird.29 Muss etwa eine im Schauspiel ungeübte Führungskraft in einem Potentialanalyseverfahren sechs ihrer Servicekräfte über einen langen und anstrengenden Tag hinweg als Rollenspielpartnerin prüfen, so mag es sein, dass sie rein unbewusst durch die Qualität ihres Spiels unfaire Bedingungen schafft. Spielte sie z. B. eine unzufriedene Kundin und alle Servicekräfte würden nacheinander an derselben Stelle einen Kapitalfehler in der Beratung begehen, so könnte es sein, dass die ungeübte Spielerpartnerin ihre Rolle als Kundin durch wachsenden Unmut von Mal zu Mal schwieriger anlegte, so dass letztendlich der sechste Kandidat unter völlig anderen Grundvoraussetzungen spielen würde als der erste. Selbst leichte Faktoren
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wie über den Verlauf eines langen Prüfungstags auftretende Erschöpfung, Hunger oder Kopfschmerz könnten den Rollenentwurf eines Laien über mehrere Rollenspielmodule hinweg stark beeinflussen. Die Seminarschauspielerin dagegen hat in ihrer Ausbildung gelernt, darauf zu achten, die Intensität ihres Spiels exakt anzupassen und für gleiche Grundvoraussetzungen für alle Kandidaten zu sorgen. Speziell jene komplexen Formen von erweiterten Personalauswahlverfahren, in denen solche Seminarschauspielerinnen eingesetzt werden, schlagen hier nun zugleich die Brücke zum Applied Theatre, denn in den Unternehmenstheatervarianten des Seminarschauspiels wird mit Methoden und Schauspieltheorien gearbeitet, die als inspiriert von theaternahen Therapieformen und politischem Theater erscheinen. In ihnen kommt nicht lediglich eine von theaterfernen Laien konzipierte Simulation zum Einsatz: Theaterschaffende erheben mit performativen Praktiken konkrete Daten, generieren profitorientiertes Wissen, sind im Anschluss an das Spiel mitverantwortliche Entscheidungsträger in der Personalpolitik eines DAX-Unternehmens und werden zu Experten und Vorbildern für Kommunikationsstrategien und Modulation der Arbeitspersönlichkeit in der Sphäre der Wirtschaft. Der Seminarschauspieler – ein professioneller Schauspieler mit Zusatzausbildung für speziell diese Kontexte – wirft in diesem Zusammenhang Fragen über die Verflechtung von Arbeit, Theater, Persönlichkeit und Spiel auf. Um diese Module der erweiterten Personalauswahl- und Potentialanalyseverfahren mit theatralem Charakter dem Korpus des Applied Theatre zuzurechnen und somit zugleich Theater zu nennen, soll im Folgenden zunächst der historische Brückenschlag des Assessment-Center-Verfahrens zum Theater im Allgemeinen sowie zum Unternehmenstheater in den Fokus genommen werden. Daran anschließend soll der Korpus der äußerst heterogenen Theatergattung Applied Theatre umrissen werden, um aufzuzeigen, wie Unternehmenstheater und theatrale Personalauswahlverfahren hierin verortet werden können. Danach sollen in der konkreten Fallanalyse eines Development-Center-Verfahrens mit Einsatz eines Seminarschauspielers die Theateraspekte dieser Veranstaltungen vor dem Hintergrund des Feldes des Applied Theatre betrachtet werden.
2 Assessment Center avant la lettre Betrachtet man das Unternehmen als eine soziale Struktur, die – bis zu einem gewissen Grad wie eine Gemeinschaft – in sich geschlossen ein eigenes kulturelles Regelwerk mit eigener Sprachregelung und eigenem Habi-
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tus aufstellt – durch Wendungen und Konzepte wie Unternehmenskultur, Firmenphilosophie oder Corporate Identity bei weitem kein abwegiges Gedankenkonstrukt –, so steht am Ausgangspunkt eines Assessment Centers avant la lettre wie am Anfang aller performativer Kulturen das Übergangsritual, in diesem Fall die Initiation. Der theaterwissenschaftlichen wie ethnologischen Lesart der anthropologischen Forschung Victor Turners folgend, wird ein Individuum durch einen Ritus in die Gemeinschaft aufgenommen, der es zunächst in einen Zustand von Liminalität versetzt.30 Die im zweiten Kapitel dieser Studie weiter verfolgte, ästhetische Kategorie des Spiels vermag dabei eine Klammer um einen bestimmten Raum und eine bestimmte Zeit zu setzen, in der ein eigenes Regelwerk gilt, während ein Stellvertreter der Gemeinschaft in machtvoller, gehobener Position, ein Vermittler zwischen den Welten – eine Art ‚Schamane‘, wenn man so will – die kulturellen, performativen Handlungen ausführt, um etwa einen Jugendlichen in die Gemeinschaft der Erwachsenen zu initiieren. Das Ritual ist damit zugleich selbstreferentiell als auch wirklichkeitskonstituierend – es hat nicht nur scheinbar oder im Spiel, sondern auch in der von allen in der Gemeinschaft geteilten Auffassung von Realität den Status eines Menschen verändert.31 Gemeinsam mit John Austins Sprechakttheorie32 und Judith Butlers Konzept performativ hervorgebrachter Geschlechts identität33 ist Turners Ritualtheorie damit zur Grundlage der Performance- Studies und zugleich zu einem Grundlagentext aktueller Theaterforschung avanciert.34 Auch im Assessment Center nun möchte ein Individuum ohne Status in dieser Gemeinschaft Zutritt zur Teilhabe am Unternehmen als Mitarbeiter erhalten.35 Ein Vertreter dieser Gemeinschaft mit machtvoller Position versetzt dabei im Rollenspielmodul des Assessment Centers unter Zuhilfenahme der ästhetischen Kategorie Spiel dieses Individuum in eine liminale Phase – „betwixt and between“36 and in between jobs –, zugleich arbeitsuchend, aber im Spiel schon auf der Stelle befindlich, für die es sich bewirbt. Die Kandidatin ist in dieser liminalen Phase, wie vorangehend schon bei der Postkorbübung angemerkt, zu einer interessanten Variante der willing suspension of disbelief37 angehalten – beschreibt dieses Konzept im Normalfall die Haltung der Zuschauerin, die sich wissentlich und willentlich auf die Authentizitätseffekte einer Fiktion einlässt, um sie ästhetisch wie auch affektiv genießen zu können, so lässt sich an den Prüfungen des Assessment-Center-Rollenspiels die Beobachtung machen, dass diese Haltung unkonventioneller Weise für die Theatersituation auf Seiten eines der Schauspieler abverlangt wird: Hierbei müssen die Prüfer plötzlich behandelt werden, als wären sie nicht im Raum anwesend, die Diegese des Spiels muss ‚ernst‘ genommen werden, um durch die spielerische Simulation einer
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Situation authentische Reaktionen zu zeigen. Dies entspricht der Ästhetik wie schauspielerischen Haltung der vierten Wand im klassischen Theater mit umgekehrten Vorzeichen des Wahrnehmungsmodus von Zuschauerin und agierender Schauspielerin. Denn hier wird durch das ästhetische Arrangement um den Schauspieler-Kandidaten herum alles dafür getan, dass in seiner Wahrnehmung die Grenzen zwischen fiktionalem Setting und akuter Konfliktsituation im Arbeitsalltag verwischen, um reale, für die Prüfungskommission les- und interpretierbare Zeichen seiner Kompetenz zu evozieren. Die Konstellation ist also mehr als eine ungewöhnliche Variante der vierten Wand, es handelt sich um einen immersiv38 im Spiel aufgegangenen Mitspieler in einer liminalen Phase. Eine Depotenzierung und Verunklarung der Sicht des Schauspielers in der Theatersituation ist dabei in der klassischen Theatertheorie generell eher ungewöhnlich. Als historische Ausnahme in der Schauspieltheorie des Kunsttheaters findet dies seine Entsprechung in den Ausführungen Pierre Rémond de Sainte-Albines über den ‚heißen Schauspieler‘: Wollen tragische Schauspieler uns täuschen, so müssen sie sich selbst täuschen. Sie müssen sich einbilden, das würklich zu seyn, was sie vorstellen, und eine glückliche Raserey muß sie überreden, daß sie selbst diejenigen sind, die man verräth oder verfolgt. Dieser Irrthum muß aus ihrem Gehirn in ihr Herz übergehen, und öfters muß ein erdichtetes Unglück ihnen wahrhafte Thränen auspressen.39 Generell aber bindet dieses Prozedere in seinen Machtrelationen das Assessment-Center-Verfahren an das Ritual, an therapeutisches Theater sowie an Varianten des immersiven Spiels, in denen die Mitspielerin mit dem System oder den anderen Mitspielern um Kontrolle ringen muss: Live action role-playing games, Varianten des Computerspiels wie auch das immersive Theater. Der rituelle Transformationsgedanke leitet auch die Potentialanalyse und Entwicklung von Mitarbeiterinnen im Development Center, die sich zwar bereits in der Gemeinschaft befinden, hierin aber einen höheren Status anstreben – wie etwa ein bereits initiierter Mann innerhalb einer Gemeinschaft, der den Status eines Schamanen anstrebt. Mag es zunächst wie eine Polemik oder einem Beginn ‚bei Adam und Eva‘ anmuten, die rein hypothetische Vorgeschichte des Assessment Centers an einem so grundlegenden Modell wie dem der „rites de passage“40 festzumachen, ist doch festzuhalten, dass zumindest in den Workshops zur Effizienzsteigerung und zu Teambuilding-Maßnahmen des Unternehmenstheaters die kulturellen Appropriationen von Übergangsritualen indigener Bevölkerungen
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nicht lediglich Gedankenspiele darstellen, sondern sofort online buchbar auf Kunden warten.41 Dies führt die theaterwissenschaftlich-ethnologische Theorie des Übergangsrituals mit der Initiation in die Gemeinschaft des Unternehmens durch Assessment Center am konkreten Beispiel eng. Wenn allerdings im Paradigma des performative turn das Spiel und das Performative zum Ursprung wie zum Trägermedium der Kulturen an sich avancieren, muss daraus auch unweigerlich folgen, dass bezogen auf diese Studie kein bemerkenswerter Mehrwert in der Erkenntnis liegt, dass folglich auch die Unternehmenskulturen in ihrem Kern von rituellen und performativen Praktiken durchwebt erscheinen – vielmehr ist dies lediglich eine konsequente und sehr nahe liegende Schlussfolgerung innerhalb des Paradigmas. Schulungen und Prüfungen der Umgangsformen und die Konstruktion sozialer Identität durch einen Habitus liegen etwa, um nur einige Beispiele anderer Epochen und Systeme heranzuziehen, auch den adeligen wie bürgerlichen Etikettenratgebern, dem Knigge, den ‚Benimmfibeln‘, den Schulen für höhere Töchter, der Ausbildung in Repräsentationsberufen, den Jugenderziehungslagern von Kommunismus und Faschismus und auch bis zu einem gewissen Grad die ‚Erziehung‘ zum Konsumenten einer Sub- oder Fankultur im Neoliberalismus zugrunde. Um also den Gegenstand nicht zu verwässern, indem eine längst dargelegte Performativität der Kulturen selbst zum Kern der Beobachtung erklärt wird, muss die Konstellation konkretisiert werden: Es geht wortwörtlich und eben nicht nur im übertragenen Sinn um ein Theater, das Prüfung oder Schulung für den theatralen Arbeitsalltag darstellt. Die Disziplin berücksichtigend, aus der heraus die hier vorliegende Studie verfasst wird, werden dabei bewusst die Ursprünge jener Module und Aspekte von Assessment Centern außer Acht gelassen, die sich um die standardisierte Prüfung von Sachkompetenzen und Hard Skills ohne Simulationsprinzip bemühen42 – die Literatur spricht hier etwa von einem System der Beamtenprüfungen in China, dessen Geschichte annähernd 1400 Jahre zurückverfolgt werden kann.43 Obgleich – nicht zuletzt aus Mangel an Überlieferung und Quellen – wenig theaterhistorische Forschung den Prozess beschreibt, so ist doch anzunehmen, dass ein durchaus legitimer Ursprung einer Theaterform als Eignungsprüfung für den theatralen Arbeitsalltag das Vorsprechen des Schauspielers für eine Rolle in einer ziehenden Truppe oder einem Stadttheater an sich darstellt. Diese aus der Sicht der Theaterwissenschaft zunächst einmal recht profane Erkenntnis ist doch in den Ausführungen zum Assessment Center avant la lettre grundsätzlich und selbst von der einen theaterwissenschaftlichen Perspektive, die Verbindungen zwischen dem Theater und den erweiterten Personalauswahlverfahren herstellen
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möchte – Katja Rothes theaterhistorischer Beitrag „Spekulative Praktiken. Zur Vorgeschichte des Assessment Centers“44 – nicht weiter verfolgt worden. Rothe allerdings fokussiert sich auf konkrete, historische Verbindungslinien, nicht auf hypothetische Vorbilder. Den Chronisten der Assessment-Center-Verfahren anderer Disziplinen generell wiederum mag diese geistige Verwandtschaft zwischen Personalauswahlverfahren und Casting-Prozess im Theater widerstreben, da das Vorsprechen für die Bühne für sie die Kompetenzprüfung für die komplette Verstellung der persona darstellt, während im Assessment Center für die Realität, für die Dispositionen der Kompetenzen der Persönlichkeit vorgesprochen wird. Allerdings hat das Assessment Center dabei in den USA durchaus auch eine konkrete Vorgeschichte der Ausbildung von Spionen, die im feindlichen Ausland eingesetzt wurden, einer Art von Arbeit also, die, durchaus belegt durch den Direktor des US-Auslandsgeheimdienstes OSS, Donald MacKinnon, auch die komplette Verstellung der persona mit sich bringt.45 Aktuelle Konzepte von Verkörperung, die den Schauspielerkörper nicht komplett semiotisiert hinter einer Figur in einer zweiten Welt verschwindend denken,46 würden zudem ein Vorsprechen des Schauspielers vielmehr als Eignungsprüfung des Materials deuten, das dem Schauspieler zur Verfügung steht: zunächst der individuelle Gestus und Habitus noch vor der Modulierung, die Haltung, die Stimme, die ihn dazu befähigt, nicht nur die eine Rolle zu verkörpern, sondern generell als Schauspieler in einer Truppe oder einem Ensemble zu arbeiten. Mehr noch, um sich an einer deutschen Schauspielschule zu bewerben, ist es nicht unüblich, der Bewerbung ärztliche Gutachten von HNO-Spezialisten und Orthopäden über den Gesundheitszustand von Bewegungs- und Sprechapparat – verwandt mit der Musterungsuntersuchung beim Militär – beizufügen. So sind Anteile der Kernkompetenzen und kommunikativen ‚Soft Skills‘ des Mitarbeiters im Unternehmen wie generell sein Körper die ‚Hard Skills‘ des Schauspielers. „Ausdrucksdiagnose – also [… die] Analyse von Mimik, Gestik, Motorik, Pantomimik, Physiognomik und Handschrift“47 stellen wiederum keine Auflistung von Casting-Kriterien für das Theater, sondern für die ersten Vorformen von Assessment Centern im Kontext des deutschen Militärs dar.48 Wohlgemerkt sind das Übergangsritual wie das Vorsprechen am Theater in dieser Beobachtung rein hypothetische, geistige Vorläufer theatraler Auswahlverfahren, die direkte Linie der Entwicklung der Form wird in der Fachliteratur anders nachgezeichnet. In der kanonischen Genealogie49 des Assessment Centers treffen Theater und Eignungsprüfung zuerst durch die theatralen Aspekte der Kriegsführung unter dem Eindruck des Ersten Weltkriegs Anfang der 1920er Jahre aufeinander:
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Es geht um eine Internalisierung der Prüfungssituation und eine Theatralisierung des eigenen Verhaltens, darum, sich als jederzeit und unter jeder Bedingung handlungsfähige ‚Persönlichkeit‘ zu präsentieren.50 So interpretiert Katja Rothe die ‚Heerespsychologische Eignungsprüfung‘ für Offiziere in der Reichswehr, verortet diese Methode in ihrer Analyse dabei als Ausgangspunkt des modernen Assessment Centers und nennt sie das „Theater der Selbstaufführung“51. Rothe legt als eine der wenigen Theaterwissenschaftlerinnen, die sich dem Theater des Assessment Centers in historischer Perspektive angenommen haben, die Entwicklung des Verfahrens bis zu dieser Engführung von Theatralität, Testverfahren, Persönlichkeitspsychologie und Krieg in ihrem Artikel „Spekulative Praktiken – Zur Vorgeschichte des Assessment Centers“ akribisch dar. So liegen die Wurzeln dieser Eignungsprüfungen in den Verfahren zur Offiziersauslese des deutschen Heeres, die Anfang der 1920er Jahre in Berliner und Leipziger Universitätsinstituten der Psychologie entwickelt wurden.52 Rothe führt an, dass noch im ausgehenden 19. Jahrhundert der Offiziersstand im deutschen Militär nicht länger nur nach Geburtsadel vergeben wurde, sondern auf den sogenannten ‚Adel nach Gesinnung‘ ausgeweitet wurde. Wird damit der Offiziersgrad nicht länger nur nach Stand, sondern auch nach Kompetenz vergeben, so ist es offenbar die Erfahrung des Weltkriegs, die zu einem Testverfahren führt, das 1917 erstmals auch psychologische Prüfungen z. T. der allgemeinen Untersuchung auf Diensttauglichkeit macht.53 Rothe zeichnet mit der Entwicklung einer „charakterologischen Grundmethode“54 in der Offiziersauslese durch Johann Baptiste Rieffert im Jahr 1920 weitere Entwicklungslinien hin zum modernen Assessment-Center-Verfahren in der Zusammenarbeit von Psychologen und Heer nach.55 Für den Anfang der 20er Jahre des 20. Jahrhunderts schließlich spricht sie davon, dass es in den Prüfungen explizit um Persönlichkeit geht, für das Jahr 1927 beschreibt sie die Verfahren als etabliert: Das sogenannte heerespsychologische Auswahlverfahren musste ab 1927 jeder Offiziersanwärter der Reichswehr durchlaufen, was zur Aufstockung der Prüfstellen und Gutachter führte. Psychologen wurden nunmehr in großer Zahl als Rekrutierungs- und Formierungsexperten eingestellt, was zur Folge hatte, dass das Psychologiestudium dezidiert mit der Perspektive aufgenommen wurde, Beamter der Wehrmacht zu werden.56
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Während das Verfahren in der Wehrmacht im Jahr 1942 abgeschafft wird,57 etabliert es sich während des Zweiten Weltkriegs nach Berichten über die Effizienz des deutschen Systems zur Offiziersauslese durch einen foreign service officer zunächst beim britischen War Office Selection Board in Großbritannien58 und wird schließlich beim US-amerikanischen Geheimdienst und Vorläufer der Central Intelligence Agency – dem Office of Strategic Service (OSS) – eingesetzt, wo auch der Begriff des Assessment Centers geprägt wurde.59 Bereits für diese Auswahlverfahren für Agenten des Auslandsgeheimdienstes der Vereinigten Staaten während des Zweiten Weltkriegs sind Schilderungen theatraler Rollenspielmodule überliefert: Although early OSS assessment procedures were crude, information from field operators and visits by OSS staff to foreign fields aided in improvement of the program. Both subjective and objective exercises were used, including the Otis Self-Administering Test of Mental Abilities, biographical data, and a vocabulary test. Some of the better known components were situational exercises designed to let participants demonstrate energy, intelligence, leadership, and the ability to work with others. These exercises included „Brook“, which presented the problem of moving a log and a rock across a stream. A construction activity, „Behind the Barn“, required the participant to build a wooden structure with large tinker toys, while being assisted by two uncooperative farm workers played by assessors. This exercise tested leadership and the ability to withstand stress.60 Die Implementierung der Assessment-Center-Methode beim OSS sowie die verschiedenen Module, mit für sich selbst sprechenden Titeln wie Killing the Mayor, Agent’s Room oder Interrogation Test zur Auswahl der Auslandsgeheimdienstmitarbeiter sind durch den Direktor der Ausbildungsstätte Station S des OSS, Donald W. MacKinnon, gut dokumentiert.61 So beschreibt MacKinnon eine verschärfte Form des Gabeltests, den inoffiziell beim OSS so genannten Liquour Test, bei dem in einer Freizeitpause zwischen Gruppendiskussions-Modulen so viel Alkohol gereicht wurde, wie die Kandidaten wünschten. Die unter Decknamen und erfundenen Biographien am Assessment Center teilnehmenden Anwärter wurden nun dahingehend geprüft, ob sie unter Alkohol in einem uneindeutig markierten Rahmen unachtsam ihre Masken fallen lassen würden.62 Wie theaternah die Rollenspielmodule des OSS dabei tatsächlich waren, wird in MacKinnons Schilderung des vorangehend erwähnten, offenbar in der Station S berüchtigten Moduls Behind the Barn deutlich. Seine Ausführung beinhaltet dabei sogar noch die Rollenbeschreibungen von
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Kippy und Buster, den unterstützenden Mitspielern, die den Kandidaten in der Spielsituation zur Weißglut bringen sollten: To measure resistance to stress and frustration tolerance, important facets of „Emotional Stability“, two situational tests were devised. Construction, which came to be known as Behind the Barn (for this was where this exercise was held), required the candidate to direct two helpers in the task of building a five-foot cube structure with seven-foot diagonals on the four sides, using a huge „tinker toy“ set of materials. The candidate had 10 minutes in which to accomplish the task. All the physical work was to be done by the helpers, junior staff members, who played the role of Kippy (passive, sluggish, and something of a stumblebum) and Buster (aggressive, critical, constantly making impractical suggestions). Both were insulting, faultfinding characters. In the history of Station S, this was never completed in the allotted time. Some candidates gained insight into the problem, but more often they became so involved and so frustrated that they had difficulty in handling their frustration and controlling their anger. A few physically attacked their helpers, and some asked to be relieved from the program after this exercise.63 Der Militärpsychologe MacKinnon wählt für das Feedbackgespräch zwischen Assessoren und Kandidaten nach dem oben beschriebenen Modul explizit Metaphern der theatralen Wirkungsästhetik, wenn er von Katharsis auf Seiten des Kandidaten spricht, sobald diesem eröffnet wurde, dass es nie um die Fertigstellung der Würfelstruktur, sondern um seine eigene Stressresistenz in angespannten Führungssituationen ging.64 Die Katharsis wird von MacKinnon dabei als ein Stadium emotionaler Instabilität gewertet, dem sofort der nächste Test auf dem Fuße folgte, indem man prüfte, ob der Kandidat nun versehentlich ohne die vorher nötigen Codewörter gegenüber den OSS-Mitarbeitern seinen wahren Namen preisgeben würde.65 Die Methode, durch provozierende Spielpartner authentische Reaktionen sowie Bruchmomente unter Stress bei zu prüfenden Kandidaten zu evozieren, wurde analog, wenn auch weniger drastisch, während der hier vorliegenden Studie in mehreren Development Centern für Verkaufs- und Service-Personal beobachtet. Joseph L. Moses, Experte für Assessment-Center-Verfahren in der US-Privatwirtschaft und selbst Personalreferent bei AT&T während der Standardisierung des Verfahrens, betont dabei die Verwandtschaft der Prüfungen des OSS zu den Methoden der erweiterten Personalauswahl- und
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Entwicklungsverfahren im US-amerikanischen Telekommunikationsunternehmen AT&T: In many respects, these early assessment center approaches have a great deal of relevance to the process as it is used today. In retrospect, it seems quite apparent that the procedures used for identifying a successful spy by the OSS, for example, bear a close relationship to the kinds of procedures used to identify a successful manager.66 Sowohl US-amerikanische Forschungsliteratur zur Geschichte des Assessment-Center-Verfahrens67 als auch Katja Rothes theaterhistorische Studie legen dar, dass der Einsatz von Assessment Centern im Kontext des militärischen Geheimdiensts das Verfahren in den USA etablierte und es von dort aus – und nicht etwa durch eine parallele Entwicklung – zum Einsatz und zur Ausreifung in der Privatwirtschaft kam: [Das Verfahren] wurde unter der Regie des Leiters des Office of Strategic Services (OSS), Henry Murray, der auch den Begriff des Assessment Centers prägte, weiterentwickelt und ab 1943 zur US-amerikanischen Agentenauswahl eingesetzt. Von hier aus gelangte die Methode schließlich erstmalig in ein wirtschaftliches Umfeld. 1956 wurde eine Langzeitstudie, die „Management Progress Study“ (MPS) in der American Telephone and Telegraph Company (AT&T) durchgeführt. AT&T prüfte erst Probanden aus dem mittleren, schließlich auch aus dem höheren Management. Das Assessment Center war entstanden.68 Joseph L. Moses zeichnet diese Entwicklung noch etwas akribischer nach, schildert zudem, dass außer in einem sehr begrenzten Rahmen innerhalb der CIA die Assessment-Center-Methode in den USA nach dem Zweiten Weltkrieg zunächst zum Erliegen kommt, bevor sie in der MPS-Studie bei AT&T erneut eingesetzt wird.69 Zudem erwähnt er vereinzelte Anwendungen der Methode in der zivilen Nutzung, die die MPS-Studie bei AT&T vordatieren: testweise in einigen akademischen Trainingsprogrammen in den USA und zur Auswahl von Supervisors in Goldminen in Südafrika.70 Das exakte Scharnier zwischen der militärischen Nutzung und dem folgenreichen Einsatz der Methode in der MPS-Studie bei AT&T allerdings kann keine der Autorinnen genau darlegen. In der besagten Management Progress Study (MPS) von AT&T zwischen 1956 und 1960 wurden 422 Mitarbeiter in Gruppen von zwölf Teilnehmern in Prozessen, die über dreieinhalb Tage verliefen, bewertet.71 In dieser Studie kamen als Module neben Gruppendiskussionen, Essays,
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Fragebögen und schriftlichen Testverfahren auch die theatralen Simulationen der Postkorbübung, des sogenannten, auf dem Rollenspielprinzip basierenden interviews72 und ein ‚business game‘ zum Einsatz.73 Zum ersten Mal und in Abgrenzung zur deutschen Methode wurden bei AT&T auch Mitglieder des Auswahlkomitees eines Assessment-Center-Prozesses eingesetzt, die keine ausgebildeten Psychologen waren.74 Dies, und eine nachweisbare Effizienzsteigerung der Rekrutierung bei AT&T, ebnete den Weg für eine großflächige Anwendung der erweiterten Personalauswahlverfahren nach Vorbild der MPS in der US-amerikanischen Privatwirtschaft, sowie im Verwaltungsapparat der Regierung, im Militär und bei der Polizei.75 Das Verfahren der MPS gilt nicht zuletzt auch als Muster für den Einsatz von Assessment-Centern außerhalb der USA.76 Entstanden als Antwort auf eine neue Form des Kriegs und unter dem Eindruck und der wechselseitigen Inspiration neuer ökonomischer Strömungen wie der Human-Relations-Bewegung77 werden somit Verfahren der Eignungsprüfung entwickelt, die, so Katja Rothe, sichtbar werden lassen, was durch andere Formen von Tests bisher nicht erfassbar war und unsichtbar blieb:78 „Selbststeuerung, emotionale Stabilität, Engagement, Kreativität, Spontanität, usw.“79 Soziale Kompetenzen, die vom Individuum weder durch direkte Qualifikation erworben werden noch ihm von Geburt an zueigen seien, sind entscheidend für die Auswahl und gelten zugleich als nicht mit herkömmlichen Methoden messbar. Diese „Dispositionen für ein selbstgesteuertes Handeln und Verhalten“80 können lediglich in direkter Beobachtung der Performanz von außen zugeschrieben werden – so führt Rothe Kompetenz als Effekt des theatralen Ausdrucks des Selbst und Performanz in ihren Ausführungen zusammen.81 Das Mittel zur Analyse in diesem Theater nennt Rothe explizit „Aufführung“82, den gesamten Prozess in Anlehnung an Erving Goffmans Gebrauch der Theatermetapher in der Soziologie, eine „Dramatologie des Spekulativen“83 – eine Inszenierung des Selbst im Handeln des Alltags in einem Geflecht der Eigen- und Fremdbeobachtung.84 Rothe verweist nicht zuletzt darauf, dass das vormals militärische Verfahren in der Privatwirtschaft bald darauf nicht mehr lediglich zur Rekrutierung und Einstellung neuer Mitarbeiterinnen, sondern auch zur Generierung von Wissen über den bestehenden Mitarbeiterstab in Potentialanalyseverfahren, Development Centern etc. eingesetzt wird.85 An dieser Stelle kommt es zu einer bisher in der Literatur zum Assessment Center weitestgehend ignorierten Engführung der erweiterten Personalauswahlverfahren und der partizipatorischen Varianten des ohnehin in der Theaterwissenschaft bisher kaum beachteten Unternehmenstheaters.86 Im Fortgang entwickelt sich in der Potentialanalyse eine Pluralität der ver-
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schiedenen Formen und es kommt zur Adoption und Adaption verschiedener auf den Bedarf zugeschnittener, ästhetischer Theatermodelle, vom therapeutischen bis zum politischen Theater – je nachdem, worauf der Fokus in den Unternehmenstheaterinterventionen gelegt werden soll. Dem Phänomen des Unternehmenstheaters und seiner Wechselbeziehung zu der vorangehend aus historischer Perspektive beschriebenen Praxis soll der folgende Abschnitt gewidmet werden. In der hier vorliegenden Studie soll nicht nur argumentiert werden, dass Assessment-Center-Prozesse eine Form von Theater darstellen, sie sollen darüber hinaus dem Unternehmenstheater und damit einer Unterform des Applied Theatre zugerechnet werden. Unternehmenstheater ist dabei eine der am wenigsten erforschten Varianten des Applied Theatre überhaupt. Relevante Publikationen thematisieren das Unternehmenstheater zumeist entweder aus der wirtschaftswissenschaftlichen bzw. Management-StudiesPerspektive87 oder aber sie sind von Praktikern dieses Theaters selbst verfasst.88 Dementsprechend fokussiert sich der hier geführte Diskurs – zu nennen wären etwa die Publikationen Georg Schreyöggs89 und Stefanie Teichmanns90 – auf die Impact-Forschung, die Effizienz und die Wirkungsversprechen diverser Applied-Theatre-Formen in Unternehmen. Residuum eines ästhetischen Diskurses verbleibt in Selbstbeschreibungen der Praxis oft lediglich die Abhandlung über Katharsis, die spekulativ bis affirmativ mythisch aufgeladen zum Argument für die Wirkungsversprechen des Mehrwerts gegenüber dem Auftraggeber avanciert und in einigen Fällen in ebendieser spekulativen Verwendung auch von der wirtschaftswissenschaftlichen Perspektive übernommen wird.91 Eine bemerkenswerte Ausnahme bildet die Studie Unternehmenstheater – vom Theater der Unterdrückten zum Theater der Unternehmer des Theaterwissenschaftlers Michael Hüttler, der in seiner Arbeit einen Überblick über den bis zum Jahr des Erscheinens seiner Publikation (2005) erfolgten Diskurs im deutschsprachigen Raum gibt, anhand von empirischer Forschung die Verbreitung sowohl von Anbietern als auch von Abnehmern des Verfahrens darlegen kann, einen Überblick über die zahlreichen Varianten und ästhetischen Ursprünge des Dachgenres Unternehmenstheater liefert und nicht zuletzt seine umfassende Analyse des Unternehmenstheaters mit Fragen nach einer Ethik der Regisseure und Schauspieler verbindet. In einem Versuch der Annäherung an eine Definition von Unternehmenstheater weist Hüttler zunächst darauf hin, dass es im bisherigen Diskurs zahlreiche synonyme Verwendungen für diese Form des Theaters gibt, einige Begriffe wie z. B. ‚Business-Theater‘ hätten sich Anbieter – ganz dem Feld des Einsatzes dieser Form entsprechend – dabei sogar recht-
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lich schützen lassen.92 Hüttler definiert Unternehmenstheater grundlegend zunächst als „Einsatz von Theater bzw. theatraler Arbeit in Unternehmen oder (Non-profit-)Organisationen“93. Er führt aus, dass sich an spezifischen ästhetischen Formen und Techniken dabei alles wiederfinden ließe, was im Umkreis von Theater- und Spielpädagogik zu finden sei.94 Wichtig, so Hüttler weiter, ist dabei der Gedanke der Intervention und Transformation: Ein Unternehmen stehe vor einem Veränderungsprozess – Abteilungen werden zusammengelegt, ein neues System wird eingeführt, Mitarbeiterinnen sollen entlassen werden oder aber es gibt intersoziale Probleme in Abteilungen. Hier kann entweder das Unternehmen selbst oder eine Beratungsfirma auf Anbieter für Unternehmenstheater zurückgreifen, um den Veränderungsprozess zu unterstützen.95 Das Theater hilft je nach Form und Ausrichtung dabei, den Mitarbeiterinnen die Veränderungsmaßnahme durch eine inszenierte Form ohne partizipatorisches Spiel vorzustellen oder auch in partizipatorischen Formen neue kommunikative Strategien auszuprobieren, das alte Verhalten zu spiegeln, einen geschützten Rahmen zu schaffen, um das auszusprechen, was im Alltag nicht gesagt werden kann, und vieles mehr.96 Aus Interviews mit den Anbieterinnen solcher Verfahren ging aus der hier vorliegenden Studie zudem hervor, dass der Abbau emotionaler Widerstände der Angestellten gegenüber Maßnahmen der Firmenleitung eine explizit ausgesprochene Serviceleistung darstellen kann.97 Zudem beschrieb eine der Interviewpartnerinnen die Funktion ihrer Figuren, im geschützten Rahmen des Theaters Wahrheiten aussprechen zu dürfen, die sich sonst keiner zu thematisieren traue, als „Hofnarr“98. Bezeichnend ist bei dieser Analogie vor allem das implizierte Machtgefälle – wenn es bereits einen Hofnarren braucht, so gibt es auch einen Hof, der mit der Art, wie er Hof hält, die Funktion des Hofnarren nötig macht. Wichtig ist es weiterhin anzumerken, dass die Teilnahme als Zuschauerin oder Mitspielerin in diesen Theaterformen nicht freiwillig erfolgt, sondern Teil der Arbeit ist.99 Die Inhalte der Aufführungen des Unternehmenstheaters sind dabei immer betriebsspezifisch und auf den Bedarf eines Change-Management-Prozesses hin zugeschnitten, der vom Auftraggeber, also der Firmenleitung, festgelegt wurde – aus der Definition ausgeklammert werden also Theaterveranstaltungen, die rein zur Unterhaltung und ohne Anknüpfung an innere Angelegenheiten des Unternehmens etwa im Rahmen von Feierlichkeiten zur Aufführung kommen.100 Hüttler kommt nach der Analyse der angebotenen Formen dabei zu dem Schluss, dass die Vielzahl der Unternehmenstheateranbieter auf dieselben Formen von Theater von Augusto Boal, Keith Johnstone,101 Bertolt Brecht,102 Konstantin Stanislawski,103 Jacob Levy Moreno sowie explizit auf Theorien des Soziologen Erving Goffman zurückgreifen.104 Bemer-
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kenswert ist dabei vor allem, dass es sich um eine Fruchtbarmachung von z. T. klassenkämpferischen, basisdemokratischen oder auf die Heilung und Befreiung von Menschen ausgerichteten pädagogischen oder therapeutischen Formen einer (z. T. politischen) Theateravantgarde handelt, die hier explizit zur Steigerung der Effizienz des Unternehmens und damit des Kapitals eingesetzt wird. Dies wirft für Hüttler nicht zuletzt Fragen einer Ethik des Theaters und seiner Vereinnahmung auf: Wie weit darf Theater im Dienst von Gewinn, Management, Unternehmen, kurz der Wirtschaft stehen? Ist es angesichts einer fortschreitenden und teilweise immer menschenfeindlicheren Globalisierung und Wirtschaftsliberalisierung moralisch vertretbar, Theater für Unternehmen anstatt für Menschen zu machen?105 Hüttlers Studie fasst Assessment-Center-Prozesse nicht unter dem Dachbegriff des Unternehmenstheaters zusammen, bei einer genaueren Analyse der beobachteten Formen jedoch wird deutlich, dass die partizipatorischen Rollenspiele, die sich um einen Change-Management-Prozess bemühen, in Anteilen ohne Weiteres auch Potentialanalyseverfahren oder Development Center genannt werden können, die explizit vom Arbeitskreis Assessment Center als Synonyme für interne Assessment-Center-Prozesse aufgeführt werden106 und von Katja Rothe in die Genealogie des modernen Assessment Centers aufgenommen werden.107 Mehr noch – sowohl Rothe als auch Hüttler führen Anteile der angewandten Methoden in den jeweils beschriebenen Prozessen auf die Arbeiten zur Gruppendynamik und Organisationsentwicklung des Psychologen Kurt Lewin zurück.108 Allein, Hüttlers Genealogie der Form Unternehmenstheater zeichnet ein anderes Bild davon, wie das Theater historisch zum ersten Mal auf die Wirtschaft trifft als Rothes Ausführung zur Vorgeschichte des modernen Assessment Centers. Hüttler legt hier ausführlich dar, was sich in kondensierter Form auch schon bei Horn zur Verwandtschaft von Einstellungstest und Theater findet:109 Die von Jacob L. Moreno zur Therapie entwickelten psychodramatischen Rollenspielmethoden kamen vereinzelt bereits im Jahr 1933 in der Wirtschaft zum Einsatz.110 Die Schilderung einer generell etablierten Anwendung von Morenos Methoden zur Steigerung von Produktion und Verkauf allerdings verorten die Verbreitung des Unternehmenstheaters in den USA parallel zur Ausbreitung der AssessmentCenter-Methode gegen Ende der 1950er Jahre. Die Beschreibungen der Verwendung von Morenos Methode stammen aus dem Jahr 1957 und beziehen sich auf die Vereinigten Staaten, wo Moreno seit seiner Emigration aus Österreich 1925 arbeitete.
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Der Vorstand der New Yorker Daily-News-Abteilung bei der MadisonAvenue-Firma Cunningham & Walsh, Anthony Chevins, ‚spielte‘ drei Tage lang einen Zeitungsverkäufer an der Ecke 50. Straße und Broadway [sic] um dadurch Einblick in die Kaufmotive und Gepflogenheiten der Zeitungskunden zu bekommen. So wollte er einen eigenen Eindruck gewinnen und ein Gefühl für den Zeitungsverkauf bekommen. Moreno bezeichnet dies als ‚Rollenspiel im wirklichen Leben‘. Er zählt weitere Unternehmen auf, die sich dieser Methode bedienen: Die Royal McBee Corp. in Port Chester, New York verwendete sie zur Erhöhung des Produktionsstandards, das J. L. Hudson Kaufhaus in Detroit nutzt sie zur Verbesserung der Kundenbeziehungen, die Pittsburger Gulf Oil Corp. schulte ihr Überwachungspersonal mittels Rollenspiel und ein weiterer Konzern habe sie erfolgreich zur Lösung des chronischen Verkehrsproblems an den Aufzügen bei Arbeitsschluss benutzt.111 Hüttlers Beschreibung einer konkreten Anwendung von Morenos Rollenspielmethodik im Verkauf ähnelt dabei den in dieser Studie beobachteten, aktuellen Methoden von Potentialanalyse und Development Centern nicht nur gravierend, es sind dieselben Methoden, die lediglich um den Aspekt professioneller Schauspielerinnen, weiterer Theatermodelle und den Computer zur statistischen Erfassung erweitert wurden: J. L. Hudson lies [sic] die meisten seiner 8.000 Angestellten mehrmals jährlich einen Ein-Tages-Kurs besuchen [sic] um die Verkaufsgeschicklichkeit zu erhöhen. Eine der gespielten Standardsituationen in diesen frühen Verkaufstrainingsseminaren war, dass eine der Teilnehmerinnen eine Kundin spielt, die einen neuen Hut aussucht. Eine weitere Verkäuferin übernimmt die Rolle der Freundin der Kundin, die an den Hüten keinen Gefallen findet. Eine dritte Teilnehmerin stellt eine Verkäuferin dar, deren Aufgabe es ist, sich mit der Ratgeberin auseinander zu setzen und dennoch einen Hut zu verkaufen. Gemäß des Geschäftsführers der Geschenkabteilung des Kaufhauses wurde durch die einfache spielerische Darstellung das Klima der wirklichen Situation äußerst günstig beeinflusst, wann auch immer sich diese wieder zutrug.112 Es scheint also legitim zu spekulieren, dass das sich in den 1960er Jahren ausbreitende Assessment-Center-Verfahren, das aus den Methoden der Offiziersauslese der Reichswehr hervorgegangen war, auf die ersten Unternehmenstheatermaßnahmen, die psychodramatischen Rollenspiele Morenos zur Steigerung von Verkauf und Produktion, traf und beide sich
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im weiteren Verlauf des parallelen Einsatzes an einer nicht eindeutig dokumentierten Stelle entweder schon zu diesem frühen Zeitpunkt in der US-Privatwirtschaft oder aber mit der globalen Verbreitung von Assessment-Center-Verfahren an anderer Stelle zu den Simulationsmodulen der gegenwärtigen Assessment- und Development-Center-Verfahren amalgamierten, wie sie die hier vorliegende Studie bei allen Anbietern von Theater in Unternehmen und Seminarschauspiel vorgefunden hat.113 Die jeweiligen firmeninternen Methoden blieben, so betonen Moses und Byham in ihrer Studie Applying the Assessment Center Method aus dem Jahr 1977, dabei bis Ende der 1960er Jahre weitestgehend Privatwissen der Unternehmen: The early history of assessment center applications can also be viewed as an interesting case study in scientific communications. Early applications of the assessment center method resulted almost entirely from informal communications within two groups of industrial psychologists that meet informally twice a year to share research findings and techniques. One group is called the ‚Dearborn Group‘ and, believe it or not, the other is the ‚No Name Group‘.114 In late 1967 and early 1968, many organizations were first learning about the use of the assessment center method. Assessment centers had, at a time, been successfully applied in several large organizations such as AT&T, Standard Oil (Ohio), General Electric, and IBM. For the most part, knowledge concerning the application of this method was shared among psychologists and managers in these specific organizations.115 Dass diese erweiterten Personalauswahl- und Potentialanalyseverfahren nun unter dem Dachbegriff Unternehmenstheater Platz finden, bedarf kaum der Feinjustierung von Hüttlers Definition dieses Theaters.116 Es handelt sich um Aufführungen im Unternehmenskontext, die nicht rein zur Unterhaltung stattfinden. Sie werden mit einem spezifischen Bedarf, der Neurekrutierung, Schulung, Qualitätssicherung oder aber internen Vergabe einer Stelle von einem Auftraggeber initiiert. Mitunter werden externe Firmen mit der Durchführung beauftragt, die die Prozesse mit professionellen Seminarschauspielern begleiten. Der Inhalt der Aufführung ist betriebsspezifisch und ‚Zuschauerinnen‘ sind Mitarbeiterinnen – Personalmanagerinnen, Vorstände, Betriebspsychologinnen. Allein können die Mitspielerinnen sowohl aus der Belegschaft stammen als auch – und dies wäre der einzige Punkt, der mit einem Kriterium von Hüttlers Definition des Unternehmenstheaters bricht – externe Bewerberinnen sein, die erst
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noch Zugang zur Gemeinschaft des Unternehmens wünschen, was aber die Definition keinesfalls fundamental untergräbt. Hüttlers maßgebliches Kriterium, dass ein Unternehmenstheaterprozess zur Intervention initiiert wird, wird in diesen, bisweilen im regelmäßigen Turnus stattfindenden Einstellungsverfahren und Entwicklungsmaßnahmen nicht auf den ersten Blick deutlich, wurde jedoch an anderer Stelle vom Autor der hier vorliegenden Studie als ‚intervenierendes Spiel‘ ausführlich beschrieben: Der Interventionscharakter ist dabei ein zweifacher, der sich nicht allein in der Aufführung des Rollenspiels selbst abzeichnet, sondern in der sozialen Realität des Unternehmens und seiner Mitarbeiterinnen: Die erste Intervention beinhaltet die Erkenntnis der Bewerberin, sich mit theatralen Mitteln, die von der Firma gewünschte Rolle, die ‚Corporate Identity‘, die paradoxer Weise immer mit der Forderung nach ‚Authentizität‘ einhergeht, aneignen zu müssen. AC-Verfahren privilegieren den Selbstdarsteller mit Authentizitätseffekt. Die zweite Intervention stellt die Implementierung des Verfahrens im Unternehmen an sich dar. Hier wurde vom Human Resources Management entschieden, dass einfache Personalauswahlverfahren durch Bewerbungs- und Mitarbeitergespräche nicht mehr ausreichen, um effizient Personal einzustellen oder zu befördern. Das Assessment-Center soll im Idealfall die subjektive Bauchentscheidung des Personalmanagements durch objektivere Mechanismen ersetzen und somit schon vor der kostenintensiveren Probezeit einer neuen Mitarbeiterin in der Simulation des Spiels offenbaren, ob diese ihren Aufgaben gewachsen ist.117 So sind denn alle Kriterien erfüllt, auch theatrale erweiterte Personalauswahlverfahren – Assessment-Center- und Development-Center-Prozesse – dem Korpus des Unternehmenstheaters zuzurechnen. Was Hüttler allerdings keinesfalls leistet, obgleich die von ihm identifizierten angewendeten Schauspieltheorien und Theaterkonzepte dies absolut nahelegen, ist, das Unternehmenstheater damit dem Korpus des Applied Theatre zuzurechnen. Und obwohl die Anwendung partizipatorischer Formen des politischen Theaters Boals, Brechts, Johnstones und Morenos, eine Hinwendung des Theaters zur Gesellschaft jenseits der Bühnen des Kunsttheaters mit einem interventionistischen Gestus118 und einer explizit ausgesprochenen Zweckausrichtung die Essenz dessen darstellt, was der Diskurs als Applied Theatre definiert, scheint umgekehrt auch dem Applied Theatre das Unternehmenstheater unheimlich im Freud’schen Sinne des Wortes: das vertraute und doch beängstigend fremde Schattenselbst – eine Beobachtung, der im folgenden Abschnitt nachgegangen werden soll.
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3 Applied Theatre Applied Theatre ist ein Dachterminus und kann zugleich wissenschaftlich als ein contested concept119 bezeichnet werden. Zu diesem Schluss führt die Beobachtung, dass der Diskurs des Applied Theatre sich zwar zum einen den inhaltlichen Herausforderungen diverser Projekte dieses Feldes widmet. Dies kann sehr konkret anhand der Problemstellungen einer durchgeführten Theaterarbeit passieren oder aber auf abstrakterer Ebene durch Fragen der Nachhaltigkeit und Messbarkeit, der Politiken und Wirkungsästhetiken, der Ethik und Verantwortung des Applied Theatre. Zum anderen aber ist der Diskurs auch geprägt von taxonomischen, gattungstheoretischen Fragestellungen,120 die vor dem Hintergrund theaterhistorischer121, aber auch vergleichender politischer, ethischer und ästhetischer Perspektiven die Debatte darum entfachen, was neben den definitorischen Kernformen noch dem Korpus zugerechnet wird oder aus diversen Gründen als eine eigene Form – wie etwa „applied drama“122 oder eben auch Unternehmenstheater123 – gefasst werden soll. Als ebendiese Kernformen des Applied Theatre gelten zumeist Gefängnistheater, Theater in Krisengebieten, das sogenannte theatre for development, Theater in der Bildungsarbeit und zur Aufklärung, zudem manchmal Museumstheater und theaternahe Therapieformen sowie selten auch das Unternehmenstheater. Eine maßgebliche Argumentationslinie dieser Studie ist es, theatrale Module von Personalauswahlverfahren, die im Forschungsdiskurs bisher weitestgehend nicht dem Applied Theatre zugerechnet werden, in diesem an sich bereits sehr heterogenen Korpus zu verorten. Ihr Vergleichsmoment liegt dabei offensichtlich, wie vorangehend dargelegt, zunächst in der Theaterarbeit in Unternehmen, jedoch lassen sich auch Verbindungslinien zu theaternahen Therapieformen, zum sogenannten theatre for development und anderen Formen des Applied Theatre ziehen. Obgleich der Ausgangslage nach das Theater der Assessment- und Development-Center-Prozesse also nicht in seinem definitorischen Kern, sondern, dem bestehenden Diskurs nach, ganz entschieden an den unschärfsten Außenrändern des umbrella term verorten werden muss – verwandt mit dem ohnehin oft in der Debatte exkludierten oder vernachlässigten Unternehmenstheater und selbst dort noch kaum diskursiv verankert – birgt die Betrachtung dieser theatralen Personalauswahlverfahren als Applied Theatre ein Moment der Bereicherung für seinen Diskurs. James Thompson schreibt über den Terminus: ‚Applied Theatre‘ is thus used as an inclusive term that aims to develop dialogues that have to learn much from each other. I do not deny
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ifferences, but I believe that varieties of participatory theatre work d do have discursive and practical similarities that are worth exploring.124 Durch die Inklusion von theatralen Personalauswahlverfahren erhält der Applied-Theatre-Diskurs, Thompson folgend, die Chance, etwas über seine ethischen Ambivalenzen, über sein Verdrängtes und sein neoliberales Schattenselbst zu erfahren. Fragen der Ästhetik des Ernsten Spiels sowie ethische Fragen von Machtasymmetrien und theatraler „Subjektivation“125 können sehr deutlich an dieser, sich am äußeren Rand des definierten Korpus bewegenden Variante des Applied Theatre beschrieben werden und lassen zugleich neu perspektivierte Rückschlüsse auf seine Kernformen zu. Im Folgenden muss nun zunächst dargelegt werden, wie Applied Theatre definitorisch gefasst wird, welche dominanten, diskursiven Felder seinen so heterogenen Korpus diverser Formen von Theater bestimmen, wie sich dieser Diskurs zum Unternehmenstheater verhält und welche Berührungspunkte es zulassen, theatrale Personalauswahlverfahren diesem Korpus zuzurechnen. Applied Theatre: Definitionen Der Terminus Applied Theatre ist innerhalb des theaterwissenschaftlichen Forschungsdiskurses noch relativ neu.126 Sein Aufkommen im angloamerikanischen Forschungsraum wird circa auf das Ende der 1990er Jahre zurückdatiert. Der Begriff etablierte sich dort in Lehrmodulen an Universitäten in Nordamerika und Sri Lanka127 sowie mit der Eröffnung zweier Forschungszentren – dem Centre for Applied Theatre Research an der University of Manchester in Großbritannien und der Griffith University in Brisbane, Australien.128 Obgleich aber der Diskurs zu diesem Zeitpunkt seinen Dachterminus herausbildete, kann daraus nicht der Umkehrschluss erfolgen, dass das Phänomen des angewandten Theaters historisch, taxonomisch zu diesem Zeitpunkt oder auch nur kurz vorher eindeutig verortet werden kann. Das Feld des Applied Theatre, so scheint es, hat gemäß seinem heterogenen Korpus viele, fragmentierte Wurzeln in ästhetischer Theorie und Praxis. Im Folgenden sollen definitorische Rahmungen und Stimmen der Wissenschaftlerinnen und Praktiker, die am Diskurs um den Begriff beteiligt sind, fokussiert werden, um aus der noch aktuellen Forschungsdiskussion die Position dieser Studie zum Begriff des Applied Theatre abzuleiten. Heterogenität Ein im Diskurs um Applied Theatre stets betontes Kriterium zur Definition macht es zugleich schwer greifbar: Das Applied Theatre wird, wie eingangs betont, als „umbrella title“129, als heterogenes Feld, als Dachterminus
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und Sammelbezeichnung beschrieben.130 Die Heterogenität dieses Sammelbegriffs lässt sich dabei auf unterschiedlichen Ebenen nachzeichnen: Applied Theatre entzieht sich eindeutigen Kategorisierungsbestrebungen einer einheitlichen Form oder Ästhetik, der Aktivität eines begrenzten Umfelds einer Person, Künstlergruppe oder Bewegung, denselben historischen Wurzeln, geschweige denn einer regionalen und bei genauerer Betrachtung auch epochalen Einordnung.131 Weder ordnende Bezeichnungen wie Genre132 oder Gattung133, die zwar Einteilungen immer auf tönerne Füße stellen, aber als Hilfskonstruktionen ihre Daseinsberechtigung haben, scheinen beim Denken über diese Formen des Theaters eindeutig zu greifen. Gleichzeitig aber geschieht die Zuordnung eines spezifischen Theaterprojekts als Applied Theatre nicht arbiträr aus dem luftleeren Raum heraus, und auch Kategorien wie Ästhetik, Historie, Region und Genre sind nicht völlig willkürlich und irrelevant geworden, sondern setzen sich auf eine spezifische Weise mit seinen Wirkungsversprechen ins Verhältnis. Die Stimmen im Forschungsdiskurs um Applied Theatre scheinen sich um den Kern des Phänomens sehr bewusst zu sein, Dissens entbrennt wie bei jedem sich im Diskurs weiter entwickelnden Terminus an seinen unscharfen Außengrenzen. Konsequent beginnt etwa Christopher Balme sein Überblickskapitel über das Feld des Applied Theatre in The Cambridge Introduction to Theatre Studies nicht mit einer Definition, sondern mit drei sehr unterschiedlichen Beispielen für verschiedene Formen des Theaters, die unter diesen Dachterminus fallen: ein Projekt aus Deutschland, in dem mit Berliner Schülerinnen mit Migrationshintergrund Igor Strawinskys Ballett Le Sacre du Printemps zusammen mit den Berliner Philharmoniker zur Aufführung gelangt, ein Projekt aus den USA, in dem in Plymouth, Massachusetts ein englisches Dorf des 17. Jahrhunderts originalgetreu aufgebaut und von Schauspielern bevölkert wird, um Unterhaltung und Geschichts interesse zu verbinden, und ein Projekt aus Südafrika, in dem mit Mitteln des Unsichtbaren Theaters nach Augusto Boal über die Gefahren von HIV informiert werden soll.134 Dieser von Balme als Einführung in den Diskurs konzipierte Text zeigt damit zunächst die Breite des Phänomens auf, das durch komplexere Definitionskriterien als regionale, historische oder einheitlich-formale als Einheit betrachtet wird: Es sind Beispiele aus drei Kontinenten mit völlig verschiedenen ästhetischen Ansätzen, initiiert von Künstlern oder Organisationen, die sich nicht zwangsläufig gegenseitig kennen, inspirieren oder austauschen. Diesen Projekten gemein ist, so fasst es Balme, dass sie etwas wollen, und dieses etwas ist mehr, als zu unterhalten oder Kunst zur Aufführung zu bringen: Sie führen ihr Theaterspiel auf, um eine Veränderung in der sozialen Wirklichkeit zu bewirken.135
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Ausgehend von diesen Beispielen liefert Balme im Folgenden eine Liste von Formen, die den Kern der Projektarten darstellen, die unter den Dachterminus Applied Theatre fallen: „dramatherapy, theatre in education, theatre for and with special groups (e.g. in prisons or with the mentally impaired), interactive theatre at museums and heritage sides, community theatre und theatre for development.“136 Schon in dieser Einteilung wird deutlich, wie schwer das Erstellen von Kriterien für eine Taxonomie fällt, bei der die verschiedenen Facetten der Untergruppen des Applied Theatre weder klar nach formalen Kriterien noch nach der Zielgruppe geordnet erscheinen – interaktives Museumstheater ist auch ein Theater mit erzieherischem Impetus, wäre aber anders als eine Truppe, die in Südafrika von Stadt zu Stadt zieht, um Jugendliche durch Unsichtbares Theater über die Gefahren von HIV aufzuklären, zum einen örtlich gebunden und hätte einen anderen ästhetischen Ansatz. Zudem käme im Vergleich zu dem Projekt aus Südafrika der didaktischen Grundhaltung des Museumstheaters die soziale Brisanz der theatralen Intervention abhanden: Museumstheater ist ein Versuch, Geschichte spielerisch zu vermitteln, trockene historische Inhalte in einer populären Form des ‚Edutainments‘ aufzuarbeiten, eventuell auch den Wert der Museums- und Forschungsarbeit ‚dem einfachen Mann‘ familienfreundlich nahezubringen, Familien oder auch Menschen, die selten ins Museum gehen, anzusprechen und nicht zuletzt vielleicht auch ein Konzept, Besucherzahlen eines Museums durch neue Vermittlungsformen des zerstreuenden Spektakels zu steigern und so durch öffentliches Interesse Fördergelder zu rechtfertigen. Auch in diesen Motiven kann man natürlich von einer Intervention sprechen, man steuert gegen sinkende Besucherzahlen und ein Image, dass ein Museumsbesuch langweilig und das Lernen über Geschichte eine trockene Angelegenheit ist. Mit dem gesellschaftlichen und politischen Rahmen aber, mit dem Bedarf, dem gegebenen Problem oder gar dem Notstand verändert sich die Intention und damit auch die Brisanz der Intervention. Gesellschaftliches und politisches Umfeld treten also in den Vordergrund dieser Formen und müssen, so soll später dargelegt werden, in den Analysen dieser Theaterformen ein nicht unerhebliches Gewicht erhalten. Im Vergleich dieser beiden Formen könnte also die Frage aufgeworfen werden, ob sich das Museumstheater aus anderer Perspektive nicht auch als Subkategorie eines theatre in education beschreiben ließe, deren soziale Brisanz des erzieherischen, aufklärerischen Gestus sich durch den lokalen gesellschaftlichen und politischen Kontext ändert – der heterogene Korpus des Applied Theatre erscheint in seiner inneren Struktur der Subkategorien wiederum komplex und auf spezifische Weise zugleich verknüpft und divergierend.
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So unterscheiden sich Gefängnistheater und das sogenannte theatre for development weiterhin im politischen Impetus durch die Fokussierung auf einen Bereich der eigenen in Abgrenzung zur Hinwendung zu einer anderen Gesellschaft (also einer innenpolitischen statt einer außenpolitischen sozialen Agenda), während ihre ästhetischen Strategien, etwa der Einsatz von Boals Theater der Unterdrückten, vergleichbar sein können. Hier kann dann auch die Beobachtung ansetzen, dass regionale Kategorien nicht vollkommen obsolet sind, da sich Applied Theatre entweder der eigenen Gesellschaft zuwendet oder aber sich im Nachzeichnen der globalen Bewegungslinien seiner Finanzierung und Initiierung – nicht zwangsläufig aber seiner Ästhetiken und Faciliators – dominant beobachten lässt, dass es sich eher aus den westlichen Industrienationen in andere globale Kontexte hinein bewegt.137 Dies mag nicht zuletzt aber auch daran liegen, dass der Westen die Denkfigur Applied Theatre durch eine Auftrennung von autonomer Ästhetik und Zweckausrichtung gerade artifiziell erzwungen haben mag138 und dann in den spezifischen Ländern der Interventionen fruchtbare Formen zur kulturellen Appropriation vorfand, die sich von jeher auch therapeutisch oder pädagogisch ihrer Gemeinschaft zugewendet hatten.139 James Thompson betont zwar, dass gerade durch den Gebrauch des Terminus Applied Theatre ein hegemoniales Machtgefälle im Diskurs aufgehoben wird, wenn Unterscheidungen in dem Begriff vereint werden, die im Normalfall zwischen einem Community Theatre in armen Regionen der sogenannten Ersten Welt und einem theatre for development der sogenannten Dritten Welt gemacht werden. Applied Theatre zeige gerade, so Thompson, dass eine verarmte Region des Vereinigten Königreiches viel von einem in Westafrika entwickelten Theaterkonzept lernen könne.140 Ein englischer Trainer allerdings, der mit Formen von Boal Demokratisierungsprozesse auf dem afrikanischen Kontinent oder in Vorderasien anstoßen möchte, erscheint hierbei gesellschaftlich vollkommen legitimiert. Von einem Programm für Theatertruppen aus der Volksrepublik China, die in Großbritannien für die Vorteile des Einparteiensystems durch Unsichtbares Theater werben sollen, wurde dagegen noch nicht gehört und erscheint aus der westlichen Perspektive geradezu als absurder Scherz. Hinter der Absurdität dieses Gedankens steht jedoch auch das Selbstverständnis des Westens, wem politisches Sendungsbewusstsein zugesprochen werden darf.141 Theatrale Therapieformen, als ein letztes genanntes Beispiel für die diversen Verbindungslinien der Subformen des Applied Theatre untereinander, können wiederum von einem völlig intimen Patienten-Therapeuten-Verhältnis – einer geschlossenen Therapiesitzung mit theatraler Familienaufstellung – bis zur halböffentlichen oder öffentlichen Aufführung142
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reichen und so mit völlig unterschiedlichen, ästhetischen Strategien arbeiten, die in leicht variierender Form aber wiederum auch in Gefängnissen, bei der Theaterarbeit mit Geflüchteten oder in Unternehmen angewendet werden können. Auffallend und für diese Studie entscheidend fehlt bei Balmes Auflistung das Theater in Unternehmen, das aus diversen Gründen von Vergleichsmomenten in diese Liste aufgenommen werden sollte. Jedoch schließt Balme diese mögliche Zuordnung nicht kategorisch aus, wenn er am Ende seines Überblickkapitels unter der Unterüberschrift „Outlook“ schreibt: Applied theatre has established a number of well-defined spheres of activity. Its social acceptance is unquestioned, as indicated by its application in a variety of institutional settings such as schools, prisons, museums and even corporate management [Hervorh. d. Verf.], where, ironically [Hervorh. d. Verf.], Boal’s techniques are applied to great effect. 143 So erwähnt Balme das Theaters in Unternehmen lediglich marginal in einem Ausblick auf die Zukunft des Forschungsfeldes wie der Praxis und stellt so eine implizite Hierarchisierung seiner Anwendungsfelder her – Applied Theatre finde breite Anwendungsfelder, ironischerweise sogar im Corporate Management. Hier lässt sich eine Denkfigur identifizieren, die zum einen Unternehmenstheater aus der Entwicklungsgeschichte des Phänomens auszuschließen scheint, zum anderen unterstellt, dass ein ausgereiftes Phänomen Applied Theatre in seiner Nützlichkeit für andere als soziale Zwecke erkannt und dann auf diese übertragen wurde. Auch Michael Hüttler spricht von Ironie, wenn er beschreibt, wie sozialistische, basisdemokratische Theaterformen, die Menschen befreien sollten, zur Steigerung der Wirtschaftsleistung eines Unternehmens eingesetzt werden.144 Seine vorangehend dargelegten Ausführungen zu den Stationen der Arbeit Jacob L. Morenos zeichnen hier allerdings ein anderes Bild der Entwicklungsgeschichte des Applied Theatre – ein Bild, in dem auch das Unternehmenstheater in seiner Geburtsstunde anwesend war. So erscheint bei Balme die Form Applied Theatre, wie bei Hüttler das politische Theater, implizit in einem politischen „Gestus“145 verortet, der pervertiert werden kann. Diese Anmerkung soll keinesfalls blind außer acht lassen, dass etwa das sogenannte theatre for development einem sozialen und humanistischem Leitbild folgt, das zunächst als in seinem Gestus sympathisch auftritt (eingedenk dessen, dass es aber auch hier gravierende ethischen „Fallstricke“146 etwa des Kulturchauvinismus gibt), während spezifische
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Formen des Unternehmenstheaters in einer ethischen Bewertung als fast zynisch charakterisiert werden könnten. Doch auch hier gilt es letztendlich, verschiedene Intentionen zu differenzieren und nicht oberflächlich zu generalisieren. Balme widmet den Corporate Settings also noch eine bittere Nebenbemerkung, während sie in anderen Versuchen einer Definition des Feldes gänzlich unter den Tisch fallen – James Thompson, der sich wohlgemerkt dagegen verwehrt, eine Sammlung all dessen vorweisen zu können, was der Terminus Applied Theatre abdeckt, erwähnt das Unternehmenstheater in Applied Theatre – Bewilderment and Beyond mit keinem Wort.147 Judith Ackroyd verweist in ihren Ausführungen zur Heterogenität des Applied-Theatre-Sektors explizit darauf, dass einige Praktiker gerade aus politisch-ethischen Beweggründen nicht in einem Atemzug mit anderen genannt werden wollten: How then can we gather diverse practices into one bundle? Some may be dragged screaming! A Christian street theatre group may not wish to reside alongside a company canvassing for the reduction of the legal age for sex between consenting adults of the same sex.148 So ist es Judith Ackroyd, die auch dem Theater in Unternehmen unter dem Dachbegriff Applied Theatre einen Platz zuweist und als eine der wenigen Stimmen im Diskurs mit einer Frage nach der Ethik des Feldes verbindet: Our artform may be used for arguably unworthy causes, for shifts in market positions, for example, rather than ‚shifts in appraisal‘. Many in our field may have shared drama practice with those in business. Fair enough, but how far should we go? Should arts be used to improve staff self presentation skills? Should drama be used to promote sales? What about tobacco companies? Is it legitimate for drama to be used to any ends which our sponsors support? In some ways the issue of values is writ large when it comes to applied theatre. A local authority in the United Kingdom aware of drama’s potential, used its drama support team for improvement in many ways. The drama team was enlisted to help with governor training. A day came when they refused to help. It was when the drama team were asked to use theatre to encourage governors to feel good about themselves, rather than guilty, when they sacked teachers. If it is known to be effective, why would those with the finances to develop not use applied theatre to dubious as well as positive ends? We must be prepared for theatre to be used for ends we wouldn’t necessarily agree with.149
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Allerdings ist auch Ackroyds Text in einer Perspektive gehalten, die das Unternehmenstheater als eine pervertierte und neue Entwicklung identifiziert, nicht etwa als eine Form, die durch Moreno bereits in Ölkonzernen und Kaufhäusern der Vereinigten Staaten der späten 50er Jahre des 20. Jahrhunderts etabliert wurde und somit bei der Geburtsstunde des Applied Theatre zugegen war. So kann bei einem Überblick über den Diskurs die Frage aufkommen, ob Unternehmenstheater nicht nur von Seiten des praktischen, sondern auch des akademischen Diskurses mitunter lediglich aus politischer Antipathie für die Form aus den Betrachtungen ausgeschlossen wird – Theater in Unternehmen erscheint bisweilen als das ‚schwarze Schaf‘ der Familie Applied Theatre, über das man nicht gern spricht und an das man nicht erinnert werden möchte, da es, anstatt den Menschen zu helfen, den Marktkonformismus gewählt hat. Auf die Exklusion verweist Ackroyd selbst in einer sieben Jahre nach dem vorangehend zitierten Abschnitt entstandenen Rückschau auf die Entwicklung des Diskurses: Theatre applied to the needs of business has provided support for bosses who need to feel better about making people redundant, as I said in the last article. While we may construe this as ugly, this should not deprive it from academic attention and analysis, like other examples that conform to the definition. It should not be excluded from what is understood by the term ‘applied theatre’. Can we really provide a coherent account of applied theatre practices and not include aspects such as drama for business training? Can some forms of dramatic activity that primarily exist outside conventional mainstream theatre institutions be excluded from a notion of applied theatre?150 Ähnliches kann man bei Jonothan Neelands lesen, der dem Terminus Applied Theatre ebenfalls attestiert, eine große Reichweite („the largesse of the applied theatre umbra [sic]“151) abzudecken. Auch er führt dabei keine einheitlich ästhetischen, regionalen oder genrespezifischen Kriterien an, um die Phänomene, die er als Applied Theatre verstanden haben möchte, in eine Kategorie zusammenzubinden. Als Kern der Applied-Theatre-Phänomene identifiziert er dabei drama and theatre in education, theatre for development, spezifisch das Theater der Unterdrückten sowie generell die Arbeit von Augusto Boal. Während Theaterarbeit in der Therapie hier keine Erwähnung findet, erscheint bei Neelands durch die direkte Kategorisierung aller Arbeiten Boals als Applied Theatre wiederum der Übergang zum politischen Theater fließend. Interessanterweise kann man bei Neelands weiterhin lesen, dass das Theater in Unternehmen offenbar allen sei-
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nen genannten Kriterien für Applied Theatre entspricht und von ihm auch als solches kategorisiert werden würde, er es aber für seine Ausführungen der Politiken des Applied Theatre dennoch außer acht lassen möchte, da es (als schwarzes Schaf der Familie) einem anderen politischen Impetus folgt, als die anderen Settings: This panoply might also include corporate settings, which reflect the wide range of pro-market uses of drama and theatre which could by any other definition be included under the largesse of the applied theatre umbra [sic], but in this paper I am concerned with those forms of applied theatre which are determinedly pro-social and which make some political claim to be resistant to the values of new capitalism (Kershaw, 1999; Thompson, 2003; Nicholson, 2005a).152 Die ‚corporate settings‘ mögen dem interventionistischen, auf Veränderung einer Gruppe oder Gesellschaft basierenden Gestus, den Neelands zur Klammer des Dachterminus Applied Theatre erklärt, entsprechen, dennoch finden sie aufgrund ihres marktkonformen Einsatzes keinen Platz in der Reihe der theatralen Projekte von Klassenraum über Gefängnisse, Jugendclubs, community halls oder Flüchtlingslager. Außer acht bleibt auch hier, ob denn der Gestus der Intervention etwa im sogenannten theatre for development nicht auch einem neoliberalen Sendungsbewusstsein folgen kann, das letztendlich auch dem Markt dienlich ist,153 und umgekehrt, ob nicht auch eine Unternehmenstheaterintervention etwa zur Mobbingprävention oder zur Aufdeckung von belastenden, krank machenden Arbeitsstrukturen in Abteilungen auch einer ähnlichen, sozialen Agenda folgen kann. Den Marktkonformismus also zum Ausschlusskriterium zu erklären, ist kein taxonomisches Argument, sondern eine verständliche, aber rein ideologische Setzung, die sich anscheinend durch große Teile des Diskurses zieht und damit, ganz wie Ackroyd es kritisiert, zugleich die kritische Auseinandersetzung mit den negativen Aspekten der eigenen Theaterarbeit verdrängt – denn alle Applied-Theatre-Projekte finden weitestgehend innerhalb derselben politischen Makrostruktur statt, werden von ihr durchdrungen und finanziert –, dies mag vielleicht gerade der Alptraum der humanistischen, liberalen oder sozialistischen Applied-Theatre-Praktiker sein, der sie dazu bringt, das Unternehmenstheater so vehement zu verdrängen. Seien die jeweiligen Theaterarbeiten nun in ihrer Ausrichtung kritisch oder marktkonform, sie sind keinesfalls außerhalb des neoliberalen Systems verortet und stabilisieren es sowohl durch Steigerung der Markteffizienz als auch durch Projekte zur Konfliktbewältigung: Unter-
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nehmenstheater ist dem Applied Theatre zugleich so fremd und vertraut wie das Neoliberale dem Liberalen. Öffentlichkeit – Applied Theatre vs. Applied Drama Auch Monica Prendergast und Juliana Saxton beginnen in ihrem Überblicksband über das Feld des Applied Theatre konsequent damit, die Vielschichtigkeit des Begriffs anhand von kurzen Beispielen einer je andersgearteten ästhetischen Form mit einer unterschiedlichen Agenda darzulegen. Wie bei Balme finden sich auch in dieser Übersicht das Gefängnistheater, das Museumstheater, das sogenannte theatre for development und das community-based-theatre. Zusätzlich fällt der Begriff des theatre for health education, mit einem ähnlichen Impetus wie Balmes Beispiel des Straßentheaters zur HIV-Aufklärung aus Südafrika, das reminiscence theatre, das vergleichbar mit Balmes Kategorie theatre for and with special groups ist und explizit Boals Theater der Unterdrückten, das zunächst in seinen Wurzeln einfach politisches Theater zu nennen wäre, in Form und Wirkungsästhetik aber sehr vielen Projekten angewandten Theaters den Rahmen bereitstellt.154 Zwei Leerstellen fallen bei der Auflistung ins Auge – das, wie bereits dargelegt, häufig beiseite gestellte Unternehmenstheater und auch die Theaterarbeit in der Therapie. Anders als bei Jonothan Neelands, der dem Theater in Unternehmen den legitimen Platz unter dem umbrella term Applied Theatre nicht verwehrt, sondern lediglich darauf hinweist, seinen Fokus den nicht-marktkonformen Anwendungsgebieten theatraler Interventionen zu widmen, ist diese Entscheidung bei Monica Prendergast und Juliana Saxton definitorisch, gattungsspezifisch aus dem ästhetischen Arrangement der Form heraus begründet: A number of readers may wonder why we have left out certain practices that some may consider to be applied theatre, such as drama therapy, simulations and employment skill training (e. g. with police, military, medical personnel and business people). Our decision is based on the recognition of applied drama as a separate field of practice that is process-based and does not generally involve a theatrical performance to an audience (Nicholson, 2005). While much of applied theatre begins as process, working in similar ways to applied drama, the word „theatre“ (theatron: „seeing place“) means that a public or semi-public performance is a necessary component of the work (King, 1981, pp. 6–11).155 Die hier vorliegende Studie, die sich explizit den Simulationen der Assessment-Center- und Potentialanalyseverfahren widmet, und ferner auch
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die Schulung medizinischen Personals, des Militärs und der Polizei unter den Dachbegriff Applied Theatre stellen würde und die zudem in ein Forschungsprojekt eingebettet ist, das Unternehmenstheater wie auch Theater in der Therapie unter den umbrella term fasst,156 wird sich der hier vorgenommenen Trennung von Applied Theatre und applied drama nicht anschließen. Darüber hinaus ist festzuhalten, dass auch im Unternehmenstheater wie in den theaternahen Therapieformen ganz im Sinne des theatrons das Sehen wie der ‚Platz des Sehens‘ nicht weniger bedeutsam sind als in den Formen, denen der Applied-Theatre-Status in dieser Argumentationslinie zugesprochen wird. Zwar können in dem Spektrum dessen, was in dieser Studie als Applied Theatre betrachtet werden soll, natürlich Formen identifiziert werden, in denen eine öffentliche Aufführungssituation mit einem Publikum an seinem ‚traditionellen‘ Platz jenseits der Bühne stattfindet, jedoch zahlreiche andere Formen bemühen sich fast ausschließlich um eine Wirkungsästhetik, die nicht mehr die klassische Zuschauerin, sondern die Mitspielerin fokussiert. Dem bei Prendergast und Saxton zugrundeliegenden Theaterbegriff einer notwendigen öffentlichen oder halböffentlichen Aufführung mit einem konservativen Begriff von Zuschauerin soll sich dabei aus diversen Gründen nicht angeschlossen werden. Prendergasts und Saxtons exkludierendes Argument des theatron als ‚Ort des Sehens‘ ist in Hinblick auf das gesamte Feld des Theaters, nicht nur des Applied Theatre, extrem eng und konservativ gefasst und scheint kaum mehr zuzulassen als das klassische, europäische Guckkastenarrangement mit den Konventionen des 18. und 19. Jahrhunderts. Klammerte man historisch alle Aspekte von Theater aus dem Theaterbegriff aus, in dem sich ein Publikum nicht aus einer demokratischen Öffentlichkeit heraus zusammensetzte, so dürfte man mehr als nur einige Applied-Theatre-Projekte konsequenterweise nicht mehr Theater nennen. Weiterhin verweist der Theaterwissenschaftler Matthias Warstat darauf, dass zwar die Aufteilung von Zuschauern und Akteuren noch immer als eine der letzten definitorischen Grundbedingungen zu nennen ist, um zumindest im europäisch geprägten kulturellen Kontext von Theater zu sprechen, diese Positionen könnten aber eben temporär aufgehoben und nicht statisch gedacht werden.157 Es existieren zahlreiche Beispiele des aktuellen Kunsttheaters, Formen des partizipatorischen Simulakrums (man denke nur an das immersive Theater mit den rollenspielartigen Arrangements der Gruppen SIGNA, machina eX oder Rimini Protokoll als aktuell bekannte Beispiele), in denen klassische Definitionen von Publikum, Zuschauerin und Darstellerin neu ins Verhältnis gesetzt werden, und bei denen man nur wiederum zu dem Brecht’schen Schluss aus den Messingkauf-Fragmenten kommen kann, „und wenn einer meine, das sei kein Theater mehr, soll er es ruhig ‚Thaeter‘
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nennen“158. Warum also sind die Teilnehmerinnen an partizipatorischen Simulationen im Therapie- oder Arbeitskontext nicht zugleich Zuschauerinnen und Spielende in einem zu nennen? Boal etwa nennt diesen Typus der teilhabenden Zuschauerin, die auch eine Mitspielerin ist, „spect-actor“159. Warum sind weiter die Assessment-Kommissionen und Therapeutinnen dieser spect-actors nicht als Zuschauerinnen einer Aufführung zu klassifizieren? Es sei zugestanden, dass es ein weit gefasster Theaterbegriff ist, der hier zum Tragen kommt, aber auch die Ästhetik des Theaters Boals, dessen Gattung zunächst politisches Theater zu nennen wäre und das auch großzügig unter dem definitorischen Dachterminus Prendergasts und Saxtons einen Platz finden muss, da es die Basis sehr vieler Applied-TheatreProjekte darstellt, gelangt nicht zwangsläufig in einem klassischen Zuschauer-Schauspieler-Verhältnis des theatron zur Aufführung – seine Zuschauerinnen sind manchmal gar unfreiwillige Zeugen. Die Trennung von Applied Theatre und applied drama spaltet die betrachteten Theatervarianten somit bereits innerhalb einer Subkategorie wie Theater in Gefängnissen, theatre for development oder Theater mit Geflüchteten danach, wer zur Zuschauerin des Theaterprojekts wirkt: Gelangt ein und derselbe Workshop desselben Initiators im Gefängnis am Ende der Theaterarbeit zur öffentlichen Aufführung, war es Applied Theatre. Haben lediglich Mitgefangene als Teilnehmerinnen des Workshops während der prozessualen Theaterarbeit als Zuschauerinnen von Spielszenen ihrer Mitspieler fungiert und die Performance diskutiert, handelte es sich um applied drama. Was, wenn Mitgefangene, die nicht selbst am Probenprozess teilgenommen haben, als Zuschauende fungieren – öffentlich ist damit die Aufführung immer noch nicht zu klassifizieren, so dass man nun eingeladen wäre, lange über die Definition des Kriteriums „semi-public“160 sinnieren zu dürfen. Die Trennung von Applied Theatre und applied drama stiftet tendenziell eher Verwirrung und schafft mehr definitorische Grauzonen, als dass sie sinnstiftend Gattungen voneinander unterscheiden helfen würde. Intentionen Heterogenität erscheint also zunächst als ein besonderes, definitorisches Merkmal des Applied Theatre, doch gehört selbstverständlich mehr dazu, um einen Korpus von verschiedenen Phänomenen unter einem kategorisierenden Begriff zu vereinen als Heterogenität, die ja dem Strukturieren und Kategorisieren genau genommen eher entgegensteht. Wenn also epochale, historische, lokale, ästhetische, personen- oder künstlergruppenspezifische Kriterien auf den ersten Blick keine oder eine untergeordnete Rolle spielen, welche Kriterien lassen den Korpus des Applied Theatre sich als solchen konstituieren?
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Das wohl wichtigste Kriterium ist, dass – profan gesprochen – allen diesen Formen des Theaters gemein ist, dass sie etwas wollen. Kaum wähnt man sich dabei einen Schritt weiter in der Annäherung an eine Definition, da wohl keine Theaterveranstaltung frei von Absichten ist: Die Intendantin will ein volles Haus, die Performance-Künstlerin will provozieren, der Schauspieler will seiner Passion nachgehen wie auch Gage erhalten, die Zuschauerin möchte intellektuelle Anregung oder Zerstreuung, der Autor verarbeitet einen persönlichen Schmerz oder möchte bekannt werden, die Regisseurin will ein politisches Statement setzen – man entschuldige hier plakative Beispiele. Es muss also um mehr gehen als die Summe der einzelnen Intentionen von Mitwirkenden an der Inszenierung oder Aufführung, denn sonst hätte man noch immer keinen Anlass, einen Korpus Applied Theatre aus der Gesamtmenge des Theater heraus zu identifizieren. Applied-TheatreProjekten scheint also gemein zu sein, eine übergeordnete politische, therapeutische oder pädagogische Intention zu verfolgen, die anders als im klassischen Kunsttheatersetting explizit ausgesprochen wird – oftmals vorab gar in Anträgen schriftlich als Zielsetzung formuliert, so dass Erfolg oder Misserfolg des jeweiligen Projekts – und, hier scheiden sich Kunsttheater und Applied Theatre, im Nachgang allein an der Einlösung dieses Wirkungsversprechens gemessen wird.161 Doch auch diesen individuellen Absichten übergeordnete, pädagogische oder politische Intentionen des Theaters sind bei weitem kein Alleinstellungsmerkmal. Aus theaterhistorischer Perspektive ließen sich etwa Vergleiche zu geistlichen Spielen des Mittelalters heranziehen, die wirkungsästhetisch „die Vermittlung von Glaubensinhalten mit der Intensität des Erlebens“162 verknüpften. Man denke weiterhin etwas rezenter, dass z. B. auch ein Stadttheater die Aussage treffen kann, Nathan der Weise zu inszenieren, da die politische Brisanz des Stückes aufgrund von Fremdenfeindlichkeit und sogenannter Flüchtlingskrise immer noch aktuell ist. Auch auf der Ebene von künstlerischen Manifesten oder Schriften von Theatermachern wird, etwa in den dramaturgischen Schriften Lessings, dem Manifest des Futurismus, dem Organon Brechts, der spezifischen Ästhetik eine, auf das Soziale ausgerichtete wirkungsästhetische Funktion zugeordnet. Und nicht zuletzt wird auf der Ebene ästhetischer Theorie – man denke an Kant oder Schiller – darüber verhandelt, welche Intention oder politische Funktion Kunst im Allgemeinen und das Theater im Speziellen haben darf, welches Potential es hat und wie es eingesetzt werden sollte.163 So entfernen sich Applied-Theatre-Projekte von den oben genannten Beispielen keinesfalls so sehr, dass hier etwas radikal anderes dagegengesetzt wird.164 Der Geist von Schillers Theaterentwurf der moralischen
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Anstalt als einem „pädagogischen Instrumente“165 zur „Regierung durch nichtjuridische Mittel“166 , so weist etwa Michael Lorber nach,167 schwebt über diesen Projekten ebenso, wie hier explizit theatrale Techniken von Boal oder Brecht gerade wegen ihres didaktischen Potentials zum Einsatz kommen. Judith Ackroyd spricht in diesem Zusammenhang davon, dass Kunsttheater und Applied Theatre keinesfalls als binäres System oder abgeschlossene Kategorien, sondern vielmehr als Pole eines Kontinuums verstanden werden sollten.168 Darauf, dass der Applied-Theatre-Diskurs um die Funktionalisierung der Ästhetik letztendlich ein eurozentrischer, westlicher ist, verweist der Applied-Theatre-Theoretiker Viktor Ukaegbu, wenn er aufzeigt, dass die Kriterien, die im Diskurs als Alleinstellungsmerkmal von Applied-Theatre-Projekten in Abgrenzung zum Kunsttheater identifiziert werden, bereits in den frühesten überlieferten afrikanischen Performance-Ritualen nachgewiesen werden können.169 Dennoch erscheint tendenziell dieses Geflecht aus Interessen, Einfluss, Politik, Macht, Geld, Ethik und Ästhetik für die konkrete Aufführungsanalyse von Applied Theatre noch entscheidender als bei der Betrachtung der Aufführungen eines Stadttheaters. Beide Theaterformen können auf diese dispositive Struktur hin analysiert werden, wo man jedoch beim Kunsttheater von der Möglichkeit sprechen kann, wird dieses Verfahren beim Applied Theatre zur Notwendigkeit. In diesem Feld sind die übergeordneten Intentionen als auch die vorher benannten Einzelintentionen zwischen Ästhetik, Kunst und Geldfluss von Belang, da in einem Milieu politischer Brisanz die Lenkung und Durchsetzung von Einzelinteressen nicht nur mit politischen und ästhetischen, sondern immer vehement mit ethischen Fragestellungen verknüpft werden. Diese verschiedenen Ebenen der Intention werden so in als ‚Applied Theatre‘ definierten Projekten anders nuanciert und neu ins Verhältnis gesetzt. Entgegen Kants Forderung eines ‚interesselosen Wohlgefallens‘, im Geiste des von Schiller hervorgehobenen Potentials einer ‚Regierungskunst des Theaters‘ und u. a. explizit mit den didaktischen Mitteln Boals und Brechts haben Applied-TheatreProjekte eine exponierte und explizit ausgesprochene Intention, die als übergeordnete, leitende Klammer um das Projekt gelegt ist und die es als solches definiert:170 Sprachlich nicht unauffällig und tatsächlich anders als im Kunsttheater ist etwa all diesen Projekten gemein, dass die Dichte der Präpositionen in, mit, für, zur zunimmt, wenn sie besprochen und dem Leser oder Zuhörer knapp kontextualisiert werden.171 Hört man vom Stadttheater selten, dass etwa ‚Hamlet für die Kunst‘ oder ‚Mutter Courage mit ausgebildeten Schauspielern‘ aufgeführt wird, so ist das Applied Theatre sprachlich fast grundsätzlich im Diskurs ein Theater in, mit, für und zur: Unsichtbares Theater zur HIV-Aufklärung, Ham-
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let mit Flüchtlingen, Improvisationstheater-Workshops in Gefängnissen, Theaterangebote für benachteiligte Jugendliche in Problemvierteln.172 Die Intention tritt sprachlich wie auch praktisch in den Vordergrund, Stücke oder Techniken werden auf die Intention hin ausgewählt oder geradezu darauf zugeschnitten, die Aufführung (die in einem engeren Verständnis des Aufführungsbegriffs als Darstellung vor nicht in Proben und Planung involvierten Zuschauerinnen z. T. nicht einmal zwangsläufig stattfinden muss) und die ästhetischen Mittel ordnen sich einer explizit interventionistischen Absicht unter.173 Dass bei der Kontextualisierung dieser heterogenen Projekte sprachlich solch ein Gewicht auf dem in, mit, für und zur liegt, verdeutlicht neben der interventionistischen Intention zwei weitere wichtige definitorische Rahmungen: Oft, ohne aber daraus eine ausschließende Regel machen zu können, finden Projekte des Applied Theatre außerhalb klassischer Spielstätten statt und wenden sich mit der übergeordneten Intention einer spezifischen Gruppe zu, die explizit benannt ist.174 Mehr noch, nicht selten wird in dieser besagte Gruppe von außerhalb ein Problem identifiziert, dessen Lösung das Applied Theatre liefern soll. Applied Theatre postuliert Wirkungsversprechen und interveniert in soziale Kontexte, um (in, mit, für und zur) ein von einem externen Standort aus identifiziertes Problem zu bearbeiten. Von diesem externen Standort aus fließt zumeist auch die Finanzierung, die explizit für die Bearbeitung des identifizierten Problems, für die Intervention und Transformation bereitgestellt wird. Mit diesen Interventionen in einen sozialen Kontext durch theatrale Mittel geht ein spezifisches Verhältnis von den Initiatoren dieser theatralen Spiele, der Zielgruppe und den Zuschauern dieser Theaterformen einher, das ein weiteres definitorisches Kriterium von Applied-Theatre-Projekten darstellt. Partizipation Ein besonderes Verhältnis von Spielenden und Publikum, von Probenprozess und Aufführung kann für das gesamte Feld des Applied Theatre als ein definitorisches, ästhetisches Merkmal angeführt werden. Aufgrund der Heterogenität des Feldes wie auch des Theaterbegriffs allgemein können hier keinesfalls zwei Kategorien eröffnet werden, denen man nun jeweils dichotome Merkmale zuordnet – hier Applied Theatre, dort Kunsttheater. Dennoch lassen sich aus der Beobachtung des Feldes heraus Tendenzen ablesen, die im Applied Theatre forciert werden und helfen, das Phänomen in seinem Facettenreichtum zu beschreiben. In Bezug auf das Verhältnis von Spielenden und Publikum wäre dies der Diskurs um die Partizipation.175
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Mit einem konservativen Theaterverständnis liefe man nun Gefahr, der Praxis des Applied Theatre hier zur Abgrenzung und Einordnung die Guckkastenbühne als hochstilisierte Negativfolie gegenüberzusetzen. Die sowohl historisch als auch aktuell zahlreichen Formen partizipatorischer, theatraler Phänomene, Beispiele des historischen Karnevals, aus der Neo avantgarde, des politischen Theaters, des Live action role-playing games oder des immersiven Theaters lassen jedoch eine solche Dichotomie zusammenbrechen, noch bevor man sie argumentativ aufbauen könnte. Partizipation als aktive Teilnahme und Mitgestaltung der Aufführung ist mehr noch mit Max Hermann und Fischer-Lichte eine Grundbedingung jedweder theatraler Settings. 176 Es muss also um einen Grad der Involvierung, eine Qualität der Partizipation am Spiel des Theaters gehen. Partizipation muss mit der Intention, mit der wirkungsästhetischen Ausrichtung, mit dem Gestus der spielerischen Intervention177 zusammengedacht werden. Theater wie Spiel haben die Eigenschaft, Gemeinschaft zu konstituieren.178 Es gibt eine Gemeinschaft der Spielenden, die beschließen, für eine festgelegte Zeit und einen begrenzten Raum exponierte Handlungen unter einem gemeinsam angenommenen Regelsystem auszuführen, das sich von den Regeln des Alltags in einem oder mehreren Punkten unterscheidet. Innerhalb der Gemeinschaft der Spielenden mag es dabei durchaus noch einmal zu Unterteilungen in Subgemeinschaften kommen – wie Mannschaften, die gegeneinander spielen. Diese aber spielen dabei ja auch miteinander unter einem Regelsystem und bilden eben deshalb gleichzeitig auch eine größer gedachte Einheit von Gemeinschaft. Das Theater betrachtet als Spiel,179 in dem man sich auch den Regeln dieser exponierten Zeit und des exponierten Raums aussetzt, hat interessanterweise keinen etablierten Begriff (außer wiederum Theater) für die Gemeinschaft aller Spielenden ausgebildet. Als zu unterschiedlich werden offenbar die Handlungen innerhalb des fest etablierten Regelsystems am Abend einer Aufführung in der klassischen Theatersituation gedacht: hier die Gruppe der Schauspieler, dort die Gruppe des Publikums, die jeweils andere Haltungen einnehmen, andere Regeln befolgen und sich dennoch als Gemeinschaft von Spielenden konstituieren.180 Mag einem dabei die rein rezipierende Zuschauerinnenposition nicht als Spielende erscheinen, so kann neben der Unterwerfung unter einige soziale Regeln des klassischen Theaterbesuchs als einer exponierten Zeit und eines exponierten Raums zum einen die willing suspension of disbelief als spielerische Haltung hervorgehoben werden,181 zum anderen ist Erika Fischer-Lichtes Beobachtung der „feedback-Schleife“182 in der Aufführung inhärent, dass auch die Zuschauerin, egal wie passiv ihre Rolle in der jeweiligen Inszenierung
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oberflächlich betrachtet erscheinen mag, aktiv am Theaterereignis beteiligt ist, das Bühnengeschehen durch Präsenz und Reaktion beeinflusst und so mit den Schauspielerinnen eine Gemeinschaft bildet. Stärker partizipatorisch angelegte Formen weiterhin nuancieren das Regelsystem, fordern zum Mitspielen auf und verwischen in manchen Formen gar die Funktion von Schauspielerin und Zuschauerin zu aktiv Spielenden mit unterschiedlich starken Machtpositionen. Diese Macht asymmetrien treten dann durch Erstellung und Kenntnis des Regelwerks wie Lenkung des Spiels in Erscheinung.183 So kommt in der Aufführungssituation partizipatorischer Formen des Applied Theatre (abgesehen vom Geldgeber, der nicht mitspielt, sondern das Spiel von außen ermöglicht) die stärkste Machtposition der Spielleiterin, der Regisseurin oder der Initiatorin des Projekts zu, die meist von außen in einen anderen sozialen Kontext kommt und das Spiel mitbringt, damit das hiesige Regelsystem befragt werden kann. Die nächststärkere Position haben Mitarbeiter der Spielleiterin inne, die unter der Anleitung der Spielleiterin am Spiel beteiligt sind, jedoch in vielen Fällen nicht der Gruppe zugehörig sind, in deren sozialen Kontext interveniert werden soll. Solche professionellen oder semiprofessionellen Schauspieler oder Spielpartnerinnen sind in einigen Formen von Applied-Theater-Projekten die Hauptakteure, in anderen wiederum haben sie eine unterstützende Rolle oder sind nicht im Konzept des Projekts vorgesehen. Viele, aber nicht alle Formen des Applied Theatre legen großen Wert auf dieses partizipatorische Element.184 Die theatrale Intervention hat in diesen Fällen einen Workshop-Charakter: Es werden Spielszenen mit Personen aus der Gruppe eingeübt, die von außen in irgendeiner Weise als mit einem Problem behaftet identifiziert wurde, das es mit theatralen Mitteln zu lösen gilt. Diese Mitspielerinnen stehen gewissermaßen am Fluchtpunkt wie am Ende der Machtachse der Wirkungsversprechen des Applied Theatre. Denn es sind ihr sozialer Kontext, ihre Haltung und letztendlich ihre Subjektivität, denen von außen – von einer Institution, einem Geldgeber und einem Initiator des Projekts – ein Zustand des Mangels zugeschrieben wurde, in den nun theatral interveniert wird. Nicht zuletzt gibt es aber auch Formen des Applied Theatre, in denen in einer konventionellen Aufführungssituation vor einem rein rezipierenden Publikum gespielt wird und in denen der interventionistische Gestus darin besteht, diesem Publikum die didaktische Botschaft im Spiel zu übermitteln. Auch an diesen Formen lassen sich, wie an allen Formen des Theaters, Machtrelationen analysieren.185 Jedoch scheinen die stärker partizipatorisch ausgerichteten Formen in besonderer Weise geeignet, jenes Machtgeflecht, eben den Dispositivcharakter des Spiels auf den in den
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folgenden Kapiteln in besonderer Weise eingegangen werden soll, auf ein zu transformierendes Subjekt zu richten. An den dominanten partizipatorischen Spielarrangements wird weiterhin deutlich, dass vielen Applied-Theatre-Formen gemein ist, dass sie den prozessualen Charakter der gesamten Theaterarbeit ins Zentrum stellen.186 Zielt eine konventionell gedachte Vorstellung auch von partizipatorischem Theater also auf die zeitlich begrenzte Aufführungssituation vor oder auch mit einem externen, nicht in den konzeptionellen Erarbeitungsprozess involvierten Publikum als dem entscheidenden Moment des theatralen Prozesses ab, so kann man für viele partizipatorische Applied-TheatreProjekte die Aussage treffen, dass eine Aufführung vor einem solchen Publikum nebensächlich ist oder sogar gar nicht stattfindet.187 Dem Prozess und der Probe über Tage oder Wochen kommt somit als dem eigentlichen Moment der Intervention viel mehr Bedeutung zu. Diese Formen des Projekts bemühen sich daher in einem anderen Gestus um ihre Schauspielerinnen als andere Theaterformen, da sie ihre eigentlichen Adressaten darstellen: eine Gemeinschaft aus Mitwirkenden, die gleichermaßen als in den Gestaltungsprozess involvierte Schauspielerinnen und Publikum fungieren. Die verschiedenen Formen dieser Applied-Theatre-Projekte setzen also auf eine transformative Kraft des Ästhetischen, die sie zur kreativen Selbstoptimierung seiner am Spiel beteiligten Mitwirkenden zum Einsatz bringen – eine Abkehr von der klassischen, theatralen Wirkungsästhetik der Katharsis über die Handlungskatharsis Morenos hin zu den noch zu beschreibenden Subjekteffekten eines Dispositivs des Ernsten Spiels. So lässt sich zunächst zusammenfassen, dass Applied Theatre einen umbrella term, einen Dachbegriff für ein heterogenes Feld darstellt, das sich über seine Anwendungskontexte jenseits der Kunstsphäre in den Bereichen des Politischen wie Sozialen definiert.188 Finanziert durch Geldgeber mit einer interventionistischen Intention, wird in spezifischen Gruppen ein Problem identifiziert, das durch theatrale Mittel als Katalysator des Willens zur Selbstoptimierung der Mitwirkenden bearbeitet werden soll. In vielen Applied-Theatre-Projekten ist der Entwicklungs- und Probenprozess gleichwertig oder gar wichtiger als die eigentliche Aufführung. Durch den oftmals stark partizipatorischen Charakter der Projekte wendet es sich in vielen Fällen im Besonderen seinen Schauspielerinnen gedacht als Mitspielende zu. Spielstätten des Applied Theatre sind oftmals jenseits der konventionellen Theaterbühne. Der Spielcharakter unterstützt dabei, eine Diegese der „Wirklichkeit des Möglichen“189 zu konstruieren, die als soziales Versuchslabor fungiert: Andere soziale Regeln können für eine begrenzte Zeit und einen begrenzten Raum aufgestellt werden, in dem
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für die Mitspielenden das Spiel mit anderen Subjektivitäten im Sinne anderer Selbst- und Weltverhältnisse innerhalb eines Spielrahmens ermöglicht wird, der die gegebenen sozialen oder politischen Regelsysteme befragt.
4 Theatrale Interventionen und ethische Ambivalenzen Ein Theater, das mit dem Sozialen wie dem Politischen ‚spielt‘, das eine Gruppe identifiziert, in deren sozialen Kontext mit dem Ziel der Transformation interveniert werden soll, und ein Instrument zur Anwendung bringt, das im Stande ist, Grauzonen zwischen spielerischer Leichtigkeit und ernstem sozialpolitischen Kontext zu generieren, ein Theater, das nicht zuletzt Geld annimmt, um die sozialpolitische Agenda des Geldgebers durchzusetzen und auf seinen Bühnen ein Schauspiel der Subjektivation durchführt, unterliegt selbstredend auch ethischen Fragestellungen. Die Agenden vieler Applied-Theatre-Projekte erscheinen als progressiver, liberaler, oftmals basisdemokratischer oder gar sozialistischer, radikal humanistischer und utopischer Entwurf, verpflichten sich Werten wie Friedensarbeit, Resozialisierung und Solidarität und lassen sich durchaus als direkter Gegenentwurf zur sozialpolitischen Kälte, zum lähmenden Halten eines asymmetrischen Status quo, zu repressiven oder gar gewalthaltigen Interventionen lesen. Hier muss Therapie nicht Reizstrom, Monolog auf der Couch des Psychoanalytikers oder sedierende Medikation bedeuten, sondern das Darstellen des inneren Konflikts und die Reaktivierung von Körper und Seele durch Tanz und Verkörperung. Gefangene werden nicht lediglich weggeschlossen, überwacht oder gar zur Ordnung geprügelt, sondern mit Theaterworkshops resozialisiert, die sie als Mensch in einem bisweilen unmenschlichen System ansprechen. Jugendlichen aus Problemvierteln kann neben lähmender Perspektivlosigkeit, der Drohung des Jobcenters und des Jugendarrests auch die Schönheit von Strawinsky nahegelegt werden. Die ‚westliche Hemisphäre‘ sendet in die sogenannte Dritte Welt nicht länger nur Missionare, Kolonialtruppen, Getreide oder Waffen, sondern hat seinem Interventionsrepertoire zur Konfliktlösung in den letzten Dekaden neben dem durchaus weiterhin militärischen Aspekt auch den theatralen hinzugefügt190 und Fortbildungskurse in der Arbeitswelt bedeuten eben nicht nur trockene, dem Frontalunterricht der Schule ähnelnde Seminare, sondern das Spiel, die Kreativität, Motivation und den Willen zur Selbstoptimierung. Das Theater erscheint hier als homöopathisches Allheilmittel für einige der größten und eine ganze Reihe mittelgroßer Geißeln der Menschheit – vom Krieg bis zur Apathie. Seine Wirkungsversprechen bauen darauf, dass diverse identifizierte, gesellschaftliche
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Probleme in den Summen ihrer Teile aus einer Masse von Individuen mit Problemen bestehen, deren Selbst- und Weltverhältnis nicht festgeschrieben ist, sondern veränderbar und formbar – ein Theater, in dem eine alternative Wirklichkeit einer anderen sozialen Rolle äußerlich performt und geprobt werden kann, mit der Hoffnung, dass sie sich in der Seele sedimentiert und sich so utopisches Spiel in soziale Realität verändern lässt – die Goffman’sche „Dramatologie“191 als Regierungsinstrument: Ein Zwangssystem würde zur Lösung eines Problems herrschen und bei Zuwiderhandlung bestrafen, ein nachhaltiges und liberales System hofft darauf, dass eine Notwendigkeit zum Wandel des Verhaltens von den Individuen selbst erkannt wird, und bietet das Spiel zum Ausprobieren der „Wirklichkeit des Möglichen“192, zum Perspektivwechsel auf alternative Realitäten und zum Ausgangspunkt der (erneuten) Teilhabe an der Gesellschaft an. Soweit würde man dem Applied Theatre attestieren, dass sein Leitbild ein humanistisches, soziales, pazifistisches und freiheitliches ist. Dennoch muss sich dieses Feld des Theaters im Diskurs stets auch mit ethischen Fragen auseinandersetzen, die in diversen Bruchmomenten dieser utopischen Entwürfe aufscheinen. Nachhaltigkeit Die Wirkungsversprechen des Applied Theatre sind in ihren Selbstbeschreibungen facettenreich und verheißungsvoll. Zudem erscheinen mögliche Mangelfolgeschäden, anders als bei Medikation, militärischer Intervention oder kostenintensiver sozialpolitischer Reform, ganz im Sinne des Spiels mit wenig Konsequenz behaftet – was mag es schon schaden, in einem theatralen Versuchslabor Subjektivitäten ausprobieren zu lassen, selbst wenn man scheitern sollte? Allein ein Diskurs im Feld verweist auf einen Mangel an Messbarkeit und Nachweis der Nachhaltigkeit dieser Projekte.193 Ihre Wirkungsbeschreibungen konstatieren Applied-Theatre-Praktiker gerne am beinahe magisch aufgeladenen Konzept der Katharsis nicht zuletzt selbst, was bei kreativen und liberalen Theaterprojekten weniger Kopfzerbrechen evozieren mag als bei Selbsterklärungen der Zigarettenindustrie über die positiven Eigenschaften des Rauchens. Selbstredend gibt es im Feld und gerade unter den idealistischen, nicht-marktkonform ausgerichteten Projekten Facilitators, die versuchen, an sich selbst höchste Ansprüche und Standards der verantwortlichen Evaluation zu legen. Ein Beispiel sind die Reflexionen James Thompsons über seine eigenen Projekte, die damit einhergehende Verantwortung für die Menschen, mit denen er arbeitet, und gerade auch die schmerzhafte Analyse des Scheiterns mit ernsthaften Konsequenzen bis hin zum gewaltsamen Tod als Begleitphänomen solcher Projekte.194
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Auch Unternehmenstheateranbieter reflektieren ethische Standards und hinterfragen ihre Methoden – in zahlreichen, in dieser Studie durchgeführten Interviews wurde klar, dass sich die Anbieter Grenzen bei der Annahme von Aufträgen und der Aushandlung von deren Zielen mit der Unternehmensleitung setzen. Benennt dabei der eine spezifische, unethische Branchen – die Rüstungsindustrie, für die er niemals arbeiten würde195 –, beschreiben andere spezifische Konstellationen, für die sie ihre Methoden nicht zur Verfügung stellen würden, in denen das Theater nur noch zum Propagandainstrument der Manipulation degradiert werden würde – etwa ein Theaterabend, der die Vorteile der Verschlankung des Mitarbeiterstabs ohne Aushandlung von Perspektiven preisen würde. Da alle Anbieter aber ihre Methode zugleich bewerben und verkaufen müssen, ist selbstredend allen die mit Vorsicht zu genießende Betonung gemein, wie gut das Theater den Menschen tue und wie dankbar Mitarbeiterinnen nach den Workshops seien. Katharsis und die Kreativität des Spiels werden hier zu mythischen Kraftquellen der ökonomischen Innovation. Die Betrachtung derjenigen Formen des Unternehmenstheaters als Applied Theatre, die sich als Personalentwicklungs- und Schulungs-Workshops, Potentialanalyseverfahren oder interne Assessment-Center-Prozesse darstellen, können weiterhin durchaus auch neue Perspektiven auf die Debatte um impact und Nachhaltigkeit aufzeigen. Diese Theaterformen werden grundsätzlich durch Methoden begleitet, mit denen diese beiden Effekte messbar werden: Von der Assessment-Kommission vergebene Noten für abgeprüfte Kompetenzen können mit im Ruhezustand am Fragebogen erhobenen Selbsteinschätzungen der Mitarbeiterin verglichen und dann in computergestützte Grafiken übersetzt werden. Wird das Potentialanalyseverfahren in einem regelmäßigen Turnus durchgeführt, kann diese Statistik in Entwicklungsgraphen übersetzt werden, die Aussagen darüber treffen, ob eine Mitarbeiterin sich für die Firma positiv entwickelt oder den Zenit ihrer Kompetenzen überschritten hat. Auch kann an der Effizienz einer ganzen Abteilung vor und nach Implementierung solcher Verfahren anhand konkreter Steigerung von Performanz abgemessen werden, ob die Implementierung der Methode erfolgreich war. Die folgenreiche MPS-Studie bei AT&T führte auch deshalb zur Verbreitung der Assessment-Methode, da impact und Nachhaltigkeit in reellen Zahlen und Daten nachweisbar war.196 Ironischerweise ist es also gerade das im Applied-Theatre-Diskurs beinahe ignorierte Assessment Center, von dem etwa das sogenannte theatre for development lernen könnte, wie es mit den Problemen des Nachweises von impact und Nachhaltigkeit197 umgehen könnte. Mehr noch, an seinem Beispiel wird deutlich, dass man wie in William Wymark Jacobs Schauer
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erzählung Die Affenpfote vorsichtig sein sollte, was man sich wünscht. Keine andere Ausformung von Applied Theatre ist minutiöser im Festhalten jeder performativen Handlung, macht jedes Zucken des Mundwinkels, jedes Stocken, jeden Versprecher und jeden hektischen Fleck zum Gegenstand der Beobachtung indexikalischer, theatraler Zeichen, die Rückschluss auf das Innere des Schauspielers zulassen, wertet akribisch anhand von Statistik vorab ausgefüllte Fragebögen aus, um Ruhezustand mit Aktionszustand im Spiel zu vergleichen, führt vorbereitende und nachbereitende Gespräche, um den Spielenden im Digitalen als Daten und Fakten, als Grafik und Graphen mit einer Entwicklungstendenz der Persönlichkeit in Zahlen und Pfeilen darzustellen.198 Das Assessment Center zeigt also, dass Performanz, impact und Nachhaltigkeit eines Theaters zur Konfliktlösung in der Theorie sehr wohl und sogar sehr akribisch mit relativ verlässlichen Messmethoden ausgestattet werden könnte, allein, man verließe den Bereich der liberalen, humanistischen Denkweise hin zur übergriffigen Totalüberwachung. Nachweis von Nachhaltigkeit und impact ist somit nicht rein eine Frage der mangelnden Methode, sondern auch ein ethischer Spagat zwischen Vertrauen und Kontrolle und offenbart die Janusköpfigkeit der impact-Debatte: Auf der einen Seite will man verlässliche Daten über die Wirksamkeit und Nachhaltigkeit einer intersozialen Methode, auf der anderen Seite möchte man so wenig invasiv wie möglich mit einem invasiven Instrument auftreten und zudem im Idealfall noch messen können, ob es dem Geldgeber denn invasiv genug sei, um damit fortfahren zu können. Gefährliche Kontingenz Der Aufführung wohnt eine Kontingenz inne, die als nicht steuerbar gilt.199 Wird die Aufführung zwar durch die rahmende Inszenierung und die Dramaturgie in bestimmte Bahnen gelenkt, so treten doch immer Emergenzen auf, die unvorhersehbare und unplanbare Auswirkungen auf den Ausgang des Theaterereignisses haben.200 Der Aspekt des Spiels (im Sinne des game oder ludus, nicht des freien paida oder play)201, dem das zweite Kapitel dieser Studie gewidmet sein wird, scheint gerade in erweiterten Personalauswahlverfahren, jedoch auch in anderen partizipatorischen Formen von Applied-Theatre-Projekten zu versuchen, diese Kontingenz bis zu einem gewissen Grad an die Kette zu legen und die unvorhersehbaren Ausgänge zu einem Spektrum vorhersehbarer Spielresultate umzudeuten: Der Würfel ist kontingent, aber eins bis sechs wird schon fallen, wenn man ihn wirft. Denn im theatralen Simulieren der Arbeit der Aufführungen der Development- und Assessment-Center-Prozesse wäre eine ungedrosselte Kontingenz weder zielführend noch erwünscht. Die theatralen Spiele im Unternehmenskontext sind systemstabilisierend angelegt und sollen lediglich zu
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absehbaren Ergebnissen in einem an Schulnoten erinnernden Spektrum von guter Performance bis hin zu unbefriedigender Leistung führen. Nicht zuletzt geht dies auch mit den Wirkungsversprechen und der Antragslyrik des Applied Theatre für den Geldgeber einher, der keinesfalls unbegrenzt offene Ergebnisse finanzieren würde: Der angestrebte Richtungswechsel, also die Veränderung, findet zwar im Modus der Kontingenz eines Aufführungsprozesses statt, sie ist aber in eine Dramaturgie eingebunden, die ihre Richtung vorzugeben sucht.202 Die konkreten Menschen, auf die sich das Applied Theatre im Allgemeinen ausrichtet, sind nicht zuletzt auch Traumatisierte, Patientinnen, Straftäter und Personen in starken Abhängigkeitsverhältnissen. So kann es durchaus passieren, dass erst während des Prozesses festgestellt wird, dass die spezifische Theaterform unerwünschte, ja destruktive Nebeneffekte mit sich bringt. So sehr auch die positiven Effekte des Applied Theatre in unterschiedlichen Kontexten hervorgehoben werden, wird innerhalb des Diskurses unter den Praktikerinnen selbst auch über die sensiblen Kontexte reflektiert, in die man von außen eindringt und in die durchaus experimentell interveniert wird. James Thompson etwa beschreibt, wie eine A pplied-Theatre-Intervention im Kontext der Resozialisierung von Kindersoldaten im Krisengebiet Sri Lankas gravierende, ja tödliche Konsequenzen eines Massakers an den Beteiligten nach sich zog.203 Janina Möbius, Expertin für Applied-Theatre-Formen in Gefängnissen, schildert den Prozess einer Inszenierung von Passionsspielen in einem Jugend gefängnis in Mexiko, bei der die symbolische Gewalt in reale umschlug.204 Bei der Arbeit mit Gefangenen, traumatisierten Patienten oder politischen Straftätern geht das Applied Theatre in Kontexte und arbeitet mit Menschen, bei denen das Versuchslabor, das Therapieren nach dem trialand-error-Prinzip des freien Spiels beizeiten ethisch fragwürdige Nebenwirkungen hat. Denn sind die Standards für eine psychologische oder psychiatrische Ausbildung und Qualifikation zur Behandlung hoch, so kommen dem Spiel an dieser Stelle seine harmlosen Konnotationen zugute.205 James Thompsons Umgang mit der eigenen Arbeit ist hier als der ‚Goldstandard‘ zu bezeichnen, den man im weiten Feld der Anbieter längst nicht überall vorfindet. Judith Ackroyds Mahnungen über einen massiven blinden Fleck im ethischen Diskurs des Applied Theatre, wenn es um Phänomene, Anwendungen und Effekte jenseits affirmativer politischer Zuschreibungen geht,206 legt Zeugnis über diesen Sachverhalt ab. Hier wird ein ganzer marktkonformistischer Zweig der eigenen Profession, das
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Unternehmenstheater, im Diskurs fast wie verschämt unter den Teppich gekehrt. Es verbleibt die Herausforderung, dass die ethischen Standards des Unternehmenstheaters wie aller anderen Applied-Theatre-Formen zumeist selbst gesetzt werden, obgleich das Instrument, das hier geführt wird, sich bisweilen als scharfes Messer erweist. Therapie ohne Einwilligung Beschreibt der vorangehende Punkt die Konstellation einer improvisierten Therapie durchaus behandlungsbedürftiger Zielgruppen durch therapeutische Laien, so wird auch die umgekehrte Konstellation durch Applied Theatre ermöglicht. Findet man also z. B. im sogenannten theatre for development oder im Gefängnistheater Beispiele dafür, wie Experten auf dem Gebiet des Theaters, die zugleich Laien auf dem Gebiet der Psychiatrie und Psychologie sind, mit schwer traumatisierten Zielgruppen arbeiten – mit ehemaligen Kindersoldaten, jugendlichen Straftätern oder Geflüchteten –, kommen Applied-Theatre-Projekte in anderen Bereichen einer professionellen Therapie ohne Einwilligung gleich. Im Kontext von Unternehmenstheater etwa werden in Fortbildungsseminaren und Development Centern mit theatralem Charakter von ausgebildeten Psychologen Interventionen nach dem Vorbild des Psychodramas Morenos arrangiert, die auch in den Bereich des Privaten eindringen207 und denen sich die Mitarbeiterinnen zugleich nicht entziehen können, da solche Seminare im Unternehmenskontext verpflichtend sind.208 Hier kommen die Applied-Theatre-Interventionen mit der Leichtigkeit eines Improvisationstheater-Workshops daher und haben doch Anteile einer zwangsverpflichtenden Therapiesitzung. Zwar werden seit Verbreitung der Assessment-Center-Methode in der Privatwirtschaft von Seiten der Arbeits-, Betriebs- und Organisationspsychologie wie von den Wirtschaftswissenschaften etwa durch Institutionen wie den Arbeitskreis Assessment Center qualitative wie ethische Standards der Methode reflektiert und veröffentlicht,209 doch selbstverständlich sind diese ethischen Richtlinien weitestgehend bloße Empfehlungen für eine korrekte Implementierung der Methode, bei denen es wiederum konsequenzlos bleibt, wenn gegen sie verstoßen wird. Sendungsbewusstsein und ignorieren lokaler Kontexte im neoliberalen Gestus Wie voranstehend ausgeführt, ist Applied-Theatre-Projekten gemein, dass von außerhalb einer Gemeinschaft ein Problem identifiziert wird, das mit theatralen Mitteln bearbeitet werden soll. Ist dies generell gesprochen natürlich ein positiver und sich zuwendender Gestus, dem wenig aggressives oder eigennütziges Potential inhärent zu sein scheint, so muss doch die
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Konstellation mitbedacht werden, dass es sich bei diesen Praktiken letztendlich um Normalisierungsprozesse handelt,210 bei denen von außerhalb festgelegt wurde, was die Norm ist. Im Idealfall reflektiert die Praxis diese Konstellation und versucht behutsam, die gegebenen Umstände zu respektieren.211 In anderen Fällen kann es aber auch zum Ignorieren lokaler Kontexte, zum paternalistischen Aufoktroyieren der ‚richtigen Perspektive‘212 oder auch zur Appropriation lokaler Traditionen für eigene Zwecke kommen. Applied Theatre ist eben auch ein politisches Instrument und als solches mit einem Sendungsbewusstsein ausgestattet, in dem Initiatoren und Geldgeber nicht zuletzt davon ausgehen müssen, dass ihre Sicht auf Gesellschaft, ihre politischen Ansichten und ihre Botschaft, letztendlich also ein politisches Verständnis von Demokratie und Gesellschaft des ‚Westens‘ die richtige ist, egal ob diese Perspektive auf die eigene Gesellschaft oder auf andere Kulturen und Länder angewandt wird.213 Inhärent wäre dieser Sicht also, genau zu wissen, was gut für andere ist, egal, wer der andere ist, und dabei zu verdrängen, dass die eigene Sicht eventuell auch nicht frei von Paradoxien und ethischen Ambivalenzen ist. Eine solche Problematik ist leicht auszuklammern, wenn es um ein Projekt zur HIV-Prävention geht, schwerer erscheint ein neutrales Urteil, wenn sich Theater in Spannungsfeldern eines ethischen Relativismus situiert, wenn es zwischen sozialen Schichtungen verhandeln muss oder zur Konfliktbearbeitung in Krisengebieten eingesetzt wird.214 Der Geldfluss Wie vorangehend erläutert, tragen sich die Kosten von Applied-TheatreProjekten weder selbst durch den Verkauf von Eintrittskarten noch unterliegen sie einer inhaltlich-politisch interesselosen Förderung. Die Finanzierung ist ein nicht zu vernachlässigendes, machtvolles Element in dem komplexen Gefüge, aus dem ein Applied-Theatre-Projekt besteht. Der Geldfluss ist es, der über das vorangehend erwähnte ‚für, zur, in, mit‘ bestimmt, der also letztendlich bei der Intention des Projekts nicht unerhebliches Stimmgewicht darüber generiert, wo ein Problem liegt, das es mit theatralen Mitteln zu bearbeiten gilt. Je nachdem, wie sich die Geldgeberin gegenüber dem Projekt in dieser Machtkonstellation verhält, kann sie, da von ihr die Verwirklichung des Projekts abhängig ist, Ziele formulieren und auch kreativ intervenieren. Ein solcher Fall mit ambivalenten Konsequenzen wurde etwa im Rahmen eines wissenschaftlichen Workshops des Forschungsprojekts The Aesthetics of Applied Theatre in Berlin von einem Applied-Theatre-Projekt im Nahen Osten mit politischen Aktivistinnen vor dem Hintergrund des Arabischen Frühlings geschildert. Die Teilneh-
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merinnen an diesem Projekt hatten z. T. selbst massive Gewalt erlebt und konnten in ihren Heimatländern als politisch verfolgt gelten. Teil des ästhetischen Ansatzes war auch die Versprachlichung und Darstellung der eigenen traumatischen Erlebnisse. Hatte dabei das Projekt zunächst einen nicht-öffentlichen Workshop-Charakter, mussten durch eine Intervention und Druck des Geldgebers die erarbeiteten Szenen zum Ende des Projekts, anders als geplant und kommuniziert, zu einer Aufführung gelangen, die einer Öffentlichkeit zugänglich gemacht wurde.215 Im Unternehmenstheater fließt das Geld, das die Intention leitet, dabei selbstredend immer von Seiten der Firmenleitung. Die ästhetischen wie intentionellen Rahmungen eines Applied-Theatre-Projekts werden somit Aushandlungsprozessen zwischen Geldgeberinnen und Praktikerinnen unterworfen und können in einigen Fällen zu ethischen Ambivalenzen führen. Potemkinsche Dörfer Viele der hier angeführten Punkte beinhalten Aspekte, in denen Applied Theatre Gefahr läuft, manipulativen Charakter gegenüber seinen Zielgruppen anzunehmen, übergriffig zu werden und so gravierende, unkontrollierbare Bruchmomente zu generieren. Im Hinblick auf eine nächsthöhere Ebene, jene der Sozialpolitik, können aber auch Ambivalenzen zwischen der positiven Außenwirkung und der mangelnden Nachhaltigkeit entstehen, indem der Staat seine sozialpolitische Verantwortung an die Kunst delegiert. So können Applied-Theatre-Projekte auch im größeren Rahmen instrumentalisiert werden, um von Seiten der Politik Einsparungen und den Abbau in Bereichen der Sozialpolitik zu kaschieren. Denn ist generell die staatliche Förderung von diversen Applied-Theatre-Projekten mit viel Außenwirkung und Prestige verbunden, irritiert doch das Moment, wenn eine solche Förderung mit dem gleichzeitigen Abbau bereits bestehender, weniger pressewirksamer Maßnahmen einhergeht.216 Konkret gesprochen: Der neoliberale Staat zieht sich aus seiner sozialen Verantwortung zurück und generiert so einen Mangel. Konflikte in Problemvierteln einer Großstadt nehmen zu. Mit einem Bruchteil der staatlichen Gelder, die für ein funktionierendes Jugendamt, für ausgebildete amtliche Sozialarbeiterinnen oder für sozialen Wohnungsbau ausgegeben wurden, wird dann als pressewirksames Surrogat ein Applied-Theatre-Projekt zur Gewaltprävention unter Jugendlichen aus diesem Viertel initiiert. Hier delegiert dann der Staat seine Verantwortung lediglich an die Kunst und kauft sozusagen ein wenig Wandfarbe für ein einsturzgefährdetes Haus.217 Auf den ersten Blick scheint dieser ethische Fallstrick des Einsatzes von Applied Theatre das Unternehmenstheater nicht zu berühren, da es sowieso nicht im Bereich der sozialpolitischen Sphäre zum Einsatz kommt.
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Als eher anekdotischer Einzelfall mit spekulativer Dunkelziffer ergab sich allerdings aus einem Interview mit einem ehemaligen Vorstand der Filiale einer großen deutschen Versicherung, dass hier der Aspekt des potemkinschen Dorfs durchaus auch zum Tragen kommen kann: Der Filialleiter schilderte Fälle aus internen Assessment-Center-Verfahren der Versicherungs-AG als übliches Prozedere, in denen im Rollenspiel vorab präferierten Bewerbern der Weg durch das Bewerbungsverfahren geebnet wurde. Hier wurden wohlgemerkt keine externen Dienstleister mit der Durchführung des Assessment Centers beauftragt: Als Spielpartner im Rollenspiel wurden Mitarbeiter als Laienschauspieler eingesetzt. Der Filialleiter berichtete von einem exemplarisch für dieses System stehenden Fall, in dem vor dem entscheidenden Rollenspielmodul der jeweilige Vorgesetzte, der das Assessment Center leitete, den Spielpartner des erwünschten Bewerbers beiseite nahm und mit eindringlichem Subtext in der Intonation aufforderte: „Mach es ihm mal nicht so schwer. Wir wissen doch beide, dass er es ist …!“ Aufgefordert wurde zur Nuancierung des Schwierigkeitsgrads des Spiels, in das der Spielpartner in seiner Rolle des unbequemen Kunden beim gewünschten Kandidaten eben nicht so viele Hürden einbauen sollte. Mit dieser Manipulation wurde die persönliche Präferenz des verantwortlichen Personalmanagers, der Filz, wie man im Deutschen sagt, gegenüber anderen Entscheidungsträgern scheinobjektiviert. Eigentlich soll das Assessment-Center-Verfahren natürlich nicht zuletzt gleiche Voraussetzungen unter allen Bewerberinnen schaffen, um Daten zu erheben, die die subjektive Bauchentscheidung des Vorstands beim klassischen Bewerbungsgespräch durch objektive Kriterien zur Einstellung einer Bewerberin ersetzt. Somit sind die Ergebnisse solcher Verfahren auch als Argument im Falle von gerichtlichen Klagen der Mitbewerberinnen bezüglich der Nichtbeachtung des Gleichheitsgrundsatzes relevant. An diesem Beispiel wird jedoch deutlich, wie sich das gesamte Verfahren ganz im Gegenteil durch hierarchische Manipulation zur Farce wandeln kann, die rein aufgrund der objektiven und innovativen Außenwirkung veranstaltet wird. Bei aller Kritik an der Ethik und Politik des Unternehmenstheaters muss an dieser Stelle allerdings auch betont werden, dass gerade das Engagieren eines externen, spezialisierten Theateranbieters für diese Verfahren solch einer abteilungsinternen Günstlingswirtschaft entschieden vorbeugen mag. Entkernung der Form Ein Hammer ist ein Werkzeug ohne eigenes Interesse, es braucht eine Hand mit Intention, die ihn führt. Man kann mit ihm einen Nagel in die Wand schlagen, um ein Bild aufzuhängen, oder in einem Akt von Vandalismus eine Skulptur zertrümmern. Ästhetische Dispositive, wie die
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Aufführungen des Applied Theatre, sind komplexere Geflechte als bloße Werkzeuge, doch auch ihnen ist die Intention, eine Art Hand, die sie führt, um zu einer Aussage oder einem Effekt zu gelangen, nicht fremd. Auf diese politischen Aspekte des ästhetischen Dispositivs soll im dritten Kapitel dieser Studie ausführlich eingegangen werden. Jenseits dieser Intention werden bestimmten medialen und ästhetischen Dispositiven mitunter von einem populären, aber auch akademischen Diskurs essentialistisch positive oder negative Wirkungsästhetiken zugeschrieben. Aus dem Alltag bekannt erscheint in diesem Zusammenhang wohl das Postulat, Fernsehen mache dumm, ein Buch jedoch bilde Geist und Charakter. Diese pädagogische Binsenweisheit ergibt sich vor allem aus Zuschreibungen gegenüber der dispositiven Anordnung, die dem Fernsehen passives und unreflektiertes Konsumieren, dem Lesen Aktivität und intellektuelle Reflexion zuspricht. Für die Herzensbildung würde einem Jugendlichen dennoch nahegelegt werden, lieber eine arte-Dokumentation über die Shoah zu schauen als in einer unkommentierten Version von Mein Kampf zu schmökern. Natürlich kann neben den politischen Intentionen des Produzenten auch der geistige Boden der Rezipientin, auf den diese Frucht fällt, in dieser Konstellation nicht außer Acht gelassen werden. Dem ästhetischen Arrangement scheint also in diesem Beispiel nicht allein die politische Botschaft inhärent zu sein, auch wenn selbstredend nicht in Frage gestellt werden soll, dass spezifische mediale Dispositive ebenso spezifische Rezeptionshaltungen forcieren. Auch der akademische Diskurs über ästhetische Konstellationen und Rezeptionshaltungen ist – so bemerkt es Jacques Rancière in Der emanzipierte Zuschauer – nicht frei von „theoretischen und politischen Vorannahmen“218, denn ähnliche Essentialismen umgeben das Theater und die Zuschauerinnenposition in verschiedenen seiner ästhetischen Ausformungen. Die illusionistische Guckkastenbühne, das versteckte Orchester der Wagner-Oper, die auf ihrem Platz stillgestellte Zuschauerin des bürgerlichen Trauerspiels, Stadttheaters, Musicals oder Boulevardtheaters usw. müssen in dieser Gedankenfigur für inaktive, passiv konsumierende oder im Schein der Überwältigungsästhetik gefangene Zuschauer einstehen: Die zahlreichen Kritiken, die das Theater im Laufe seiner Geschichte hervorgerufen hat, können nämlich auf eine wesentliche Formel reduziert werden. Ich werde sie das Paradox des Zuschauers nennen, ein Paradox, das vielleicht grundlegender ist als das berühmte Paradox des Schauspielers. Dieses Paradox lässt sich einfach formulieren: Es gibt kein Theater ohne Zuschauer (sei es auch ein einziger und versteckter Zuschauer, wie in der fiktiven Darstellung des Natürlichen Sohns, die die Gespräche Diderots hervorruft). Die Ankläger sagen nun, dass es
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schlecht ist, Zuschauer zu sein, und das aus zwei Gründen. Erstens ist zusehen das Gegenteil von erkennen. Der Zuschauer steht einer Erscheinung gegenüber, von der er weder den Herstellungsvorgang noch die Wirklichkeit, die von der Erscheinung verdeckt wird, kennt. Zweitens bleibt der Zuschauer unbeweglich und passiv auf seinem Platz. Zuschauer sein bedeutet, zugleich von der Fähigkeit zur Erkenntnis und von der Handlung getrennt zu sein.219 Im Folgenden umschreibt Rancière den Diskurs um Theaterfeindlichkeit und die ästhetischen Reformen des Theaters als einen Kampf um eben diese passive Zuschauerposition.220 Sprechen sich dabei etwa Platon oder die Theaterkritiker der Kirche gegen das Theater als Ort der Phantasmen oder als Spielplatz des Teufels aus, so tragen die Reformatoren der Aufklärung des bürgerlichen Trauerspiels die scheinbar intellektuelle Anregung dieses problematischen Zuschauers durch das Wort ins Theater: Durch die Literarisierung ist es primär ein literarischer Text und nicht länger die verkörperte Darstellung, die auf die Zuschauerin einwirken und damit ihre passive, den Illusionen nachhängende Position aufbrechen und das Publikum erziehen soll. Die Debatte erneuert sich politisch in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts an den politischen und ästhetischen Programmen der klassischen Avantgarde. Erneut gilt die Zuschauerin, nun auch die des konservativen Literaturtheaters, als ein passives, konsumierendes, politisch stillgestelltes Subjekt, während die Avantgarden das Aufbrechen des illusionierenden Dispositivs durch eine antiillusionistische Ästhetik (hier ist vor allem Brecht zu nennen) oder durch die Aktivierung des Zuschauers fordern.221 Diese Vorannahmen und politischen Zuschreibungen bilden letztendlich das Fundament für den affirmativen Diskurs der Wirkmacht des Applied Theatre, da die Mehrheit der verschiedenen ästhetischen Formen dem partizipatorischen Prinzip des aktivierten und daher scheinbar mit politischer agency ausgestatteten Zuschauers folgen.222 Dass allerdings, wie Rancière anmahnt, die aktive und im Spiel involvierte Zuschauerin als Mitspielerin so sehr immersiv eingebunden sein kann, dass die Gedanken über das Konstrukt der Hinterbühne, die die Illusion möglich macht, weiter in den Hintergrund rücken kann als im Illusionstheater der Guckkastenbühne, wird dabei ebenso wenig in Betracht gezogen wie die Möglichkeit, dass dem auf seinem Platz stillgestellten Zuschauer gerade durch eine vom Geschehen distanzierte Position eine Reflexion über das Wahrgenommene ermöglicht werden kann. Im konkreten Beispiel der Analyse unterstreicht dies etwa die explizit auf Rancière verweisende Arbeit Jen Harvies zu den partizipatorischen
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Formen der aktuellen Kunst- und Performance-Installationen, zu denen man ohne Weiteres auch das immersive Theater zählen kann.223 Die Kritik an der Illusion der Guckkastenbühne und der stillgestellten Zuschauerin scheint bisweilen zu ignorieren, dass es sich bei der Haltung der Zuschauerin nicht zuletzt um eine willing suspension of disbelief, mit der Betonung eben auf willing, handelt, die das Publikum in dieser Spielart des Theaterdispositivs eingeht – eine Konstellation, von der man beim unfreiwilligen Zuschauer einer Boal’schen Intervention durch Unsichtbares Theater gar nicht mehr sprechen kann und die in einem progressiven politischen Umfeld doch letztendlich die totale Illusionierung bedeutet: das Unvermögen der Zuschauerin länger noch dazwischen unterscheiden zu können, ob die gerade gesehene Szene sich so ergeben hat oder von langer Hand geplant und mit politischer Intention inszeniert war. So werden die ästhetischen Formen von Boal, Brecht, Johnstone oder Moreno von sozialromantischen Zuschreibungen umwittert, die zu einer spezifischen Theaterform immer bereits eine progressive, soziale Intention der politischen oder therapeutischen Inhalte mit hinzudenken. Auch die ästhetischen Techniken von Boal sind aber ohne Boals politische Haltung als Person – dies ist der verdrängte Kern der affirmativen Applied-TheatreDebatte, die Judith Ackroyd zu recht so massiv kritisiert224 – ethisch leer und können mit jedweder Intention gefüllt werden und so das Theater der Unterdrückten zum ‚Theater zur Unterdrückung‘ transformieren.225 Die Relevanz der politischen Position der Handlungsmacht für diese Formen wirkt zurück auf die Methodik der Einzelanalyse, die Fragen nach Ästhetik mit Fragen nach Rahmen und Positionierung des jeweiligen Projekts verflechten muss. Applied-Theatre-Formen sind machtvolle Werkzeuge, die bereitliegen, sich – plakativ gesprochen – einspannen zu lassen zum Guten oder zum Bösen, zur Gesellschaftskritik oder zur Wiedereingliederung in dieselbe, zum Widerstand oder zum Marktkonformismus.226 Neben dem neoliberalen Marktkonformismus des Theaters in Unternehmen finden sich auch andere Bereiche, in denen theatrale Schulungen im Geiste des Applied Theatre, die niemals in diesem Kontext verortet werden würden, einfach, weil man es nicht wahrhaben wollen würde, mit einer ethisch ambivalenten bis absolut fragwürdigen Intention aufgeladen werden können: Seminare von Pick-up-Artists,227 die den Missbrauch von Frauen theatral einüben, sogenannte christlich-fundamentalistische ‚Hellhouses‘228, das Mystery-Shopping oder militärische Übungssimulationen mit theatraler Sensibilisierung für den regionalspezifischen Kontext einer
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Konfliktzone229. Keines dieser Beispiele würde den Kernformen des Applied Theatre zugerechnet werden, dennoch weisen sie eine Verwandtschaft zu dem Feld auf und verweisen im Vergleich auf die entscheidende Position, die in dem Machtgeflecht einer theatralen Intervention der Intention der Initiatorin wie der Geldgeberin zukommt. So kann Boal im Unternehmenskontext eingesetzt werden, um sublime Unterdrückungsstrukturen in Abteilungen aufzudecken, dieselben Techniken können aber auch dazu verwendet werden, an den Effizienzschrauben des Mitarbeiterstabes zu drehen, um die Performanz einer Abteilung zu erhöhen.230 Es liegt auf der Hand, dass für das letztere Wirkungsversprechen zahlreicher Anbieter von Unternehmenstheater mehr finanzielle Mittel von Auftraggebern fließen, da diese letztendlich ausschließlich aus den Führungsetagen kommen und an der Effizienz von Unternehmensstrukturen mehr Interesse haben als an ihrer basisdemokratischen Reform. Natürlich gibt es Ausnahmen, doch selbst dort, wo firmeninterne Systeme offen durch Kunst kritisch befragt werden sollen, kann im Kern nur ein Effizienzgedanke die Interessen leiten, obgleich er dann wohlgemerkt zum Wohle aller Beteiligten zum Einsatz kommen kann. Die gewählte ästhetische Form eines jeweiligen Applied-Theatre-Projekts ist nicht zuletzt ein neutrales Instrument zur politischen Formung von Subjekten, das, wenn man das Feld überblickt, zumeist mit sozialem Engagement und zum Wohl einer Gemeinschaft eingesetzt wird. Dennoch ist die ästhetische Form an sich kein Garant für die politisch liberale, soziale Verwendung. Ananda Breed, Theoretikerin und Praktikerin auf dem Feld des Applied Theatre, etwa mahnt solche möglichen Manipulationen auch im nicht marktkonformen Einsatz eines Theaterprojekts zur Friedensarbeit in Kirgisien an, bei dem traditionelle regionale Erzählungen (manas) adaptiert werden: Although I initially trace the historic trajectory of how cultural forms including manas and trickster tales have been used to negotiate the ambiguities between differing moral, political and social agendas, the same processes that can be used towards unification can be used for exclusion. For example, the manas epic that contain historic and legendary accounts of the unification between ethnic groups has also been increasingly re-imagined as a Kyrgyz cultural form to fuel nationalism in Kyrgyzstan, diminishing the role that the manas once played to promote cohesion between ethnic groups. In this way, cultural forms can be co-opted and potentially re-framed for practices that can lead to conflict. Additionally, although the manas were once used to instil moral and social values, varied codes and signifiers are no longer uni-
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laterally relevant and the art of reciting manas has waned. In this way, although I have framed the YTP project in relation to environmental aesthetics and aesthetic experiences that are informed by the adaptation of cultural forms in Central Asia, these same forms and systems can be manipulated for alternative purposes.231 So sind die verschiedenen Formen des Applied Theatre – hier wird dem dritten Kapitel dieser Studie vorgegriffen – in ihren konkreten Aufführungen ästhetische Mikrodispositive in Immanenz zu Dispositiven höherer Ordnung, die sie erwählen. Ihnen wohnt auch ein manipulatives Potential inne, das sich, anders als der dominante Diskurs es möchte, nicht zwangsläufig aufgrund des ästhetischen Arrangements einer aktivierten Zuschauerin verflüchtigt oder zum ‚Guten wendet‘. Manipulation und Unfreiwilligkeit Ebenso wie die Worte Manipulation oder Instrumentalisierung in Bezug auf die theatralen Formen des Applied Theatre wie etwa das Theater der Unterdrückten Boals fallen können, wenn es um seine politische Intention entkernt und mit neuen politischen Zielsetzungen gefüllt wird, muss bei der Betrachtung der Machtasymmetrien des Spiels auch berücksichtigt werden, dass diese Formen selbst sich zur Manipulation seiner beteiligten Mitspieler eignet. Es ist dem Phänomen Spiel inhärent, dass es das Potential birgt, in einer Art paradoxen Klammer um eine Handlung scheinbar dichotome Kategorien wie Ernst und Unernst, Fiktion und Realität, Konsequenzhaftigkeit und Konsequenzminderung kollabieren zu lassen und den klassischen Theatervertrag zu verunklaren.232 Spiel kann mit einer Konnotation von Leichtigkeit und Unernst daherkommen, dennoch wird es gerade im Applied Theatre eingesetzt, um soziale Realitäten zu verändern. Daher muss in diesen Kontexten stetig die Möglichkeit der Manipulation mitreflektiert werden. Gerade die marktkonformen Varianten des Unternehmenstheaters begehen eine Gratwanderung dazwischen, Menschen tatsächlich mit Workshops gegen Belästigung oder Mobbing zu helfen, Angebote kreativer Selbstoptimierung und bedarfsorientierter Abendunterhaltung für diejenigen zu liefern, die es wünschen, oder aber auch als Sprachrohr des Managements unangenehme Botschaften filtriert durch einen unterhaltsamen Theaterabend zu vermitteln und gar theatrale privatwirtschaftliche Disziplinardispositive zur Qualitätssicherung der ‚Human Resources‘ und zur Selektion zu installieren und zu betreiben.233 Im letzten Fall amalgamiert sich das eigentlich durch Freiwilligkeit definierte Spiel mit der Anordnung und dem subtilen Druck des Kreativ- und
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Selbstoptimierungszwangs, bei dem diejenige, die sich dem Spiel verweigert, mit ernsten Konsequenzen zu rechnen hat.234 Möglichkeiten und Grenzen der Analyse Vorangehend wurde dargelegt, dass diverse Module aktueller Personalauswahl- und Potentialanalyseverfahren einen theatralen Charakter haben. Dieses Theater der Selektion wurde taxonomisch zunächst sehr allgemein mit dem Ritual verglichen, um dann anhand von arbeits-, betriebs- und organisationspsychologischer Fachliteratur zum Assessment Center und den Studien zweier Theaterwissenschaftlerinnen, Katja Rothe und Michael Hüttler, nachzuzeichnen, wie in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts recht unterschiedliche theatrale Praktiken – die Entwicklung des Psychodramas und die heerespsychologischen Auswahlverfahren in der deutschen Reichswehr – zahlreiche Modulationen durchlaufen und auf unwahrscheinlichsten Umwegen etwa in der Mitte der 1950er Jahre in der US amerikanischen Privatwirtschaft zusammentreffen. Anschließend wurde aufgezeigt, dass diese, bisher vom Diskurs kaum beachteten Theaterformen dem Unternehmenstheater zugerechnet werden können, mit dem, so wurde weiterhin dargelegt, wiederum im Diskurs um Applied Theatre weitestgehend aus ideologischen Gründen distanziert bis verdrängend umgegangen wurde. Durch die belegte Etablierung der Theaterarbeit Morenos in privatwirtschaftlichen Unternehmen in den USA Mitte der 1950er Jahre kann aus Sicht dieser Studie dem ganz entschieden entgegengehalten werden, dass das Unternehmenstheater nicht lediglich eine spät aufgetretene, neoliberal korrumpierte Variante ‚klassischen‘ Applied Theatre wäre. Es hat vielmehr legitimen Anteil an der Geschichte der Form und, wäre nicht die ‚Geburtsstunde‘ des Applied Theatre selbst ein so strittiger und wenig klar zu umreißender Gegenstand, könnte man wohl behaupten, dass es einige der definierenden Kernformen und Anwendungen seines Korpus vordatiert. Wie eingangs erwähnt, sieht diese Studie in der Verortung des Theaters der Selektion der theatralen Personalauswahl- und Potentialanalyseverfahren im Korpus des Applied Theatre, auf dessen ethische Ambivalenzen sich insbesondere der vorangehende Abschnitt ausführlich fokussiert hat, eine Chance für die Applied-Theatre-Debatte, dem von Judith Ackroyd beobachteten affirmativen Diskurs um die Wirkmächtigkeit des Theaters seine verdrängten Anteile zu präsentieren. Von der Analyse des Theaters der Selektion erhofft sich diese Studie zum einen einen Beitrag zur konstruktiven Kritik an der Ethik des Applied Theatre, zum anderen aber auch einen Blick auf ein von Theatralität strukturiertes Gesellschaftsmodell, in dem die gelungene oder misslungene Aufführung zur Frage an der Teilhabe an Gesellschaft avanciert.
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Die theatralen Personalauswahlverfahren der Assessment und Development Center situieren sich in ebendiesem, vorangehend dargelegten, äußerst komplexen Feld des Applied Theatre. Gemäß seinem politischen, therapeutischen oder pädagogischen Interventionsanspruch haben sich Analysen diesem Theater zumeist aus ethnologisch-kulturwissenschaftlicher oder soziologisch-pädagogischer Perspektive genähert und Fragen nach Effizienz, Optimierung und Nachhaltigkeit fokussiert.235 Die hier vorliegende Arbeit möchte dagegen eine Methodik der eigenen theaterwissenschaftlichen Disziplin, die Aufführungsanalyse, ins Feld führen, um mit Aussagen über die Ästhetik der Personalauswahlverfahren Rückschlüsse auf das Applied Theatre und schließlich auch auf das systemische Umfeld, in dem es verortet ist, ziehen zu können. Obgleich explizit ein Instrumentarium zur Analyse von Theateraufführungen, ist die Anwendung von Aufführungsanalyse auf Applied-Theatre-Projekte eher ungewöhnlich,236 da offenbar Fragen nach der Effizienz, Nachhaltigkeit oder möglichen Optimierung einer Intervention nicht mit einer Methode zur Analyse von transitorischer Ästhetik vereinbar erscheinen, die rein oberflächlich betrachtet eher in der Kunstsphäre Anwendung findet. Dies jedoch ist ein Trugschluss, da im Applied Theatre die institutionelle Rahmung, die interventionistische Zielsetzung, die ethischen Fragestellungen des Projekts und die Ästhetik unmittelbar miteinander verflochten sind.237 Zudem war die theaterwissenschaftliche Aufführungsanalyse wie der Theaterbegriff der Disziplin von jeher nicht auf die Kunstsphäre begrenzt. Wird an anderer Stelle in dieser Studie darauf eingegangen, dass die Betrachtung der einzelnen Aufführung nicht allein den methodologischen Schlüssel zur Analyse eines Applied-Theatre-Projekts darstellen kann, da die Aufführung allgemein in derlei Projekten zuweilen zweitrangig ist und mit prozessualen Rahmenbedingungen, Proben, Anträgen, Diskussionen über das Spiel etc. ins Verhältnis gesetzt werden muss, so soll dies keinesfalls als Plädoyer gegen die Methode der Aufführungsanalyse missverstanden werden. Die Aufführung erweist sich vielmehr weiterhin als ein machtvolles Teilelement eines komplexen Geflechts, das von der Analyse der Aufführung her beschrieben werden kann. Eva Horn nun nennt aus kulturwissenschaftlich-anthropologischer Sicht das Assessment Center explizit ein Theater und verweist gleichzeitig auf seinen Dispositivcharakter. 238 Doch weder widmet sich ihr Essay der Frage nach der Stellung der Ästhetik in einem solchen Dispositiv noch bietet er Instrumente zur prozessbegleitenden Analyse dieser speziellen transitorischen Theaterereignisse an. Anknüpfend an Horn betrachtet die hier vorliegende Studie Assessment- und Development-Center-Verfahren, Applied Theatre aber auch Produktionen des Kunsttheaters als ästhetische
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Dispositive, in deren heterogenem Ensemble Ästhetik nicht abgelöst von Machteffekten und damit von Fragen nach Politik, Ethik und Subjektivation betrachtet werden kann. Die Aufführungen des Applied Theatre – hier wird dem dritten Kapitel vorausgegriffen – werden dabei als mikrodispositive, ästhetische Anordnungen verstanden, die wiederum von einem institutionellen wie einem gesamtgesellschaftlichen Dispositiv nächst höherer Ordnung erwählt wurden. Um dieser komplexen Betrachtung gerecht zu werden, muss die Aufführungsanalyse mit einer Dispositivanalyse239 amalgamiert werden, was im folgenden, konkreten Fall bedeutet, klassische Beobachtungen der performativen Vorgänge einer szenischen Handlung, die Emergenzen, die referentiellen Bezüge, die Schauspieltechnik, die Ausstattung und das Kostüm, die Haltung des Publikums ins Verhältnis zu den rahmenden Machtrelationen zu setzen. Nicht zuletzt ist es dabei auch entscheidend, die eigene Position als forschend begleitender Fremdkörper in diesem Prozess, in dem eigentlich keine kontemplierende Zuschauerposition vorgesehen oder gar erwünscht ist und deren reine Anwesenheit schon nicht frei von Abhängigkeiten ist, mit zu reflektieren: [D]ie eigene kulturelle und politische Position des Analysierenden in Debatten um applied theatre [gewinnt] fast zwangsläufig an Bedeutung […]. So sollte stets hinterfragt werden, in welchem Umfeld und aus welchen Traditionen heraus analytische Befunde und theoretische Überlegungen entstanden sind.240 Diese Forderung zieht eine Komplexität der Aufführungsanalyse in der Verschränkung der Betrachtung von Ästhetik, Macht, Ethik, Wissen und Subjekt mit sich, der nur eine Dispositivanalyse gerecht werden kann.241 Blick- und Machtachsen werden so im Folgenden von entscheidender Bedeutung sein. Das Schreiben des Theaterwissenschaftlers Adam Czirak zeigt dabei auf, dass sich zunächst alle theatralen Settings als partizipatorische, dispositive Geflechte aus Blickinteraktionen fassen lassen.242 Und mehr noch – mit Czirak muss darauf hingewiesen werden, dass das Blicken im Diskurs um das Dispositiv stets mit Macht gleichgesetzt, das Angeschaut-Werden dagegen mit der unterworfenen Position assoziiert ist.243 In anderen Diskursen nun, etwa der feministisch-psychoanalytischen Relektüre des Fetischismus, kann auch der Angeblickte den Blick fixieren und Macht über den Blickenden erlangen.244 Blicken generalisiert mit Macht gleichzusetzen, muss somit als reine Zuschreibung eines phallozentristischen Kulturmodells gelten. Czirak verweist darauf, dass „jeder Sozialeffekt des Blicks auf eine sozionormative Rahmung angewiesen [ist],
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welche die Blickenden in eine Dependenzstruktur von Macht- und Anerkennungsansprüchen einbettet“245. Jene Rahmung, von der er spricht, wird im dritten Kapitel dieser Studie als Mesodispositiv beschrieben werden, in dem sich das konkrete Geflecht aus Blick- und Machtachsen des Mikrodis positivs der Aufführung situiert. Auch hier kann und soll nicht spekulativ behauptet werden, dass Blicken grundsätzlich mit machtvoller, Angeblickt-Werden mit der unterworfenen Position einherginge. Jedoch soll im Folgenden postuliert werden, dass das Blickarrangement der Assessment Center gerade derart entwickelt wurde, dass es den möglichen Machteffekt des Angeblickten explizit brechen soll, den Selbstdarsteller in den Fokus nimmt und unter machtvollen Blicken exponiert, um Makel zu entblößen. In den Settings, denen diese Studie gewidmet ist, ist daher Blicken mit Macht gleichgesetzt bis dahin, dass reglementiert wird, wer angeblickt werden darf, ohne dass daraus Verallgemeinerungen über Blick und Macht als generelle Kulturfunktionen abgeleitet werden sollen. Zuletzt ist noch anzumerken, dass diese neue Form der Aufführungsanalyse sich zunächst anhand der konkreten Beschreibung der performativen Vorgänge nur dem ästhetischen Mikrodispositiv widmen kann: Sein Wechselverhältnis gegenseitiger Immanenz mit einem noch näher zu erläuternden institutionellen Meso- wie gesamtgesellschaftlichen Makrodispositiv zu beschreiben, bedarf des gesamten dritten Kapitels der vorliegenden Studie. Im Folgenden soll nun am Beispiel der ästhetischen Mikrodispositivanordnung eines Development Centers bei der niederländischen Zweigstelle eines großen deutschen Automobilherstellers in Rijswijk, einem Vorort von Den Haag, eine Aufführungsanalyse mit einer Dispositivanalyse der Blick- und Machtachsen während der Aufführung verknüpft werden.
5 Ernste Spiele in Rijswijk Das Stück246, das der Theaterwissenschaftler besuchen wird, hat keinen Titel. Vorab ist ihm unbekannt, wer eigentlich mitspielt. Kein Vorverkauf fand statt. Auch gab es keine Abendkasse, keine Ticketreservierung, keine Zeitungskritiken, kein Programmheft, kein Publikum, das Wein im Foyer trinkt – zu dieser Vorstellung musste man eingeladen werden. Mehr noch, man musste sich selbst aufs Äußerste bemühen, Zutritt zu einer solchen Theateraufführung zu erhalten. Zweihundert Briefe mit Anfragen wurden versendet, E-Mails wurden geschrieben, dutzende telefonische und persönliche Vorgespräche mit Veranstaltern geführt, Absagen erfolgten kurz nach Zusagen aufgrund der Geheimhaltung von Interna, aufgrund von
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Datenschutz und Arbeitsrecht. Papiere mit Unbedenklichkeitsbescheinigungen, Einverständniserklärungen, Genehmigungen von Datenschutzbeauftragten und Ethikkommissionen wurden unterschrieben. Am Revers des Theaterwissenschaftlers, der in wenigen Minuten dieser Aufführung beiwohnen wird, hängt ein Sicherheitsausweis. Will er sich vor Beginn des Schauspiels noch ein letztes Mal die Beine vertreten, muss er mit diesem Sicherheitsausweis am Wachschutz vorbei durch mehrere Sicherheitsschleusen, an denen geprüft wird, ob er eine Befugnis hat, hier zu sein. Nein, weder wird in der folgenden Vorstellung ein wichtiger Staatsgast im Publikum platznehmen noch findet hier ein Theaterabend auf Botschaftsgelände statt. Der Theaterwissenschaftler ist in einem Vorort von Den Haag, um einen Development-Center-Prozess bei einem Automobilhersteller zu begleiten. Das folgende Beispiel veranschaulicht eine Potentialanalyse von Servicemitarbeiterinnen aus Vertragswerkstätten und Autohäusern eines global agierenden Konzerns der deutschen Automobilindustrie an seiner Hauptzweigstelle in den Niederlanden. Der Aufbau dieser Development-Center-Form ist dabei dem der rekrutierenden Assessment-Center-Verfahren, in denen Seminarschauspielerinnen zum Einsatz kommen, ähnlich. Nur geht es nicht um Besetzung einer ausgeschriebenen Stelle, sondern um Bewertung der Kompetenzen des bereits bestehenden Mitarbeiterstabs – sei es zur firmeninternen Vergabe vakanter ManagementPositionen, sei es zur Qualitätssicherung. An diesem Tag wurden in Rijswijk fünf Rollenspiele für fünf angereiste Mitarbeiter247 aus niederländischen Autohäusern mit angegliederten Vertragswerkstätten – drei aus dem Kundenservice, zwei aus dem Verkauf – durchgeführt. Für jeden Kandidaten war ein Zeitfenster von fünfzig Minuten vorgesehen, von dem zwanzig bis 25 Minuten auf das Rollenspiel verwendet wurden. Die restliche Zeit fiel auf die Vorstellung, Einweisung, Beratung und das Feedback-Gespräch für den jeweiligen Kandidaten. Mit einigen Tagen Vorlauf hatten die Teilnehmer an dem Potentialanalyseverfahren vorbereitend ein sogenanntes E-Assessment durchlaufen müssen. Hier wurden zu prüfende methodische und soziale Kompetenzen der Kandidaten in schriftlicher Aufgabenstellung am Computer abgefragt. Problemorientierung, Empathie, Organisationsfähigkeit, Kundenfreundlichkeit und ähnliches wurden anhand eines Fragebogens auf die Probe gestellt und die Antworten darauf mit einer Art von Schulnotensystem bewertet. Zudem nahmen die Kandidaten alle eine Selbsteinschätzung in den genannten Punkten vor. Diese Messung der zu prüfenden Eigenschaften im „Ruhezustand“248 – Terminologie des firmenexternen Anbieters des Potentialanalyseverfahrens – wurde dann von einem eigens dafür vorgesehenen
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Computerprogramm tabellarisch dargestellt, um nun die Messung unter Stress – also in der Simulation des Rollenspiels – statistisch vergleichen zu können. Die Punkte für die einzelnen Kompetenzen wurden hierfür erneut vergeben, mit den vorab genommenen Werten des Ruhezustandes verglichen und in eine Grafik übersetzt, die zum einen die Stärken und Entwicklungsfelder des Kandidaten sichtbar machte, zum anderen auch die Differenz zwischen Selbsteinschätzung des Kandidaten und Beobachtungen durch ein geschultes Komitee in der Simulation. Somit sollte sowohl ein Entwicklungsfeld als auch das vorhandene oder mangelnde Bewusstsein beim Kandidaten für die Diskrepanz zwischen Selbst- und Fremdeinschätzung visualisiert werden. In diesem Verfahren drückt sich also ein gewisses Misstrauen gegenüber Selbstaussagen der Mitarbeiterinnen aus – sei es, dass man vermute, die Kandidatin verstelle sich ohne Prüfung in der Simulation aktiv nach sozialer Erwünschtheit, sei es, man spricht ihr die Objektivität in der Selbsteinschätzung ab: Praktiken wie dem Personalgespräch oder dem Fragebogen wird offenbar nur bis zu einem gewissen Grad vertraut. Es ist paradoxerweise das Spiel, dem kulturhistorisch eher ein Spektrum von Unernst über Verstellung bis Lüge beigesellt wurde, dem hier das Potential zugeschrieben wird, die Wahrheit, die tatsächliche Persönlichkeit, den authentischen Charakter hinter der Maske sozialer Erwünschtheit oder mangelnder Selbsteinschätzung herauszuarbeiten. Gleichzeitig wohnt dieser Zweiteilung der Selbsteinschätzung in einer E-Assessment-Befragung im Ruhezustand und dem Vergleich im Rollenspiel nicht nur eine Erkenntnis über die Qualitäten des Mitarbeiterstabes für die Assessment-Kommission inne. Die Teilung zwischen Selbsteinschätzung im Ruhezustand vor dem eigenen Computer und Prüfung in der realitätsnahen Simulation birgt ein geradezu mäeutisch zu nennendes, didaktisches Moment für die Mitarbeiterin. Durch das Feedback-Gespräch am Ende des Prozesses, in dem explizit gerade jene Werte gegenüber dem geprüften Kandidaten thematisiert werden, die erhebliche Abweichungen zwischen Eigen- und Fremdbeobachtung aufweisen, soll ihm auch eine Selbsterkenntnis249 zuteilwerden, die im Nachgang einen Selbstoptimierungsprozess anstoßen soll. Zeichnet er seine Persönlichkeit im E-Assessment-Fragebogen etwa als äußerst zielorientiert und hält dieses Selbstbild im Rollenspiel an einer entsprechenden Prüfungsstelle nicht aufrecht, so besteht nicht zwangsläufig der Verdacht, er hätte im Ruhezustand einfach gelogen, um bessere Werte zu erhalten. Vielmehr sind die Spiele sowohl ein Instrument zur Fremd- wie zur Eigenbeobachtung, die am Ende mit einem auffordernden Moment versehen sind: das Entwicklungsfeld, die Lücke zwischen Ich und Ideal-Ich in einem Selbsterkenntnis- und Lernprozess zu schließen.
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Initiator und Geldgeber des Development Centers war die regionale Zweigstelle jenes Automobilherstellers mit Verantwortung für die Auto häuser und Vertragswerkstätten des Konzerns in den Niederlanden. Die Durchführung der Potentialanalyse selbst lag dabei allerdings nicht in firmeninternen Händen, sondern wurde an einen externen Dienstleister mit Sitz in Deutschland delegiert, der dieses Verfahren in Halbjahresabständen für die Konzernzweigstelle wie für viele andere Firmen in den Niederlanden, Deutschland und anderen Ländern Europas durchführt. Dieser externe Dienstleister ist dabei spezialisiert auf Potentialanalyse, AssessmentCenter-Verfahren und Mitarbeitertraining und -coaching in unterschiedlichen theatralen und spielerischen Formen. Können externe Dienstleister für Assessment-Center-Verfahren auch vornehmlich aus dem Bereich der Arbeits-, Betriebs- und Organisationspsychologie kommen, so liegt das Kerngeschäft dieses Anbieters im Angebot theatraler Module zum Mitarbeitertraining und zur Potentialanalyse. Und so beschäftigt die Geschäftsleiterin, selbst sowohl Psychologin als auch Schauspieltrainerin, einen großen Stab an professionellen Schauspielerinnen, die von dem Dienstleister in einer kostenpflichtigen Zusatzausbildung zur Seminarschauspielerin ausgebildet wurden. Dieser Darstellertypus ist eine Personalunion aus Schauspieler, Rhetoriktrainer und Experte für Verhaltens- und Kompetenz analyse sowie für Kommunikationsstrukturen in Unternehmen – ein Hybrid mit Expertenkenntnissen sowohl in Schauspieltheorien und -formen, wie denen von Meyerhold, Boal, Moreno oder Strasberg, angereichert mit Zusatzkompetenzen aus dem Bereich des psychologischen Coachings und wirtschaftlichem Kommunikationstraining: ein Berufsbild und gleichsam eine Denkfigur über Persönlichkeit, Selbstdarstellung und Theatralität des Alltags im Neoliberalismus. Zusammen mit dieser Seminarschauspielerin wird von dem externen Dienstleister grundsätzlich ein Trainer250 gestellt, der das Spiel von außen beobachtet und damit eine weitere, kontrollierende Blickperspektive ermöglicht, die der Seminarschauspielerin verwehrt bleibt, wenn sie in das Spiel involviert ist.251 Der Trainer kann Anweisungen über den Spielverlauf an Seminarteilnehmerinnen und die Seminarschauspielerin geben, hat beim Feedback an die Teilnehmerinnen anders als die Seminarschauspielerin die Außenperspektive, setzt die Rahmungen der Simulation und hält die herausgearbeiteten Daten am Computer fest. Auch die Ausbildung zum Trainer kann in einer Fortbildung bei dem externen Dienstleister absolviert werden. Trainer und Schauspielerin werden nach erfolgreichem Abschluss der über etwa ein halbes Jahr in Blockseminaren stattfindenden Zusatzausbildung in einer Kartei geführt und bei Anfragen von Firmen an diese vermittelt. Die Seminarschauspielerinnen des Dienstleisters können dabei auch beide Ausbildungen durchlaufen haben und
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in Doppelfunktion eingesetzt werden, jedoch werden – nach Selbstaussage – Trainer und Seminarschauspielerin nur als Paar in den Verfahren des hier begleiteten Anbieters eingesetzt, um die selbst auferlegten Qualitätsstandards zu gewährleisten.252 Betrachtet man – und hier wird dem zweiten Kapitel vorausgegriffen – das Assessment-Center-Verfahren unter den Aspekten der Ästhetik des Applied Theatre, so folgt die Beobachtung des Spiels einer Kandidatin sowohl aus der Außenperspektive durch den Trainer als auch in der Innenperspektive durch die Seminarschauspielerin analog auf dem ästhetischen Feld dem Prinzip einer partizipatorischen Ästhetik des Spiels, der nicht genüge getan ist, sie allein aus einer Draufsicht der Zuschauerposition heraus zu fassen. Im Fall des Potentialanalyseverfahrens in Rijswijk war der Seminarschauspieler ein professioneller Schauspieler, dessen Schwerpunkt seiner ersten Ausbildung nach eigener Aussage eher auf den biomechanischen Schauspieltechniken253 lag und der späterhin beide Zusatzausbildungen im Haus des externen Dienstleisters durchlaufen hatte, so dass er zu anderen Gelegenheiten auch als Trainer eingesetzt werden konnte. Die Anleiterin – der Trainer – des Verfahrens war eine ausgebildete Psychologin und Schauspieltrainerin, die den Rahmen des Spiels organisierte und kontrollierte, an einem Notebook die besagten Messpunkte des Rollenspiels festhielt, mit den Werten im ‚Ruhezustand‘ verglich, in eine Statistik übertrug und auswertete. Während des Verfahrens anwesend waren eine Vertreterin des HumanResource-Managements des Automobilherstellers, der Trainer, der Seminarschauspieler, jeweils einer der zu bewertenden Mitarbeiter, während ihres jeweiligen Zeitfensters und der Theaterwissenschaftler, der – und diese Problematisierung sollte nicht unterschätzt werden – eigentlich keine Perspektive auf das Geschehen einnehmen konnte, die ihn an einen vorgesehenen Platz gesetzt hätte. Weder ist dieses Verfahren auf ein nicht direkt in den Prozess involviertes Publikum ausgerichtet, das nach dem Grad der Unterhaltung oder nach Gesichtspunkten ästhetischer Erfahrung das Gesehene bewertet, noch konnte der Theaterwissenschaftler selbstverständlich als ‚investigativer Forscher‘ sich selbst zum aktiven Subjekt eines solchen Verfahrens machen und sich ‚verdeckt‘ in einen Assessment-Center-Prozess hineinbewerben, um die Erfahrung aus erster Hand zu beschreiben. So bleibt der Blick des Forschers zunächst scheinbar mit dem traditionellen aber in seiner Idealität auch immer einem Phantasma anhängenden Anspruch absoluter Objektivität kaum involviert: Der Theaterwissenschaftler sitzt schweigend an einem Extratisch, der ihn sichtbar vom Prüfungskomitee scheidet, und – um Irritationen zu minimieren – eher im Blickfeld des Seminarschauspielers als dem des Kandidaten liegt. Er macht sich Notizen
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und versucht, sich nicht einmal zu räuspern, um niemanden im Prozess zu stören. Man verweist am Anfang jedes Verfahrens kurz auf seine Anwesenheit. Ein Einverständnis über die beobachtende Teilnahme des Forschers wird im Vorfeld von jedem der Kandidaten eingeholt – und jeder stimmt unvermittelt zu. Der Theaterwissenschaftler denkt bei sich, was die Kandidaten denn schon groß anderes sagen könnten, wenn das ‚nein‘ schon einen Abzug in der Kategorie ‚Stressresistenz‘ bedeuten könnte – ja, mehr noch: Müssten die Kandidaten in dieser Situation nicht geradezu paranoid werden, was es mit ihm auf sich habe und ob er nicht vielleicht schon zum Spiel gehöre, so sehr, wie diese Rollenspiele Realität und Fiktion in sich kollabieren lassen und man als Mitspieler am unteren Ende der Machtachse stetig Finten und Stresstests vermuten muss, so sehr alles, von der Geste, zum Blickkontakt, dem Zustand der Haare, dem Zittern der Hände, der Intonation und Wortwahl über das gequälte Lächeln bis zum hektischen Fleck zur Auswertung gelangt? Insofern ist er doch involviert und hat dennoch keine Position als die davorgesetzte, einem Schauspiel beiwohnend, an dem er außer als geringfügigem Störfaktor, als kurzem, aufscheinenden Moment der Verunsicherung, keine Rolle spielt, dessen Publikum er nicht ist, dessen Publikumsperspektive er nicht einnimmt. Die Frage, ob dieses Theater, das sich wie andere Formen des Applied Theatre weder allein über den klassischen Aufführungsbegriff noch über ein konservatives Publikum-Darsteller-Verhältnis definiert, eine Position zulässt, die ‚Zuschauerin‘ zu nennen ist, dagegen ist komplexer. Um dieses Geflecht machtasymmetrischer Blickstrukturen, dieses Mikrodispositiv – wie es später genannt werden soll, zu analysieren, muss man das heterogene Ensemble aus der ‚Architektur der Bühne‘ und den sich daraus ergebenden Blickachsen mit den Fragen verbinden, wer der hier Anwesenden – Human-Resource-Managerin, Trainer, Seminarschauspieler, Kandidat und Theaterwissenschaftler – wen aus welchem Grund und in welchem Machtgefälle beobachtet. Der Theaterwissenschaftler beobachtet jeden Anwesenden, inklusive sich selbst, soweit ihm das möglich ist. Der auf der Hand liegende Grund, aus dem er alle beobachtet, ist, dass er eine Studie zu dem Ablauf, der hier stattfindet, verfasst. Sein Blick wird das Spiel zwischen Kandidat und Seminarschauspieler privilegieren, da hier der Hauptaktionsherd dessen zu verorten ist, was das Theatrale an dieser Situation ausmacht: ein Spiel des Als-ob in einem hervorgehobenen raum-zeitlichen Rahmen vor Zuschauenden. Dennoch ist sein Blick auch gelegentlich auf Human-Resource-Managerin und Trainer gerichtet: Wie setzen sie die Rahmungen des Spiels, wann notieren sie, wann merken sie auf, wie bewerten sie das Spiel im Nachgang?
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Auch beobachtet er sich selbst, da er überprüft, wie er die Situation beeinflusst, weil er versucht, den Störfaktor seiner Anwesenheit zu minimieren, und nicht zuletzt, weil er sich auch in einem mit zu reflektierenden Abhängigkeitsverhältnis zu den anderen Anwesenden bewegt. Die größte Abhängigkeit besteht dabei zu der Human-Resource-Managerin, die seine Gegenwart duldet, obwohl sie in verschiedener Hinsicht einen Störfaktor darstellen kann: Zum einen ist die Präsenz des Theaterwissenschaftlers vor der eigentlichen Aufführung ein geringfügiger Mehraufwand an Zeit, die in Vorgespräche und Papiere fließt. Weiterhin ist seine Anwesenheit im Prozess selbst ein geringfügiger Irritationsfaktor. Vor allem aber birgt die nach der Aufführung entstehende Studie des Theaterwissenschaftlers keinen unmittelbaren Nutzen für die Human-Resource-Managerin. Weder zielt die Feldforschung darauf ab, Verfahren zu verbessern, noch wird sie dem HR-Management mehr Einsicht in Persönlichkeitsmerkmale von Bewerberinnen oder Mitarbeiterinnen gewähren. Im Gegenteil könnte die HR-Managerin sogar linksakademische Kapitalismuskritik, investigativen Journalismus, Verletzung von Datenschutz oder Preisgabe von Firmeninterna befürchten. Selbst einen so geringfügigen, positiven Effekt wie ein Vermerk durch die PR-Abteilung des Automobilherstellers, dass das Unternehmen innovative Forschungsmethoden durch geisteswissenschaftliche Disziplinen an seinem Haus zulässt und damit in Kooperation mit einer deutschen Universität die Wissenschaft unterstützt, bleibt aus Gründen der Bedenken von Seiten des Forschungsprojekts, der Anonymisierung und des Datenschutzes ausgeschlossen. Hunderte andere Stellen haben aus diesen Gründen den Zutritt zu ihren Verfahren bereits verwehrt. Die HR-Managerin duldet den Theaterwissenschaftler aus dem Vertrauen auf die langfristige, gute Zusammenarbeit mit dem Trainer des externen Dienstleisters heraus. Sie hatte im Vorfeld ein gutes Wort für ihn eingelegt. Dies führt zum nächsten starken Abhängigkeitsverhältnis: Der Trainer des externen Dienstleisters hat dem Theaterwissenschaftler erst die Möglichkeit gewährt, an dem Verfahren teilzunehmen, und ihm durch ihre Beziehungen die Tür geöffnet. Der Trainer, die gleichzeitig die Firmen inhaberin des externen Dienstleistungsunternehmens ist, gab sich in Vor gesprächen offen für einen externen und auch kritischen Blick auf die Verfahren des Unternehmens durch die Theaterwissenschaft – da ihr nach eigener Aussage bewusst ist, dass die Innovationen der Seminarschauspielbranche ihren Anstoß nicht zuletzt stets auch aus dem universitären Milieu heraus bekamen. Gleichzeitig aber verspricht sich der Trainer vermutlich auch ‚Kapitalzuwachs‘ aus dem Bereich der ‚Aufmerksamkeitsökonomie‘ – wird über ihre Firma oder auch nur über die Branche geschrieben, so wird man als Unternehmen oder als innovative Branche in der vernetzten Welt
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sichtbar. Für den Theaterwissenschaftler besteht hier die unangenehme Konstellation, durch einen Gefallen Zutritt zu diesem geheimen Spiel zu erhalten, sich aber nicht vereinnahmen lassen zu dürfen. Zum Kandidaten besteht lediglich ein schwaches, aber ambivalentes Machtverhältnis. Der Theaterwissenschaftler ist darauf angewiesen, dass dieser seine Zustimmung dazu gibt, den Potentialanalyseprozess forschend zu begleiten. Der Kandidat wiederum kann sich mit ein wenig paranoider Phantasie, die in solchen Fällen nicht unangebracht ist, nicht sicher sein, wie es ausgelegt wird, wenn er den Beobachtungsprozess ablehnt. Zum Seminarschauspieler zu guter Letzt besteht ein kaum asymmetrisches Verhältnis. Er könnte lediglich angehalten sein, unter den Augen einer externen Analyse, auf die eine Veröffentlichung folgt, die seinem Unternehmen oder seiner Branche mehr Aufmerksamkeit einbringen könnte, eine besonders überzeugende Performance zu geben. Die Human-Resource-Managerin des Automobilherstellers wird erwartungsgemäß den Blick privilegiert auf das Spiel zwischen Seminarschauspieler und dem zu bewertenden Kandidaten richten. Der Servicemitarbeiter und seine Reaktionen stehen dabei im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit, sollen doch im Spiel seine Reaktionen, seine Selbstdarstellung und seine sozialen Kompetenzen auf die Qualität seiner Arbeit zurückgebunden, bewertet und durch Feedback geschärft werden, um aus dem Ergebnis seinen Nutzen für die Firma abzuleiten oder durch Korrektur seines Verhaltens seinen Wert für das Unternehmen zu erhöhen. Trainer und Seminarschauspieler sind sicher auch im Blick der HR-Managerin, da der nicht zuletzt auch kostspielige Prozess, eine externe Firma mit der Potentialanalyse zu beauftragen, in einem Budget gerechtfertigt und sein Nutzen wiederholt unter Beweis gestellt werden muss. Da allerdings das Verfahren und die Zusammenarbeit zwischen Automobilhersteller und externem Dienstleister eingespielt ist und bereits über Jahre besteht, steht die Bewertung der Qualität des Verfahrens per se keinesfalls so im Fokus, als wäre es neu implementiert. Lediglich bei Abfall des Qualitätsstandards wären auch die rahmengebenden Methoden und die Arbeitsleistung des externen Dienstleisters an sich stärker im Fokus der HRManagerin. Der Theaterwissenschaftler wird während des Verfahrens weitestgehend ignoriert. Die HR-Managerin steht analog zum Blickverhältnis umgekehrt lediglich in einem schwachen Abhängigkeitsverhältnis zum Trainer. Dennoch hängt vom Gelingen der Praxis dieser Aufführungen langfristig auch ihre Beschäftigung ab: Eine Machtdynamik erwächst hier aus der Verantwortung für die Rechtfertigung des Verfahrens und den Einsatz des externen
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Dienstleisters. Scheitert das Verfahren oder kommt es auf höherer Entscheidungsebene im Konzern in die Kritik, fällt dies auf die Entscheidungen der HR-Managerin für dieses Verfahren zurück. Der Blick des Trainers wird ebenfalls das Spiel des Kandidaten mit dem Seminarschauspieler privilegieren. Auch hier wird der Theaterwissenschaftler während der Aufführung ignoriert. Sicher werden Blicke und Informationen mit der HR-Managerin ausgetauscht, das Hauptaugenmerk aber liegt auf den Spielenden, da der Trainer neben der HR-Managerin diejenige ist, die die Äußerungen, Gesten und Mimik des Kandidaten im Spiel in Zahlenwerte für die jeweils abgefragte Kompetenz umwandelt. Anschließend vergleicht sie diese durch das Computerprogramm mit den vorab erhaltenen Daten aus dem E-Assessment und eventuell auch mit Werten potentiell in der Vergangenheit durchgeführter Development Center, erstellt die Gesamtwertung für den Kandidaten und gibt ihm gemeinsam mit der HR-Managerin und dem Seminarschauspieler ein mündliches Feedback. Weiterhin kann sie anhand der Kenntnis eines ‚nonlinearen Theatertextes‘ im Spiel des Seminarschauspielers genau erkennen, an welcher Stelle welcher Wert abgefragt, wiederholt oder – wie an späterer Stelle ausgeführt werden wird – ‚eskaliert‘ wird. Das größte Abhängigkeitsverhältnis besteht zur HR-Managerin, die hier den Auftraggeber und damit den Geldgeber repräsentiert. Das Verfahren ist etabliert und eingespielt, muss aber mit kontinuierlicher Qualität seinen Nutzen regelmäßig ausstellen und erneuern, damit das Geschäftsverhältnis aufrecht erhalten bleibt. Der Seminarschauspieler steht ebenfalls unter ihrer Verantwortung – sie hat ihn gestellt und zuvor ausgebildet –, würde er sich Fehler erlauben, fiele das auf die Qualität der im eigenen Haus entwickelten Methode und damit ihrem Alleinstellungsmerkmal gegenüber Konkurrenten und vor allem firmenintern abgehaltenen Assessment-Center-Prozessen mit Mitarbeiterinnen als Laienschauspielpartnern, wie sie einleitend beschrieben wurden, zurück. Die Qualitätsgarantie des hier durchgeführten Verfahrens steht und fällt mit dem Berufsbild Seminarschauspieler. Der Blick des Seminarschauspielers ist, abgesehen von der Feedbackrunde nach dem eigentlichen Rollenspiel, voll und ganz auf den Kandidaten als Spielpartner gerichtet. Er spielt mit einer gedachten vierten Wand, die er sozusagen mit sich in den Raum bringt und dabei sowohl Trainer und HR-Managerin als auch den Theaterwissenschaftler behandelt, als seien sie nicht anwesend. Er ist der Ausgangspunkt der ‚Fiktion‘, der ‚Als-ob‘-Anteile des Rollenspiels, denn er trifft auf den Kandidaten zunächst nur in der
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Rolle und wird alles, was nicht zur Fiktion der Szene gehört, ignorieren. Lediglich ein starker Einbruch aus der ‚Realität‘, der zum Abbruch des Spiels führen müsste (etwa, der Kandidat müsste sich vor Aufregung übergeben, es käme zum unerwarteten Feueralarm etc.), würde dazu führen, dass er seine Rolle während des Rollenspiels verlässt und die vierte Wand einreißt. Sein Blick auf den Kandidaten ist dabei gespalten: Zunächst einmal beobachtet er ihn innerdiegetisch genau als Spielpartner im Hier und Jetzt in der Funktion eines Servicedesk-Mitarbeiters. Er weiß exakt, an welcher Stelle des Spiels welche Kompetenz abgefragt wird und ob der Kandidat als Servicekraft eine befriedigende Reaktion geliefert hat. Ist dies nicht der Fall, so muss er ‚eskalieren‘254 und seinen gespielten Charakter spontan, aber nach fest definierten Regeln eines Wenn-dann-Bedingungsbaums der Narration modulieren, um den Punkt mit stärkeren Indikatoren erneut abzufragen. Darüber hinaus beobachtet er seinen Spielpartner extradiegetisch bereits aus der Funktion heraus, ihm nach dem Rollenspiel ebenso wie der Trainer und die HR-Managerin Feedback aus seiner Perspektive geben zu können. Nicht zuletzt hat der Seminarschauspieler somit auch einen introjizierten Blick auf die Modulationen seiner Rollenpersönlichkeit, da er sie anhand der Beobachtungen, die er unmittelbar vom Spiel mit dem Kandidaten erhält, anpasst und auf den Bedarf hin spontan nuanciert. Zeigt sich der Kandidat auf eine subtil geäußerte Verstimmung im Gespräch nicht empathisch und fängt diese auf, so eskaliert der Seminarschauspieler in Abstufungen (einem Drei-Stufen-Modell) die Intensität seines Spiels nach oben: Er äußert direkter sein Missvergnügen, erfolgt die gewünschte Reaktion noch immer nicht, wird er wütend etc. Dieses Spiel erfordert ein hohes Maß an simultaner Fremd- und Eigenbeobachtung, wie es auch vom partizipierenden Mitspieler des Improvisationstheaters, des immersiven Theaters oder auch des Live action role-playing games abverlangt wird. Abhängig ist der Seminarschauspieler zunächst wie der Trainer vom HR-Manager als Auftrag- und Geldgeber. Hinzu kommt aber der Trainer selbst, der ebenso sein Auftraggeber ist und der entscheidet, ihn zu buchen oder eben eine andere Seminarschauspielerin zu engagieren. Es handelt sich bei seinem Arbeitsverhältnis nicht um eine Festanstellung, sondern um freie Mitarbeiterschaft – allerdings arbeitet der Dienstleister nur mit Seminarschauspielerinnen zusammen, die an seinem Haus ausgebildet wurden und garantiert nach bestandener Ausbildung beim Halten des Qualitätsstandards auch entsprechende Buchung und Beschäftigung.255 So kann der externe Dienstleister auf einen Pool an freien Mitarbeitern zurückgreifen,
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dabei allerdings durchaus auch entscheiden, dass ein spezifischer Seminarschauspieler für bestimmte Module geeigneter ist als ein anderer. Die Blickstrukturen des Kandidaten sind die komplexesten und zugleich interessantesten in der Aufführung des Rollenspiels. Der Servicemitarbeiter wirkt beim Eintreten nervös und erregt, hektische Flecken und eine leicht gepresste Atmung bei der Begrüßung der Kommission geben seine Anspannung preis – nicht zuletzt spielt er hier um seine berufliche Zukunft. Der Theaterwissenschaftler wird ihm, wie bereits beschrieben, im Vorgespräch zum Rollenspiel vorgestellt und dabei von ihm mit kurzer Irritation wahrgenommen. Hauptansprechpartnerinnen und damit Fokuspunkt sind bei der Klärung des Ablaufs selbstverständlich die HR-Managerin und der Trainer, von deren Bewertung der Kandidat abhängig ist und unter deren Blick er als wertvoll für das Unternehmen wahrgenommen werden möchte. Um unter diesem bewertenden Blick zu spielen, wurde geübt, sich modelliert. Wie trage ich die Haare heute? Welcher Anzug ist passend? Was tue ich mit meinen Händen – auf keinen Fall sollte ich sie verschränken, das ist keine offene Geste. Meine Stimme sollte selbstbewusst klingen, auch wenn ich aufgeregt bin, hoffentlich erröte ich nicht und wirke unprofessionell etc.256 Es gibt eine eigene Abteilung in Buchläden für diesen Verhaltenskodex, eine ganze Branche, die durch Ratgeber, Videos, Webseiten und Seminare von diesen Modulationen des eigenen Auftretens, des selbstidentischen Spiels lebt. So ist also auch der Blick des Kandidaten introjiziert und pendelt zwischen der Wahrnehmung und Einschätzung der Aufgaben, die ihm gestellt werden und der möglichst authentisch performten Reaktion darauf. Der wohl markanteste Augenblick für die Analyse aber ist, wenn das Rollenspiel durch die Ankündigung der Vertreterin des Human-ResourceManagements oder des Trainers beginnt. Dem Kandidaten wurde im Vorfeld gut zugesprochen, dass er keinesfalls nervös sein müsste und dass er sich so natürlich wie möglich geben sollte. Die HR-Managerin erläutert ihm den zeitlichen Ablauf des Rollenspiels und des anschließenden Feedbacks. Danach beschreibt der Trainer, ohne direkt auf narrative Spielinhalte einzugehen, in aller gebotenen Kürze, dass es sich bei dem in der Mitte des Raums aufgestellten Imbisstisch um den Servicedesk handeln soll, an dem der Kandidat in seinem Firmenalltag arbeitet, und bittet ihn, sich dort zu positionieren. Bestätigt der Kandidat auf Nachfrage durch ein kurzes Nicken, dass er nun bereit sei, markiert der Trainer den Beginn des Spiels, indem sie so laut „Bitte“ ruft, dass es auch der vor der Tür des Konferenzraums wartende Seminarschauspieler hört. Dieser betritt nun den Raum und bringt die Fiktion und die vierte Wand mit sich. Haben Trainer und
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HR-Managerin den raum-zeitlichen Rahmen des Spiels durch den Beginn markiert, wird durch den Seminarschauspieler die Fiktion eröffnet. Er tritt als Kunde unter einem Rollennamen auf und bindet nun den Blick des Servicemitarbeiters durch das Spiel auf sich. Interessant erscheint, dass nun jeder Ausbruch aus der Diegese verwehrt wird. Geht der Kandidat auf eine kommunikative Metaebene und versucht, den Spielrahmen zu kommentieren, so wird er abgewiesen und auf seine Fiktion, auf sein Spiel zurückgeworfen. Der Konjunktiv in der Sprache des Mitarbeiters in der Rollenspielprüfung markiert hier den Versuch, den Rahmen des Spiels zu durchbrechen: „Ich würde ihm ja jetzt folgendes empfehlen …“, äußerte an diesem Prüfungstag einer der fünf Kandidaten mit fragendem Blick weg vom Seminarschauspieler hin zu der Assessment-Kommission. Mit dem Abwenden des Blicks vom Spielpartner erfolgt der Versuch, den fiktiven Spielrahmen wie die vierte Wand zu durchbrechen, um auf ihn zu rekurrieren. HR-Managerin und Trainer schütteln wortlos den Kopf, verweisen mit Gesten auf den Seminarschauspieler und fordern so (bemerkenswerterweise stumm und lediglich mit einem Kugelschreiber zeigend, als wollten sie die Fiktion nicht noch weiter einreißen) dazu auf, das Problem im Spiel, im Rahmen, im Als-ob, in der Diegese, hinter der vierten Wand, in der Fiktion zu lösen, während der Kandidat zwischen all diesen Kategorien oszilliert. Das Spiel zeigt hier deutlich seine Machtasymmetrie. Es ist dem Kandidaten untersagt, es zu unterbrechen, anzuhalten oder zu kommentieren. Ein Ausbruch wäre nur durch Abbruch mit ernsten Konsequenzen für die Bewertung und damit die berufliche Zukunft möglich. Der Kandidat steht damit im Blickregime und im Machtgeflecht des Spieldispositivs an asymmetrischer Position: Alle Blicke gelten vornehmlich ihm, alle (abgesehen von der Sonderstellung des Theaterwissenschaftlers im Prozess, obwohl auch er ihn zum Objekt einer für ihn aber konsequenzlosen Analyse macht) bewerten seine Leistung, die Fiktion umspannt ihn, ohne dass er Kontrolle über den Rahmen hat, ihm bleiben nur die Optionen ‚spielen‘ oder ‚versagen‘. Vorangehend wurde eine ausführliche Analyse der sozialen und ökonomischen Relationen der anwesenden Personen in einem solchen theatralen Personalentwicklungsverfahren unter Berücksichtigung der Blickstrukturen durchgeführt. Gerade im Darlegen einer Mikrodispositivstruktur gehen Blick, Macht sowie das Auftreten und Inszenieren des Selbst unter einem machtvollen Blick Hand in Hand. Im Folgenden soll nun die Analyse unter dem Vorzeichen von Kategorien fortgesetzt werden, die die theatralen Dimensionen des Verfahrens noch stärker in den Fokus rücken.
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Der Raum – in einem weiten Verständnis des Begriffs die Bühne – gibt den Charakter dieses komplexen Geflechts aus Blick und Macht, aus Spiel und Nicht-Spiel, aus Als-ob und So-gemeint wieder. Das Verfahren findet dabei in einem ganz herkömmlichen Seminarraum der niederländischen Zentrale des Automobilherstellers statt, in dem gewöhnlich auch Meetings, andere Fortbildungen oder Personalgespräche abgehalten werden können: Er ist etwa zehnmal 15 Meter groß, mit einem schlichten, grauen Teppich, glatten, weißen Wänden und einer weißen Decke mit Leuchtstoffröhren ausgestattet. Zur linken Seite gibt es zwei schwarze Zugangstüren, von denen die hintere dem Seminarschauspieler im Spiel als ‚Aufgang‘ dienen wird. Zur rechten Seite befindet sich eine großflächige Fensterfront mit vier symmetrisch angeordneten Heckenpflanzenarrangements, um den an sich etwas sterilen Raum freundlicher zu gestalten. Die Fenster weisen zum Parkplatz des Unternehmens. In der linken, oberen Ecke des Raums stehen etwas verloren ein schwarzer, geschlossener Aktenschrank und eine White board-Tafel, die nun um ihren Kontext beraubte, irrelevant gewordene Informationen eines vergangenen Meetings – durch dynamisch gezogene Linien, Pfeile und Kreise ins Verhältnis gesetzte Business-Schlagworte auf Englisch und Niederländisch – ausstellt. Von der unteren Kante des Raums und weiter über die gesamte rechte Seite der Fensterfront verläuft in einer spiegelverkehrten L-Form eine Reihe von beigefarbenen Tischen, an denen schwarze Freischwinger-Stühle mit Metallarmlehnen stehen. Es kann davon ausgegangen werden, dass diese L-Form nicht regulär in dem Seminarraum aufgestellt wird, sondern dem Bedarf der Situation angepasst wurde. Die einzige Möblierung, die sich nicht in den sonstigen Firmenalltag einfügt, ist ein kleiner, weißer Stehklapptisch, wie man ihn von Sommerfesten oder Hochzeiten kennt und an dem vier bis fünf Personen im Stehen Konversation betreiben und ihren Wein abstellen können. Dieser Tisch wurde behelfsmäßig aus dem Bestand der Cafeteria herbeigeschafft, um dem zu prüfenden Kandidaten ein Minimum an realistischer Haltung, Gestik und Mimik zu ermöglichen: In seinem Arbeitsalltag steht er hinter dem Tresen eines Servicedesks, ähnlich einer Hotelrezeption. Daher möchte man ihm mit diesem Arrangement ermöglichen, während des Rollenspiels zu stehen, aber eben auch nicht völlig frei stehen zu müssen. Auch wenn dies ein sehr improvisiertes Requisit ist, das in Bezug auf Raum und Ausstattung deutlich die Grenze eines illusionierenden Realismus oder eines perfekten Simulakrums des Rollenspiels im Potentialanalyseverfahren markiert, so ist doch zu bemerken, dass hier sehr viel Wert darauf gelegt wird, zumindest dem Körper des Kandidaten seine gewohnte Haltung, seine Gestik und den üblichen körperlichen Abstand zum Kunden zu gestatten, um die Situation realistisch zu gestalten und damit auch seine Körpersprache als
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Teil der dargestellten Arbeitspersönlichkeit mit bewerten zu können. Keinesfalls kommt es hier nur darauf an, was der Kandidat rein verbal äußert. Der Stehtisch forciert die Bewertung der Performativität des Körpers. Der besagte Tisch steht wenige Meter links von der Mitte des Raums und dabei zwischen den beiden schwarzen Eingangstüren. Der Kandidat wird gebeten, sich so zu arrangieren, dass er mit dem Gesicht zur oberen der beiden Türen gerichtet steht. Auch dies stellt eine Regieanweisung dar, die ein Minimum an gewohntem Arbeitsalltag simulieren und eine unfreiwillig komische Szene vermeiden soll: Wenn der fiktive Kunde eintritt, soll der Servicemitarbeiter mit dem Gesicht zu ihm stehen, um ihn so zu begrüßen, wie er es in seinem Autohaus tun würde, wenn ein Kunde das Gebäude betritt. Darüber hinaus ist der Stehtisch in angemessenem Abstand zu der L-förmigen Tischreihe im Raum positioniert und der Kandidat so platziert, dass die Human-Resource-Managerin und der Trainer den Königsplatz in Bezug auf die Blickachse zu dem Servicemitarbeiter haben. Die Assessment-Kommission sitzt mittig vor der Fensterfront an der rechten Seite des Raums und kann dem Kandidaten im Dreiviertelprofil ins Gesicht blicken. Der Theaterwissenschaftler dagegen hat an der kleineren Achse des L an der unteren Kante des Raums Platz genommen, um den Kandidaten mit seiner Anwesenheit nicht zu stören. Er ist fast außerhalb seines Blickfeldes und sieht stattdessen den Seminarschauspieler im Dreiviertelprofil. Fast erübrigt es sich zu erwähnen, aber selbstverständlich erhält die Spielszene keine räumliche Erhöhung im Sinne einer Aufteilung in Bühne und Parkett. Der Spielraum geht, korrelierend mit der sich entfaltenden Diegese, fließend in den ‚Raum des Alltags‘ – den Seminarraum – über, ähnlich wie auch andere Aspekte des Spiels, die Persönlichkeit des spielenden Kandidaten wie die Konsequenzhaftigkeit des Spiels zwischen ‚Als-ob‘ und ‚tatsächlich‘ oszillieren. Wie sich nun die Verteilung der traditionellen Positionen von Zuschauenden und Handelnden, die in ihrem Zusammenkommen das soziale Ereignis ‚Theater‘ erst konstituieren, in diesem Spiel der Personalauswahl- und Potentialanalyseverfahren darstellt, erweist sich bei genauerer Betrachtung als ebenso verflochten und mehrdeutig wie der Raum. Möchte man zunächst postulieren, dass es auch in dieser Spielszene ein Publikum auf der einen Seite und Schauspieler auf der anderen in klarer Trennung gäbe, so wirft ein genauerer Blick doch Fragen auf. Der vermeintlich an der Stelle eines Publikums im konservativen Sinne sitzende Teilnehmer ist der Theaterwissenschaftler. Er war an keiner Stelle in die Produktion des Spiels involviert und nimmt das Spiel als zunächst körperlich passiver Beobachter wahr, der sich von der Darstellung zu Gedanken
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und Interpretationen inspirieren lässt. Es bedarf kaum der Erwähnung, dass die Theaterwissenschaft dabei wesentlich mehr Konzepte eines partizipierenden und körperlich aktivierten Publikums kennt, als die stillgestellte, kontemplierende Zuschauerin des traditionellen Opernbesuchs oder der klassischen Guckkastenbühne. Allerdings – anders als sowohl das im Zuschauerraum platzierte Publikum des bürgerlichen Trauerspiels als auch die partizipierenden Zuschauerinnen einer Performance-Installation oder des immersiven Theaters ist hier der Theaterwissenschaftler keinesfalls Adressat der Darstellung und ihrer Wirkungsästhetik. Wie eingangs deutlich gemacht wurde, hat dieser Zuschauer Himmel und Hölle in Bewegung setzen müssen, um überhaupt im Publikum sitzen zu dürfen, da er generell in diesem Prozess eher stört und überhaupt nicht relevant oder vorgesehen ist. Die Blickachse des Theaterwissenschaftlers ist eine Ausnahme in diesem Prozess und keinesfalls mit der Publikumsposition gleichzusetzen. Trainer und HR-Managerin wiederum sind in dem Prozess eingeplant und notwendig, auch sie sitzen auf Zuschauerplätzen, ist ihre Rolle in dem Verfahren doch eindeutig diejenige, die Spielszene zu beobachten und die durch das Spiel evozierten Emergenzen qualitativ zu bewerten. Ihnen fällt eher die Rolle eines Publikums zu, das Adressat des Spiels und seiner Ästhetik ist – immerhin müssen sie, wie vorangehend erläutert, Bewertungen über die ästhetische Kategorie der Authentizität treffen. Gleichzeitig fällt ihnen aber auch die Rolle der Arbeitgeberinnen, Produzentinnen, Spielleiterinnen, Regisseurinnen, Bühnenbildnerinnen und Dramaturginnen zu. Sie sind so sehr Publikum wie eine Intendantin, Dramaturgin oder Regisseurin auf der Probe eines noch aufzuführenden Stückes Publikum zu nennen wären, wenn sie im Zuschauerraum sitzen und die spielerische Leistung des Ensembles bewerten würde. Ähnliches gilt für den Seminarschauspieler, der in der Doppelfunktion auf der ‚Bühne‘ steht, Spielpartner des Kandidaten zu sein, aber auch die ästhetische Erfahrung des Spiels mit ihm durch genaue Beobachtung in ein Leistungsfeedback umzuwandeln. Dies allerdings mag eine Rolle sein, die auch ein erfahrener Bühnenschauspieler eines konservativen Theaterarrangements gegenüber einem neuen Schauspieler einnimmt. Auch erinnert seine Position an die eines Schauspielers in immersiven Theaterarrangements, in denen Besucherinnen, die für das Theaterereignis bezahlt haben, gleichzeitig mitspielen und dabei auf Schauspielerinnen als Spielpartner treffen, die ein größeres Vorwissen über die Geschichte, den Ablauf, die Rahmenbedingungen und die versteckte ‚Hinterbühne‘ und damit gleichsam eine stärkere Machtposition und Kontrolle über das Spiel haben.257 Die Theaterästhetik kennt dabei aber durchaus schon vor dem Aufkommen des
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immersiven Theaters Konzepte, in denen Zuschauende und Handelnde ihre Rollen im Prozess tauschen258 oder wie Boals spect-actor259 Spielender und Zuschauender in einem zu nennen sind. Der Kandidat wiederum ist dazu angehalten, nach dem persönlichkeitspsychologischen Modell des „self-as-audience“260 Publikum seiner selbst zu werden, entfaltet sich die Spielszene doch letztendlich, damit er sich selbst unter Beweis stellen und durch Spielerfahrung und Feedback einen Prozess der Selbstbeobachtung und Transformation, des Erkennens der eigenen Entwicklungsfelder und der Selbstoptimierung zum eigenen Wohle wie zu dem der Firma einleiten kann. Es ist nicht zuletzt auch diese Konstellation – das Spiel, dessen Publikum uneindeutig, zweitrangig, mit Doppelfunktionen ausgestattet, in bestimmter Perspektive nicht oder nur durch eine verkomplizierte Hilfskonstruktion vorhanden erscheint, dass diese ästhetische Form des Ernsten Spiels an andere Formen des Applied Theatre bindet. Man denke an Theater in der Therapie, das auch nicht zwangsläufig in allen Ausformungen von Publikum lebt und dessen ästhetischer Fluchtpunkt der spielende Patient als zu transformierendes Subjekt ist. Man denke an Gefängnistheater, das weniger versucht, sein Publikum vom sozialen Wert der Gefangenen zu überzeugen, als vielmehr durch die transformative Kraft des Spieldispositivs dem Gefangenen wieder einen Platz in einer spielenden und gespielten Gemeinschaft zuzuweisen, um ihn mit dem strategischen Ziel der Resozialisierung darauf vorzubereiten, bald seinen Platz in der Gesellschaft wieder einzunehmen. Auch am Fluchtpunkt der Wirkungsästhetik dieser Aufführung steht nicht eine zahlende Zuschauerin auf einem Sitz im Parkett, sondern der Laiendarsteller, auf den sich im Spiel die Blick- und damit Machtachsen des Spieldispositivs vereinen. An mehr als einer Stelle vereint dabei der prozessuale WorkshopCharakter von Unternehmenstheatermaßnahmen wie auch anderen Applied-Theatre-Projekten sowohl Aspekte der Aufführung wie der Probe.261 Verhalten, das auch außerhalb des Spiels Resonanz oder Anwendung finden soll, wird von den Teilnehmerinnen in wechselnden Positionen als Zuschauerin und Spielende einstudiert, nuanciert, ausprobiert, kommentiert und bewertet. Interessant aus der Sicht der Theatralitätsforschung erscheint dabei, dass diese Perspektive auf die Maßnahmen des Applied Theatre als Probe für die Schauspielerinnen vom Typus Patient, Gefangener oder Arbeitnehmer konsequenterweise bedeuten müsste, dass sie für die eigentliche Aufführung vorbereitet werden: Ihre soziale Rolle auf der ‚Bühne‘ (wieder) aufzunehmen, die man ‚Alltag‘ oder auch ‚das gewöhnliche Leben‘ nennen könnte.262
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An das Theater und eine Konstellation von Darstellenden und Zuschauenden, die eine Form von Publikum konstituieren, ist auch der Begriff der Öffentlichkeit gebunden. Hier grenzt sich das Theater der Personalauswahl- und Potentialanalyseverfahren am deutlichsten von Formen des darstellenden oder partizipatorischen Spiels aus dem Sektor der Kunst, Unterhaltung oder auch einigen Formen der sozialen Intervention durch Theater ab. Am Konzept der Öffentlichkeit scheiden etwa – wie vorangehend dargelegt – Prendergast und Saxton Applied Theatre von applied drama, wenn sie postulieren, mit dem Begriff Theater gehe der Wortstamm theatron als Ort des Schauens, als Darstellung vor einem öffentlichen oder halböffentlichen Publikum einher, während eine solche Konstellation im therapeutischen Theater, bei Simulationen in Prüfungen für Ärzte, Polizisten, Soldaten oder eben im Assessment Center nicht vorliege.263 Zunächst haben sie recht damit, dass diese Prozesse nicht öffentlich sind: Einhergehend mit vielen anderen Formen des Applied Theatre, die eine öffentliche Aufführung haben können, dies aber nicht zwangsläufig müssen – wie etwa der Theatertherapie, der Theaterarbeit mit Traumatisierten in Kriegs- und Krisengebieten, dem Theater mit Geflüchteten oder dem Gefängnistheater – ist das Theater der Assessment-Center- und Development-Center-Prozesse nicht auf eine Öffentlichkeit hin ausgerichtet – im Gegenteil wäre Öffentlichkeit ein Hindernis und Störfaktor des Prozesses. Einem Konzept von Theater als Ort gesellschaftlicher Selbstverständigung, der öffentlichen Unterhaltung oder dem Aushandeln von Fragen politischer, ethischer oder sozialer Natur als demokratischer Veranstaltung mit dem Ziel einer Konstitution von Gemeinschaft wird hier ein Prozess entgegenstellt, der geradezu geheim zu nennen ist: Er findet nur für Eingeweihte hinter geschlossenen Türen und nach dem Durchqueren von Sicherheitsschranken statt. So ist dem Theaterwissenschaftler etwa bei der Vorbereitung zur Begleitung eines solchen Prozesses nicht einmal klar gewesen, wann und ob überhaupt ein Assessment-Center-Verfahren in einer bestimmten Firma zu einer spezifischen Zeit stattfindet. Die Theateraufführung des Kunsttheaters etwa sucht durch verschiedenste Strategien ihre Öffentlichkeit – mangelndes Publikum eines Hauses ist ein explizites ökonomisches Problem. So wird in Zeitungen oder an öffentlichen Werbeplätzen, in U-Bahnen und an Litfaßsäulen, durch Newsletter und Webseiten, virale Marketingstrategien und in einigen Fällen (etwa beim Musical) auch durch Fernsehwerbung die Öffentlichkeit durch Öffentlichkeitsarbeit gesucht. Zudem sind feste Theaterhäuser eben auch Räume, die für die Öffentlichkeit entworfen, an denen neben dem Theaterspiel auch Feste, Konferenzen und Lesungen abgehalten werden und die mit einer spezifischen
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Ausrichtung, einem Programm, einer ‚Politik‘ und einem eigenen Publikum assoziiert sind. Geht man ins Foyer des Hebbel am Ufer in Berlin, so stehen Personal und auch Flyer bereit, die informieren und affirmativ dazu einladen, als Teil der Öffentlichkeit zum Publikum zu werden. Geht man dagegen am Sitz der Dachgesellschaft der Deutschen Bahn in Berlin-Mitte vorbei, so kann man mit Blick auf den mehrstöckigen Glasund Stahlturm durchaus vermuten, dass dort unter Umständen Assessment-Center-Prozesse stattfinden, da die Firma eine gewisse Größe hat. Gegebenenfalls könnte man durch einen recherchierten Zeitungsartikel oder anhand des Informationsaustauschs von Bewerberinnen in einem Internetforum auch bereits in Erfahrung bringen, dass solche Verfahren in der Firma zur Anwendung kommen. Allein, ob dies tatsächlich in diesem Gebäude der Fall ist und zu welcher Zeit diese Verfahren stattfinden, ist selbstverständlich keine firmenextern kommunizierte Information. In die Firmenzentrale eintreten kann man nur mit spezifischem Grund. Zwar würde man bis zu einem Servicedesk im Foyer vordringen, doch spätestens dort sollte man eine Mitarbeiterin sein oder eine Einladung erhalten haben und sich dann fortan in der Zentrale mit einem Gästeausweis am Revers bewegen, um nicht vom Sicherheitsdienst entfernt zu werden. Vom Theater des Assessment Centers erfährt man aus pragmatischen Gründen nicht als Teil der Öffentlichkeit: Entweder man ist Teil der Initiatoren, die sich auf einen Termin zur Durchführung geeinigt haben, oder man hat eine Bewerbung formuliert, die in einem Selektionsverfahren vorab als wertvoll erachtet wurde und somit dazu geführt hat, dass man eine persönliche Einladung mit Ort und Zeit erhalten hat, um sich unter dem Blick einer Kommission unter Beweis zu stellen. Oder aber – und dies stellt die abwegige Ausnahme dar – man hat versucht, sich mit begründetem Raten über die Möglichkeit einer solchen Aufführung an einem solchen Haus selbst einzuladen, wie der Theaterwissenschaftler. Man bedenke die Absurdität dieser externen ‚Publikumsposition‘: Wenn es dieses Theater an Ihrem Hause geben sollte – wovon ich ausgehe, da Ihr Haus ein großes zu sein scheint –, so würde ich es gerne sehen, auch wenn ich Ihnen als Publikum eher zur Last falle. Folgende Aussagen über das Theater des Assessment Centers lassen sich also aus diesem Verhältnis zum Begriff der Öffentlichkeit schließen: Der nicht-öffentliche Charakter, das Geheimnis dieses Spiels hinter verschlossenen Türen zeigt, dass dieses Theater zwar auch als Konstitution von Gemeinschaft gedacht ist, dass aber diese Gemeinschaft nicht Gemeinschaftskonstitution als Querschnitt eines demokratischen Ganzen der Gesellschaft zum Ziel hat. Die Gemeinschaft im Sinne der Gesellschaft des Firmenkörpers sucht hier entweder nach neuen Individuen, die sie integ-
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rieren kann, nach bestehenden, die sie darin unterweisen kann, wie sie sich im Körper halten können, oder nach solchen, die sie abstoßen muss, um ihre Gemeinschaft effizient zu halten: ein Theater der Selektion. Das fehlende öffentliche Publikum im Sinne einer demokratischen Ganzheit, mag diese wie andere partizipatorische Formen des Applied Theatre mit Workshop-Charakter auch an die Denkfigur der Probe binden, deren eigentliche Aufführung die firmeninterne soziale Realität ist.264 Allerdings: Den Theaterbegriff mit dem Öffentlichkeitsbegriff zu koppeln, ist historisierbar und im Kontext liberal-bürgerlicher Bestrebungen des ausgehenden 18. und 19. Jahrhunderts zu verorten.265 So datiert der Theaterbegriff doch den Öffentlichkeitsbegriff weit vor, was sich nicht zuletzt auch darin äußert, dass es zahlreiche historische Beispiele für Aufführungen gibt, in denen einem Teil der Gesellschaft die Teilhabe an der Öffentlichkeit der Theateraufführung verwehrt bleibt. Vor der eigentlichen Aufführung werden nun letzte Vorbereitungen getroffen. Der Seminarschauspieler verlässt den Raum, denn es wird nach Aussagen des Trainers als sehr wichtig angesehen, dass der Kandidat der Potentialanalyse auf keinen Fall vor dem Beginn des Rollenspiels auf den Seminarschauspieler trifft. Obgleich sich also der Mitarbeiter in der theatralen Prüfungssituation des fiktionalen Charakters der folgenden Szene vollkommen bewusst ist, soll mit der unmittelbaren Konfrontation mit einer bisher unbekannten, gespielten Figur, auf deren Auftreten und Persönlichkeit man sich im Kundengespräch einstellen muss, der Grad der Illusion wie auch der Stressfaktor des Spiels erhöht werden. Der Seminarschauspieler nimmt seine Requisiten – einen Aktenkoffer und ein Mobil telefon, das er so programmiert hat, dass es nach zehn Minuten im simulierten Kundengespräch klingeln wird – mit sich. Tritt nun der zu bewertende Kandidat in seinem terminierten Zeitfenster ein, wird er zunächst von der Human-Resource-Managerin und dem Trainer begrüßt. Man stellt sich vor, es wird auf die Anwesenheit des Theaterwissenschaftlers verwiesen und besagtes Einverständnis zu seiner Anwesenheit eingeholt, dann wird ein vorbereitendes Gespräch geführt, in dem auf das vorangegangene E-Assessment eingegangen wird und die formalen Umstände des folgenden Rollenspiels geklärt werden. Wirkt der Mitarbeiter sehr aufgeregt, so fallen einige Worte der Beruhigung, obgleich kalkulierter Stress ein strategischer Faktor jedes Assessment- oder Development-Center-Rollenspiels ist. Wichtig erscheint dabei, dass zwar transparent die rahmenden ‚Spielregeln‘ erklärt werden, nicht aber auf den Inhalt vorbereitet wird. So wird zwar erklärt, dass im Folgenden ein an den Arbeitsalltag angelehntes Rollenspiel durchgeführt wird, in dem der
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Kandidat seine Fähigkeiten in der Interaktion mit einem Schauspieler unter Beweis stellen muss und dessen Fiktion er aufrechterhalten soll – inhaltliche Hinweise, wie etwa, mit welchem Problem aus dem Arbeitsalltag der Schauspieler an den Kandidaten herantreten wird, fallen jedoch nicht. Damit soll ausgeschlossen werden, dass der Mitarbeiter sich Strategien zur konkreten Problemlösung im Vorfeld zurechtlegen kann. Zuletzt wird der Kandidat gebeten, „ganz er selbst zu sein“ und in der folgenden Spielsituation so natürlich wie ihm möglich zu agieren. ‚Authentizität‘ und ‚Natürlichkeit‘ sind zwei geradezu erschöpfend affirmativ gebrauchte Schlagworte dieser Prozesse, die entlarven, dass diese Verfahren nicht auf der Suche nach einem wie auch immer gearteten Wesenskern, sondern nach einem ästhetischen Prinzip der Selbstdarstellung sind: Der Begriff der ‚Natürlichkeit‘ im Auftreten einer Person ist, der Theaterwissenschaftlerin Doris Kolesch folgend, als ein Effekt der Außenwirkung zu beschreiben, der nachweisbar in unterschiedlichen Epochen anders konzeptualisiert, artifiziell durch Schauspiel- und Selbstdarstellungstechniken hervorgebracht und darüber hinaus überhaupt erst seit dem 18. Jahrhundert gesellschaftlich positiv konnotiert ist.266 So werfen sowohl soziologische Arbeiten mit Theatermetaphorik als auch Kultur- und Theatertheorie mit soziologischem Kern – man denke an Denis Diderots Paradoxe sur le Comedienne, Erving Goffmans Presentation of Self in Everyday Life bis hin zu Judith Butlers Ausführungen der wiederholten Aufführung und Non-Referentialität von Auftreten und Wesenskern in der Performativität von Geschlechtsidentität – Fragen über die Stabilität von angenommenen Gegensatzpaaren wie ‚natürlich – gespielt‘ oder ‚authentisch – künstlich‘ auf. Letztendlich lässt sich also postulieren, dass in voller Legitimität des Begriffs und seiner Geschichte die ‚Authentizität‘ des Kandidaten in dem Development Center in Rijswijk im Spiel gesucht wird. Das Spiel mit der geforderten ‚Natürlichkeit‘ kann er je nach Disposition sowohl souverän auf sich zukommen lassen oder aber bis zu einem gewissen Grad vorbereiten und einüben, da diese ‚Natürlichkeit‘ in der Selbstdarstellung zwar persönlichkeitsbedingt, aber dennoch artifiziell und abhängig von sozialer Erwünschtheit im Firmenkontext ist. Ist es etwa der Persönlichkeitsstruktur des Kandidaten zu eigen, bei persönlichen Angriffen durch Kunden verletzt zu reagieren oder in Stresssituationen zu stammeln, kann er versuchen, dieses Verhalten zu überspielen, oder hat sich bereits Strategien zurechtgelegt, sich in diesen Situationen neu zu modellieren und damit eine neue ‚Natürlichkeit‘ mit anderen Authentizitätseffekten267 seiner Person zu entwerfen, deren ‚Authentie‘ er unter Beweis stellt. Zur Verfügung stehen ihm dafür im Vorfeld eine ganze Reihe von Hilfsmitteln der Modulation von Selbstdarstellung: Ratgeberliteratur, Internetseiten,
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Rhetoriktrainer bis hin zu Angeboten für Assessment-Center-Trainingsseminare. Selbstverständlich kann im Spektrum unterschiedlicher Persönlichkeitsstrukturen auch der Idealfall angenommen werden, dass ein Kandidat in seinen nicht bewusst auf seinen Arbeitskontext oder auf die Prüfungssituation hin modellierten sozialen Kompetenzen bereits deckungsgleich mit allen abzuprüfenden Aspekten ausgestattet erscheint.268 Es bleibt also ununterscheidbar, ob es in diesen Verfahren darum geht, eine Maske aufzusetzen, eine Maske abzureißen, zu beweisen, dass man keine Maske trägt, an einer Maske zu zerren, ob sie denn fest genug sitzt, sie schnell wechseln zu können, zu bestätigen, dass Maske und Gesicht verschmolzen sind oder darum, diese beiden fester zu verschmelzen. Wichtig erscheint, dass Kompetenzen und Techniken zur souveränen Persönlichkeitsdarstellung vorhanden sind und angewendet werden können. Befinden sie sich dabei in Kongruenz zum eigenen Empfinden, wird lediglich die Inszenierung des Selbst in der Aufführungssituation leichter fallen und weniger Gefahr laufen, Bruchmomente zu evozieren. Ob die Darstellung aufrichtig ist oder nicht, kann dann aus einer Außenperspektive und graduell wohl sogar aus der Innenperspektive kaum noch entschieden werden. So lässt dieses Spiel nicht nur im Spielraum und in den zeitlichen Dimensionen angenommene Dichotomien von real und fiktiv in seinem Rahmen kollabieren. An der grundsätzlich so zentral geäußerten Forderung nach den ästhetischen Kategorien der Selbstdarstellung von ‚Natürlichkeit‘ und ‚Authentizität‘ in den Verfahren wird deutlich, wie tiefgreifend dieses Mikrodispositiv des Spiels in Wechselbeziehung und gegenseitiger Immanenz zu einem meso- und makrodispositiven Geflecht steht, an denen auch Ratgeber zur Vorbereitung auf Assessment Center, die Corporate Identity des Firmenalltags und ein gesamtgesellschaftlicher, neoliberaler Diskurs beteiligt sind, die nicht lediglich nur Arbeitspersönlichkeiten erwählen und schulen, sondern Subjekte ästhetisch formen: Die Forderung, sich selbst authentisch zu spielen, offenbart gleichsam das Wissen darum – wie die Aufforderung dazu –, sich selbst authentisch formen zu können. Auf dieses Wechselverhältnis soll im dritten Kapitel der hier vorliegenden Studie genauer eingegangen werden. Wie nun stellt sich eine solche Handlung in der Spielszene dar? Der folgende Spielinhalt entfaltete sich zwischen dem Servicemitarbeiter der Vertragswerkstatt des Automobilherstellers und dem Seminarschauspieler bei dem beobachteten Development Center in Rijswijk: Nach dem vorbereitenden Gespräch zwischen Human-Resource-Managerin, Trainer und Mitarbeiter, wird der Kandidat an den Stehtisch verwiesen. Der Trainer er-
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klärt dabei in ihrer Funktion als Spielleiterin diese provisorische Requisite zu dem Servicedesk, den der Mitarbeiter aus seinem Arbeitsumfeld in seiner Vertragswerkstatt kenne. Der Trainer kennzeichnet mit einem verbalen Zeichen („Bitte beginnen Sie!“ o. ä.), das so laut geäußert wird, dass es auch der vor der Tür wartende Seminarschauspieler hört, den Beginn der Spielrahmung. Ab diesem Zeitpunkt muss der Kandidat so agieren, als wären Human-Resource-Managerin, Trainer (und auch der Theaterwissenschaftler) nicht mehr anwesend und als hätte sich der Raum zumindest radial um seinen Standpunkt herum in seinen alltäglichen Arbeitsplatz transformiert: Merklich sammelt sich der Kandidat innerlich, legt die Hände auf den Servicedesk, improvisiert gar eine belanglose Arbeitsbewegung, wie das Ordnen von Papieren oder das kurze Tippen auf einer Tastatur. Nun öffnet sich die Tür des Seminarraums und der Seminarschauspieler tritt ein. Er trägt eine Jacke und hat eine Aktentasche dabei. Diese Accessoires und der erste flüchtige Eindruck seines Habitus suggerieren, dass er gerade erst von draußen eingetroffen sei, sein entschlossener Schritt auf den Servicedesk zu, sein kurz angebundenes „Guten Tag“ und seine Körpersprache lassen ihn in Eile oder in leichtem Stress befindlich wirken. Durch Minimalgestiken und -mimiken des kurzen Nickens und einem formalen Lächeln, unter dem die Begrüßung gleichzeitig ausatmend leicht hervorgepresst wird, kann man bereits deuten, dass dieser Kunde zwar die Regeln der Höflichkeit einhält, dennoch aber mit einem Problem oder einer Beschwerde an den Mitarbeiter herantreten wird, an dem er innerlich bereits arbeitet und das ihn emotional erregt. Wie im Arbeitsalltag erwidert der Mitarbeiter höflich die Begrüßung, richtet Körper und Blick auf den Kunden aus und fragt, was er für ihn tun könne. Im Folgenden entfaltet sich ein Kundengespräch von etwa zwanzig Minuten, aus dem hervorgeht, dass der Kunde der Vertragswerkstatt sehr verärgert ist, da er seinen Wagen am Vortag abgegeben hatte, um seine Winterreifen auf Sommerreifen wechseln zu lassen (dieses narrative Versatzstück wird nach Aussage des Trainers der Jahreszeit entsprechend realistisch angepasst). Am heutigen Tag erhielt der Kunde nun einen Anruf der Werkstatt, aus dem hervorging, dass aufgrund von Auftragsrückstau der Reifenwechsel noch nicht durchgeführt werden konnte und der Wagen dementsprechend erst am morgigen Tag zur Verfügung stehen wird. Dies wiederum verursacht einen erheblichen Terminkonflikt beim Kunden, der aufgrund seines Berufs auf seinen Wagen angewiesen ist und darüber hinaus übermorgen mit ebendiesem Wagen mit seiner Familie in den Urlaub fahren möchte. Der Mitarbeiter muss die bestmögliche Problemlösung erspielen und hat dabei zwei Ebenen auf dem Spielfeld, die er bedienen muss. Die eine ist
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sachliche Kompetenz seines Arbeitsfeldes – so muss er etwa wissen, dass dem Kunden ein Ersatzwagen für den Ausfall angeboten werden kann und dass seine Firma im Kulanzfall den zurzeit in der Werkstatt befindlichen Wagen auch durch einen Fahrer an den Kunden ausliefern lassen kann, um die entstandenen Unannehmlichkeiten zu minimieren. Diese Sachinformationen sollte der Mitarbeiter natürlich auf jeden Fall abrufen können. Wichtiger noch erscheint daher die intersoziale Kompetenzebene der Kommunikationsstrategie, hier erläutert am Punkt ‚Empathie‘. Anders als vielleicht im Arbeitsalltag wird der durch den Seminarschauspieler verkörperte Kunde zwar verärgert sein, er wird aber durch spezifische Schlüsseläußerungen oder aber das Ausbleiben derselben in seinem, teils vorgegebenen, teils improvisierten und auf Entscheidungsbäumen fußenden Figurenentwurf gesteuert. „Ich verstehe Ihr Problem“, „Das tut mir leid und ich werde umgehend versuchen, eine Lösung für diese Herausforderung zu finden“, „Ich kann nachvollziehen, dass das sehr ärgerlich ist, ich kann Ihnen Folgendes anbieten …“ wären Standardformulierungen, die bei der Problemlösung gewissermaßen Empathie suggerieren und entsprechend Auswirkungen auf die Bewertung des Rollenspielers haben werden, die sich in einer hohen Punktzahl etwa im Bereich „zeigt Empathie“ in der Statistik niederschlagen. Zum anderen beeinflussen diese Gesprächsstrategien den Fortgang des Spiels: Fällt etwa an einem neuralgischen Punkt der Beschwerde durch den Kunden keine entsprechende Äußerung, die Verständnis impliziert oder eine Entschuldigung beinhaltet, die ebenfalls auf eine spezifische Weise formuliert sein muss (etwa in der „Ich“-Form anstatt der „Wir“-Form, die als Distanznahme zum Problem anstatt persönlicher Übernahme von Verantwortung ausgelegt werden kann), so ist der Seminarschauspieler dazu ausgebildet, an dieser Stelle zu erkennen, welcher Wert abgerufen werden sollte und dass dies nur unzureichend erfolgt ist. Der von ihm gespielte Kunde wird sich dann weiter erregen, bis entweder eine entsprechende Äußerung gefallen ist oder das Gespräch an dieser Stelle weiter eskaliert. Wie erwähnt hat der Seminarschauspieler in seiner Ausbildung gelernt, an diesen Stellen des Spiels mit exakt drei Intensitätsstufen den entsprechenden Wert der sozialen Kompetenzen der Arbeitspersönlichkeit des Kandidaten abzufragen: Zunächst wird ein Indikator sanft fallengelassen, reagiert der Mitarbeiter darauf unzureichend, so kommt der Punkt noch einmal mit mehr Betonung zur Sprache, erfolgt immer noch keine gewünschte Reaktion durch den Kandidaten, so wird auf der höchsten Intensitätsstufe noch einmal abgefragt – im Falle einer desinteressierten Haltung gegenüber dem Stress, der durch den nicht fertiggestellten Reifenwechsel entsteht, wäre dies z. B., dass der Kunde laut wird und wütend über die Firma und den Servicemitarbeiter schimpft.
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Der Trainer bewertet derweil den Grad, in dem der Kandidat diese neuralgischen Gesprächspunkte meistert oder eben nicht, in einem an Schulnoten erinnernden Punktesystem von „slecht“ über „matig“, „bevredigend“ „goed“ zu „uitstekend“. Innerhalb des vorbereiteten Narrativs des Kundengesprächs ist zudem eine Art Geheimnis versteckt, ein Spielmechanismus, der an diverse Krimispiele erinnert, deren Spielverlauf darin besteht, dass eine Person einen Tatort schildert und eine andere durch geschickte Fragestrategien herausfinden muss, wie der Mord begangen wurde. Die Lösung dieses Zusatzproblems ist eine Art Bonusaufgabe des Gesprächs, die zusammengefasst darin besteht, durch aufmerksames Zuhören und Empathie einem bereits verärgerten Kunden einen zusätzlichen Dachgepäckträger zu verkaufen: Eine zentrale Rolle nimmt dabei das Mobiltelefon des Seminarschauspielers ein, das er mit seiner Weckfunktion so programmiert hat, dass es nach etwa zehn Minuten im Gesprächsverlauf klingelt. Dieser Umstand ist zunächst sehr irritierend und gefährdet kurzzeitig die Stabilität der Diegese. Bei jedem der abgeprüften Kandidaten wie auch bei der erstmaligen Beobachtung durch den Theaterwissenschaftler entsteht hier der Eindruck, dass der Seminarschauspieler tatsächlich einfach vergessen hat, für die Dauer des Potentialanalyseverfahrens sein Handy lautlos zu stellen, und er wirklich einen Anruf aus der Sphäre des Nicht-Spiels erhält. Der Kandidat lacht als Reaktion gestresst über den Klingelton, im Folgenden wird aber dadurch, dass der Seminarschauspieler tatsächlich sein Telefon aus der Manteltasche holt und den Anruf annimmt, klar, dass diese Störung innerhalb von Spielrahmen und Fiktion verortet ist. Der Kunde führt ein kurzes, fingiertes Gespräch, in dem er das bis hierhin diskutierte Problem für den Anrufer zusammenfasst und kurz angebunden Dinge bejaht oder verneint. Dann beendet er den Anruf mit den Worten „… ich dich auch!“, wendet sich wieder an den Servicemitarbeiter und entschuldigt sich für die Unterbrechung: Es sei seine Frau gewesen, sie seien zurzeit etwas im Stress, da die beiden vor kurzem Zwillinge bekommen hätten. An diesem Punkt der Prüfung befindet sich der Kandidat wiederum an einer neuralgischen Stelle des Gesprächs – er darf nach dieser Störung im Idealfall nicht einfach zeiteffizient und zielorientiert auf das Problem des Reifenwechsels zurückkommen, sondern muss empathisch auf diese private Äußerung eingehen, in dem er z. B. dem gewordenen Vater gratuliert. Geschieht dies, so wird der Schauspieler erzählen, dass die Familie plant, mit dem gerade in der Werkstatt befindlichen Wagen in den Urlaub zu fahren, und er noch keine Ahnung hat, ob er das Gepäck überhaupt im Stauraum wird unterbringen können, da die Kindersitze seiner Zwil-
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linge zu viel Platz auf der Rückbank in Anspruch nehmen. Nun wiederum wird erneut die Sachkompetenz des Servicemitarbeiters abgefragt, da sein Arbeitgeber ebenfalls Dachgepäckträgermontage anbietet. Kombiniert er, ohne von der Unterbrechung durch das Telefon oder dem Hauptproblem des verzögerten Reifenwechsels abgelenkt zu sein, dass für das Problem des mangelnden Stauraums aufgrund des Familienzuwachses in seiner Vertragswerkstatt eine Lösung zu finden ist, so ‚gewinnt‘ er auch die ‚Bonusrunde‘. In Kombination aus Empathie und Sachkompetenz ist so ein bestmöglicher Ausgang des Spiels nicht nur, den Kunden mit einem bereitgestellten Ersatzwagen zufriedenzustellen und seinen Ärger aufzufangen, sondern einem wütenden, gestressten Familienvater einen weiteren, kostenpflichtigen Service – die zusätzliche Dachgepäckträgermontage – verkauft zu haben. Beginn und Ende dieser Spielhandlung lassen spieltheoretische Fragen nach der Rahmung der Szene aufkommen, auf die im zweiten Kapitel dieser Studie noch genauer unter der Perspektive der Ludologie eingegangen werden soll. Ein verbales Zeichen, das den Spielbeginn markiert („Bitte fangen Sie an!“ o. ä.), wird, wie bereits erwähnt, von der Spielleiterin – dem Trainer – gegeben. Interessanterweise kann aber die Fiktion noch vor dieser Markierung narrativ vorbereitet werden: So wurde in einem ebenfalls beobachteten, inhaltlich aber anders verlaufenden Verfahren für einen Verkäufer eines Autohauses durch die Spielleiterin darauf hingewiesen, dass der Kunde soeben mit einem spezifischen Automodell vorgefahren sei. Dabei wurde gestisch in Richtung des Parkplatzes vor dem Fenster des Seminarraums verwiesen. Das Vorfahren des Autos war dabei rein imaginär, die Aussage über das Fahrzeugmodell ließ aber Rückschlüsse über die Kaufkraft und damit über die Preiskategorien, in denen der Kunde sich bewegt, zu. Diese Rahmung erscheint insofern interessant, als dass der Trainer sich kurzzeitig in einer narrativen Vorrede an der Fiktion provisorisch beteiligte, obwohl sie durch die Aussage mit fiktivem Inhalt – der Kunde sei soeben vorgefahren – bereits ein verbales Zeichen zur Markierung des Spielrahmens gegeben hatte und somit eigentlich innerhalb der Diegese als nicht anwesend angesehen werden musste. Diese leichte Irritation des Rahmens war allerdings eher pragmatisch und zeigt, dass der Beginn des Spiels wie die Trennung von Spiel und Nicht-Spiel nicht in Absoluten zu definieren sind. Zu unterscheiden wäre allerdings der Eintritt in die Regelhaftigkeit des Spiels vom Eintritt in die Fiktion des Spiels: Ist es bei Spielen, die sowohl Anteile des regelgebundenen game als auch des freien play in sich tragen, oft sehr eindeutig, ab wann man sich den Regeln unterwirft, ist die
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Immersion in die Diegese eines Spiels oft ein viel diffuserer Prozess – man denke an Ouvertüren in Musicals, Vorreden vor dem Theater, Credits im Kino oder narrative Eingangssequenzen und Tutorials in Computer-Rollenspielen. Eine zweite, deutlichere Markierung des Spielbeginns stellt der Auftritt des Seminarschauspielers dar, der, so wurde ebenfalls dargelegt, eine Art transportable vierte Wand mit sich führt, die nicht eindeutig an einer Bühnengrenze verläuft, sondern eher so zu beschreiben wäre, dass sie radial von ihm ausstrahlt. Verlässt nun am Ende des Rollenspiels der Seminarschauspieler den Raum, so nimmt er diese vierte Wand mit sich und markiert durch das Schließen der Tür gleichsam nonverbal das Schließen der Spielrahmung. Nun meldet sich auch die Spielleiterin wieder zu Wort und markiert mit einem „Danke!“ o. ä. verbal das Ende der Spielrahmung. Selbstredend fällt weder ein Vorhang noch erklingt Applaus nach dieser Theaterszene. Ist diese Beobachtung zunächst vielleicht profan (und zudem an den Maßstäben eines sehr konventionellen Theaterverständnisses gemessen), so ist sie dennoch nicht rein aus rhetorischem Witz erfolgt. Selbstverständlich fällt also kein Vorhang, da sich die Szene ja auch nicht in einem Theatergebäude entfaltet. Allerdings: Der Vorhang wie der durchaus in historischen Theatergebäuden reich verzierte Rahmen der Bühne kann gleichzeitig auch als Ausdruck eines Bestrebens gewertet werden, den Raum der Illusion und den Raum des Nicht-Spiels – möchte man ihn nun Alltag, Wirklichkeit, gewöhnliches Leben oder Realität nennen – ästhetisch klar zu trennen. Die hier im Seminarraum stattgefundene ästhetische Praxis aber ist mit der ausgesprochenen Intention erfolgt, sich mit der Sphäre des Nicht-Spiels zu vermengen. Eine klare Abgrenzung von Spiel und Nicht-Spiel ist also nicht erwünscht und auch ästhetisch nicht gesetzt. Der Applaus weiterhin bleibt zwar am Ende des Assessment-Center-Rollenspiels aus, jedoch in einem theatralen Gruppenseminar zur Mitarbeiterschulung – also einem ganz ähnlichen Setting – bestehend aus Trainer, Seminarschauspieler und mehreren Mitarbeiterinnen – kann durchaus zum Abschluss einer Performance applaudiert werden. Applaus ist neben dem fallenden Vorhang ein zweites Zeichen der Schließung der Klammer um das metakommunikative Konstrukt Spiel im Theater.269 Mehr noch ist es vielleicht gar das doppelte Schließen der Klammer von einer Seite, die sich um den Umstand nicht ganz sicher sein kann, da sie nicht vollends die Autorität hat. Fällt der Vorhang oder (eben weniger konventionell gedacht) erlischt das Licht, verharren die Schauspieler auf der Bühne in letzter Pose oder nehmen eine merkbar andere Haltung ein, stehen die Toten wieder auf oder geht das Spiel einfach nicht mehr
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weiter, irgendwann (und ja, auch nicht in allen, aber eben in vielen Fällen) wird das Publikum applaudieren, um seinerseits zu sagen: Auch wir schließen die Klammer oder ja, wir haben bemerkt, dass ihr die Klammer geschlossen habt, und wir bestätigen dies unsererseits. Gleichzeitig natürlich – und die meisten Zuschauerinnen würden behaupten, dass dies der erste und einzige Grund für den Applaus ist – wird damit der Leistung Respekt gezollt. Letzteres ist auch der vorwiegende Anlass, weswegen in einem Managercoaching-Seminar am Ende einer Rollenspielszene durchaus geklatscht werden kann. Man zollt denjenigen Respekt, die unter Stress eine gute Performance oder zumindest ihr Bestes gegeben haben. Gleichzeitig konstituiert sich hier eine Gruppe von Partizipierenden (und Mitleidenden, die alle in einem Boot sitzen). Auch das Publikum des Theaters konstituiert sich durch den Beifall und nimmt sich selbst durch den Applaus als Gruppe wahr. Im Assessment-Center- oder Potentialanalyseverfahren für jeweils nur eine Mitarbeiterin zu einer Zeit, das dennoch an vielen Stellen des eingesetzten Spiels parallele Strukturen zu Coaching-Seminaren aufweisen kann, würde dies völlig fehl am Platze wirken, da die einzigen möglichen Applaudierenden, Trainer und Human-Resource-Managerin, ihr Feedback und ihre Bewertung der Leistung in verbaler Form, in Statistik und in Zahlen geben werden. Weder müssen sie sich als Gruppe konstituieren und selbst bestätigen noch wäre eine nonverbale Gefallensäußerung komplex genug oder angebracht. Lediglich das „Danke“ von Seiten des Trainers oder auch der Human-Resource-Managerin fallen aus dem Nützlichkeitsprinzip des Feedbacks am Ende der Performance heraus und könnten als das Substitut des Beifalls gesehen werden: Nicht nur schließt das „Danke“ die metakommunikative Spielklammer, es enthält zumindest in sehr kondensierter Form auch die Anerkennung dafür, dass gerade eine anstrengende darstellerische Tätigkeit vollzogen wurde, egal, ob die Leistung der Wertung nach nun befriedigend oder unbefriedigend ausgeführt wurde. So wird der Rahmen des Spiels durch ebendiese Äußerung geschlossen, nachdem der Seminarschauspieler den Raum verlässt, die Tür schließt und dabei die portable vierte Wand mit sich genommen und somit Trainer und Human-Resource-Manager wieder ‚sichtbar‘ gemacht hat. Jetzt wird der zu bewertende Kandidat gebeten, aus dem Raum zu treten, während der Seminarschauspieler, nun außerhalb der Rolle, wieder eintritt, um mit den beiden anderen Prüferinnen die Szene zu besprechen und auszuwerten. Auch der Schauspieler hat dabei durch seine Zusatzausbildung zum Seminarschauspieler die Expertise, dem Kandidaten aus seiner Sicht Feedback zu geben. Er ist keinesfalls in dem Prozess nur als Spielpartner anwesend, er ist gleichberechtigt dazu angehalten, die Spiel
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szene qualitativ zu bewerten. An dieser Personalunion eines Darstellers, der zum einen nach verschiedenen, schauspieltheoretischen Schulen professionell ausgebildet wurde, eine fiktive Rolle anzunehmen und zu verkörpern, und der zum anderen Experte für Kommunikationsstrategien in Unternehmenskontexten ist – sei es im Umgang mit Kunden, sei es mit Untergebenen oder mit Geschäftspartnern – ist ein kurioser Statuswechsel zu beschreiben. Offenbar werden ästhetischen Praktiken, die nach einem konservativ bürgerlichen Verständnis der Sphäre von Kunst oder Spektakel zugerechnet wurden, in der ökonomischen Sphäre eine Expertise zugesprochen, die den social bond, die zwischenmenschliche Interaktion als Kompetenz prüfbar, messbar, einschätzbar, kapitalisierbar und modellierbar macht. Eine Expertise, die in einem Bereich der Arbeitswelt des Postfordismus, in der nicht Dinge hergestellt, sondern Dienstleistungen erbracht werden und Kommunikation im Vordergrund steht, interessanterweise einen Berufsstand ins Zentrum rückt, der in anderen Epochen als höchst fragwürdig galt: Der Schauspieler hat einen langen Weg bestritten, von der kirchlichen Ächtung über die bourgeoise Skepsis und die romantisch verklärte Nonkonformität bis zum Rollenmodell ins Herz des neoliberalen Kapitalismus. Denn nicht nur werden die Kandidaten an Schauspielern geprüft und durch sie bewertet. Zu beobachten ist ebenfalls, wie die Arbeitsanforderungen und Arbeitsbedingungen des Neoliberalismus sich an denen des Künstlers orientieren:270 Neben den buzzwords der Flexibilität, der Kreativität und Selbstoptimierung, der stetigen Arbeit an sich selbst, dem Ideal entgrenzter Arbeitszeiten, keiner örtlichen Bindung, dem Denken in Projekten, der Beschäftigung in freier Mitarbeiterschaft und der reinen Anerkennung oder dem Verbleib in Arbeitskontexten, in denen man sich bewegen möchte, als Lohn, der an die Stelle von Entlohnung durch Geld tritt, scheint in diesen Prozessen auch die Persönlichkeit selbst idealerweise formbar, flexibel, kann sich authentisch selbst spielen und sich selbst aus einer Außenperspektive und in seiner Wirkung auf andere beobachten und modellieren – es scheint zunächst so, als sei der Histrioniker271 der Persönlichkeitspsychologie zur idealen Arbeitnehmerpersönlichkeit avanciert: Lothar Laux, Karl-Heinz Renner und Astrid Schütz diskutieren im Zusammenhang eines Assessment-Center-Versuchs zur Untersuchung von Theatralität als Modell in der Persönlichkeitspsychologie Mark Snyders sozialpsychologische Konzepte des High-Self-Monitoring und Low-Self-Monitoring. Neigt der Low-Self-Monitorer zu stärkerer Kongruenz zwischen Befindlichkeit und seiner Außendarstellung, so tendiere der High-Self-Monitorer in Interaktionen mit anderen zu dramatischen Aufführungen, mit denen er Aufmerksamkeit erregen und bestimmte
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Eindrücke erzeugen wolle. 272 Diesem Persönlichkeitsmodell mit histrionischen Zügen werden gegenüber dem Low-Self-Monitorer nun aber stärkere Kompetenzen in den Bereichen interpersoneller Kompetenz, sozialer Intelligenz, Wahrnehmung und Handlung zugesprochen.273 Laux, Renner und Schütz nun kritisieren das Modell Snyders als binär274 und ergänzen, dass man in der ‚Persönlichkeitsdarstellung‘ nicht lediglich die Extrembeispiele einer Verstellung, eines intersozialen Chamäleons als einzige Form der Selbstinszenierung in Betracht ziehen sollte: Was bei der fast karikaturhaften Polarisierung im Self-Monitoring-Ansatz vollkommen verloren geht, ist die Auffassung, daß wir durch unsere Selbstdarstellung auch versuchen können, zentrale Merkmale unserer Persönlichkeit zu vermitteln.275 Gleiches muss hier betont werden, wenn vom Modell des Schauspielers als Vorbild für den idealen Arbeitnehmer die Rede ist: Keinesfalls und analog zu aktuellen theaterwissenschaftlichen Konzepten von Rolle und Verkörperung ist damit der Lügner, Hochstapler oder auch nur Opportunist gemeint, sondern eine tendenziell eher extrovertierte Persönlichkeit, die in Eigenbeobachtung und im Bewusstsein von Fremdbeobachtung gelernt hat, seine körperlichen Ausdrucksmittel als Material zu verstehen, um ein durchaus kongruentes und authentisches, aber immer positives und zielgerichtetes Außenbild der dennoch eigenen Persönlichkeit zu erzeugen. Formen der Selbstdarstellung, so Laux, Schütz und Renner, können dabei auch durchaus unter die Bewusstseinsgrenze sinken.276 Den Unterschied zwischen Snyders High-Self-Monitorer und ihrem Konzept des Persönlichkeitsdarstellers illustrieren Laux, Schütz und Renner schließlich sehr passend an der Unterscheidung zwischen den Schauspielertypen ‚Charakterspieler‘ und ‚Verwandlungskünstler‘.277 Assessment Center würden dabei gerade auch versuchen, neben den Bewerberinnen, die sich selbst überschätzen, auch diejenigen, die sich unter extremer Anstrengung verstellen, zu selektieren. Dem gewünschten Persönlichkeitsmodell des ‚Persönlichkeitsdarstellers‘ gehen dementsprechend auch seine Inszenierungsstrategien vergleichsweise leicht und ohne Bruchmomente in Stresssituationen von der Hand. Nachdem nun im Development-Center-Prozess in Rijswijk die Stärken und Schwächen, die problematischen, vorbildlichen und kreativen Lösungsstrategien des Kandidaten im Spiel mit dem Seminarschauspieler diskutiert wurden, wird der Mitarbeiter wieder in den Raum gebeten, um mit allen drei anwesenden Prüferinnen ein Feedbackgespräch zu führen.
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Interessant für die Trennung der Sphären von Spiel und Nicht-Spiel, den Verflechtungen des ‚Als-ob‘ und der Realität und den Entgrenzungen der Ernsten Spiele erscheint es dabei, dass je nach Wunsch des Auftraggebers der Seminarschauspieler sein Feedback außerhalb der Rolle und damit in Abstand zu dem fiktiven Kunden, den er verkörpert hat, aber durchaus auch innerhalb der Rolle geben kann, und damit die Fiktion wiederaufnehmend die Kategorien real und fiktiv erneut kollabieren lässt. Das Feedbackgespräch erfolgt zum Zweck der Potentialentfaltung und der Selbstoptimierung – sogenannte Entwicklungsfelder der Kompetenzen, die geprüft wurden, werden aufgezeigt und damit gleichsam mit der Aufforderung der Arbeit an sich selbst versehen. Interessanterweise muss auch die Beobachtung gemacht werden, dass der Lerneffekt, der von der gespielten Szene ausgehen soll, auch bis zu einem gewissen Grad fiktive Anteile in sich trägt. Denn wird zwar der gewünschte Habitus des Servicemitarbeiters forciert, so wird dieser korrelierend durch den Spielpartner stetig bestätigt, belohnt und führt auf alle Fälle zum gewünschten Gesprächsverlauf. Im Arbeitsalltag mögen diese Gesprächsführungsstrategien durchaus hilfreich sein, genauso muss aber betont werden, dass Kunden anders als der entworfene Charakter in ihrer Persönlichkeitsstruktur wesentlich irrationaler, unvorhersehbarer und dementsprechend auch durch methodisch entworfene Idealgesprächsführungen nur bis zu einem gewissen Grad steuerbar sind. Eingeübt und belohnt wird somit im Potentialanalyseverfahren nicht zuletzt der gewünschte Habitus der Corporate Identity, ohne dass er zwangsläufig außerhalb der Fiktion tatsächlich in der Gesprächsführung belohnt werden muss. Anteil an der dispositiven Einübung der gewünschten Persönlichkeitsdarstellung haben nun nicht nur das konkrete Ereignis des Potentialanalyseverfahrens an sich: Im Vorfeld solcher Spiele stehen auch Vorbereitungen der Bewerberin oder Mitarbeiterin, die auf eine Masse an Ratgeberliteratur und Webseiten sowie zahlreiche kostenpflichtige Angebote des Assessment-Center-Coachings zurückgreifen kann, um sich selbst zu modellieren. Man bedenke bei solchen vorbereitenden Seminaren wiederum die Verschachtelung der Ebenen von Spiel und Nicht-Spiel: Ein Spiel des ‚Als-ob‘ wird im Spiel simuliert, um es zu üben. Es kann also auch davon gesprochen werden, dass die Einrichtung Assessment und Development Center die Kandidaten dazu anhält, vorbereitend an ihrer ,Inszenierung‘ zu arbeiten. Betrachtet man nun die Arbeit an sich selbst sowohl im Vorfeld durch die Vorbereitung durch Ratgeber und weitere Simulationen als auch im Nachgang durch das Feedbackgespräch, das offengelegte Entwicklungsfeld, die nun festgehaltenen Daten wie eventuell das nächste Potentialanalyseverfahren im regelmäßigen Turnus, so liegt es
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nahe, bei diesen Verfahren von einem Theater zum Zweck der Menschenformung – zur „Subjektivation“278 – zu sprechen. Im Assessment Center zur Rekrutierung begründet das Feedback Einstellung oder Nicht-Einstellung – kann einer Bewerberin aber durchaus auch aufzeigen, an welchen Aspekten bis zu einer nächsten Einstellungsrunde noch zu arbeiten wäre, da in vielen Konstellationen auch durchaus dazu ermutigt werden kann, sich erneut zu bewerben. Im Potentialanalyseverfahren für bereits beschäftigte Mitarbeiterinnen steht das Feedback geradezu als Aufforderung zur Selbstoptimierung im Raum, die Stärken der Mitarbeiterin werden betont, die Schwachstellen, die im Spiel offenbar wurden, sind ebenfalls in einsehbare Daten und Zahlen übertragen und gelten nun als zu bearbeitendes Problem mit Aufforderung zur Arbeit an sich selbst. Ob diese erfolgt ist oder man sich etwa nicht mehr kreativ entwickelt, ist durch ein erneutes Potentialanalyseverfahren prüfbar. Auf diesen Dis positivcharakter der Subjektivation der theatralen Module von Personalauswahl- und -entwicklungsverfahren soll im dritten Kapitel dieser Studie genauer eingegangen werden.
6 Assessment Center: Theater der Persönlichkeitsdarstellung Inwieweit nun ist eine derartige Veranstaltung wie die vorangehend beschriebene Applied Theatre zu nennen? Sind theatrale Aspekte wie Aufführung, Publikum, Bühne und Spiel hier lediglich strapazierte Metaphern oder können derartige Module von Personalauswahlverfahren auch jenseits der historischen Herleitung am Beginn dieses Kapitels unter einem Dachbegriff des Theaters ihren Platz erhalten und damit den Diskurs um Applied Theatre und Theatralität bereichern? Natürlich kennt die Disziplin Theaterwissenschaft weit gefasste Theatermodelle, so dass kaum argumentativ darum gefochten werden müsste, die hier beschriebenen Phänomene als Theater bezeichnen zu können. Vielmehr führt eine theaterwissenschaftliche Beschäftigung mit unterschiedlichen Theaterformen und Theatralitätsphänomenen zu der Einsicht, dass Grenzen eines Theaterbegriffs eben nicht wie in den ‚exakten‘ Wissenschaften gezogen werden können, um dann Gegenstände eindeutig dies- und jenseits dieser Linie zu kategorisieren. Interessant für die Disziplin erscheint also weniger, eine angestrengte Diskussion darum zu entfachen, was Theater sei als vielmehr, wie der Theaterbegriff und die Paradigmen, unter denen er betrachtet werden kann, nuanciert werden, wenn ein spezifisches Phänomen sich dem Theater beigesellt, um seinen Diskurs zu bereichern.
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Dazu muss zunächst geklärt werden, welcher Theaterbegriff hier aufgerufen werden soll. Denn keinesfalls verstehen zwei Personen, die das Wort ‚Theater‘ bemühen, darunter bedingungslos dasselbe. Benennt man, um mit dem einfachsten Ausschluss zu beginnen, mit dem Begriff Theater die Adaption eines geschriebenen Bühnenstücks in eine Spielszene oder den exklusiv für das unterhaltsame oder auch bildende Schauspiel reservierten Ort, so sind die betrachteten Prozesse weder Umsetzungen dramatischer Literatur noch sind die provisorisch hergerichteten Seminarräume von Unternehmen Theatersäle. Ihre Veranstalter erheben in der Selbstwahrnehmung auch nicht, anders als im Fall zeitgenössischer Umwidmungen von ehemaligen Industriegebäuden oder Kirchen zu Spielhäusern, den Selbstanspruch, dass Räumlichkeiten ihres Unternehmens auch nur zeitweise in ein Theater transformiert worden wären. In der Grundbedeutung definiert als ‚der Ort, an dem man schaut‘ (theatron)279 und an dem Handelnde von leiblich anwesenden Zuschauerinnen beobachtet werden, kann auch diese Distanzierung vom lokal bezogenen Theaterbegriff als Theaterhaus befragt werden. Allerdings würde umgekehrt eine so weite Öffnung des lokal bezogenen Theaterbegriffs nun so viele Orte auf sich vereinen, dass der Terminus dann einfach den ausdifferenzierten Begriff der Theatralität wieder inkorporieren und mehr Beliebigkeit und Unklarheit mit sich bringen würde, als dass er interessante Perspektiven auf Theaterphänomene liefern könnte. Das Verständnis der theatralen Module von Personalauswahl- und Potentialanalyseverfahren als Theater soll hier vielmehr aus dem Verhältnis von Handelnden und Zuschauenden sowie dem metakommunikativen, exponierenden Rahmen dieser teilfiktionalisierten Handlungen als Spiel abgeleitet werden. Keine Rolle kann weiterhin dabei eine Argumentation spielen, die nur dann von Theater spricht, wenn der Vorgang in einem festen Kunstrahmen stattfinden muss – eine Gedankenfigur, von der sich die Theaterwissenschaft durch Konzepte der Theatralität und einem Verständnis des Theaters als heuristischem Instrument gesellschaftlicher Selbstverständigung von Kulturen gelöst hat, jedoch außerhalb des geisteswissenschaftlichen Diskurses wie in der konkret vorgefundenen Praxis weiterhin dominant das Denken über Theater prägt. Selbst der in der Einleitung dieser Studie im Interview zitierte Seminarschauspieler, der in den voranstehend beschriebenen Kontexten eingesetzt wird, spricht etwa in seiner persönlichen Meinung dem Vorgang der Rollenspiele im Personalauswahlverfahren den Theaterstatus ab, denn Theater sei für ihn Unterhaltung, Komödie, Tragödie280 – also nur dann Theater, wenn von Kunst- oder zumindest Boulevardtheater die Rede sein kann. Er steht mit dieser Aussage stellvertretend für
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eine Haltung, die sich im Verlauf der Studie an mehr als einer Stelle manifestiert hat.281 Überraschung, Skepsis oder Ablehnung, dass es sich bei den erweiterten Personalauswahlverfahren um einen Gegenstand des Theaters handeln kann, dominieren bei den Verantwortlichen in den Unternehmen. Vereinzelt wurde aber auch eine aufmerksame und interessierte Haltung eingenommen, die sich aus dieser theaterwissenschaftlichen Perspektivierung einen Innovationsschub versprach. Nicht zuletzt buhlt im Feld der zahlreichen anderen, bereits explizit ausgewiesenen Formen des Unternehmenstheaters wie auch der Kunst in Unternehmen auch die Sphäre der Wirtschaft in ihrem Kreativitätsdiskurs um die Sphäre der Kunst, um die schöpferische Kraft der Autopoiesis, des Innovativen und Transformativen direkt für die Leistungssteigerung der „immateriellen Arbeit“282 und der Kompetitivität auf dem Markt zu nutzen.283 Allein, diese erhofften Inspirationen, übernommenen Rollenbilder oder kreativen Übertragungsprozesse im Unternehmenskontext mit ihren eigenen Kontingenzen werden anders und explizit als Kunst gerahmt, während die Personalauswahlverfahren in der Perspektive der Verantwortlichen weitestgehend den Gesetzen von Pragmatismus und Effizienz der Arbeits-, Betriebs- und Organisationspsychologie unterworfen erscheinen. So dominiert hier die Auffassung, dass mit dem Theaterbegriff immer Kunstanspruch oder zumindest Zerstreuung einherginge, während die Personalauswahlverfahren diese Sphäre nicht tangierten. Reine Zweckgerichtetheit und Pragmatismus im Handeln scheinen also dem Kunst- wie auch dem Theaterbegriff, wie er hier implizit kursiert, zunächst zuwiderzulaufen, was nicht nur an der zufällig gestreuten Haltung einer Reihe von Human-Resources-Abteilungen festzumachen ist, sondern auch im Folgenden am Beispiel eines Theaterbegriffs aus dem semiotischen Paradigma expliziert werden kann. Hier mag der Einwand erfolgen, dass das semiotische Paradigma von Schauspiel seit nunmehr fast 15 Jahren nicht ohne das Performative gedacht wird und Erika Fischer-Lichtes im Nachfolgenden erörterten Ausführungen zur Bentley’schen Theaterformel von ihr selbst durch die Ästhetik des Performativen abgelöst wurde. Allein, es erscheint für eine methodische Annäherung an die Möglichkeiten einer Aufführungsanalyse von Applied Theatre interessant, eine Relektüre der semiotischen Theatertheorie vorzunehmen284 und die Vorgänge nicht sofort selbstverständlich als performativ zu deklarieren. Sehr relevant für die hier vorliegende Studie erscheint etwa, dass in der Semiotik des Theaters ein Theaterbegriff konkretisiert wird, indem er von einem Arbeitsbegriff abgegrenzt wird. Eine weite Öffnung erhält der Theaterbegriff aus der theaterwissenschaftlichen Perspektive in dem oft zitierten Postulat: „Theater, reduziert auf seine minimalen Voraussetzungen, bedarf also einer Person A, welche
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X präsentiert, während S zuschaut.“285 Unter dieser Definition ließe sich das beschriebene Rollenspiel aus dem Potentialanalyseverfahren in Rijswijk oberflächlich betrachtet durchaus als Theater klassifizieren: Eine Mitarbeiterin spielt vor einer Kommission die ideale Mitarbeiterin. Die semiotische Umschreibung der Theatersituation Erika Fischer-Lichtes anhand einer Definition von Theater unter Minimalbedingungen von Eric Bentley stellt in das definitorische Zentrum die Blickachse von Schauspielerin und Zuschauerin, wobei der Variable X hier allerdings eine wichtige und zu spezifizierende Bedeutung zukommt, da es sich bei diesem X um eine Selbstabständigkeit der Person A handele. X ist die von der Person A dargestellte Rolle. Fischer-Lichte führt aus, dass A, um X darzustellen, sein Äußeres verwandele und in einem bestimmten Raum auf eine bestimmte Weise agiere.286 Dazu müsse aber in Betracht gezogen werden, was andere Personen aus dem kulturellen Umfeld von A von ihm in der Theatersituation scheide.287 Was tut A also als X anderes, als wenn er A ist? Hier wird der Vergleich wieder fraglich: Denn handelt es sich wirklich um Selbstabständigkeit, wenn man sich selbst spielt? Die Konstellation des Development Centers erscheint eher unter der Formel: Rollenspiel in Personalauswahlverfahren bedeutet eine Person A, die A’ präsentiert, während S zuschaut. Wobei mit A’ bezeichnet wird, eine idealere, modellierte Version seiner Selbst zu verkörpern, die auf das Selbst zurückgebunden wird, eine Darstellung, die die semiotische Theorie des Theaters berücksichtigt und zugleich von ihm scheidet: Fischer-Lichte führt weiter aus, dass, wenn A einen Pelzmantel trüge, weil A kalt sei oder einen gewissen Status nach außen projizieren möchte, der auf A zurückgebunden wird, dies noch nicht zur Theatersituation gerechnet werden könne, da sich dies nicht von anderen kulturellen Handlungen seiner Gesellschaft unterscheide.288 Wird die Präsentation also auf die reale Person zurückgebunden oder ist sie rein zweckgebunden, handelt es sich bei der Situation nicht um Theater. Mehr noch, Fischer-Lichte führt aus, dass, wenn A einen Krug fertige, um ihn selbst zu gebrauchen oder zu verkaufen und dabei Zuschauer habe, so auch hier die Kriterien für die Theatersituation nicht erfüllt seien.289 Gerade die Herstellung des Kruges als Arbeitsvorgang erinnert dabei zunächst an die Development-Center-Situation: Die Bewerberin führt vor Zuschauerinnen aus zweckgerichteten Gründen, der Einstellung oder dem Erhalt des Arbeitsplatzes, Handlungen aus ihrem Arbeitskontext als sie selbst aus, die auf sie zurückgebunden werden. Sie zeigt einen Habitus und hat sich hergerichtet, damit ihre Handlungen, Äußerungen sowie ihr gepflegtes Äußeres, ihre Eigenschaft als Arbeitnehmerin, in einer spezifischen sozialen Situation angemessen zu agieren und aufzutreten, auf sie selbst zurückgebunden werden. Das Verdikt könnte aus der Perspektive des semiotischen
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Theaterbegriffs nun lauten, dass es sich bei den Potentialanalyseverfahren um ein anderes kulturelles System als Theater handele, da Arbeitshandlungen vor Zuschauenden ausgeführt werden, die als solche wahrgenommen und auf die Fähigkeiten der ausführenden Person zurückgebunden werden. Allein, die produzierten Zeichen der geprüften Kandidatin oszillieren in ihrem Spielrahmen zwischen ‚Als-ob‘ und real, zwischen konsequenzhaft und verminderter Konsequenz: Die kommunikativen Fähigkeiten und intersozialen Kompetenzen der Bewerberin können real abgeprüft werden, allein ihre Rahmung ist fiktiv. Kündigt sie einen Vertrag im Spiel, so hat die Handlung reale und fiktive, performative und repräsentative Anteile: Kein Vertrag wurde gekündigt, die Art, wie er sprachlich, gestisch und mimisch gekündigt wurde, war aber sehr wohl real und wird bewertet. Diese Konstellation geht über das Beispiel der Fertigung des Kruges hinaus, der vor Zuschauern entweder geformt oder nur zum Schein hergestellt wird. Die fiktive Fertigung eines Kruges dagegen, die Rückschlüsse über die Fertigkeiten des Krugmachers anhand der Begutachtung des fiktiven Kruges zulässt, ist nur schwer vorstellbar und markiert hier den Unterschied verschiedener im Verhältnis zum Spielbegriff stehenden Arbeitsbegriffe290 – einem Arbeitsbegriff, in dem Spiel produzieren kann, und einem, in dem dies nicht der Fall ist. Darauf soll im Folgenden Kapitel näher eingegangen werden. Erving Goffmans Konzept der presentation of self in everyday life liefert jene Umschreibungen der Selbstdarstellung (A präsentiert A’) ohne eindeutige Selbstabständigkeit im Sinne der Verkörperung einer anderen Rolle und benutzt dabei explizit Theatervokabular. Nicht wenige der Beispiele seiner soziologischen Studie kommen dabei aus dem Kontext der Arbeitswelt. Er beschreibt die Selbstdarstellung von Ärzten, Hoteliers, Verkäufern und vielen anderen Berufsgruppen. 291 Weiterhin berücksichtigt er – darauf soll im dritten Kapitel dieser Studie noch näher eingegangen werden – Arbeitskontexte, in denen sich A zunächst nicht mit A’ identifizieren kann. Als Beispiel für dieses ‚Theater‘ des Alltags führt er die Besitzer einer Privatpension an, die sich selbst eine soziale Rolle modellieren, die zunächst nicht ihre eigene ist, um dem höheren sozialen Stand ihrer Gäste entgegenzukommen. 292 Über viele Jahre ihrer Arbeit hinweg werden die Besitzer der Pension, so Goffman, wieder selbstidentisch, da sie durch ihr erfolgreich geführtes Geschäft selbst einen höheren sozialen Stand erreicht haben: 293 A nähert sich in Goffmans Beispiel in der Dauer nicht einer Aufführung, sondern vieler aufeinanderfolgender Inszenierungen des Alltags A’ an, bis sie deckungsgleich werden. Die in Goffmans Betrachtung nicht problematisierte Grundvoraussetzung dieser Konstellation allerdings ist die axiomatische Annahme eines eindeutig zu umreißenden
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Wesenskern einer Person, der sich in Kongruenz mit der Authentizität befinden muss und somit einer Referentialität, wenn A sich wie A oder eben wie A’ verhält: Dementsprechend setzt Goffman auch voraus, dass bei der Selbstdarstellung zwischen dem ‚Eindruck von Realität‘ und ‚wirklicher Realität‘ klare Trennlinien vorherrschen.294 Realität ist hier kein geteiltes Wahrnehmungskonstrukt, sondern offenbar als deckungsgleich mit dem unvermittelten Realen gesetzt. Sein Begriff von Theater ist zudem als soziologische Metapher zu begreifen, der in der Fortführung dieses Diskurses in der Theaterwissenschaft eher der Begriff der Theatralität im Alltag reserviert wird als tatsächliches Theater.295 Dem Vorgang, diese Theatralität des Alltags in einem Prozess einzuüben, der das Selbstbild und die gesellschaftliche Selbstverständigung einer Unternehmensgemeinschaft bzw. in größeren Strukturen gedacht auch der Sphäre der Wirtschaft prüft, reguliert und immer aufs Neue stabilisiert, würde dementsprechend weniger der Begriff Theater als der der cultural performance nach Milton Singer entsprechen.296 Ein weiterer Dachbegriff wohlgemerkt, der viele Phänomene des Ausdrucks einer Kultur – vom Fest zur politischen Rede – auf sich vereint. So wäre es, um sich einem Theaterbegriff anzunähern, zunächst hilfreich, die Handlungen der Bewerberin in dem Beispiel der Potentialanalyse als performativ zu betrachten: Sie vollzieht Handlungen und sprachliche Äußerungen, die selbstreferentiell und wirklichkeitskonstituierend sind. Ihr Agieren und vor allem ihre sprachlichen Äußerungen werden auf sie zurückgebunden und konstituieren ihre Authentizität als kompetente oder nicht kompetente Arbeitnehmerin. Sie befindet sich dabei in einem System, das Persönlichkeit als modellierbar annimmt, sowie für diese individuelle Modellierung Auswahlverfahren, Weiterbildungsangebote und auch Sanktionen bereitstellt. Weiter kann sie für ihren zu prüfenden Habitus ihrer intersozialen Kompetenzen – frei nach Butlers Konzept von Performativität297 – bereits auf ein Skript wie auf einen Diskurs an vorgefundenen und gesellschaftlich (im Unternehmen gedacht als Gemeinschaft aus Mitarbeiterinnen) akzeptierten Aufführungen, die sich stetig aufs Neue äußern,298 zurückgreifen. Auch Arbeitspersönlichkeit ist im Unternehmensalltag analog zur Geschlechtsidentität performativ hervorgebracht. Assessment Center und Potentialanalyseverfahren wären hier konkret theatrale Anordnungen zur Auswahl in die Gemeinschaft wie zur Modellierung und Sanktion abweichenden Verhaltens, ein selektierendes Scharnier zwischen Theater und Theatralität – eine Beobachtung, auf die im Kapitel zum Dispositiv genauer eingegangen werden soll. Schließt allerdings die Bewerberin weiterhin im Potentialanalyseverfahren einen Vertrag, so wird das wirklichkeitskonstituierende Moment
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des Konzepts von Performativität zumindest im Sinne des Sprechakts vom Konzept des fiktiven Spiels durchkreuzt. Denn mündliche Verträge in der Development-Center-Situation wären selbstredend null und nichtig, da sie rein fiktional zu einer Spielhandlung gehören, die einen typischen Arbeitsvorgang im Unternehmen nur repräsentiert. Wirklichkeit und Als-ob, Performativität und rein repräsentative Aspekte fiktiven Spiels geben sich in diesen Aufführungen die Hand. Handlungen haben hier, wie in allen Theateraufführungen, repräsentative wie performative Anteile, bedeuten zugleich und bedeuten auch nicht. Inwieweit unterscheidet sich diese Konstellation dann wiederum noch vom klassischen Shakespeare-Schauspieler bei einer Aufführung im Barbican, die immer semiotische und performative Anteile trägt?299 Auch seine Handlungen sind nicht komplett in einer zweiten Welt verortet und ohne Konsequenz.300 Spricht er einen Vertrag aus, gehört dieser zur Spielhandlung des Shakespeare-Stückes und hat seinem Inhalt nach keine Auswirkungen außerhalb der Spielhandlung. Performative Anteile wären die körperliche Präsenz, Timbre der Stimme, Qualitäten der Bewegung des Schauspielers, die zunächst einfach präsent sind. Allerdings, wie der Akteur den Vertragsabschluss sprachlich und gestisch performt, wird auch hier auf seinen Beruf, eben auf den des Schauspielers und seiner darstellerischen Qualitäten, zurückgebunden.301 So erfolgt dann außerhalb der Spielklammer eine Rückübersetzung der nicht-referentiellen, performativen Anteile in eine andere Form von Referentialität: Wie auch die Handlungen der Bewerberin im Assessment Center werden die performativen Anteile der Darstellung zum bedeutungstragenden Zeichen der Leistung des Darstellers. Beim Schauspieler kann dies in der Zeitungskritik über seine Arbeit münden, bei der Bewerberin fließt es in eine komplexe Statistik ein. Der performative Charakter der Potentialanalyse verweist somit letztendlich auf die Tatsache, dass auch außerhalb der Spielrahmung in Arbeitskontexten, in denen Assessment und Development Center eingesetzt werden die Arbeitswelt sich immateriell und theatral gestaltet, da in Management-Etagen, im Dienstleistungssektor oder im Verkauf eben keine Krüge gefertigt, Fahrzeuge montiert oder Webseiten designt werden: Das Abprüfen solcher Hard Skills würde noch immer als Arbeitsprobe erfolgen. Der Bereich der Unternehmenskommunikation an sich verlangt aber performative Fähigkeiten und unterliegt Phänomenen der Theatralität und cultural performance, so dass sie auch in einer Prüfung getestet werden können, die gleichzeitig als Theater klassifiziert werden kann. Jedoch sollte auch explizit von einer Verwandtschaft zum Applied Theatre gesprochen werden. Für diese Argumentation ist es hilfreich, doch noch einmal zurück zum semiotischen Begriff von Theater zurückzukehren: Bewerberin A spielt entweder sich selbst, eine idealere Ver-
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sion ihrer selbst oder, wenn sie unter Stresskonditionen des Rollenspiels schlechter performt als in ihrem Arbeitsalltag, vielleicht sogar eine suboptimale Version ihrer Arbeitspersönlichkeit A’ vor der Kommission S. Ihre Handlungen sind raum-zeitlich hervorgehoben und werden auf sie selbst zurückgebunden. Soweit würde diese Konstellation aus Fischer-Lichtes semiotischer Definition von Theater herausfallen. Allein der teilfiktionale Charakter der Handlung und Äußerungen, der zwischen realer Arbeitsprobe dessen, wie ein Kunde beraten wird, und dem Als-ob-Charakter‚ was inhaltlich besprochen und vereinbart wird, oszilliert, lässt in diesen Situationen aus semiotischer Perspektive weiter über den Theaterbegriff nachdenken. Doch in dieser Beobachtung war ein Mitspieler ausgeklammert: Seminarschauspieler A verkörpert X – hat einen anderen Namen, einen anderen Beruf, modelliert sich mit minimaler Kostümierung und Requisiten – und führt Handlungen in einem hervorgehobenen Raum und einem exponierten Zeitfenster aus, die selbstabständig sind und zum Spiel gehören – er will keinen Dachgepäckträger kaufen, er will keinen Reifenwechsel, er prüft die Bewerberin in der Fiktion und kommt dabei gerüstet mit auf die Situation abgewandelten Schauspieltheorien und -techniken Morenos, Boals oder Strasbergs. S – die Kommission wie auch die Bewerberin – schauen ihm dabei zu und nehmen A als X wahr: eine Theatersituation in ihren minimalen Bedingungen nach der semiotischen Theatertheorie. Wo kein professioneller Seminarschauspieler zum Einsatz kommt, wird ein Laienschauspieler in diesen Rollenspielen dieselbe Variable in der Theaterformel einnehmen. Der Bewerberin wiederum wird in dieser Konstellation ein ganz ähnlicher Platz zugewiesen, wie im immersiven Theater. An sie wird durch die partizipatorische Spielrahmung eine Spielaufforderung gegeben, in der sie sich entscheiden kann, wie sie sich modelliert. Auch bei den Aufführungen der immersiven Theatergruppe SIGNA etwa hat der Mitspieler die Möglichkeit, sich als sich selbst zu verhalten, eine Rolle für den Abend anzunehmen oder aber auch in einer Teilfiktionalisierung des Selbst zu oszillieren, die auf bisweilen durchaus riskante Weise befragt wird, da er durch die Performer von SIGNA zu Handlungen aufgefordert werden kann, die zwar in einen Spielrahmen eingefasst, aber durch eine Verunklarung des Theatervertrags durch ihn hindurch in seine Wirklichkeit brechen können. Gerade diese Grauzonen des Ernsten Spiels machen den Partizipierenden zu einem depotenzierten Mitspieler, der zwischen real und fiktiv am Ende der spielerischen Machtachse oszilliert. Im Theater der Assessment Center wie im immersiven Theater wird dabei durch die Spielrahmung ein Moment der Suggestion von Handlungsmacht offenbar, in dem die Möglichkeit zum Selbstausdruck und zur krea-
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tiven Entwicklung aus eigener Kraft und eigenem Antrieb heraus durch die Regelmacher des Spiels gewährt oder gar auferlegt wird.302 Dies schlägt sich auch im Kommunikationsmodell des Theaters der Personalauswahlverfahren nieder, dessen klassische Trennung zwischen „innerem Kommunikationssystem“303 der Bühnenfiktion und „äußerem Kommunikationssystem“304 als Austausch zwischen Bühne und Zuschauerraum durch emergierende Grauzonen und Metaebenen der Spielsituation und deren Bewertung wie dem komplexen Geflecht aus Blick- und Machtachsen kollabiert. Die Spiel- wie Theatersituation wird in diesen Spielen zum kommunikativen Vertrag zwischen Parteien, der nicht bis ins letzte Detail von der vertragsaufsetzenden Position heraus dargelegt wurde und so im Spiel Momente des bitteren Ernstes provoziert. SIGNAS immersives Theater trägt dabei eher Anteile der populärkulturellen Form des Live action role-playing games in sich.305 Lediglich das Genre der Diegese erscheint untypisch für diese Form. Hinzu kommt aber ein prekäres Befragen der Grenzen der Zuschauerin, sich auf ein Spiel einzulassen, das diese Form des Theaters vor allem zum sozialen Experiment werden lässt: Ist man bereit, einen Performer tatsächlich physisch anzugreifen und zu schlagen, um weiter mitspielen zu dürfen? Schlägt man diesen Performer, wenn man dies in einem Spielrahmen ausführt, selbst oder in einer Rolle? Ist dieser Schlag in irgendeiner Weise uneigentlich? Das Theater wird zum Versuchslabor wie zum Ernsten Spiel. Die Partizipation an diesen prekären Momenten des Spiels ist nun bei SIGNA nicht zuletzt auch die Entscheidung einer mündigen Privatperson, eines kulturell interessierten Theatergängers oder Fans immersiver Spielerfahrungen, die nicht zuletzt aus Kunstinteresse, Unterhaltungswert und dem Ausloten von Grenzen in einer makabren, manchmal durchaus zum Sadomasochistischen tendierenden ästhetischen Erfahrung der Depotenzierung getrieben wird. Hier stößt der Vergleich zum partizipatorischen Unternehmenstheater in der Machtanalyse wiederum auch auf Grenzen individueller Erfahrung. Ist der eine Gast einer SIGNA-Performance tatsächlich ein prekärer Mitspieler, der Kontrollverlust erlebt, mag der andere als masochistischer Bezugspunkt aller Aufmerksamkeit auch im Makabren aufgehen. Wenn Depotenzierung zum individuellen Genuss wird, werden die Machtrelationen neu ausgehandelt werden müssen. Ebensolche Momente des verunklarten Rahmens wie des Spiels mit der eigenen Persönlichkeit markieren nun auch die Spiele des Applied Theatre vom Gefängnistheater über Theater in Konfliktzonen bis zum therapeutischen Theater, von Techniken Boals, Morenos, vom autobiographischen Theater bis zum Spiegeltheater. Hier mit den Rahmungen zu spielen bedeutet eben aber auch das Spielen mit der Erkrankung, mit dem Trauma
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und mit sensiblen Biographien. Versuche des Auseinanderdividierens von Rolle und realer Person, von Realität und Fiktion wie etwa das Anwenden der Bentley’schen Theaterformel beschreibt diese Theaterformen in ihrer Komplexität nicht mehr in ausreichender Weise. Das Theater der Personalauswahlverfahren wie das des Applied Theatre im Allgemeinen scheint weniger einem binären System von Schauspiel und Nicht-Schauspiel zu gehorchen, als sich vielmehr durch eine – frei nach Michael Kirby306 – graduelle und sich stetig nuancierenden Involviertheit in ein Ernstes Spiel zu definieren, in dem das Theater in seiner Eigenschaft, Schlaglichter auf soziale Interaktionen zu setzen, in seinem Potential erkannt und seine Mittel bewusst in diese Richtung forciert werden. Diese graduelle Involviertheit in das Spiel ist dabei nicht nur von Teilhabendem zu Teilhabendem unterschiedlich, sondern changiert auch in der zeitlichen Dimension bei ein und derselben Person. Erschwerend hinzu kommt, nach diversen Erweiterungen von Kirbys Modell,307 dass auch die Rezeptionshaltung, die Frage, ob etwas durch die Zuschauer als Spiel oder Nicht-Spiel interpretiert wird, in einem solchen graduellen Abstufungsmodell mitbedacht werden müsste. Nach Kirbys Definitionen wäre etwa die Seminarschauspielerin irgendwo zwischen simple und complex acting zu verorten, während die Kandidatin zwischen nonmatrixed performing, nonmatrixed representation, received acting und simple acting oszilliert.308 Bezeichnend für die Komplexität dieser Schauspielvorgänge ist dabei, dass selbst eine Erweiterung von Kirbys Modell keine endgültige Klärung mit sich bringt, da dafür eine Kenntnis der Persönlichkeitsstrukturen der geprüften Kandidatinnen von Nöten wäre, die zum einen von einer theaterwissenschaftlichen Methode kaum noch mit befriedigendem Ergebnis analysierbar wäre, zum anderen keine generalisierenden Aussagen über alle Verfahren mehr zulässt, sondern jedes Theater der Personalauswahlverfahren als Einzelfall behandeln müsste. Der Grad von Spiel, von Selbstabständigkeit von A zu A’ zumindest eines sich gut im Test schlagenden Kandidaten und die Theatralität seiner Persönlichkeit außerhalb explizit theatraler Settings wird in Anteilen sein Geheimnis bleiben müssen, das ihm vermutlich sogar partiell selbst verschlossen bleiben kann und von eben dieser hier beschriebenen Theaterform entrissen werden soll: Denn kurioserweise arbeitet die Assessment-Kommission ja gerade an der ästhetischen Auswertung, an einer Aufführungsanalyse jedes individuellen Spielvorgangs, wenn sie den Ausdruck sozialer Kompetenzen in der Selbstdarstellung als authentisch anerkennt oder eben Entwicklungsfelder in der Persönlichkeitsdarstellung markiert. Wurden vorangehend jene Aspekte der erweiterten Personalauswahlverfahren diskutiert, die sich dem Theaterbegriff annähern – das Schauspiel,
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die Bühne, die Illusion, die Fiktion, die Inszenierung, die Rolle, das Publikum, die Öffentlichkeit, die Handlung, das Performative –, so verbleibt in der konkreten Analyse der Ästhetik dieser Phänomene doch ein nicht aufgelöster Rest, der diese Gegenstände Konzepten des Spiels in einem engeren Sinne beiordnet. Spieltheoretische Ansätze der Betrachtung von Theater sind dabei selbstverständlich kein ludologischer Exkurs jenseits theaterwissenschaftlicher Methodologie309 und auch das Theater der Guckkastenbühne ist selbstverständlich Spiel ganz im Sinne des englischen Terminus play. Die hier beschriebenen Theaterformen der Assessment Center und Potentialanalyseverfahren jedoch vermengen in vielerlei Hinsicht das freie Spiel im Sinne des play mit der von der Theatertheorie weniger berücksichtigten Betrachtung des regelgebundenen Spiels im Sinne des game. Das beobachtete Machtgeflecht aus Spielleiterinnen und Mitspielerinnen mit unterschiedlichem Vorwissen über Verlauf, Regeln und Grenzen eines Spiels, das gewonnen oder verloren werden kann, bindet dieses Theater ganz der Bezeichnung ‚Rollenspiel‘ nach somit auch an weitere ludologische Spielkonzepte. Dies hat selbstverständlich auch Auswirkungen auf die Ausrichtung der wirkungsästhetischen Versprechen dieser Theaterformen: Verschiebt sich der wirkungsästhetische Fokuspunkt des theatralen Dispositivs weg von der betrachtenden Zuschauerinnenposition hin zur involvierten Mitspielerin, so werden Konzepte von Katharsis oder auch Brecht’scher Didaktik durch das Theater neu ausgehandelt. Ebenso werfen diese Formen Fragen nach Spielrahmen mit konsequenzgemindertem Handeln auf310, das auf eine Alltagsrealität einwirken soll. Nicht zuletzt ist das Assessment Center auch ein agonales Theater, ein Theater, in dem um Einsatz (die berufliche Zukunft) gespielt wird und in dem das Performative eine Form von wirtschaftlichem Mehrwert zu generieren scheint, der messbar gemacht werden soll. Dies sind Aspekte, die dem theaterwissenschaftlichen Diskurs im konkreten Einzelfall nicht völlig fremd sein mögen – auch das antike Theater etwa war ein agonaler Wettstreit.311 Dennoch öffnet das kompetitive Moment dieser Aufführungen, die Drosselung der Kontingenz des Theatralen durch Aspekte des Spiels im Sinne des game, das Erheben von Daten und Zahlen aus dem Performativen diese Theaterformen für eine ludologische Analyse, die die theaterwissenschaftliche Perspektive ergänzen soll. Dem Verhältnis der theatralen Module von Personalauswahlverfahren und Development Centern zu dem, was in dieser Auseinandersetzung Ernstes Spiel genannt werden soll, wird das folgende Kapitel gewidmet sein.
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Assessment Center und Applied Theatre 1 Zu einer statistischen Auswertung, wie häufig im deutschsprachigen Raum welche Zielsetzung eines Assessment-Center-Verfahrens ist, vgl. Obermann, Höft, Becker: Assessment Center-Praxis 2016, S. 6. 2 Für eine ausführliche Liste der Kriterien, die durch ein Assessment-Center-Verfahren abgeprüft werden können, vgl. Wendel, Sybouts: S. 28–31; Thornton, George C.: „Dimensions to Be Assessed“, in: Thornton: S. 51–65 sowie Standing, Thomas E.: „Assessment and Management Selection“, in: Moses, Byham: S. 185–201, hier S. 192–194. Zum aktuellen Vergleich (inklusive Häufigkeit der Abfrage einer spezifischen Dimension und Entwicklung gegenüber vorherigen Umfragen) durch eine repräsentative Studie aus dem Jahr 2016 zur Anwendung von Assessment-Center-Verfahren im deutschsprachigen Raum, vgl. Obermann, Höft, Becker: Assessment Center-Praxis 2016, S. 10f. 3 Für eine genaue, statistische Auswertung dafür, welches Personal mit welcher Qualifika tion und welcher Häufigkeit als Beobachter in erweiterten Personalauswahlverfahren in Deutschland eingesetzt wird, vgl. Obermann, Höft, Becker: Assessment Center-Praxis 2016, S. 14. 4 Zum Argument der Objektivierung und Antidiskriminierung vgl. Wendel, Sybouts: S. 22; siehe auch den Punkt „Fairness“ in: Arbeitskreis Assessment Center e. V.: AC-Standards, S. 14. Dass es ohne Standards auch mit der Assessment-Center-Methode lediglich zu einer scheinbaren Objektivierung kommen kann, zeigte dem Autor vor allem die Aussage eines ehemaligen Filialleiters eines großen deutschen Versicherungsunternehmens, der durchaus Fälle schildern konnte, in denen auch in diesen Verfahren durch Manipulation der Spielsituation einem vorab präferierten Bewerber der Weg durch das Bewerbungsverfahren geebnet wurde. Der Interviewpartner war dabei nicht der Geschädigte – man könnte sonst annehmen, dass lediglich Missgunst zur Behauptung der Manipulation geführt hätte –, sondern Teil des Auswahlkomitees. M. E., ehemaliger Filialleiter, Versicherungs-AG, Führungskraft im Auswahlkomitee von Assessment-Center-Verfahren, im Interview mit dem Autor am 17. Februar 2015. 5 Vgl. Obermann, Höft, Becker: Assessment Center-Praxis 2016, S. 1. 6 Vgl. ebd., S. 3. 7 Vgl. Wendel, Sybouts: S. 17; Byham, William C.: „Application of the Assessment Center Method“, in: Moses, Byham: S. 31–43 (im Folgenden zitiert als: Byham: „Application of the Assessment Center Method“). Für eine detaillierte Übersicht der Branchen, die im deutschsprachigen Raum Assessment-Center-Verfahren einsetzen, vgl. Obermann, Höft, Becker: Assessment Center-Praxis 2016, S. 3. 8 Vgl. Obermann, Höft, Becker: Assessment Center-Praxis 2016, S. 7. 9 Vgl. Obermann, Höft, Becker: Die Anwendung von Assessment Centern im deutschsprachigen Raum: Vorläufiger deskriptiver Ergebnisbericht zur AkAC-AC-Studie 2012, S. 5. 10 Die Studie Assessment Center-Praxis 2016 spricht von einer „ungebrochenen Kreativität“ bei der alternativen Bezeichnung von Assessment Centern in den an der Studie beteiligten Unternehmen und zählt neben den häufigsten Benennungen, Assessment Center und Development Center, einige weitere gebräuchliche, alternative Benennungen sowie 74 einmalig und nur von der jeweils spezifischen Firma so genannte Bezeichnungen auf. Obermann, Höft, Becker: Assessment Center-Praxis 2016, S. 8f. 11 S. P., HR Senior Recruitment Consultant, Software-AG, zuständig für die Durchführung von Bewerbertagen bei einem großen deutschen Softwarehersteller, im Interview mit dem Autor am 2. Dezember 2013. 12 „Es ist vielleicht dem fehlenden Bewusstsein geschuldet, dass es dem Unternehmen wichtig ist, und auch mangelnder Lernbereitschaft, sich weiterzuentwickeln. Wobei ich mir dann auch immer die Frage stellen muss, warum er überhaupt Führungskraft geworden ist. Lernbereitschaft wäre für mich eine Grundvoraussetzung für eine Führungskraft. Scheinbar war es eine schlechte Auswahl oder man hat ihn in dem Punkt nicht gut genug angeschaut. Und dann war es sicher auch eine schlechte Begleitung durch dessen Führungskraft, weil diese mit darauf hätte achten müssen, dass das passiert. […] Wenn du hier bist, musst du nach vorne und machen. Bei uns ist ein Typ gefragt: Leute, die sichtbar werden, die nach vorne gehen, Dinge anpacken und Verantwortung übernehmen. Wenn man hier introvertiert ist, dann wird man hier übersehen. [sic]“ Interviewauszug zwischen dem Personalreferenten eines multinationalen Chemiekonzerns und dem Theaterwissenschaftler Fabian Lempa über ablehnende Haltung der Mitarbeiter zum Rollenspiel in Trainingsseminaren vom 29. Oktober 2014. In: Evers, Lempa: S. 247f. 13 Task Force on Assessment Center Operations (1978): „(Revised) Standards and ethical considerations for assessment center operations. International Congress on the Assessment Center Method“, zitiert nach: Wendel, Sybouts: S. 24f.
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6 Assessment Center: Theater der Persönlichkeitsdarstellung 14 Arbeitskreis Assessment Center e. V.: AC-Standards, S. 3. 15 Zur Methode der Postkorbübung (in-basket) vgl. Wendel, Sybouts: S. 32; Thornton: S. 75–77 sowie Hagmann, Christoph/Hagmann, Jasmin: Assessment Center, Freiburg 2011, S. 103–124 (im Folgenden zitiert als: Hagmann, Hagmann). 16 Über das komplexe Verwischen der Grenze zwischen Fiktion und Realität und der „willing suspension of disbelief“ als Merkmal des Applied Theatre siehe: Balme: „Applied Theatre“, S. 191. 17 Zum definitorischen Merkmal der verminderten Konsequenz von Spiel und szenischen Vorgängen, auf die sich die hier vorliegende Studie im Folgenden wiederholt beziehen wird, vgl. Kotte: S. 54–61. 18 In einem dokumentierten Fall stellte dieses Modul allerdings auch den einzigen Programmpunkt eines Bewerbertags dar. F. L., Bewerberin im Auswahlverfahren, Consulting AG, im Interview mit dem Autor am 27. Juli 2017. 19 Vgl.: www.ajb-training.de/bewerbungstraining/gabeltest-assessment-center-vorbereitung/ (zuletzt aufgerufen am 23. November 2016). 20 Das Konzept des „Self-Monitoring“ geht auf den US-amerikanischen Sozialpsychologen Mark Snyder zurück und wurde innerhalb des DFG-Schwerpunktprogramms Theatralität. Theater als kulturelles Modell in den Kulturwissenschaften von den Psychologen Lothar Laux, Karl-Heinz Renner und Astrid Schütz für eine theaterwissenschaftliche Betrachtung eröffnet: Laux, Renner, Schütz: „Theatralität, Körpersprache und Persönlichkeit“, S. 242f. 21 Vgl. Fischer-Lichte, Erika: „Theatralität und Inszenierung“, in: dies./Horn, Christian/ Pflug, Isabel u. a. (Hg.): Inszenierung von Authentizität, Tübingen, Basel 2007, S. 9–28, hier S. 22f. (im Folgenden zitiert als Fischer-Lichte: „Theatralität und Inszenierung“). 22 Zu unterschiedlichen Typen und Strategien des „histrionischen Selbstdarstellungsstils“ siehe: Laux, Renner: „Theater als Modell für die Persönlichkeitspsychologie“, S. 97f. 23 Bezeichnend für diese zugleich theatrale als auch antitheatrale Komponente, mit der geprüft wird, wie gut die soziale Rolle in scheinbar unbeobachteten, intersozialen Grauzonen sitzt, ist, dass das Assessment-Center-Verfahren historisch – so wird im Folgenden noch dargelegt werden – in seiner Genealogie in den USA zunächst bei der Ausbildung von Agenten des militärischen Geheimdienstes Office of Strategic Services (OSS) eingesetzt wurde, vgl. Wendel, Sybouts: S. 18 und Thornton: S. 200. Dass bei diesen Agententests tatsächlich mit den Mitteln des Theaters die Spionagetätigkeit im feindlichen Ausland trainiert wurde, lässt sich an den durch das OSS dokumentierten Rollenspielmodulen ablesen, vgl. MacKinnon: S. 20–25. 24 Das Simulationsprinzip, das (abgesehen von der Postkorbübung) im Rollenspiel am deutlichsten zutage tritt, gehört an sich zum festen, methodischen Repertoire eines jeden Assessment-Center-Prozesses, vgl. Task Force on Assessment Center Operations (1978): „(Revised) Standards and ethical considerations for assessment center operations. International Congress on the Assessment Center Method“, zitiert nach Wendel, Sybouts: S. 24f. sowie Arbeitskreis Assessment Center e. V.: AC-Standards, S. 3. Christoph und Jasmin Hagmann berufen sich in ihrem an Bewerberinnen gerichteten Ratgeber zur Vorbereitung auf Assessment Center auf eine Studie der Zeitschrift Junge Karriere und nennen das Rollenspielmodul an dritter Stelle der Häufigkeit, nach Gruppendiskussionen und Präsentationen, vgl. Hagmann, Hagmann: S. 30. Der Arbeitskreis Assessment Center führt „Gruppenübungen mit Rollenspielen“ unter den zehn dominanten Modulen der erweiterten Personalauswahlverfahren der an der Studie aus dem Jahr 2016 teilnehmenden Unternehmen auf. Das Rollenspiel mit einem zu beobachtenden Mitarbeiter wird nicht extra angeführt, obgleich es eine gängige Praxis darstellt, daher muss davon ausgegangen werden, dass dieses Modul in einem anderen aufgeführten Punkt der Studie, wie dem „Persönlichkeitstest“ aufgeht, vgl. Obermann, Höft, Becker: Assessment Center-Praxis 2016, S. 12 sowie Thornton: S. 35f. Auch die im deutschsprachigen Raum populäre Hesse/Schrader-Bewerbungsratgeberreihe räumt neben der Gruppendiskussion dem Rollenspielmodul am meisten Aufmerksamkeit in ihrem Kapitel zum Assessment Center ein, vgl. Hesse, Jürgen/Schrader, Hans Christian: Das große Hesse/Schrader Bewerbungshandbuch, Frankfurt a. M. 2009, S. 398–403 (im Folgenden zitiert als: Hesse, Schrader). Ebenso wird in einem eigenen Abschnitt der ebenso verbreiteten Bewerbungsratgeberreihe von Püttjer und Schnierda das Rollenspielmodul ausführlich vorgestellt, vgl. Püttjer, Christian/Schnierda, Uwe: Das große Bewerbungshandbuch, Frankfurt a. M., New York 2010, S. 448–455. 25 Vgl. Wendel, Sybouts: S. 32f. 26 Byham, William C.: „Assessor Selection and Training“, in: Moses, Byham: S. 89–126, hier S. 117 (im Folgenden zitiert als: Byham: „Assessor Selection and Training“). 27 Vgl. Evers: „Personalauswahlverfahren als intervenierendes Spiel“, S. 87–91.
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Assessment Center und Applied Theatre 28 Thornton: S. 70f. 29 P. L., Unternehmenstheateranbieter, Coach, Psychologe, im Interview mit dem Autor im Rahmen eines Präsentationstags am 9. Mai 2014. 30 Vgl. Fischer-Lichte: Ästhetik des Performativen, S. 305–314. Eine kurze Erwähnung zum Übergangsritual im Kontext vom Unternehmenstheater findet sich zudem bei Michael Hüttler, vgl. Hüttler: S. 64. 31 Vgl. Fischer-Lichte: Ästhetik des Performativen, S. 305f. 32 Vgl. ebd., S. 31f. 33 Vgl. Butler, Judith: „Performative Acts and Gender Constitution: An Essay in Phenomenology and Feminist Theory“, in: Case, Sue-Ellen (Hg.): Performing Feminism – Feminist Critical Theatre and Theory, Baltimore, London 1990, S. 270–282. 34 Vgl. Fischer-Lichte: Ästhetik des Performativen, S. 305. 35 Vgl. Hüttler: S. 160–162. 36 Turner, Victor: „Betwixt and Between – the Liminal Period in Rites de Passage“, in: ders.: Forest of Symbols. Aspects of Ndembu Ritual, Ithaca, London 1967, S. 93–111 (im Folgenden zitiert als: Turner: „Betwixt and Between“). 37 Vgl. Balme: „Applied Theatre“, S. 191. 38 Zur ästhetischen Kategorie der „Immersion“ als das partizipatorische Eintauchen in eine in Kopräsenz von Mitspielern kreierte Diegese, wie sie aktuell in der Theater- und Kunsttheorie verwendet wird, siehe: Machon, Josephine: Immersive Theatre. Intimacy and Immediacy in Contemporary Performance, Basingstoke, Hampshire, New York 2013, S. 21f (im Folgenden zitiert als: Machon). Zu einer Diskussion des Begriffs siehe auch: White, Gareth: „On Immersive Theatre“, in: Theatre Research International, Vol. 37, Issue 03 (Oktober 2012), S. 221–235, hier S. 230f. (im Folgenden zitiert als: White). 39 Lessing, Gotthold Ephraim: „Auszug aus dem ,Schauspieler‘ des Herrn Remond von Saint Albine“, in: Petersen, Julius (Hg.): Lessings Werke. Zwölfter Teil, Berlin, Leipzig, Wien, Stuttgart 1925 [Nachdruck Hildesheim 1970], hier zitiert nach: Pierre Rémond de SainteAlbine: „Der Schauspieler“, in: Roselt, Jens (Hg.): Seelen mit Methode. Schauspieltheorien vom Barock bis zum postdramatischen Theater, Berlin 2005, S. 102–111, hier S. 105. 40 Van Gennep, Arnold: Rites of Passage, London, New York 1960. Zur Anwendung in der Theaterwissenschaft vgl. Fischer-Lichte: Ästhetik des Performativen, S. 305f. 41 Der Hinweis ist dem zum Unternehmenstheater forschenden Kollegen Fabian Lempa zu verdanken: http://haka-ha.de/fuer-unternehmen/tagesworkshops-mit-haka-ha-coaching/ haka-ha-workshops-hugo-boss-gesundheitstag-nov-2014 (zuletzt aufgerufen am 23. Mai 2017). 42 Zur Entstehung, Verwandtschaft aber auch Differenz von Test und Theater im Kontext beruflicher Eignungsprüfung vgl. auch Horn: S. 112ff. 43 Vgl. Caillois: S. 123 und Miyazaki, Ichisada: China’s Examination Hell. The Civil Service Examinations of the imperial China, New Haven, London 1981, S. 18. 44 Vgl. Rothe: S. 57–73. 45 Vgl. MacKinnon: S. 18: „After a brief welcome and orientation to the program, the candidates were told that during their stay at S. each would have to build up and maintain as completely as possible a cover story for himself, claiming to have been born where he wasn’t, to have been educated in institutions other than those he had attended, to have been engaged in work or professions not his own, and to live now in a place that was not his true residence.“ 46 Vgl. Fischer-Lichte, Erika: „Verkörperung/Embodiment. Zum Wandel einer alten theaterwissenschaftlichen in eine neue kulturwissenschaftliche Kategorie“, in: dies./Horn, Christian/Warstat, Matthias: Verkörperung, Tübingen, Basel 2001, S. 11–25, hier S. 12f. (im Folgenden zitiert als: Fischer-Lichte: „Verkörperung/Embodiment“). 47 Rothe: S. 61. 48 Ebd. 49 Vgl. Moses, Joseph L.: „The Assessment Center Method“, in: Moses, Byham: S. 3–11, hier S. 8 (im Folgenden zitiert als: Moses); MacKinnon: S. 13–30; Wendel, Sybouts: S. 17–19; Rothe: S. 57–73; Hagmann, Hagmann: S. 9 sowie Hesse, Schrader: S. 388. 50 Rothe: S. 65. 51 Ebd., S. 64. 52 Vgl. Wendel, Sybouts: S. 17f., Horn: S. 117f. und Rothe: S. 58.
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6 Assessment Center: Theater der Persönlichkeitsdarstellung 53 Vgl. Rothe: S. 59. 54 Ebd. 55 Vgl. ebd. 56 Ebd., S. 60. 57 Vgl. ebd. 58 Vgl. Wendel, Sybouts: S. 18; Moses: S. 8f. 59 Vgl. MacKinnon: S. 14–30; Wendel, Sybouts: S. 18; Thornton: S. 91 und Moses: S. 8f. 60 Wendel, Sybouts: S. 18. 61 Vgl. MacKinnon: S. 23. 62 Vgl. ebd., S. 24. sowie Rothe: S. 64. 63 MacKinnon: S. 22. 64 Vgl. ebd. 65 Vgl. ebd., S. 22f. 66 Moses: S. 9. 67 Vgl. Wendel, Sybouts: S. 19. 68 Rothe: S. 61. 69 Vgl. Moses: S. 9. 70 Ebd. 71 Vgl. Wendel, Sybouts: S. 19. 72 Dass es sich hierbei um eine Simulation im Sinne des Rollenspiels handelt, erläutern Wendel und Sybouts in der Ausführung zu den Modulen, vgl. Wendel, Sybouts: S. 32. 73 Vgl. ebd., S. 19. 74 Vgl. ebd. 75 Vgl. ebd., S. 20–22. 76 Vgl. ebd., S. 22. 77 Human Relations betrachtete als Konzept der Arbeits-, Betriebs- und Organisationspsychologie wie auch der Arbeitssoziologie das soziale Miteinander und die Psychologie von Angestellten als relevanten ökonomischen Faktor der Effizienz eines Unternehmens und kann als eine der vielen Ursprünge moderner Managementkultur gelten, vgl. Rothe: S. 57. 78 Vgl. ebd. 79 Ebd. 80 Ebd., S. 65. 81 Vgl. ebd. 82 Ebd., S. 70. 83 Ebd. 84 Vgl. ebd., S. 70–72. 85 Vgl. ebd., S. 61. 86 Ausnahmen bilden lediglich Horns knappe Erwähnung des Psychodramas im Kontext der Eignungsprüfung und Hüttlers Studie Unternehmenstheater, vgl. Horn: S. 120f. u. Hüttler. 87 Vgl. Hüttler: S. 12. 88 Vgl. ebd. 89 Vgl. Schreyögg, Georg/Dabitz, Robert (Hg.): Unternehmenstheater: Formen – Erfahrungen – erfolgreicher Einsatz, Wiesbaden 1999 (im Folgenden zitiert als: Schreyögg, Dabitz). 90 Vgl. Teichmann, Stefanie: Unternehmenstheater zur Unterstützung von Veränderungsprozessen, Wiesbaden 2001. 91 Vgl. Hüttler: S. 48–52. 92 Vgl. ebd., S. 18. 93 Ebd., S. 15. 94 Vgl. ebd. 95 Vgl. ebd., S. 16. 96 Vgl. ebd.
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Assessment Center und Applied Theatre 97 B. O., Unternehmenstheateranbieter, im Publikumsgespräch mit dem Autor im Rahmen des Workshops „Zwischen Freiheit und Norm!? Theater in Therapie und in Unternehmen“ am 22. Februar 2014. 98 Ebd. 99 Vgl. Hüttler: S. 184; Evers, Lempa: S. 247f. 100 Vgl. Hüttler: S. 22. 101 Vgl. ebd., S. 11. 102 Vgl. ebd., S. 175. 103 Vgl. ebd., S. 66. 104 Vgl. ebd., S. 107. 105 Ebd., S. 11. 106 Vgl. Obermann, Höft, Becker: Assessment Center-Praxis 2016, S. 8f. 107 „In der Wirtschaft wird das Verfahren bald nicht mehr nur zur Personalauswahl, sondern mehr und mehr zur Potentialermittlung eingesetzt.“ Rothe: S. 61. 108 Vgl. Hüttler: S. 40–43; Rothe: S. 62f. 109 Vgl. Horn: S. 120f. 110 Vgl. Hüttler: S. 196. 111 Ebd. 112 Ebd., S. 197. 113 Auch Eva Horn postuliert den Zusammenhang zwischen Assessment Center und Morenos Theater aufgrund der Formenähnlichkeit, ohne explizite historische Bewegungslinien nachzuzeichnen, vgl. Horn: S. 120. 114 Byham: „Application of the Assessment Center Method“, S. 32. 115 „Preface“ in: Moses, Byham: S. ix–xi, hier S. ix. 116 Vgl. Hüttler: S. 15–21. 117 Evers: „Personalauswahlverfahren als intervenierendes Spiel“, S. 91. 118 Zur Verwendung des Begriffs „Gestus“ im Zusammenhang mit der Ästhetik angewandten Theaters vgl. Warstat u. a.: Theater als Intervention, S. 23f. 119 Der Begriff einer diskursfördernden, notwendigen Ungenauigkeit des contested concepts [wörtlich übersetzt ein umstrittenes Konzept] wird hier in Anlehnung an Wolf-Dieter Ernsts Ausführung zu den Facetten des Begriffs „performance“ angewandt, vgl. Ernst, Wolf-Dieter: „Performance als Contested Concept“, in: ders.: Performance der Schnittstelle. Theater unter Medienbedingungen, Wien 2003, S. 44–55, hier S. 45f. 120 Vgl. Thompson: Applied Theatre, S. xxii; oder auch Bala, Sruti: „Applied Theatre und die Frage der Institutionskritik“, in: Warstat u. a.: Applied Theatre – Rahmen und Positionen, S. 274–288, hier S. 275f. (im Folgenden zitiert als: Bala). 121 Vgl. Lorber: S. 42. 122 Prendergast, Saxton: S. vi. 123 Vgl. Hüttler: S. 15–21. 124 Thompson: Applied Theatre, S. 85. 125 Butler: Psyche der Macht, S. 8. 126 Vgl. Ackroyd: „Applied Theatre: Problems and Possibilities“, S. 1. 127 Vgl. Thompson: Applied Theatre, S. xiii. 128 Vgl. ebd. sowie Gjaerum, Rikke Gurgens: „Applied Theatre Research: Discourses in the Field“, in: European Scientific Journal, Vol. 3 (Dezember 2013), S. 347–361, hier S. 347. 129 Ackroyd: „Applied Theatre: Problems and Possibilities“, S. 1. 130 Vgl. Warstat u. a.: Theater als Intervention, S. 7f. sowie Thompson: Applied Theatre, S. xiv. 131 Vgl. Thompson: Applied Theatre, S. xiii. 132 Vgl. Warstat u. a.: „Einleitung“, S. 7. 133 Vgl. Bala: S. 275f. 134 Vgl. Balme: „Applied Theatre“, S. 179–181. 135 Vgl. ebd., S. 181.
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6 Assessment Center: Theater der Persönlichkeitsdarstellung 136 Ebd., S. 182. 137 Vgl. Warstat u. a.: Theater als Intervention, S. 13. 138 Vgl. hierzu die These des Applied Theatre als „Rückkehr zur Normalität“: ebd., S. 16f. 139 Vgl. Ukaegbu: S. 45ff. 140 Vgl. Thompson: Applied Theatre, S. xiv. 141 Dass dies kein rein sarkastisches Gedankenspiel ist, zeigt auf der Ebene der bildenden Kunst etwa, wie in einem Spektrum von Ironie bis Polemik von Seiten der Medien und auch Teilen der Politik auf die Schenkung einer Karl-Marx-Statue an die Stadt Trier durch die Volksrepublik China reagiert wurde. Vgl.: https://www.zdf.de/nachrichten/ heute-in-deutschland/videos/211116-heute-in-deutschland-karl-marx-statue-100.html (zuletzt aufgerufen 23. November 2016). 142 Für das Fallbeispiel einer öffentlichen Aufführung des Studiengangs Drama Therapy der Steinhardt School of Culture, Education and Human Development, bei der Therapeutin und eine Borderline-Patientin involviert sind, vgl. Kalu, Joy Kristin: „If you die then we will have no play. Therapeutisches Theater als Intervention“, in: Warstat u. a.: Theater als Intervention, S. 53–59. 143 Balme: „Applied Theatre“, S. 193f. 144 Vgl. Hüttler: S. 132. 145 Warstat u. a.: Theater als Intervention, S. 45f. 146 Heinicke: „Koloniale Fallstricke erkennen und meiden“, S. 111f. 147 Vgl. Thompson: Applied Theatre. 148 Ackroyd: „Applied Theatre: Problems and Possibilities“, S. 1. 149 Ebd., S. 5. 150 Ackroyd: „Applied Theatre – an Exclusionary Discourse?“, S. 8. 151 Neelands: S. 306. 152 Ebd., S. 306f. 153 Vgl. Etherton, Prentki: S. 141. 154 Vgl. Prendergast, Saxton: S. 3–6. 155 Ebd., S. vi. 156 Vgl. Warstat u. a.: Theater als Intervention, S. 9. 157 Vgl. Warstat, Matthias: Krise und Heilung – Wirkungsästhetiken des Theaters, München 2011, S. 25 (im Folgenden zitiert als: Warstat: Krise und Heilung). 158 Leonhardt, Rudolf Walter: „Der Messingkauf“, Theaterkritik in: Die Zeit, 17. Juni 1966, www.zeit.de/1966/25/der-messingkauf (zuletzt aufgerufen am 7. Dezember 2017). 159 Hüttler: S. 120. 160 Prendergast, Saxton: S. vi. 161 Vgl. Warstat u. a.: Theater als Intervention, S. 10f. 162 Wetzel, Tanja: „Spiel“, in: Barck, Karlheinz u. a. (Hg.): Ästhetische Grundbegriffe, Bd. 5, Stuttgart, Weimar 2000, S. 577–618, hier S. 583 (im Folgenden zitiert als: Wetzel). 163 Vgl. Schiller, Friedrich: „Was kann eine gute stehende Schaubühne eigentlich wirken?“ [1784], in: ders.: Schillers Werke (Nationalausgabe), Bd. 20, Weimar 1962, S. 87–100. 164 Vgl. Warstat u. a.: Theater als Intervention, S. 182. 165 Schnyder, Peter: „Schillers Pastoraltechnologie. Individualisierung und Totalisierung im Konzept der ästhetischen Erziehung“, in: Jahrbuch der Deutschen Schillergesellschaft. Internationales Organ für Neuere Deutsche Literatur, 50 (2006), S. 234–262, hier S. 253 u. 255. 166 Ebd. 167 Vgl. Lorber: S. 40–42. 168 Vgl. Ackroyd: „Applied Theatre: Problems and Possibilities“, S. 2. 169 Vgl. Ukaegbu: S. 45–54. 170 Vgl. Shaughnessy, Nicola: Applying Performance. Live Art, Socially Engaged Theatre and Affective Practice, New York 2012, S. 32 (im Folgenden zitiert als: Shaughnessy). 171 Vgl. Thompson: Applied Theatre, S. xv. 172 James Thompson etwa verweigert auch eine eindeutige Definition und nennt Applied Theatre dann „a theatre that claims its usefulness“, ebd., S. xiv.
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Assessment Center und Applied Theatre 173 Vgl. Warstat u. a.: Theater als Intervention, S. 29. 174 Vgl. Thompson: Applied Theatre, S. xv. 175 Vgl. Prendergast, Saxton: S. 25; Shaughnessy: S. 40f sowie Ackroyd: „Applied Theatre: Problems and Possibilities“, S. 3. 176 Vgl. Fischer-Lichte: Ästhetik des Performativen, S. 47. 177 Vgl. Warstat u. a.: Theater als Intervention, S. 45f. 178 Vgl. Huizinga: S. 82f; vgl. ebenfalls Fischer-Lichte: Ästhetik des Performativen, S. 47f. 179 „Die Zuschauer werden als Mitspieler begriffen, welche die Aufführung durch ihre Teilnahme am Spiel, d.h. ihre physische Präsenz, ihre Wahrnehmung, ihre Reaktionen mit hervorbringen. Die Aufführung entsteht als Resultat der Interaktion zwischen Darstellern und Zuschauern. Die Regeln, nach denen sie hervorgebracht wird, sind als Spielregeln zu begreifen, die zwischen allen Beteiligten – Akteuren und Zuschauern – ausgehandelt und gleichermaßen von allen befolgt wie gebrochen werden können.“ Fischer-Lichte: Ästhetik des Performativen, S. 47. 180 Vgl. Fischer-Lichte: Ästhetik des Performativen, S. 82f.; dies.: „Theatralität als kulturelles Modell“, in: dies./Horn, Christian/Umathum, Sandra u. a. (Hg.): Theatralität als Modell in den Kulturwissenschaften, Tübingen, Basel 2004, S. 7–26, hier S. 9f (im Folgenden zitiert als: Fischer-Lichte: „Theatralität als kulturelles Modell“) sowie Pfaller, Robert: „Zur Ethik des Spiels. Zehn Thesen“, in: Moser, Christian/Strätling, Regine (Hg.): Sich selbst aufs Spiel setzen, Paderborn 2016, S. 31–33, hier S. 31 (im Folgenden zitiert als: Pfaller). 181 Vgl. ebd., S. 31. 182 Fischer-Lichte: Ästhetik des Performativen, S. 287f. 183 Vgl. Warstat: „Theatralität“, S. 363f. sowie Harvie: S. 41f. 184 Vgl. Warstat u. a.: Theater als Intervention, S. 8. 185 Vgl. Warstat: „Theatralität“, S. 363f. 186 Vgl. Warstat u. a.: Theater als Intervention, S. 8. 187 Vgl. ebd., S. 20f. 188 Vgl. ebd., S. 10. 189 Schramm: S. 307. 190 Zu einer Engführung des politischen und theatralen Interventionsbegriffs vgl. auch Warstat u. a.: Theater als Intervention, S. 30ff. 191 Rothe: S. 70f. 192 Schramm: S. 307. 193 Vgl. Etherton, Prentki: S. 153f.; Dalrymple, Lynn: „Has it made a difference? Understanding and measuring the impact of applied theatre with young people in the South African context“, in: Research in Drama Education: The Journal of Applied Theatre and Performance, 11:2, 2006, S. 201–218, hier S. 201f. u. 214f. (im Folgenden zitiert als: Dalrymple); Chinyowa: S. 337f. 194 Vgl. Thompson: „Ein Hacken und Stechen“, S. 154ff. 195 W. I., Unternehmenstheateranbieter, im Interview mit dem Autor im Rahmen eines Präsentationstags am 3. Dezember 2014. 196 „Research studies conducted by Bray and his associates found the overall assessment ratings to be predictive of the actual career progress participants made within AT &T in later years. When the Bell system found a 10 to 30 percent improvement in selection success by using assessment center ratings instead of traditional selection procedures, the company increased its utilization of assessment center methods (Bray, Campbell, & Grant, 1974).“ Wendel, Sybouts: S. 19. 197 Vgl. Etherton, Prentki: S. 153f.; Dalrymple: S. 201f. u. 214f. sowie Chinyowa: S. 337f. 198 Als ebenso akribisch im Festhalten von Daten über impact und Nachhaltigkeit kann die Dokumentation der Applied-Theatre-Methode der fixierten Rollentherapie in der Verhaltenstherapie angeführt werden. Auch an diesem Beispiel ist die Frage der Übertragung verlässlicher oder zumindest ausgereifterer Methoden der Messung von impact und Nachhaltigkeit eher ethischer Natur: Wollte man zum Nachweis der Effizienz der Methode Teilnehmerinnen an einem Workshop im theatre for development im politischen Prozess begleiten wie Patienten in der Therapie oder Mitarbeiterinnen in der Personalentwicklung? Vgl. Laux, Renner: „Theater als Modell für die Persönlichkeitspsychologie“, S. 101. 199 Vgl. Fischer-Lichte: Ästhetik des Performativen, S. 61.
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6 Assessment Center: Theater der Persönlichkeitsdarstellung 200 Vgl. ebd. 201 Vgl. Caillois: S. 20. 202 Warstat u. a.: Theater als Intervention, S. 29. 203 Vgl. Thompson: „Ein Hacken und Stechen“, S. 154–181. 204 Vgl. Möbius, Janina: „Die Krux mit dem Kreuz – Passionsspiele im Jugendgefängnis San Fernando in Mexiko-Stadt“, in: Warstat u. a.: Applied Theatre – Rahmen und Positionen, S. 137–153, hier S. 146f. 205 Vgl. Warstat u. a.: „Einleitung“, S. 10. 206 Vgl. Ackroyd: „Applied Theatre: An Exclusionary Discourse“, S. 7f. 207 „Ich habe persönlich eine Vision … und meine Vision ist dafür zu sorgen, dass das [Mitarbeitercoaching] auch etwas Bleibendes ist … also diesen kulturellen Wandel wirklich nachhaltig in die DNA jedes einzelnen Mitarbeiters bei uns entsprechend zu verpflanzen.“ Zitat aus einem Interview zwischen Carmen Losmann und einem Mitarbeiter-Coach aus Carmen Losmann Work Hard – Play Hard, Deutschland 2012, in: Evers, Florian: „Willkommen in Dystopia – Carmen Losmanns Work Hard – Play Hard“, The Aesthetics of Applied Theatre (Blog), Januar 2014. www.geisteswissenschaften.fu-berlin. de/v/applied-theatre/Blog/Florian-Evers/Willkommen-in-Dystopia-_-Carmen-Losmanns-Work-Hard-_-Play-Hard.html (zuletzt aufgerufen am 13. Juli 2018) (im Folgenden zitiert als: Evers: „Willkommen in Dystopia“). 208 Vgl. Schreyögg, Dabitz: S. 6; Hüttler: S. 184 sowie Evers, Lempa: S. 247f. 209 Vgl. Arbeitskreis Assessment Center e. V.: AC-Standards, S. 4–13. 210 Vgl. Warstat u. a.: „Einleitung“, S. 16. 211 Vgl. Thompson: Applied Theatre, S. 17. 212 Vgl. Heinicke: „Koloniale Fallstricke erkennen und meiden“, S. 120–126. 213 Vgl. Warstat u. a.: „Einleitung“. 214 Vgl. Balfour, Michael/Flade, Kristin: „Limits, Failures and Ethics – Theatre and War. A Conversation between Kristin Flade and Michael Balfour“, The Aesthetics of Applied Theatre (Blog), September 2014, www.geisteswissenschaften.fu-berlin.de/v/applied-theatre/Blog/Kristin-Flade/Limits_-Failures-and-Ethics-_-Theatre-and-War.html (zuletzt aufgerufen am 13. Juli 2018) und Thompson: Applied Theatre, S. 167. 215 Skeiker, Fadi: Vortrag zum Applied Theatre mit politischen Aktivistinnen und Geflüchteten, Institut für Theaterwissenschaft, Freie Universität Berlin, Berlin, 9. Juni 2016. 216 Vgl. Warstat u. a.: „Einleitung“, S. 11. 217 Vom Applied Theatre als pressewirksames Surrogat kann man etwa bei James Thompson lesen, vgl. Thompson: „Ein Hacken und Stechen“, S. 158. 218 Rancière, Jacques: Der emanzipierte Zuschauer, Wien 2009, S. 11f. (im Folgenden zitiert als: Rancière). 219 Ebd., S. 12. 220 Vgl. ebd., S. 13. 221 Vgl. ebd., S. 15. 222 Das Projekt The Aesthetics of Applied Theatre hat an anderer Stelle angemerkt, dass der von Rancière eröffnete Diskurs in seiner Theoriebildung in einer eurozentrischen Auffassung von Ästhetik verhaftet ist, und Rustom Bharuchas Problematisierung der Anwendung dieser Argumentation auf internationale Theatermodelle wiedergegeben, vgl. Warstat u. a.: Theater als Intervention, S. 152 und Bharucha, Rustom: „Problematizing Applied Theatre: A Search for Alternative Paradigms”, in: Research in Drama Education: The Journal of Applied Theatre and Performance (2011), 16, (3), ), S. 365–384. Da an anderer Stelle von Viktor Ukaegbu nachgewiesen wurde, dass der gesamte Applied-Theatre-Diskurs westlich-eurozentrischer Couleur ist, erscheint es an dieser Stelle hinreichend, diese Konstellation zwar anzumahnen, sich aber weiter innerhalb des Diskurses zu bewegen, da ein Außerhalb den gesamten Gegenstand dieser Studie für obsolet erklären würde, vgl. Ukaegbu: S. 45–54. 223 Vgl. Harvie: S. 60f. 224 Vgl. Ackroyd: „Applied Theatre: Problems and Possibilities“, S. 6 und dies.: „Applied Theatre: An Exclusionary Discourse“, S. 8. 225 Vgl. Hüttler: S. 182. 226 Warstat u. a.: „Einleitung“, S. 15.
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Assessment Center und Applied Theatre 227 Vgl. Evers, Florian/Flade, Kristin: „Serious Games IV: Über Pick Up Artists“, The Aesthetics of Applied Theatre (Blog), Dezember 2014. www.geisteswissenschaften.fu-berlin. de/v/applied-theatre/Blog/Florian-Evers/Serious-Games-IV-Ueber-Pick-Up-Artists.html (zuletzt aufgerufen am 13. Juli 2018). 228 Vgl. Evers, Florian: „Serious Games III: Hell Houses“, The Aesthetics of Applied Theatre (Blog), Oktober 2014. www.geisteswissenschaften.fu-berlin.de/v/applied-theatre/Blog/Florian-Evers/Serious-Games-III_-Hell-Houses.html (zuletzt aufgerufen am 13. Juli 2018). 229 Vgl. Farocki, Harun: „Serious Games“, in: intervalla: Vol. 2, 2014, S. 123–126. 230 Vgl. Ackroyd: „Applied Theatre: An Exclusionary Discourse“, S. 8; Hüttler: S. 182. 231 Breed: „Environmental aesthetics, social engagement and aesthetic experiences in Central Asia“, S. 97f. 232 Vgl. Bateson: S. 241ff. 233 Vgl. Warstat u. a.: „Einleitung“, S. 10f; Evers, Lempa: S. 247f. sowie Hüttler: S. 182. 234 Vgl. Evers, Lempa: S. 247f. 235 Vgl. Warstat u. a.: Theater als Intervention, S. 137. 236 Vgl. ebd. 237 Vgl. Warstat u. a.: „Einleitung“, S. 14f. 238 Vgl. Horn: S. 124f. 239 Aktuell erfährt die Dispositivanalyse als Analyse von Macht, die sich innerhalb von Strukturen auf Subjekte richtet, sowohl in der Soziologie als auch in der Theaterwissenschaft eine Renaissance. Zu nennen wären: Bührmann, Schneider sowie der parallel zu dieser Studie entstandene Sammelband Theater als Dispositiv. Dysfunktion, Fiktion und Wissen in der Ordnung der Aufführung, vgl. Aggermann, Döcker, Siegmund. Der ausführlichen Herleitung der Methode der Dispositivanalyse wird in dieser Studie das dritte Kapitel gewidmet werden. Der Begriff ist dabei nicht eindeutig besetzt und so, wie er hier verwendet wird, steht er in der Tradition von Foucaults Überwachen und Strafen, den Dispositivanalysen der Apparatustheorie der Filmwissenschaft und dem ebenfalls in der Tradition Foucaults verwendeten Dispositivbegriff der Soziologen Ulrich Bröckling und Andreas Reckwitz. Eine theaterwissenschaftliche Dispositivanalyse soll dabei explizit als Forschungsergebnis dieser Studie vorgeschlagen werden. 240 Warstat u. a.: Theater als Intervention, S. 152. 241 Vgl. ebd., S. 154; Warstat u. a.: „Einleitung“, S. 14–17 sowie Evers, Lempa: S. 239. 242 Vgl. Czirak, Adam: Partizipation der Blicke: Szenerien des Sehens und Gesehenwerdens in Theater und Performance, Bielefeld 2012, S. 197 (im Folgenden zitiert als: Czirak: Partizipation der Blicke). 243 Vgl. ebd., S. 203. 244 Ebd., S. 91. 245 Czirak: S. 291. 246 Das Folgende Analysebeispiel diente in anderer Form der Illustration einer These der Intervention durch Spiel in: Evers: „Personalauswahlverfahren als intervenierendes Spiel“. 247 Hier handelt es nicht um generisches Maskulinum, alle teilnehmenden Verkäufer waren Männer. 248 P. L., Unternehmenstheateranbieter, Coach, Psychologe, im Interview mit dem Autor im Rahmen von Feldforschung am 2. Juni 2014. 249 Vgl. dazu auch das self-defining-feedback-Modell in der Persönlichkeitspsychologie: Laux, Renner: „Theater als Modell für die Persönlichkeitspsychologie“, S. 90f. 250 Generisches Maskulinum stellt in diesem Kontext die Selbstbezeichnung dar und wird auch im Folgenden verwendet. 251 Zur Problematik von gleichzeitigem Spiel und Bewertungsprozess im Assessment-Center-Verfahren durch Schauspiel-Laien vgl. Byham: „Assessor Selection and Training“, S. 117; Thornton: S. 70f. 252 P. L., Unternehmenstheateranbieter, Coach, Psychologe, im Interview mit dem Autor im Rahmen eines Präsentationstags am 9. Mai 2014. 253 R. A., Seminarschauspieler, Trainer und Coach in Assessment-Center-Prozessen, Potentialanalyseverfahren und im Mitarbeiter-Coaching, im Interview mit dem Autor im Rahmen von Feldforschung am 2. Juni 2014. Im Interview mit P. L. und anderen Seminarschauspielern ergab sich eher die Tendenz, dass das erlernte Spiel nach der Strasberg-Me-
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6 Assessment Center: Theater der Persönlichkeitsdarstellung thode hilfreich bei den Techniken des Seminarschauspiels sei. Die Methode begünstigt das fragmentierte Spiel und kurzfristige Einfinden in eine Rolle, was sowohl beim Filmdreh als auch in Coaching-Seminaren relevant wird, in denen immer zwischen Spiel, akuter Unterbrechung, Besprechung und Abänderung des Erarbeiteten gewechselt wird. S. C., Seminarschauspieler, Freiberufler, Coach und Spielpartner in Assessment-Center- und Potentialanalyseverfahren, Rhetoriktrainer, Synchronsprecher, im Interview mit dem Autor am 25. Juni 2014. S. A., Seminarschauspielerin, Trainer und Coach in Assessment-Center-Prozessen, Potentialanalyseverfahren und im Mitarbeiter-Coaching, im Interview mit dem Autor im Rahmen eines Präsentationstags 9. Mai 2014. 254 P. L., Unternehmenstheateranbieter, Coach, Psychologe, im Interview mit dem Autor im Rahmen von Feldforschung am 3. Oktober 2014. 255 Ebd. 256 J. S., Automobilverkäufer, im Interview mit dem Autor im Rahmen von Feldforschung am 2. Juni 2014. 257 Vgl. Harvie: S. 41f. 258 Vgl. Warstat: Krise und Heilung, S. 25. 259 Vgl. Hüttler: S. 119f. 260 Laux, Renner: „Theater als Modell für die Persönlichkeitspsychologie“, S. 87. 261 Zur theaterwissenschaftlichen Diskursivierung der Probe und ihrem Verhältnis zur Arbeitsprobe vgl. Matzke, Annemarie: Arbeit am Theater. Eine Diskursgeschichte der Probe, Bielefeld 2012, S. 17f. (im Folgenden zitiert als: Matzke). 262 Vgl. Warstat u. a.: Theater als Intervention, S. 143. 263 Vgl. Prendergast, Saxton: S. vi. 264 Vgl. Warstat u. a.: Theater als Intervention, S. 143. 265 Vgl. Hulfeld, Stefan: „Öffentlichkeit“, in: Fischer-Lichte, Erika/Kolesch, Doris/Warstat, Matthias (Hg.): Metzler Lexikon Theatertheorie, Stuttgart, Weimar 2005, S. 225–228, hier S. 225f. (im Folgenden zitiert als: Hulfeld: „Öffentlichkeit“). 266 Vgl. Kolesch, Doris: „Natürlichkeit“, in: Fischer-Lichte, Erika/dies./Warstat, Matthias (Hg.): Metzler Lexikon Theatertheorie, Stuttgart, Weimar 2014, S. 230–234, hier S. 230f. (im Folgenden zitiert als: Kolesch: „Natürlichkeit“). 267 Wenn in dieser Studie im Folgenden von ‚Authentizitätseffekten‘ gesprochen wird, so soll dieser ästhetische Arbeitsbegriff bezogen auf Persönlichkeitsdarstellung sich nicht von einer Authentizität der Persönlichkeit im Sinne einer Dichotomie von wahrhaftig/ gespielt o. ä. abgrenzen. Mit Authentizität, so fasst es diese Arbeit, ist im Intersozialen immer die qualitative Bewertung einer ästhetischen Außenwirkung, nicht ein ‚wirklicher‘ Kern einer Person in Abgrenzung zu einer artifiziellen Maskerade benannt. Persönlichkeit wird im Intersozialen vielmehr immer durch Inszenierungsstrategien vermittelt, vgl. Fischer-Lichte: „Theatralität und Inszenierung“, S. 22f. Laux, Renner und Schütz verweisen dabei darauf, dass dem pejorativen Gebrauch des Konzepts der Selbstdarstellung entginge, dass auch zentrale Aspekte unserer Persönlichkeit durch Darstellung vermittelt werden, vgl. Laux, Renner, Schütz: „Theatralität, Körpersprache und Persönlichkeit“, S. 252. Mit Authentizitätseffekten wären hier somit vielmehr die inszenatorischen Bausteine der Authentizität gemeint. 268 Einsicht in diese unterschiedlichen Ausformungen von Persönlichkeit und ihrer Prüfung in Assessment-Center-Situationen bietet etwa die Studie „Theater als Modell in der Persönlichkeitspsychologie“, vgl. Laux, Renner: „Theater als Modell in der Persönlichkeitspsychologie“, S. 97–99. 269 Vgl. Caillois: S. 58f. 270 Vgl. Reckwitz: Die Erfindung der Kreativität, S. 9f. sowie Matzke: S. 73ff. 271 Vgl. Laux, Renner: „Theater als Modell für die Persönlichkeitspsychologie“, S. 97f. 272 Vgl. Laux, Renner, Schütz: „Theatralität, Körpersprache und Persönlichkeit“, S. 240. 273 Vgl. ebd.; vgl. auch: Laux, Renner: „Theater als Modell für die Persönlichkeitspsychologie“, S. 93. 274 Vgl. Laux, Renner, Schütz: „Theatralität, Körpersprache und Persönlichkeit“, S. 252f. 275 Ebd., S. 252. 276 Vgl. Laux, Renner: „Theater als Modell für die Persönlichkeitspsychologie“, S. 88. 277 Vgl. ebd., S. 96.
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Assessment Center und Applied Theatre 278 Butler: Psyche der Macht, S. 8. 279 Vgl. Prendergast, Saxton: S. vi. 280 S. C., Seminarschauspieler, Freiberufler, Coach und Spielpartner in Assessment-Center-Verfahren, Potentialanalyseverfahren, Rhetoriktrainer, Synchronsprecher, im Interview mit dem Autor am 25. Juni 2014. 281 Vgl. Evers: „Personalauswahlverfahren als intervenierendes Spiel“, S. 87f. 282 Vgl. Lazzarato, Maurizio: „Immaterielle Arbeit“, in: Negri, Toni/ders./Virno, Paolo: Umherschweifende Produzenten. Immaterielle Arbeit und Subversion, Berlin 1998, S. 39–52, hier S. 39ff. (im Folgenden zitiert als: Lazzarato). Den Brückenschlag zwischen immaterieller Arbeit und dem Kreativitätsdiskurs im Unternehmen zieht Ulrich Bröckling, vgl. Bröckling: Das unternehmerische Selbst, S. 157f. 283 Vgl. Bröckling: Das unternehmerische Selbst, S. 152–155, Reckwitz: Die Erfindung der Kreativität, S. 11 und Hüttler: S. 9f. 284 Vgl. Warstat u. a.: Theater als Intervention, S. 139f. 285 Definition von Bentley, Eric: The Life of the Drama, London 1965, zitiert nach: FischerLichte, Erika: Semiotik des Theaters, Bd. I, Tübingen, S. 16 (im Folgenden zitiert als: Fischer-Lichte: Semiotik des Theaters). 286 Vgl. ebd., S. 16f. 287 Vgl. ebd. 288 Vgl. ebd., S. 17. 289 Vgl. ebd. 290 Vgl. Gebauer: S. 23. 291 Vgl. Goffman: S. 20. 292 Vgl. ebd., S. 21. 293 Vgl. ebd. 294 Vgl. ebd., S. 19. 295 Vgl. Warstat: „Theatralität“, S. 359. 296 Vgl. Umathum, Sandra: „Performance“, in: Fischer-Lichte, Erika/Kolesch, Doris/Warstat, Matthias (Hg.): Metzler Lexikon Theatertheorie, Stuttgart, Weimar 2005, S. 231–234, hier S. 233f. 297 Vgl. Fischer-Lichte: Ästhetik des Performativen, S. 38f. 298 Vgl. ebd. 299 „In Aufführungen sind immer das Performative und das Semiotische gleichzeitig am Werk […]“. Fischer-Lichte, Erika: „Performativität/performativ“, in: dies./Kolesch, Doris/Warstat, Matthias (Hg.): Metzler Lexikon Theatertheorie, Stuttgart, Weimar 2005, S. 234–242, hier S. 239 (im Folgenden zitiert als: Fischer-Lichte: „Performativität/performativ“). 300 Vgl. Fischer-Lichte: „Verkörperung/Embodiment“, S. 13f. 301 Vgl. Matzke: S. 43. 302 Vgl. Harvie: S. 41f. 303 Balme: Einführung in die Theaterwissenschaft, S. 114. 304 Ebd. 305 Vgl. Schlickmann: „Wir müssen über SIGNA reden“, S. 55ff. 306 Vgl. Kirby, Michael: „On Acting and Not-Acting”, in: Battcock, Gregory/Nickas, Robert (Hg.): The Art of performance: a critical anthology, New York 1984, S. 97–117, hier S. 105 (im Folgenden zitiert als: Kirby). 307 Vgl. Kotte: S. 196. 308 Vgl. Kirby: S. 105. 309 Vgl. Fischer-Lichte: Ästhetik des Performativen, S. 47; Balme: Einführung in die Theaterwissenschaft, S. 57 sowie Kotte: S. 31–41. 310 Vgl. Kotte: S. 41f. 311 Vgl. Fischer-Lichte, Erika: Geschichte des Dramas. Epochen der Identität auf dem Theater von der Antike bis zur Gegenwart. Band I: Von der Antike bis zur deutschen Klassik, Tübingen, Basel 1999, S. 13 (im Folgenden zitiert als: Fischer-Lichte: Geschichte des Dramas).
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ERNSTE SPIELE
1 Spieleinführung Im vorangehenden Kapitel dieser Studie wurde dargelegt, dass diverse Praktiken von Personalauswahl- und Potentialanalyseverfahren einen theatralen Charakter aufweisen. Durch einen historischen Abriss der Entwicklung des Assessment-Center-Verfahrens und dem Vergleich zum Unternehmenstheater wurde der Versuch unternommen, die Relevanz der erweiterten Personalauswahlverfahren für das Feld des Applied Theatre und speziell für dessen ethische Dimensionen darzulegen. Ein Development-Center-Verfahren, in dem ein Seminarschauspieler zum Einsatz kam, wurde schließlich in einer Fallanalyse fokussiert, um mit der theaterwissenschaftlichen Methode der Aufführungsanalyse in Kombination mit einer die gesamte hier vorliegende Studie durchziehenden Dispositivanalyse aufzuzeigen, inwieweit diese Praktiken für den Theaterbegriff wie für die Theatralitätsforschung und den Diskurs um Applied Theatre fruchtbar gemacht werden können. Die Betrachtung erweiterter Personalauswahlverfahren als Theater befragt dabei, so wurde dargelegt, den Begriff des Applied Theatre wie den Theaterbegriff per se: So kann in einem solchen Verständnis Theater weder profan als das für das Kunsttheater reservierte Spielhaus, als Umsetzung eines dramatischen Textes noch aus einem Diskurs heraus betrachtet werden, der es ausnahmslos als einen Gegenstand der Kunst fasst. Die theoretische Auseinandersetzung mit der Development-Center-Situation zeigt aber weiterhin auch auf, wie hier eine Definition einer Situation als Theater verkompliziert wird, die ihre Argumente rein aus der Aufspaltung zwischen Schauspielerinnen, die eine Rolle verkörpern, und Publikum oder aus der hervorgehobenen ‚Als-ob-Situation‘ der gespielten Szene in leiblicher Kopräsenz der Aufführung speist. In der Analyse erscheint diese Form des theatralen Potentialanalyseverfahrens in seinen Zielsetzungen vielmehr zugleich theatral als auch antitheatral, als eine Verunklarung des Theatervertrags, bei der selbst komplexe Theorien des Schauspiels angewandt auf die konkrete Situation, die sich zwischen Seminarschauspielerin und Mitarbeiterin entfaltet – das Oszillieren zwischen Spiel und Nicht-Spiel –, nicht
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Ernste Spiele
mehr eindeutig zu greifen scheinen. Dieser Theatervertrag – eine nonverbale, auf kulturellen Normen basierende kommunikative Verabredung von Spielenden und Zuschauenden darüber, was eine Darstellung im Spiel ist, auf welchen als bekannt geltenden Konventionen sie fußt und welche Konsequenzen sie hat – wird geschlossen und erlebt doch Bruchmomente der Irritation, die bewusst provoziert und geplanter Teil des Prozesses sind. Spiel und Nicht-Spiel verschmelzen in diesen Bruchmomenten, in denen die zu prüfenden Kandidaten in einem ästhetischen Dispositiv beweisen müssen, dass ihre im Spiel gezeigten und herausgeforderten sozialen und methodischen Kompetenzen der Arbeitspersönlichkeit zum einen den hier geforderten ästhetischen Ansprüchen der Authentizität genügen, zum anderen, dass dieses authentische Außenbild deckungsgleich mit der gewünschten Service- oder Personalführungsstrategie, mit Corporate Identity und Unternehmensphilosophie ist. So wird letztendlich mit theatralen Mitteln versucht, das Theaterspiel wiederum zu unterbrechen und unter dem Stress von Irritationsmomenten im Spiel das Nicht-Spiel, die Inszenierung hinter der Maske der Arbeitspersönlichkeit hervorzuholen. Gelingt es nicht, einen gravierenden Bruchmoment im theatralen Test zu evozieren, ist das Spiel ‚gewonnen‘. Bezeichnend ist dabei, dass es aus einer Außen- wie bisweilen aus einer unreflektierten Innenperspektive1 ununterscheidbar wird, ob es von Seiten des erfolgreich geprüften Mitarbeiters geschafft wurde, durch die Dauer der Aufführung hindurch eine selbstabständige Rolle aufrechtzuerhalten und sich nicht durch Irritationsmomente im Spiel stören zu lassen, oder ob der geprüfte Kandidat sich selbstidentisch gegeben und dies deckungsgleich empfunden hat: ein Indikator für die theaterwissenschaftliche Einsicht, dass Authentizität und Inszenierung kein binäres Gegensatzpaar darstellen.2 Eine Abständigkeit von der Rolle der Arbeitspersönlichkeit und dem nicht-spielenden Kandidaten tritt nur in Prüfungen zu Tage, die für den Mitarbeiter schlecht verlaufen – in denen das bewusst herbeigeführte Irritationsmoment zu einem Bruchmoment der Persönlichkeitsdarstellung führt, der aufscheint und in die Bewertung gelangt. Fraglich wird bei dieser Betrachtungsweise letztendlich, ob dieses Spiel in einer solchen Perspektive zumindest für den Mitarbeiter wirklich aufhört, wenn das Assessment Center vorbei ist, da es sich hier letztendlich um das Einüben von Verhalten für den theatralen Arbeitsalltag handelt, in dem der Habitus der Arbeitspersönlichkeit ebenfalls fest im Repertoire sitzen soll. Unter dieser Perspektive wäre das Development Center lediglich die Probe für die eigentliche ‚Aufführung‘. Dieses Verständnis von einer Theatralisierung des authentischen Außenbildes im Alltag jedoch findet sich auch jenseits der Sphäre der Arbeit und durchwebt alle Bereiche des sozialen Miteinanders.3
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1 Spieleinführung
Aus theaterwissenschaftlicher Perspektive ist es nun aber wenig befriedigend, alle unvermittelten sozialen Interaktionen und kulturellen Thea tralitätsphänomene auch jenseits solcher exponierten Spielereignisse unter den Begriff Theater im Sinne eines Rollenspiels der Persönlichkeitspsychologie zu stellen, so dass der Terminus ausgehöhlt erscheint und es in einem säkularen, allumfassenden Theatrum mundi nur noch qualitativ unterschiedliche Formen des Theaters gäbe, das dann letztlich als Begriff einfach das Wort Handeln abgelöst hätte.4 Wendet sich die Theatralitätsforschung gegen das Phantasma, dass Inszenierung und Authentizität in der Selbstdarstellung zwangsläufig ein binäres Gegensatzpaar bilden,5 verunklaren die Phänomene des Applied Theatre und speziell der Rollenspiele der Personalauswahlverfahren eher eine klare Differenzierung zwischen Theatralitätsphänomenen der Selbstdarstellung des Alltags und Theater. Andreas Kotte zeigt hier in seinen Herleitungen zu szenischen Vorgängen sehr differenziert die unterschiedlichen Qualitäten des Handelns vom einfachen Verhalten über die Interaktion hin zum Spiel und schließlich Theater und schreibt: „Erst wenn es innerhalb von Interaktion zur Hervorhebung einer Seite oder zu in seiner Konsequenz vermindertem Handeln kommt, wird das Phänomen theaterwissenschaftlich interessant“.6 Für die hier angestellten Beobachtungen über Applied Theatre bezeichnend schließt er seine Ausführungen mit einem verkomplizierten Spezialfall seiner Kategorisierung ab7: dem politischen Theater Augusto Boals, einem Theater, das zwischen konsequenzhaft und konsequenzvermindert oszilliert, da – eben wie in dem im letzten Kapitel diskutierten Beispiel des Development Centers in Rijswijk – durch eine Verunklarung des Theatervertrags reale Reaktionen durch gespielte Vorgänge evoziert werden, die weit über die durchaus auch real zu nennende emotionale Affizierung eines Publikums oder die Aufforderung zum politischen Handeln jenseits des Theaters durch eine Fiktion mit eindeutiger Rahmensetzung hinausgehen. Boals Theaterentwurf ist ein ernstes Spiel mit der Realität und zugleich eine ästhetische Form, die Inspiration für viele Projekte des Applied Theatre wie des Unternehmenstheaters liefert. Weiterhin wird deutlich, dass die Wirkungsversprechen des Applied Theatre und speziell der Assessment- und Development-Center-Verfahren sich auf zwei höchst unterschiedlichen Systemebenen manifestieren. Die Implementierung dieses Theaterverfahrens an sich verspricht Transformationen im großen Rahmen: sozialen Wandel, Gewaltprävention, Gewinnund Effizienzsteigerung. Erreicht wird dieses formulierte Langzeitziel in der Dauer der Implementierung vieler Aufführungen, im konkreten Verfahren durch die Formung einzelner Subjekte im darstellenden Spiel, die sich in einer speziellen Zuschauerinnenposition befinden, da sie gleich dem
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Ernste Spiele
spect-actor Boals dazu aufgefordert sind, zu partizipieren wie sich selbst und andere zu beobachten. Denn hat auch das Assessment Center ein nicht in die Diegese der Spielszene involviertes Publikum in Form der Spielleiter des Auswahlkomitees, die Aufführung und der Transformationsgedanke fokussieren sich in Blick- und Machtstrukturen dennoch auf eine der Darstellerinnen: die Mitspielerin des Seminarschauspielers. Theatersituationen im Allgemeinen erscheinen in der Perspektive dieser Studie als heuristische Versuchslabore sozialer Interaktion, in der ein konsequenzvermindertes, aber damit ja nicht konsequenzloses Handeln je nach ästhetischem Ansatz in unterschiedlicher Nuancierung hervorgehoben, ausgestellt, betrachtet, erprobt, einstudiert und forciert werden kann. Dieser Ansatz umfasst sowohl die rezipierende wie die involvierte Zuschauerin als auch die zwischen Spiel und Nicht-Spiel oszillierende Mitspielerin und die vollumfänglich involvierte Schauspielerin. Applied Theatre unterscheidet sich in dieser Betrachtungsweise von anderen Theaterformen dabei nur graduell, nämlich darin, wie sehr seine Mittel explizit darauf ausgelegt sind, nicht nur Handlung auszustellen, sondern das Erproben, Einstudieren und Verändern von Handlung unter einer (sozial-) politischen, therapeutischen, pädagogischen oder ökonomischen Agenda ins Zentrum seiner Ästhetik zu stellen. Übergänge zu anderen Formen, wie etwa dem politischen Theater, diversen Strömungen der Performance Art oder dem Theater der Aufklärung erscheinen unter diesen Gesichtspunkten also vielmehr fließend als dichotom.8 Auch im bürgerlichen Trauerspiel sollten letztendlich moralische Haltungen der Figuren auf der Bühne über die Diegese des Spiels hinweg den Zuschauer zum richtigen gesellschaftspolitischen Handeln inspirieren, sobald sich der Vorhang schließt und er wieder in die ‚Realität‘ entlassen wird.9 Auch im Jesuitentheater wurde das Spiel zur Erziehung des Menschen angepriesen.10 Viele Ansätze theaterwissenschaftlicher Aufführungsanalyse nun implizieren eine idealisierte Zuschauerinnenposition. Der Theaterwissenschaftlerin wird hierbei die Deutung der ästhetischen Erfahrung durch eine zwar durchaus partizipierende, aber dennoch nicht vollumfänglich in Arrangement und Wiedergabe des Spiels involvierte Position zugesprochen. Als ein neuralgisches Moment der Analyse ästhetischer Formen des Applied Theatre muss jedoch die Beobachtung gelten, dass die Schauspielerin bzw. die Mitspielerin – der „Homo Ludens“11 – neben der nicht aktiv in die Darstellung involvierten Publikumsposition ein gleichberechtigtes und oft auch bevorzugtes Subjekt der wirkungsästhetischen Ausrichtung dieser Theaterformen ist. In den Spielgeflechten des Assessment Centers wie vieler Formen des Applied Theatre verkompliziert sich also diese Position, wenn die äußere Perspektivierung zwar mitunter durch Spielleiter oder
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1 Spieleinführung
Auswahlkomitees immer noch gegeben ist, ebenso relevante Aspekte von ästhetischer Erfahrung aber auch erst durch die aktiv diegetisch involvierte Partizipation – durch das Spielen – zugänglich werden. Dies findet seine Entsprechung darin, dass diejenigen Experten, die die Auswertung der Ästhetik dieser Spiele professionalisiert haben, immer zu zweit anreisen: Die externen Dienstleister für Seminarschauspieler stellen grundsätzlich einen Trainer, der die Außenperspektive einnimmt, und eine Seminarschauspielerin, die aus der Binnenperspektive des Spiels bewertet. Ließen sich in der vorangehenden Analyse des Personalauswahlverfahrens in Rijswijk Aspekte des Theatralen – Schauspiel unter Beobachtung, Bühne, Publikum, Rolle, Als-ob-Haltung – identifizieren oder modifiziert übersetzen, so verbleibt doch wie bereits erwähnt ein unaufgelöster Rest, der diese Verfahren an das Spiel im Sinne des game bindet, ohne es damit – eingedenk des Vergleiches zu den Ästhetiken des immersiven Theaters – in Anteilen aus dem Korpus des Theaters herauslösen zu wollen. Alle Theatersituation sind auch Spiele,12 dem Theater und speziell den hier fokussierten Theaterformen betrachtet als Spiel sind jedoch auch Konzepte inhärent, die im etablierten Repertoire theaterwissenschaftlicher Methodologie als Analysebegriffe lediglich untergeordnete Rollen spielen, aber in den hier fokussierten Fällen der Personalauswahl- und Potentialanalyseverfahren deutlich zutage treten. Fragen nach brüchigen Spielrahmen, asymmetrischen Machtrelationen, Regelgebundenheit des Spiels im Sinne des game, nach dem agonalen Prinzip des Spiels, in dem Punkte vergeben, konkurrierende Spieler geschlagen, Spielziele gesteckt und erreicht werden, sowie ein Theaterkonzept, in dem eine Konstellation von Mitspielern, die graduell unterschiedlich in Rolle und Spiel involviert und mit unterschiedlichem Vorwissen ausgestattet sind, sollen im Folgenden herangezogen werden, um sich ergänzend zu den im vorangehenden Kapitel beschriebenen Konzepten und Theaterbegriffen, einem ludologisch-theaterwissenschaftlichen Zugang zur Spielästhetik der hier beschriebenen Formen des Applied Theatre anzunähern. Liegt mit Applied Theatre also auf der einen Seite ein Begriff vor, der sich, wie im ersten Kapitel erläutert, ästhetisch vornehmlich durch maximale Heterogenität aller möglichen Formen von Theaterarrangements und Konzepten von Wirkungsästhetik auszeichnet, so mag der pragmatische und auf äußerste Zweckmäßigkeit ausgerichtete Gegenstand des Assessment Centers bei oberflächlicher Betrachtung die Sinnhaftigkeit oder gar Möglichkeit einer ästhetischen Analyse in Frage stellen. Der leitende Gedanke des folgenden Kapitels wird es sein, dass ein gesellschaftlich und ökonomisch produktiv gemachtes Konzept von Spiel, das als heuristischer
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Ernste Spiele
Arbeitsbegriff Ernstes Spiel genannt werden wird, das ästhetische Konzept darstellt, unter dem sowohl das Theater der Selektion als auch andere Formen des Applied Theatre ihren Platz finden.
2 Spielbegriffe The play frames upon which most applied drama and theatre workshops and performances are modelled often appear as merely fun, leisure, transient and inconsequential because play’s seriousness is often masked and disguised.13 Kennedy C. Chinyowa
Einem Rollenspiel im Personalauswahlverfahren mag in den seltensten Fällen unterstellt worden sein, dass es sich um die eiserne Faust im samtenen Handschuh, um Ernst, der sich als Spaß maskiert, handelt. Ein solches Modul im Assessment-Center-Prozess kaschiert weder seinen ernsten Hintergrund als agonal-theatraler Auswahlprozess noch gäbe es Verwechslungsgefahr mit dem Spaß und Zerstreuungspotential, den spielerische Freizeitaktivitäten mit sich bringen. Angesichts der kritischen Betrachtung der ethischen Ambivalenzen des Applied Theatre, wie sie im ersten Kapitel dargelegt wurden, lässt sich das oben angeführte Attest des Theaterwissenschaftlers und Applied-Theatre-Experten Kennedy Chinyowas, dass es sich bei allen Applied-Theatre-Projekten um Ernste Spiele handele, auf zweierlei Arten lesen. Auf der einen Seite bietet das Spiel als Schutzraum das Potential, mit spielerischer Leichtigkeit ernste Themen zu bearbeiten. In der Therapie kann sich dabei etwa dem inneren Konflikt eines Patienten mit der Abstraktion der Referenz zur eigenen Person und damit mit der Verminderung der Konsequenz einer erfundenen Spielszene, wie etwa der Inszenierung eines Märchens,14 angenähert werden, was eine spielerische Distanz im Oszillieren zwischen Fiktion und Verbalisierung des Konflikts gewährt. Ebenso kann politische Kritik an herrschenden Verhältnissen in restriktiven politischen Kontexten im konsequenzverminderten Rahmen des Schauspiels bisweilen freier geäußert werden als in der offenen politischen Rede.15 Umgekehrt können sich aber auch manipulative politische Agenden und die Macht der Institutionen im Gewand des Spiels manifestieren und so eine externe Agenda mit spielerischer Leichtigkeit invasiv in neuen Kontexten etablieren.16 Während gerade ein kritischer Blick auf viele Formen der Applied-Theatre-Ausrichtung auf Unternehmen zu dem Urteil führen mag, dass hier das Spiel mit manipulativen Absichten daherkomme,17
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ist dies gerade im Assessment-Center-Rollenspiel nicht der Fall. Es weist keine „hidden agenda“18 auf, es ist in aller Deutlichkeit das, was es vorgibt zu sein: ein Spiel um den Beruf, womit es dennoch zu Chinyowas Ernsten Spielen gerechnet werden kann. Spielerische Leichtigkeit, Kategorien wie Spaß und Zweckfreiheit, die mit dem Begriff des Spiels assoziiert erscheinen, kaschieren hier eben nicht den Ernst der Situation, dennoch ist dieses Rollenspiel schon seinem Namen nach ein Ernstes Spiel und verweist damit zugleich auf ein Potential wie ethisches Dilemma anderer Applied-TheatreProjekte: Das Spiel ist nicht zuletzt auch ein sehr machtvolles Instrument zur Datenerhebung und Menschenformung.19 Sind nun rein intuitive Kategorien des Spiels wie Zweckfreiheit, Zerstreuung, Freizeitaktivität oder Spaß bei diesen dennoch ludisch-theatralen Verfahren irrelevant, so stellt sich die Frage, was diese Ernsten Spiele zu solchen macht, und weshalb einige Aspekte des Spiels sich so wirkmächtig in den hier beschriebenen Unternehmenskontexten anwenden lassen. Denn mit dem Begriff des Spiels als einer explizit ästhetischen Kategorie20 eröffnet man eine weitere Ebene, die Ästhetik des Applied Theatre in den Blick zu nehmen. Es ist bezeichnend, dass Helmar Schramm, vor die Aufgabe gestellt, nicht nur den Terminus ‚Spiel‘ definitorisch für ein Lexikon zu umreißen, sondern auch die Stellung des Spiels als einem der einhundert zentralen Begriffe und Konzepte für die Theatertheorie zu verdeutlichen, konsequent mit einer Problematisierung der akademischen Definition beginnt. Mit „traumwandlerischer Sicherheit“21, so Schramm, komme das Alltagswissen bei der Kategorisierung der Tätigkeiten und Gegenstände als Spiels daher, wohingegen der hellwache Sachverstand offenbar vor einem Rätsel stehe.22 So würde dieses Alltagswissen – auf die Probe gestellt – wohl als Konsens betrachten, etwa das Brettspiel Monopoly oder eine Fußballpartie als ein Spiel zu identifizieren. An den unscharfen Außengrenzen der definitorischen Umschreibungen, der Vergleiche und Wortspiele ließen sich aber widersprüchliche Aussagen etwa über die Börse und Spiel oder den Krieg und Spiel finden, von denen genauso vehement im Diskurs des Alltags behauptet wird, sie seien kein Spiel, wie auch, dass sie eines seien.23 Mit diesen Vergleichen gehen immer auch moralische Vorwürfe an Beteiligte dieser Systeme einher, sie lediglich als solches zu betrachten – also an den Börsen zu agieren wie am Roulettetisch24 oder den Drohnenkrieg zu führen, als sei er ein Computerspiel, in dem nicht tatsächliche Tote zu beklagen wären. Schon hier klingt an, dass das Konzept des ‚Spiels‘ sich zum einen festen Definitionen zu entziehen vermag und zum anderen mit Machtrelationen und auch mit ethischen Fragen verwoben erscheint.
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Mehr Unschärfe bringen zudem unterschiedliche Spielbegriffe und speziell die Sprache, in der die hier vorliegende Studie verfasst wird, mit sich. Entgegen etwa der englischen Differenzierung in das regelgebundene game und das freiere improvisierende play,25 erlaubt es die deutsche Sprache, ein ‚Spiel zu spielen‘26 und mit Spiel sowohl einen konkreten Gegenstand (das Brettspiel in den Regalen der Spielzeugabteilung) als auch eine Tätigkeit und Haltung (das Räuber-und-Gendarm-Spiel von Kindern) zu bezeichnen. Führt man sich schließlich nur einen kleinen Ausschnitt des Spektrums dessen vor Augen, was nur allein die deutsche Sprache im eigentlichen und übertragenen Sinn bezogen auf das Spiel in seinem Arsenal bereithält – ein Instrument spielen, das Lichtspiel, das Liebesspiel, das Wortspiel, das Schauspiel, das ‚Spiel haben‘ einer mechanischen Konstruktion oder das Spiel der Wellen auf dem Wasser, so wirft dies die legitime Frage auf, ob es zielführend ist, den Vergleich spezifischer Formen des Theaters darauf zu begründen, einen noch größeren und unschärfer definierten Dachbegriff als den des Applied Theatre oder des Theaters an sich heranzuziehen, um ihre Ästhetiken vergleichend zu betrachten. Das Konzept des Spiels, aufgehoben im deutschen Wort ‚Schauspiel‘ oder im englischen play in Bezug auf das Bühnenstück oder Drama, gehört eben zu den Grundbegriffen der Theatertheorie und im Terminus des ‚Rollenspiels‘ schlägt das Wort zwar eine Brücke zwischen dem Theater und den hier betrachteten erweiterten Personalauswahlverfahren, letztendlich ist im Begriff des Spiels jedoch jegliches Theater und dazu noch eine größere Menge anderer Formen kulturellen Ausdrucks enthalten.27 Doch das ästhetische Konzept des Spiels wird hier nicht zuletzt als ein kultureller Emulgator angesehen, der Situationen, Regeln oder getrennte Positionen allgemein verunklaren kann, um Kontingenz zu schaffen und eventuell dabei Neues zu kreieren: Das Spiel mit Worten schafft dabei mit Leichtigkeit Vergleiche, die in einer exakten Anwendung der Sprache nicht legitim wären,28 analog dazu erlaubt das Spiel als geregelte Betätigung, im Nicht-Spiel illegitime Relationen neu zu denken, also einige gesellschaftliche Konventionen und Regeln oder sozialen Status für eine begrenzte Zeit außer Acht zu lassen. So kann es in Konfliktzonen eine Wirklichkeit des Möglichen durchspielen, in der das trennende Element der Konfliktparteien für die Dauer des Spiels anders gewichtet wird oder etwa in patriarchalen Gesellschaftsstrukturen, dass Frauen für die Dauer des Spiels mehr Stimmgewicht gegeben wird, als es in der sozialen Realität der Fall wäre. Im Assessment Center bietet es z. B. die Möglichkeit, Menschen auf Positionen arbeiten zu sehen, die sie noch gar nicht innehaben, und in der Personalschulung für das Management gestattet es das Ausprobieren und Modellieren verschiedener Strategien eines Habitus, etwa um einen Mitarbeiter möglichst ohne Unannehmlichkeiten zu entlassen.29
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So soll hier weder erschöpfend und tautologisch argumentiert werden, dass ein Rollenspiel ein Spiel ist, noch sollen diese Überlegungen zu einer weiteren Kulturgeschichte des Spiels ausufern. Damit zu beginnen, historisch, chronologisch die ersten Spiele zu betrachten, würde bedeuten, vor der menschlichen Kultur beim konsequenzverminderten Balgen von einigen Säugetierarten zu beginnen, die als Jungtiere den Kampf proben, ohne sich Verletzungen zuzufügen.30 Eine den Anspruch auf Vollständigkeit erhebende Aufarbeitung des interdisziplinären Forschungsstandes zu diversen Spielbegriffen in der Philosophie, Biologie, Ästhetik, Psychologie, Soziologie und den angrenzenden Disziplinen – wie auch ein umfassender interkultureller Vergleich – würde den Rahmen und angemessenen Anteil an dieser Analyse bei weitem übersteigen. Dass Theater ein Gegenstand des Spiels ist, wurde von der Theaterwissenschaft ohne Dissens an vielen anderen Stellen formuliert.31 Die Entscheidung, Spiel als eine weitere Analysekategorie für die theatralen erweiterten Personalauswahlverfahren heranzuziehen, erwächst zunächst aus den Beobachtungen der Formen in der konkreten Feldforschung, in denen neben den theatralen Kategorien eben auch Aspekte beobachtet wurden, die ein ludologisches Paradigma der Betrachtung dieser Rollenspiele besser zu fassen vermag, da einige Aspekte des Spiels nicht zwangsläufig zum geläufigen, methodischen Repertoire des theaterwissenschaftlichen Diskurses zählen. So soll im Folgenden zunächst anhand zweier Grundlagenwerke der Ludologie dargelegt werden, welche Möglichkeiten zu einer Definition des Spiels der wissenschaftliche Diskurs trotz der Unschärfe des Begriffs bereitstellt. Dabei soll das Spiel, das immer auch ex negativo durch ein zumeist genauerer Betrachtung kaum standhaltendes Antonym definiert wurde, in seinem Verhältnis zum Begriff des gewöhnlichen Lebens, des Ernstes und schließlich zur Arbeit betrachtet werden. Johan Huizingas Homo Ludens aus dem Jahr 1938 gilt als Grundlagenund Standardwerk der Ludologie – der wissenschaftlichen Teildisziplin, die sich soziologisch und kulturgeschichtlich dem Spiel widmet. Bedeutet der Einstieg in den Diskurs mit diesem Werk zwar keinesfalls, dass die Wissenschaft und Philosophie sich erst im 20. Jahrhundert mit relevanten Erkenntnissen dem Spiel zugewendet hätte, so findet die theaterwissenschaftliche Perspektive auf das Spiel in Huizinga doch rund ein halbes Jahrhundert vor dem performative turn einen geistesverwandten Verfechter der Idee eines alle Kulturphänomene durchdringenden Gegenstands transitorischer Ästhetik. Roger Caillois’ Les jeux et les hommes aus dem Jahr 1958 kann als Antwort auf Huizingas Ansatz und Erweiterung des Spielkonzepts von Homo Ludens gelesen werden. Die Ausdifferenzierung der Ludologie, beginnend
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mit diesen beiden Werken, wird als einer unter vielen möglichen und legitimen Einstiegspunkten in den geisteswissenschaftlichen Diskurs um Spielbegriffe gewählt.32 Zu den Spielbegriffen Caillois’ und Huizingas werden diejenigen Theorien und Definitionen des Spiels herangezogen werden, die verdeutlichen, was das Verhältnis von Spiel und gewöhnlichem Leben, Spiel und Ernst, Spiel und Unfreiwilligkeit und Spiel und Arbeit vor allem an Aussagen über die Phänomene einer Ludifizierung33 der Arbeitswelt und einem theatralen Dispositiv des Applied Theatre zulassen. So birgt der Spielbegriff doch bei aller Unschärfe in der Feldforschung beobachtete und somit zunächst empirisch aufscheinende Aspekte, die eine Klammer um jene Personalauswahlverfahren, um die es hier geht, und andere ästhetische Praktiken des Applied Theatre legt: Er beleuchtet das spielerische Ausprobieren von Subjektpositionen in Workshops des Applied Theatre jenseits der Aufführung vor einem nicht in den Entstehungsprozess involvierten Publikum, das weder als Telos der wirkungsästhetischen Versprechen noch als Ausgangsposition der ästhetischen Analyse gelten kann. Jenseits eines Paradigmas von Kunst, interesselosem Wohlgefallen, aber auch jenseits der Aufführung als zentralem Bezugspunkt lassen sich der Gedanke, mit Einsatz zu spielen, die Frage von Mehrwert und Messbarkeit, Machtasymmetrien und Konkurrenz in der ästhetischen Kategorie des Spiels wiederfinden. Zumindest dem Zweck und dem Schaffen von Mehrwert jedoch, so wird im Folgenden aufgezeigt werden, entziehen sich die kanonischen Spielbegriffe zumeist. Hier wird wiederum der Diskurs der Theaterwissenschaft an den Spielbegriff ansetzen, der an dieser Stelle helfen wird zu erläutern, dass ein Spiel durchaus produktiv sein kann. Die besondere Brisanz der zunächst paradox klingenden Konstellation des Ernsten Spiels ist es, dass speziell die Spiele des Unternehmenstheaters, des Seminarschauspiels und der Personalauswahlverfahren sich einer zumindest nicht nur populären oder oberflächlichen Definition des Spiels, einhergehend mit Zweckfreiheit, Freizeit und vor allem Freiwilligkeit,34 wiederum entziehen und in nicht zuletzt ethischen Dimensionen im Zusammenspiel mit Manipulation und Unfreiwilligkeit betrachtet werden müssen. Eine genauere Betrachtung des Konzepts von Spiel wird diese scheinbare Paradoxie jedoch aufheben und zeigen, dass gerade das Spiel Fragen der Machtasymmetrien von Regelsystemen, der Manipulation und jenen Grauzonen zwischen Konsequenzhaftigkeit und Konsequenzminderung35 von sozialem Handeln mit dem Diskurs des Theaters zu verflechten vermag. Sei auch die Unschärfe und die Problematik des Entzugs vor festen Definitionen vorweggenommen, muss doch im Folgenden der Versuch er-
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folgen zu markieren, wovon zumindest hier die Rede sein soll, wenn vom Spiel die Rede ist. Spielbegriffe: Homo Ludens – das Ideal-Spiel Johan Huizinga führt in Homo Ludens zunächst, eine auffällige Leerstelle in den Bereichen Philosophie und Ästhetik hinterlassend,36 die Psychologie und Physiologie als Disziplinen an, die sich bisher dem Phänomen Spiel angenommen hätten, um sich von deren von ihm als unzulänglich betrachteten Definitionen des Begriffs abzugrenzen.37 Er beleuchtet dabei zum einen naturwissenschaftliche Deutungen der Nützlichkeit des Spiels bei Tieren und Menschen, genauer gesagt: Thesen des Einübens ernster Tätigkeiten, des Spannungsabbaus, der Übung in Selbstbeherrschung und des Nachahmungstriebes,38 zum anderen psychologische Theorien über Wettbewerb, Abfuhr schädlicher Triebe, Sucht zu bewirken oder zu herrschen und Wunscherfüllung in der Fiktion.39 All diese Deutungsversuche fasst er als Erklärungen einer biologischen Zweckmäßigkeit40 zusammen und deklariert jede für sich zwar als valide Antwort auf die Frage, wozu und warum gespielt werde. Gerade da die Antworten aber auf der einen Seite so divers ausfielen und auf der anderen gleichberechtigt als wahre Aussagen nebeneinander Gültigkeit behielten, könne es sich – so Huizinga – nur um Teilerklärungen des Phänomens Spiel handeln, da sie sich sonst entweder selbst ausschließen oder in einer höheren Einheit Erklärung finden müssten.41 Mit einem breit aufgestellten Überblick über verschiedene Phänomene menschlicher Kultur aus unterschiedlichen Epochen, über Religion, Festkultur, Musik, Tanz, bildende Künste, Wettkampf, Ritual, Rechtsprechung, Krieg, Philosophie und einer etymologischen Untersuchung der Begriffe, Denotationen und Konnotationen von Spiel in verschiedenen Sprachen, Epochen und Kulturräumen stellt Huizinga mit Homo Ludens den biologistischen Erklärungen eine kulturhistorisch, anthropologische Studie zum Spiel entgegen, die ihn rund sechzig Jahre vor dem Postulat der ‚Kulturen des Performativen‘ zu dem Schluss des Ursprungs der Kultur im Spiel kommen lässt.42 Spiel wird folglich bei Huizinga nicht als eines von vielen Folgephänomenen der Kultur betrachtet, sondern der Drang und die Fähigkeit des Menschen zum Spiel als Bedingung der Entstehung von Kultur postuliert. Grenzen sich im performative turn die Kulturwissenschaften in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts von einem strukturalistischen Paradigma der Kultur als Text ab, so muss Huizinga seinen Gegenstand einer naturwissenschaftlichen Deutungshoheit der biologischen und psychologischen Erklärungsmodellen entreißen, die – so Huizinga – das wozu, aber nicht die Qualität des Spiels an sich klären könnten:43 „Sie gehen dem
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Spiel mit den Meßmethoden der Experimentalwissenschaft unmittelbar zuleibe, ohne zunächst einmal der tief im Ästhetischen verankerten Eigenart des Spiels ihre Aufmerksamkeit zuzuwenden.“44 Auch hier muss der Theaterwissenschaftler eine Verwandtschaft aufscheinen sehen, postuliert Huizinga damit doch bereits 1938 ein umfassendes Modell zur Erklärung von Gesellschaft und Kultur, dessen Herzstück ein Gegenstand von transitorischer Ästhetik ist. Huizingas Definition des Spiels, die von ihm der Deutungshoheit der biologistischen Modelle entgegengestellt wird, mag unter der Berücksichtigung der Kulturphänomene, in denen er Spuren des Spiels identifiziert, aber dabei zunächst irritieren: Der Form nach betrachtet, kann man das Spiel also zusammenfassend eine freie Handlung nennen, die als ‚nicht so gemeint‘ und außerhalb des gewöhnlichen Lebens stehend empfunden wird und trotzdem den Spieler völlig in Beschlag nehmen kann, an die kein materielles Interesse geknüpft ist und mit der kein Nutzen erworben wird, die sich innerhalb einer eigens bestimmten Zeit und eines eigens bestimmten Raums vollzieht, die nach bestimmten Regeln ordnungsgemäß verläuft und Gemeinschaftsverbände ins Leben ruft, die ihrerseits sich gern mit einem Geheimnis umgeben oder durch Verkleidung als anders von der gewöhnlichen Welt abheben.45 Wie können Anteile der Kriegsführung46 oder der Rechtsprechung47 bei ihm an späterer Stelle unter dieser Definition Platz finden? Ebenso ließen sich zahlreiche Einwände durch die Betrachtung einzelner Spielarten finden: Wie steht es um den Punkt der freien Handlung bei allen Beteiligten am Gladiatorenspiel? Wie um das Kriterium, kein materielles Interesse sei vorhanden, beim Glücksspiel? Letzterer Einwand reizte bereits R oger Caillois zu einer ausführlichen Replik, in der er diese Argumentation Huizingas als Leerstelle auszuweisen sucht.48 Die Antwort auf diese Fragen liegt aber zunächst darin begründet, dass Huizinga ein Ideal-Spiel definiert, von dem er selbst postuliert, dass es außerhalb der Theorie in Mischformen des „Spielelements der Kultur“ auftrete.49 So können eben im Krieg oder in der Rechtsprechung Anteile eines Kulturphänomens des Ideal-Spiels identifiziert werden, ohne dass diese dadurch zwangsläufig zu Spielen erklärt werden müssen. Der Theaterwissenschaft sollte auch dieses Konzept sehr vertraut sein, denn würde die Disziplin allemal der Beobachtung zustimmen können, dass in Anteilen am Krieg Theatralitätsphänomene zu identifizieren sind, spräche die Theaterwissenschaft deswegen noch lange nicht verkürzt davon, dass jegli-
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cher Krieg Theater sei. So würde Huizinga analog dazu von „Spielelementen“50, „Spielgehalt“51 oder auch „Spielmäßigem“52 in Kulturphänomenen sprechen, ohne sie direkt zum Spiel zu erklären. Huizingas Definition des Spiels darf folglich nicht als ein Konvolut aus Kriterien gelesen werden, bei denen man ein konkretes Beispiel in den Fokus nehmen könnte, um ihm dann den Spielcharakter abzusprechen, wenn nicht alle seine genannten Aspekte erfüllt wären – dies ist ein Fehler, den viele seiner Kritiker oberflächlich begehen, wenn sie sich mit seiner Spieltheorie auseinandersetzen und seine Spieldefinition dabei als eine Sammlung notwendiger oder hinreichender Bedingungen interpretieren. Genausowenig würde also ein Gegenbeispiel für ein eindeutiges Spiel, das nicht allen seinen Kriterien gehorcht, sein System widerlegen. Er schreibt explizit, dass nicht alle Formen von Spielen in seiner Studie berücksichtigt werden.53 So wäre es eben auch nicht zielführend zu behaupten, dass die Pokerrunde, in der man all sein Erspartes verliert, kein Spiel gewesen sei, da sie doch materielles Interesse involvierte, noch, dass sich mit diesem Beispiel Huizingas Definition als obsolet herausstellte. Vielmehr wäre die Frage, ob nach Huizingas Definition das Geld, obgleich Teil des Pokers, jemals Teil des Spielcharakters der Pokerrunde war, da Glücksspiele in ihrer Tradition sakral zu erklären sind54 und das Geld ein später hinzugekommener und vor allem externer Faktor der inneren Logik eines Ideal-Spiels sei, dessen Anteile sich noch immer in diesem konkreten Spiel als Einzelfall identifizieren lassen. So postuliert Huizinga hier also die Idee eines Ideal-Spiels, dessen Aspekte und Systematiken verschiedenste Bereiche der Kultur durchdringen und die im konkreten Fall zumeist in Mischformen auftreten.55 Spielbegriffe: Homo Ludens – Freiwilligkeit Ein wichtiges Kriterium für das Spiel bildet für Huizinga die Freiwilligkeit: „Alles Spiel ist zunächst und vor allem ein freies Handeln. Befohlenes Spiel ist kein Spiel mehr.“56 Diese Sicht auf das Spiel hat in gängigen Definitionen seine Aktualität kaum eingebüßt.57 Auf Huizingas starke, definitorische Setzung folgen jedoch seine Einschränkungen, dass es „höchstens das aufgetragene Wiedergeben eines Spiels“58 geben könne und dass man im Freiheitsbegriff den biologistischen Determinismus außer Acht lassen müsse, da Säugling und Tier spielten, weil ihr Instinkt es ihnen befehle, was Huizinga als Zirkelbeweis abtut, in dem immer eine Nützlichkeit jeglichen Spielens vorausgesetzt sei.59 Auf die biologisch-psychologischen Perspektiven, dass der Drang zum Spielen auch auf dem genetischen Code liegen möge, soll hier nicht näher eingegangen werden, jedoch wirft das Definitionskriterium der freien Handlung auch am Gegenstand dieser Studie die Frage auf, wie sich das
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Verhältnis von Spiel, Freiheit und Freiwilligkeit in Formen der Partizipation an Rollenspielen der Development-Center-Prozesse und Assessment-Center-Settings wie in anderen Applied-Theatre-Formen des Unternehmenstheaters fassen lässt. 60 Sowohl Georg Schreyögg als auch Michael Hüttler halten zunächst fest, dass diese Formen des Theaters Arbeit darstellen:61 Sie finden während der Arbeitszeit statt, die Teilnahme ist verpflichtend und das Fernbleiben von solchen Veranstaltungen und Verfahren wird genauso geahndet wie jede andere Form von unentschuldigtem Fehlen am Arbeitsplatz. Unfreiwilligkeit ist natürlich zunächst auch eine Haltung des Arbeitnehmers, bei der sich nicht zuletzt auch jeder selbst in seinem Verhältnis zu seiner Anstellung fragen muss, ob er denn freiwillig arbeite oder nur noch aufgrund des ökonomischen Drucks oder des Gesichtsverlusts der Arbeitslosigkeit am Morgen aufstehe. Zudem, vielen Menschen zumindest in den westeuro päischen Sozialsystemen ist die Möglichkeit gegeben, ihren Arbeitsplatz zu kündigen, wenn sie bereit sind, die Konsequenzen zu tragen, ohne dass dies eine existenzielle Bedrohung derselben Drastik bedeuten würde wie Arbeitslosigkeit in den meisten anderen Ländern. Allerdings, mit einer spezifischen Haltung gegenüber der Arbeit oder in verschiedensten denkbaren ökonomischen Zwangslagen kann Arbeit Aspekte des Zwangs haben und unfreiwillig, unter Druck und Drohung des Verlustes des Arbeitsplatzes stattfinden. So kann man auch Rollenspiele der Development-CenterProzesse als unfreiwillige Spiele mit einer unter materiellem Druck erzwungenen Partizipation betrachten.62 Verweigerung eines DevelopmentCenter-Prozesses hat ernste Konsequenzen, nicht zuletzt auch den Verlust des Arbeitsplatzes zur Folge. Ferner ist auch die gamification63 von Arbeitsprozessen – ein weiteres Phänomen der Ludifizierung der Arbeitswelt – in einer Grauzone freiwilligen Handelns im Spiel zu verorten. Natürlich wird in keinem der Beispiele mit vorgehaltener Waffe dazu aufgefordert zu spielen, natürlich kann sich eine Bewerberin, nachdem eine Human-ResourceMitarbeiterin erste Bewerbungspapiere angesehen und entschieden hat, dass ihre Ausbildung und Berufserfahrung ausreichen, diese in ein engeres Auswahlverfahren eines Assessment Centers einzuladen, mit freiem Willen dagegen entscheiden, an diesem teilzunehmen. Allein gibt es hier immer den Aspekt materiellen Drucks: Wird nicht gespielt, wird nicht eingestellt, befördert, Gehalt gezahlt. Allerdings, so legte der Autor dieser Studie bereits an anderer Stelle dar, muss man für derlei Beobachtungen eines Spiels unter materiellem Druck keinesfalls die utopische Sphäre der Kunst verlassen, um in der harten, ökonomischen Realität der neoliberalen Wirtschaftsordnung seine Beispiele heranzuziehen: Auch das Spiel des Schauspielers im Ensemble
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des Stadttheaters stellt zugleich seine Arbeit und seinen Broterwerb dar.64 Auch er kann verklagt werden, wenn er für eine Arbeitsleistung auf der Bühne vertraglich verpflichtet wurde zu spielen und sich aus privaten Gründen – sei es Missfallen der Rolle, unmögliche Arbeitsbedingungen, Streit mit dem Regisseur – weigerte, der Verpflichtung nachzukommen. Im Rahmen der Konferenz Unfreiwillige Spiele – Zur Formung von Subjektivität in einer theatralen Gesellschaft, die das Projekt The Aesthetics of Applied Theatre im Juli 2015 veranstaltete, interpretierte die Kulturwissenschaftlerin Natascha Adamowsky im Rahmen ihres Vortrags Copy – Gedanken zur ludischen Praxis des Nachahmens den Punkt des Spiels als freie Handlung überzeugend, als sie anmerkte, dass es wohl unfreiwillige Spiele geben möge, aber kein unfreiwilliges Spielen.65 Diese Differenzierung lässt analog dazu, wie im ersten Kapitel dieser Studie der Theaterbegriff gefasst wurde, auch das Spiel als eine auf kulturellen Normen und Vorannahmen basierende Verabredung mehrerer Parteien erscheinen. Die Parteien dieser sozialen Interaktion befinden sich in einem Aushandlungsprozess wie einer nicht grundsätzlich explizit ausgesprochenen Vertragssituation – einem Vertrag darüber, dass alle stattfindenden Äußerungen und Handlungen ein Spiel seien, der aber immer fragil ist und auch verletzt und gebrochen werden kann. Die Aspekte des Zwangs im Kontext von Assessment- und Development-Center-Verfahren allerdings ziehen eine weitere Ebene der Unfreiwilligkeit in das Spiel ein – denn auch die vorangehend vom Spiel als Gegenstand zu unterscheidende Haltung des Spielens des Spielers gegenüber dem Spiel ist vorgegeben: Es ist […] ein Zwang des ‚Wollen-Sollens‘, der nicht mehr allein darauf abzielt, dass die gewünschte Arbeitnehmerin für die Firma wertvolle Hardskills besitzt, ausführt oder weiter erlernt, sondern ihre Persönlichkeit und ihre Wünsche mit denen der Corporate Identity des Unternehmens deckungsgleich zu halten hat, um eine planungssichere Zukunft in ihrem Unternehmen zu haben.66 Wer etwa als Führungskraft im mittleren Management eines multinationalen Chemiekonzerns an am Haus initiierten Development Centern nicht teilnehmen wollte, der komme, laut Aussage des Personalreferenten des Konzerns, nicht nur in den Fokus, ob er noch weiter für seinen Posten geeignet sei, die ablehnende Haltung würde als Fehler selbst noch auf dessen Führungskraft zurückfallen, die ihn dann falsch begleitet hätte.67 Dieser Zwang des Wollen-Sollens öffnet in der Spielsituation eine weitere Spielklammer des Spiels im Spiel, denn nicht nur ist es in diesen Kontexten
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obligatorisch, an Spielen teilzunehmen. Es herrscht zudem die Verpflichtung, gegenüber der Teilnahme positiv eingestellt zu sein, selbst wenn dies nicht deckungsgleich mit der persönlichen Haltung ist. Kurz – ist man also enerviert, spielen zu müssen, sollte man tunlichst spielen, dass man dies nicht ist. So wird am Konzept des Spiels deutlicher, was auch in der Theatersituation an sich und gerade im Einsatz des Applied Theatre in der Grauzone zwischen Spiel und brisantem, sozialen Kontext gilt: Das Theater wie das Spiel können sich auch als asymmetrische Machtgeflechte von Partizipierenden mit unterschiedlich starken Positionen darstellen:68 Regelgebende, um die Regeln Wissende, sich den Regeln Ergebende und, wenn die Asymmetrien zu stark ausgespielt werden und Menschen anfangen, zynisch mit Menschen zu spielen: Spielfiguren. Spiel wird in den Kontexten von Unternehmen also ebenso abverlangt, wie der Wille zum Spiel, was beim unwilligen Mitarbeiter eine Konstellation von Zwang, beim konformen die einer suggerierten Handlungsmacht kreiert: Die erschöpfend beschworenen, neoliberalen Tugenden Kreativität, Selbstoptimierung und Selbstermächtigung werden beinahe absurde Kategorien eines komplexen Simulakrums des ‚Wollen-Sollens‘, wenn sie angeordnet werden.69 So kann ein Spiel durchaus befohlen werden, das für einige Teilnehmerinnen als solches wahrgenommen wird, in dem aber andere lediglich als Spielfiguren fungieren und keine geistige Haltung des Spielens einnehmen. Unter dieser Perspektive werden Assoziationen des Spiels mit Leichtigkeit und Spaß zurückgewiesen. Spiel kann also Arbeit sein und erweist sich bisweilen auch als ein Machtgeflecht, das auf seine Beteiligten repressiv einwirken kann.
3 Spielästhetiken Zu einer Ethik des Spiels, wie sie der vorangehende Abschnitt andeutet, äußert sich Huizinga wie folgt: Das Spiel liegt außerhalb der Disjunktion Weisheit – Torheit, es liegt aber auch ebensogut außerhalb der von Wahrheit und Unwahrheit und der von Gut und Böse. Obwohl Spielen eine geistige Betätigung ist, ist in ihm an sich noch keine moralische Funktion, weder Tugend noch Sünde, gegeben.70 Auch diese ganz richtige Beobachtung muss wiederum für das Ideal-Spiel gelten, das sich jedoch in den konkreten Spielen durchmischt mit anderer
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Intention manifestiert. Denn Spiele, vom Ego-Shooter im Kriegssetting über Blackfacing auf deutschen Bühnen und, wie im ersten Kapitel dargelegt, auch der Diskurs um Intervention und Manipulation in den Ernsten Spielen des Applied Theatre sind selbstverständlich Gegenstand einer Debattenkultur darüber, was gezeigt und was gespielt werden sollte, wie es auf die Wirklichkeit referiert und wie es Menschen moralisch und politisch beeinflusst. Allein, diese Kategorien sind nicht jedem Spiel an sich inhärent – abstrakte Brettspiele können, wie Schach, auch auf ein politisches System rekurrieren, in dem der König schützenswert, der Bauer als entbehrlich erklärt wird. Sie können aber auch, wie Halma oder Backgammon, völlig frei von Bezügen zu einer sozialen Ordnung und ihrem moralphilosophischen Selbstverständnis sein. Mit dem Abschluss seiner Beobachtung, dass das Spiel sich aus den Bewertungskategorien des ‚Guten‘ oder des ‚Wahren‘ entziehe, formuliert Huizinga eine entscheidende rhetorische Frage: ,,Sei es folglich auf dem ästhetischen Gebiet zu verorten?“71 Sein Verständnis von Ästhetik exakt darzulegen, bleibt er allerdings weitestgehend schuldig. Es muss zwischen den Zeilen herausgelesen und vielmehr ex negativo rekonstruiert werden. Seine Replik auf die eigene rhetorische Frage lautet: „Hier wird unser Urteil schwankend.“72 Ästhetik als primär dem ‚Schönen‘ zuordnend, erläutert er dennoch im Folgenden, warum das Spiel seiner Sichtweise nach eher mit diesem Feld als dem der Ethik verwoben erscheint. Zwar könne nicht argumentiert werden, dass das ‚Schöne‘ immer mit dem Spiel einhergehe, es habe jedoch „die Neigung, sich allerlei Elemente der Schönheit beizugesellen“.73 Huizinga führt aus, dass ‚primitiven Formen‘ von Spiel von Anfang an Fröhlichkeit und Anmut anhafte, dass die Schönheit des bewegten menschlichen Körpers hier ihren höchsten Ausdruck finde und dass in seinen höheren Formen das Spiel als durchwoben von Rhythmus und Harmonie – „edelsten Gaben des ästhetischen Wahrnehmungsvermögens“ – erscheine.74 Obgleich er sich nicht näher auf den Bezug zu einer ästhetischen Theorie einlässt, lassen diese Umschreibungen dennoch ein klassisches bis romantisches Verständnis von Ästhetik mitsamt einer implizierten Distanz des Analytikers als externem Beobachter und Rezipienten erkennen. Die objektivierte Haltung des Forschers gegenüber seinem Gegenstand kann hier analog zur Position des kontemplativen Betrachters von Kunst in einem Paradigma der Ästhetik des interesselosen Wohlgefallens gelesen werden:75 Die Art, in der Huizinga davon spricht, wie sich das Spiel mit Aspekten des Ästhetischen verflicht, legt offen, dass damit seine Analyseperspektive auf das Spiel gewissermaßen eine außenstehende Zuschauerposition ist, die nicht selbst in das Spiel involviert ist. Spiel jedoch
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amalgamiert als ästhetische Kategorie Sinnliches mit aktiv Gestalterischem. Dies stellt eine Problematik dar, die sich bis in die aktuelle Haltung der theaterwissenschaftlichen Aufführungsanalyse zieht, wenn sie auf partizipatorische Formen wie historical reenactments76, Live action role-playing games77, immersives Theater78 oder eben auch Applied-Theatre-Formen79 angewendet werden soll und dabei Gefahr läuft, Ästhetik aus einer dem Spiel wie der Diegese gegenübergestellten Zuschauerposition heraus zu erklären, die in diesen Formen z. T. zweitrangig oder gar nicht erst vorgesehen ist. Selbstredend beschreibt Huizinga an dieser Stelle kein tatsächlich stattgefundenes Spiel, das er beobachtet hätte, sondern deduziert aus allen Spielen, die er jemals in leiblicher Kopräsenz oder auch nur als Schilderung im Text zur Kenntnis genommen hat. Dennoch wird deutlich, dass er auch für diese verallgemeinerte Aussage über ihre ästhetische Qualität eine analytische Position des Zuschauers wählt, die zwar viele, aber wahrscheinlich nicht einmal die Mehrheit der Spiele überhaupt vorsehen. Die Verflechtung von Ästhetik und Spiel allein aus der Außenperspektive der „Schönheit des bewegten, menschlichen Körpers“80 zu fassen, befördert implizit die Idee ästhetischer Distanznahme und erscheint für eine Erklärung der Ästhetik des Spiels ein unzureichender Ansatz. An anderer Stelle in Homo Ludens jedoch scheint jenseits der knappen Passage über die ästhetischen Qualitäten des Spiels sehr beiläufig zwischen den Zeilen auf, was es mit der Ästhetik aus der Sicht des involvierten Spielers auf sich haben könnte, wenn Huizinga in seinem Versuch einer bündigen Definition des Ideal-Spiels schreibt, dass es eine Handlung darstelle, „die als ‚nicht so gemeint‘ und außerhalb des gewöhnlichen Lebens stehend empfunden wird [Hervorh. d. Verf.] und trotzdem den Spieler völlig in Beschlag nehmen kann“81. Eine Emphase muss dabei auf dem Wort ‚empfunden‘ liegen, das eben keine distanzierte, beobachtende Außenperspektive, sondern eine durchaus affektiv involvierte Innenperspektive in die Kerndefinition der ästhetischen Kategorie Spiel stellt. Das Spiel neigt so ganz im Gegenteil gerade dazu, eine reflektierende, ästhetische Distanznahme zu erschweren, wenn man an ihm beteiligt ist. Die theaterwissenschaftliche Analyse der Assessment-Center-Situation muss somit die Außenperspektive des Auswahlkomitees, wie auch die Innenperspektive der im Spiel involvierten Spielerinnen berücksichtigen, um der Beschreibung der Ästhetik solcher Verfahren gerecht zu werden. Fragt die Aufführungsanalyse der Theaterwissenschaft dabei generell nach ästhetischer Erfahrung in prozessualen, transitorischen Situationen, so hat die Disziplin ebenso wie die Performance Studies auch Methoden und Perspektiven auf die Ästhetik involvierten Mitspielens in Formen der Neoavantgarde und vor allem der Performance-Kunst herausgebil-
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det – exponiert allerdings steht hier immer ein starkes Künstlersubjekt im Mittelpunkt, von dem aus, dem Schamanen im Ritual gleich, sich Aktion und Wirkung über die involvierten Zuschauerinnen hin ausbreitet.82 In der Assessment-Center-Situation nun soll die Wirkmacht des Performers, des spielenden Kandidaten, über seine Zuschauerinnen dagegen eher beschnitten werden. Ferner eröffnet die Ausrichtung der ästhetischen Strategien des Theaters auf die Mitspielerin eine neue Perspektive auf die historischen Texte der Schauspieltheorie, die sich auch etwa in den Debatten um den ‚heißen‘ und den ‚kalten Schauspieler‘ Diderots, Lessings, Saint-Albines und Riccobonis um die ästhetische Innenperspektive des Spielers, wenn auch um seiner Außenwirkung willen, bemüht hat. Die Ko-Autorschaft der Mitspielerin am Spielereignis kann in der Ästhetik des Spiels jedoch bisweilen auch anders und komplexer gelagert sein, als in den Beispielen der Performance-Kunst oder der Schauspielerperspektive einer konventionellen Theatersituation des Guckkastenarrangements. Zwei sehr aktuelle Beispiele für das Problembewusstsein der Disziplin gegenüber der Analyseposition in partizipatorischen Kontexten des Spiels wären die Arbeiten von Jen Harvie und Rebecca Schneider. Schneider stellt in ihren Ausführungen zu historical reenactments fest, dass die Draufsicht der Zuschauerinnenposition auf eine nachgestellte Schlacht des US-amerikanischen Bürgerkriegs durch Reenactment-Truppen nicht die privilegierte Form der Teilhabe an dem Ereignis zu sein scheint – während es gleichzeitig auch nicht von einem einzelnen Künstlersubjekt oder auch nur einer kleinen Gruppe allein kreiert wird.83 Jen Harvie wiederum wählt für die involvierten Mitspieler der Performance-Installationen, die eigene, begeh- und erlebbare Diegesen zu kreieren suchen und zu denen man auch das immersive Theater hinzuzählen könnte, den Begriff prosumer. Der spect-actor Boals, der Zuschauer, der zugleich mitspielt, wird hier zum Konsumenten einer Veranstaltung, deren Wert als unterhaltsames Ereignis er gleichzeitig mit produziert.84 Nur eine Dispositivanalyse, wie sie die vorliegende Arbeit vorschlägt, vermag die Komplexität zu fassen, dass es eine ästhetische Außen- und Innenperspektive beim Spiel sowie ein Machtgeflecht von Blick und Wissen gibt, in dem das involvierende Spiel sich als verwoben mit Ästhetik, Ethik und Politiken manifestiert. So kann eben, obgleich die Feststellung, dass Spiel eine ästhetische Kategorie darstellt, und diese neben biologischen und psychologischen Modellen oder kulturhistorischen Taxonomien des Spiels eine gleichberechtigte Sichtweise auf den Gegenstand darstellt, auch Huizingas ledig-
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lich zwischen den Zeilen durchscheinende Auffassung von Ästhetik hier also nicht unproblematisiert übernommen werden. Zu sehr scheint er sie dem Idealschönen, der ästhetischen Distanznahme und dem interesselosen Wohlgefallen zuzurechnen. Spätestens hier drängt sich die Frage auf, wie Huizingas Theorie des Spiels mit den hier beschriebenen Personalauswahlverfahren – mit Rollenspielen im Assessment-Center-Prozess einhergehen. Ganz abgesehen von Kategorien wie Freiwilligkeit, Moral oder dem Entzug aus dem Urteil ‚wahr oder falsch‘, würde man selbst in einer im Normalfall nicht vorgesehenen kontemplierenden Zuschauerinnenposition keinesfalls in ihrer Beschreibung als erstes auf die Idee kommen zu behaupten, ihnen hafte Schönheit und Anmut an noch sie seien „durchwoben von Rhythmus und Harmonie“85. Dennoch geht auch diese Studie davon aus, dass diese Rollenspiele, wie alle Formen des Applied Theatre mit dem ästhetischen Feld verflochten sind – Ästhetik kann lediglich in diesem Fall weder das Kunstschöne noch das interesselose Wohlgefallen meinen. Bemerkenswert ist dabei, dass ihnen von Seiten der Initiatoren selbst bisweilen die theatrale wie die ästhetische Dimension abgesprochen wird. Die hier beschriebenen, erweiterten Personalauswahlverfahren sind jedoch ganz im Gegenteil ästhetische Dispositive in mehr als einem Aspekt. Spielästhetik und Schauspieltheorie Zunächst einmal geben die in Kontexten von Assessment und Development Centern eingesetzten Seminarschauspielerinnen zu Protokoll, ihr Spiel resultiere in ihrer Ausbildung aus Methoden Stanislawskis, Strasbergs oder auch Meyerholds.86 So lassen sich bereits an einem ganz zentralen Punkt des Rollenspiels in Personalauswahlverfahren Berührungspunkte zu ästhetischen Konzepten der Schauspieltheorie herstellen, die konkret und zweckgerichtet eingesetzt werden, um eine größtmögliche Authentizität der Simulation des Arbeitsalltags für die Kandidatin zu gewähren, sie eben mit der Illusion ihres gewöhnlichen Lebens völlig in Beschlag zu nehmen.87 Unter dem Eindruck des Schauspielstils ihrer Spielpartnerin kann sie beweisen, auch noch unter Stress strategisch denken und ihre Kompetenzen abrufen zu können, oder aber sie wird im Spiel so sehr gefangen genommen, dass Fehlverhalten evoziert wird. Die größtmögliche Authentizität der Simulation des Arbeitsalltags ist dabei allerdings nicht mit einer illusionistischen Totalimmersion gleichzusetzen. Denn die Prüfungskommission versteckt sich nicht etwa hinter einer Spiegelwand, sondern bleibt sichtbar im Gesichtsfeld der Kandidatin sitzen und vor allem Requisiten und Schauplatz erscheinen zumeist recht provisorisch zusammengestellt – ein Imbisstisch wird zum Servicetresen, das Tippen auf einer Computertasta-
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tur wird einfach pantomimisch dargestellt. Was die Kandidaten völlig in das Spiel ziehen und sie in Beschlag nehmen soll, ist die Authentizität in der Darstellung eines typischen Charakters aus ihrem Arbeitsalltag – eine schwierige Kundin oder eine aufsässige Mitarbeiterin. Explizit wird erwähnt, dass bei der Rekrutierung von Schauspielerinnen zur Ausbildung zur Seminarschauspielerin darauf geachtet werde, dass sie „nicht zu groß“88 spielten. Auf Nachfrage wurde im Interview mit Dienstleistern für Seminarschauspiel erläutert, dass einige Darsteller für die Bühne ausgebildet wurden und es nicht schafften, sich für das wesentlich intimere Rollenspiel im Unternehmenskontext weit genug zurückzuhalten, da man nicht noch die letzte Reihe eines großen Theatergebäudes mit seiner Ansprache erreichen müsse, sondern vielmehr von Angesicht zu Angesicht mit dem Adressaten seines Spiels stehen würde und so eine andere Natürlichkeit der leisen Stimme und der Mikromimik gefordert sei. Für das Seminarschauspiel in Schulungskontexten der Potentialanalyse und Development Center wurde zudem erwähnt, dass die Fähigkeit zum fragmentierten Spielen wichtig sei. Schauspielstile wie die Strasberg-Methode eigneten sich dabei explizit zum schnellen Einfinden und wieder Ablegen der Rolle, wie es etwa auch für den Film- und Fernsehdreh nötig sei.89 Schauspiel in diesen Kontexten bedeutet eben das Darstellen eines Charakters, der in nicht zwangsläufig chronologisch abgedrehten Szenen auftritt, so dass die Situation kaum erlaubt, permanent in der Rolle zu verbleiben. Auch Schulungsseminare im Unternehmenskontext leben davon, dass die Spielszene unterbrochen und Verhalten korrigiert wird, dass das Spiel angehalten und variiert wird oder die Seminarschauspielerin ein kurzes Feedback an die Teilnehmerinnen gibt, um dann schnell ihre Rolle bei gleichbleibender Qualität der Darstellung wiederaufzunehmen. Auf die Authentizität der Darstellung, die auf ästhetische Strategien verschiedener Schauspielmethoden und Stile zurückzuführen ist, wird gerade im Assessment-Center-Prozess so viel Gewicht gelegt, dass es bei einigen Anbietern für Seminarschauspiel als essentiell angesehen wird, dass der Prüfungskandidat auf keinen Fall vor Ablauf des Rollenspiels auf den Schauspieler außerhalb seiner Rolle trifft, um die Illusion der Authentizität des Rollencharakters nicht zu brechen. Die Ästhetik eines authentischen Charakterentwurfs etwa nach den Methoden Strasbergs oder Stanislawskis wird hier zur pragmatischen Grundlage idealer Testbedingungen. Aus der Perspektive des Mitspielers des Seminarschauspielers ist die Ästhetik dieser Spiele eine der von Helmar Schramm so genannten „Wirklichkeit des Möglichen“90 – eine Simulation einer Situation, die in der Realität so stattfinden könnte und die durch ihre Ästhetik in den provozierten Reaktionen Kategorien von fiktiv und real kollabieren lässt.91
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Spielästhetik, Katharsis und bleed Weiterhin werden in Development Centern verschiedene ästhetische Ansätze des Theaters von ihrer politischen oder therapeutischen Wirkungsabsicht entkernt und in diesen Spielen zur Auswahl- und Menschenformung eingesetzt, die sich als Who’s Who der avantgardistischen politischen Theaterästhetik lesen lassen und eben auf die jeweils spezifische Weise jene vorangehend erwähnte ästhetische Distanznahme zugunsten der Aktivierung oder Involvierung der Zuschauerin einzureißen versuchten: ästhetische Theatermodelle Boals, Brechts, Johnstones und Morenos finden, wie bereits angemerkt, explizit im Theater in Unternehmen ihre Anwendung.92 Konkrete Theaterästhetiken sind hier Versatzstücke in der dispositiven Anordnung zur Menschenformung und Ausgangspunkt ihrer wirkungsästhetischen Versprechen. Boals wirkungsästhetisches Konzept etwa forciert die Dynamisierung von Geschehen und den Abbau von systemischen Blockaden, was sich mit den Interessen einer Wirtschaftslandschaft deckt, die Selbstoptimierung, Innovation und Change-Management-Prozesse zur Strategie erklärt hat, um am globalen Markt kompetitiv zu bleiben.93 Es mag dabei eine pragmatische Konsequenz der Erkenntnisse der Human-Relations-Bewegung sein, dass, wenn intersoziale und affektive Aspekte des Miteinanders der Gemeinschaft im Unternehmen ganz reale, ökonomische Auswirkungen bedingen, ein Werkzeug zur Menschenformung gefunden werden musste, das so invasiv wie möglich und dabei so diskret wie möglich in Erscheinung tritt. Es musste hier immerhin eine für die Mitarbeiterin akzeptable Balance zwischen Intervention und Freiwilligkeit gehalten werden. Exakt diese Eigenschaft der Ernsten Spiele umschreibt Kennedy Chinyowa im dieses Kapitel einleitenden Zitat zum Applied Theatre, wenn er postuliert: „[P]lay’s seriousness is often masked and disguised.“94 Allein, dass die Wirkungsversprechen auf dem möglichen, aber schwer nachweisbaren ästhetischen Konzept von Katharsis basieren, muss, wie im ersten Kapitel dieser Studie bereits angedeutet, skeptisch betrachtet werden. Michael Hüttler etwa erörtert in seiner Studie zum Unternehmenstheater die wissenschaftliche oder auch selbstreflexive Kritik an den Wirkungsversprechen der Katharsis durch verschiedene Anbieter des Unternehmenstheaters.95 Muss dabei zunächst Morenos therapeutisches Konzept der Handlungs- und Gruppenkatharsis herangezogen werden, um die aristotelische, wirkungsästhetisch auf den individuellen Zuschauer ausgerichtete Kategorie auch für partizipatorische Formen und spielende Mitarbeitergruppen fruchtbar zu machen,96 so wird das ohnehin stets wissenschaftlich diffuse und anders interpretierte Ursprungskonzept weiter verwässert, wenn der Modul-Charakter von Development Centern wie der Workshop-Charakter von Applied-Theatre-Projekten berücksich-
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tigt wird. Das Konzept von Katharsis in solchen prozessualen Kontexten würde sich hier als wirkmächtiges ästhetisches Konzept in gestückelten, sich akkumulierenden Dosierungen manifestieren und sich zum einen weit vom Ursprungskonzept zum anderen nur noch rein spekulativ beschreiben lassen. Wie im ersten Kapitel erläutert, geht mit den Assessment und Development Centern allerdings einher, dass sich die Mitspielerin im Assessment-Center-Prozess wie im Feedbackgespräch, bei Kursen und der Lektüre von Ratgebern zur Vorbereitung auf solche Prozesse, wie im Nachgang im Arbeitsalltag in einer Form von Fremd- und Eigenbeobachtung in Ich und die angestrebte Rolle des Ideal-Ichs spaltet und angehalten ist, diese Spaltung – im Jargon der Unternehmenskultur Entwicklungsfeld genannt – in Annäherung an das Ideal-Ich wieder zu schließen. Hierbei scheint es sich allerdings um Rahmenüberschreitungen zu handeln, die im theaterwissenschaftlichen Vokabular eher auf der Ebene von Inszenierung als der von Aufführung zu verorten wären. Derlei Entgrenzungsphänomenen von Spiel und Nicht-Spiel, der Übernahme von eigenen Persönlichkeitsmerkmalen und eigenem Verhalten in die Rolle und der umgekehrten Bewegung des Diffundierens von Anteilen der Rolle in den Alltag wurde, von der Theaterwissenschaft kaum beachtet, im Kontext von Live action role-playing games (Larp) ein eigener Terminus gewidmet, der ein aufführungsübergreifendes, wirkungsästhetisches Phänomen der involvierten Mitspielerin jenseits von Katharsiskonzepten beschreibt. Dieser könnte als Arbeitsbegriff auch für die Kontexte des immersiven Theaters und eventuell für die des Applied Theatre fruchtbar gemacht werden: bleed97. Mit bleed-in bezeichnen etwa Rollenspieler des sogenannten Nordic Larp Tendenzen, dass kognitive, aber auch affektive Aspekte ihrer eigenen Persönlichkeit ihre Rollengestaltung beeinflussen, während im gegenläufigen Phänomen bleed-out kognitive wie affektive Aspekte der Rolle nach einem langen prozessualen Spiel, das mit zeitweiligen Unterbrechungen über mehrere Tage andauert, kritisch in den Alltag eindringen.98 Das Phänomen scheint in der Praxis dieser partizipatorischen Spielform so verbreitet, dass in den Kontexten des Nordic Larp bisweilen sogenannte debriefing-Gespräche im Nachgang des Spiels durchgeführt werden, um die irritierenden, negativen Konsequenzen des bleed-out zu minimieren.99 Beim Diskurs um die Ästhetik der partizipatorischen Form des Nordic Larp handelt es sich wohlgemerkt nicht lediglich um den in sich geschlossenen Technolekt einer Fankultur, sondern, wie die Arbeiten Gerke Schlickmanns zeigen, durchaus um einen Beitrag zur theaterwissenschaftlichen Debatte um partizipatorische Formen, die im skandinavischen Raum unter einem Kunstparadigma diskutiert werden und explizit Verwandtschaft zu den Ästhetiken
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Boals und Morenos aufzeigen können.100 Es muss dabei betont werden, dass sich in diesem Konzept die im Spiel angenommene Rolle in der Regel wesentlich von der Persönlichkeit im Alltag unterscheidet, während in den hier beschriebenen Prozessen des Sich-selbst-Spielens Ich und Ideal-Ich noch weitaus schwieriger zu trennen sind. Dennoch: Wenn für das Rollenspiel im Potentialanalyseverfahren zunächst ein Ideal-Ich entworfen wird, das auf der Persönlichkeit im Arbeitsalltag basiert und späterhin das im Rollenspiel neu erlernte und korrigierte Verhalten wie auch die geistige Haltung in den Arbeitsalltag eindringen sollen, erscheint das wirkungsästhetische Konzept des bleed plausibler auf prozessuale, partizipatorische theatrale Formen mit Workshop-Charakter anwendbar als Konzepte von Katharsis. Spielästhetik, Warenästhetik und relational aesthetics Nicht zuletzt bleibt aber speziell das Assessment Center auch ein aisthetisches101 Dispositiv, eine Blickanordnung, in der der Mensch in Erscheinung tritt, sich zugleich präsentiert wie auch stellvertretend für eigentliche Handlungen repräsentiert und diesem In-Erscheinung-Treten vorgängig versucht hat, sich selbst nach einem Idealbild hin zu modellieren, und dort weiter modelliert (oder aber ausselektiert) wird. Der Servicemitarbeiter aus dem im vorangehenden Kapitel analysierten Beispiel soll eben den Kunden nicht irgendwie beraten, sondern sich einem Idealbild der Repräsentation der Firma nach außen hin annähern: Im Erscheinungsbild, im Habitus wie in Worten, von der Frisur über die Kleidung hin zur Körperhaltung, Stimmlage, Gestik, Mimik und der Wortwahl. Dies stellt einen Ästhetisierungsprozess des Subjekts selbst par excellence dar – es ist lediglich keiner des Kunstschönen, der Distanznahme oder des interesselosen Wohlgefallens. Er folgt vielmehr derselben Logik, wie der hauseigene Wasserkocher eben nicht nur ein formloses Ding ist, das seine Funktion – eben das Wasserkochen – rein zweckorientiert vollführt. Um weiteren Kaufanreiz und Alleinstellungsmerkmale im Heer der Wasserkocher zu generieren, hält die Industrie das Design der Dinge neben ihrer Funktion als Verkaufsargument bereit und so ist der Wasserkocher nicht zuletzt von Industriedesignern entworfen, die Zweck und Ästhetik in einem Produkt vereinen. Die ästhetische Kategorie, die bei den Mitarbeiterinnen im Assessment- oder Development-Center-Prozess greift, gehorcht ähnlichen Gesetzmäßigkeiten wie eine Art der theatralen Warenästhetik der ‚Ware‘ Human Resources: Zweck und Form vereinen sich hier im alle Auswahlverfahren durchlaufenen und alle theatralen und spielerischen Fortbildungen internalisierten idealen Mitarbeiter.102 Zwar würde niemand – zumindest ohne stark poetische Veranlagung oder aber sarkastischer Ader – von Schönheit und
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Harmonie im Auftreten der gut geschulten Servicekraft sprechen, letztendlich gehorcht sie jedoch in Abgrenzung zu einem Mitarbeiter, der den von der Firma vorgegebenen Idealbildern diametral entgegenläuft – einem unfreundlichen, ungepflegten Kundenberater – ähnlichen Gesetzmäßigkeiten. Es sei hier nur als Gedankenspiel vermerkt, was diese Beobachtung angewandt auf andere Formen und Felder des Applied Theatre in anderen Kontexten bedeuten mag, die in der sogenannten Dritten Welt ein westliches Bild von Subjektivität normalisierend durchsetzen, um Friedensarbeit zu leisten oder im eigenen Staat durch die Maschen gefallene Individuen durch einen Prozess der Ästhetisierung des Habitus und Selbstausdrucks wieder in die Gesellschaft integrieren möchten – eine Art übergriffiges, neoliberales Vexierbild von Nicolas Bourriauds Konzept der „relational aesthetics“103, der Kunsttheorie einer Ästhetik, die sich statt der Distanznahme und Kontemplation des Schönen im interesselosen Wohlgefallen dem sozialen Kontext und den Beziehungen der Menschen untereinander annimmt. Bourriaud schreibt dabei aus der Disziplin der Kunstgeschichte heraus und es muss aus theaterwissenschaftlicher Sicht, wie aus der Perspektive der Ludologie heraus, betont werden, dass für diese Disziplinen die Gemeinschaftsstiftung der partizipatorischen, ästhetischen Erfahrung kein wirkliches Novum darstellt. Dennoch ist der Vergleich der Ästhetiken des Applied Theatre zu den relational aesthetics in einem entscheidenden Punkt sehr interessant: Nicolas Bourriaud, der die partizipatorischen Kunstereignisse seiner ästhetischen Theorie einführend explizit als Spiele definiert,104 entwirft sein Konzept der relational aesthetics aus der Perspektive der 2000er Jahre und macht dabei den Versuch, den – nach Bourriaud – vorherrschenden und an die klassische Avantgarde anknüpfenden Diskurs über die Kunstströmungen der 1990er Jahre als veraltetes Paradigma zu identifizieren105 und diverse partizipatorische Kunstprojekte als kompensatorische Antwort aus einem Mangel der Gegenwart an sozialen Beziehungen außerhalb kapitalistischer Warenzirkulation – dem social bond als kapitalisiertem Artefakt106 – zu erklären.107 Hat auch die Theaterwissenschaft keinen Mangel im Hinblick auf eine ästhetische Theorie einer gemeinschaftsstiftenden ästhetischen Erfahrung, da dieses Verständnis von Ästhetik am Anfang des 20. Jahrhunderts quasi Kern und Stunde Null der Disziplin an sich darstellte, so ist doch der Gedanke einer sozial-kompensatorischen Erklärung für die aufkommenden Phänomene von partizipatorischen Kunstformen auf interessante Weise mit der Verbreitung und Diskursivierung der Strukturen des Applied Theatre etwa zur selben Zeit zu koppeln. Westliche Staaten und Gesellschaften müssen etwa zu diesem Zeitpunkt im neoliberalen System einen Mangel herausgebildet haben, den partizipatorische Ästhetik zu kompensieren suchte.108
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Anhand Claire Bishops Ausführungen zur Kulturpolitik der New-LabourRegierung zwischen 1997 und 2010 lässt sich dieser Zusammenhang zu mindest für den Raum Großbritannien herstellen.109 Diese Analyse will sich keinesfalls unter Bourriauds kunsttheoretisches Paradigma stellen, denn es muss nicht immer ausschließlich die Kunst im Spiel sein, wenn die Rede vom Theater ist. Bourriaud beschreibt, wie sich die künstlerische Sphäre aus einem Mangel des Staats im kapitalistischen System dem social bond annimmt. Anknüpfend an Bourriaud beobachten Claire Bishop und Jen Harvie, dass der neoliberale Abgrund durchaus in die rahmenden politischen und ökonomischen Strukturen der Kunst zurückstarren konnte.110 An den hier thematisierten Ernsten Spielen nun dagegen zeigt sich, wie diese Expertise der Kunst im Umkehrschluss stets wieder kapitalisiert und die Techniken aus der Sphäre der Kunst und des Sozialen in den Bereich der Ökonomisierung rückübertragen werden können, sobald ihr Mehrwert attraktiv wird. In der Wechselbeziehung von partizipatorischen, sozialen Kunstprojekten und Applied Theatre allerdings eine klare kausale und teleologische Beziehung herzustellen, muss Spekulation bleiben. Auch Huizinga nun attestiert rund sechzig Jahre vor Bourriaud dem Spiel, dass es Gemeinschaftsverbände ins Leben rufe.111 Dieser Punkt aus seiner Definition des Spielbegriffs trifft in verschiedenen Facetten auf das Rollenspiel erweiterter Personalauswahlverfahren zu: Auf der Mikroebene der Beobachtung konstituiert sich zunächst in der Durchführung des Assessment Centers eine Gemeinschaft aus Spielenden und Spielleitern, die die Qualität des Spiels bewerten. Im Einzel-Assessment wird durch die Spielleiter (Managerin der Personalabteilung, eventuell externe ABO-Psychologen, eventuell Gleichstellungsbeauftragte) eine Spielsituation inszeniert, angeleitet und durchgeführt, in der eine Bewerberin mit einer Spielpartnerin (entweder eine Laienschauspielerin aus der Firma oder eine professionelle Seminarschauspielerin) eine Situation aus dem zukünftigen Arbeitskontext zu lösen hat. Die Gruppe der Spielleiter und Spielenden konstituiert sich nur für den Rahmen des Spiels. Gruppenassessments verlangen zudem das Spiel mehrerer Bewerberinnen miteinander. Hier kommt es auch zu abstrakteren Aufgabenstellungen, die auf intersoziale Gruppendynamik abzielen, wie etwa: Sie sind zusammen auf einer einsamen Insel gestrandet, bitte diskutieren Sie ihr Vorgehen zum Besten der Gruppe! In diesen Konstellationen wird eine größere Gemeinschaft von Spielenden in ihrer Sozialdynamik untereinander beobachtet, um Teamfähigkeit, Empathiefähigkeit, strategisches Denken und Führungsstärke zu beobachten. Wer verhält sich gereizt, wenn seine
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Vorschläge ignoriert oder überstimmt werden, wer wird zur Wortführerin, wer verhält sich passiv? Nicht zuletzt ist auf der „Mesoebene“112 der Unternehmen und Institutionen das Assessment Center aber auch als theatrales Aufnahmeritual in eine andere Gemeinschaft von Spielenden zu beschreiben, als die konkrete Gruppe aus Prüfern und Kandidaten eines erweiterten Personalauswahlverfahrens. Betrachtet man, wie vorangehend angedeutet, auch den Arbeitsalltag diverser Abteilungen von Theatralitätsphänomenen und Inszenierungsstrategien durchwebt, so erscheinen die erweiterten Personalauswahlverfahren als eine Proberunde des Spiels, die sicherstellt, dass die potentielle Mitspielerin das Spiel beherrschen wird. Besteht sie den Test, wird sie in die Gemeinschaft der Spielenden der Mesoebene aufgenommen. Jene Gemeinschaftsverbände, so heißt es in Huizingas Spieldefinition weiter, umgäben sich gerne mit einem Geheimnis.113 Roger Caillois geht auf diesen Punkt Huizingas explizit ein und widerspricht, dass die meisten Spiele doch ganz im Gegenteil offen zutage träten. Würde das Spiel sich allzu sehr dem Geheimnis widmen, so Caillois, würde es Anteile der Institution oder des Sakralen annehmen.114 Um Huizingas Argument dennoch Raum zu geben, kann man jedoch postulieren, dass es in diversen Spielen eine Art Wissen gibt, dass nicht frei distribuiert wird. Eine Gemeinschaft von Spielenden kann Nicht-Spieler ausschließen, indem sie die Regeln ihres Spiels für sich behalten. Weiterhin kann eine Gruppe von Spielern mit unterschiedlichem Vorwissen und Kenntnissen über die Regeln des Spiels, durch dieses Geheimnis asymmetrische Machtrelationen schaffen – etwa über die Beschaffenheit des Spiels, die Materialität, die zur Illusion nötig ist oder über Regeln, die im Spiel weiterführen. Genau so etwa fungieren die professionellen Mitspieler im immersiven Theater der Gruppe SIGNA, die mehr als ihre Besucher/ nicht-professionellen Mitspieler darüber wissen, nach welchen Regeln man in ihrem Narrativ voranschreitet und wann man welche Reaktionen bei den professionellen Spielpartnern evozieren kann, um damit einen Seitenarm der Handlung zu öffnen. Gleichsam verbergen sie die Hinterbühne und damit illusionsbrechende Indikatoren der Gemachtheit der Diegese in ihrer immersiven Ästhetik.115 Ähnliches wurde in der Apparatustheorie der Filmwissenschaft auch über den Projektor des Lichtspiels geschrieben116 und lässt sich auch vom Programmiercode der Engine eines Computerspiels postulieren. Kenntnis von der Funktion eines Spiels kann ein Geheimnis sein, mit dem Kräfteverhältnisse zwischen Spielern einhergehen – im spielerischen Test der Personalauswahlverfahren gibt es deutliche Machtrelationen aller am Spiel beteiligten: Spielleiterin und die machtvolle, steuernde Seminarschauspielerin als aktive Mitspielerin auf
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der einen Seite, am anderen Ende die mitspielende Kandidatin, die, selbst gut vorbereitet, während des Spielverlaufs nur spekulieren kann, welche Kompetenzen an welcher Stelle von ihr abgeprüft werden und worauf sie besonderes Gewicht legen sollte. Transparenz über die Abläufe werden um der Wirkung Willen im Nachgang durch das Feedback-Gespräch gewährt. Dafür, dass die inneren Mechanismen des Spiels um die Initiation in die Firma bis zu einem gewissen Grad Geheimnis bleiben sollen, spricht nicht zuletzt auch die beinahe absolute Abschottung vor externer Beobachtung, die während der Feldforschung dieser Studie offenbar wurde. Allerdings liegen die Gründe dafür genauso sehr im Spielcharakter wie in nicht-ludischen Aspekten: Mehraufwand, Datenschutz, Skepsis vor linksakademischer Kritik und mangelnder Nutzen für die eigene Sache, jedoch auch die Erkenntnis, dass die Mitarbeiter sich im Spiel selbst entblößen und nicht durch einen zusätzlichen Zuschauer irritiert werden sollen, oder die Besorgnis, dass der Spielverlauf selbst noch nicht repräsentativ für die Prozesse am Haus beobachtet werden könnte, da das Verfahren neu implementiert wurde und noch der Feinjustierung bedarf. Jene Gemeinschaftsverbände, die sich gerne mit dem Geheimnis umgäben, würden sich weiterhin – nach Huizingas Definition des Spiels – auch gerne durch Verkleidungen als anders von der gewöhnlichen Welt abheben.117 Ein schwer aufrecht zu erhaltenes Postulat – sowohl für Assessment Center als auch für eine Partie Schach. Nun spricht Huizinga, genauso wie im Fall des Geheimnisses, aber auch von ‚gern‘ – also keiner obligatorischen Bedingung – und hat hier sicherlich einen klassischen Theaterabend, Sport oder den Karneval im Sinn, weniger das Karten- oder Brettspiel. Lediglich kann wohl beobachtet werden, dass durch Bewerberinnen eine besondere Emphase auf den Spiel- wie auf den Bewerbungsrahmen insofern gelegt wird, als dass man für ein Assessment Center sicher seine Kleidung wie auch Frisur, Rasur, Make-Up, Zustand der Fingernägel sorgfältig prüft. Sowohl overdressed als auch underdressed sind zu vermeidende Kleidungsstile – Bewerbungsratgeber gehen explizit auf diesen Aspekt ein.118 Ein möglichst gutes Außenbild ist eine unausgesprochene Verabredung in der Bewerbungssituation und führt zu Rückschlüssen auf ‚das gewöhnliche Leben‘ jenseits der Emphase des Rahmens. Dennoch ist die Verkleidung keine deutliche Zäsur, sondern eher ein Versuch der Anpassung wie der authentischen Inszenierung des Ichs unter Idealbedingungen und kann sich unter Umständen auch in keinem Detail vom Kleidungsstil im nicht-ludischen Einstellungstest, im Arbeitsalltag oder auch in der Freizeit unterscheiden. Bemerkenswert ist hier vielleicht nur, dass die Corporate Identity einer Firma an sich – außerhalb der Bewerbungssituation und auch jenseits einer
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explizit benannten Arbeitsuniform oder Arbeitsschutzkleidung – einen bestimmten Kleidungsstil hervorbringen kann, der sich vom ‚gewöhnlichen Leben‘ abzuheben versucht – Anpassung durch Kostüme oder Anzüge wie auch das Vorschreiben bestimmter Farben sind nicht ungewöhnlich für Theatralitätsphänomene aus dem Firmenalltag. Eine Kuriosität bildete dabei das im Interview geschilderte business-is-black-Phänomen einer Call-Center-Service-Abteilung:119 War den Mitarbeitern legere Kleidung in der Filiale des Outsourcing-Kooperationspartners eines multinationalen Internethandel-Unternehmens grundsätzlich gestattet, so wurde mit bis zu einer Woche Vorlauf mit einer kurzen E-Mail dazu aufgefordert, seinen Kleidungsstil auf der Arbeit zu einem bestimmten Datum anzupassen: Der Betreff der E-Mail lautete dabei stets „business is black“, der Inhalt war knapp formuliert: „Am Montag, dem 24.09.2014: business is black!“ Hintergrund war, dass zu diesem Zeitpunkt ein CEO des Unternehmens oder eines wichtigen Outsourcing-Geschäftspartners durch die Großraumbüros der Firma geführt wurde. Um ein besonders geordnetes, ästhetisches Außenbild der Call-Center-Service-Abteilung zu generieren, deren Mitarbeiter ja im Normalfall nur durch ihre Stimmen gegenüber Kunden auftraten und so durchaus auch in informellen Jogginghosen Beratungsgespräche durchführen konnten, war „business is black!“ der Code dafür geworden, sich zum besagten Datum eine schwarze Hose und ein schwarzes Hemd anzuziehen. In der Abteilung mit mehreren hundert Mitarbeiterinnen des Großraumbüros kam es selbstverständlich dabei auch zu Versäumnissen der „business is black“-Anweisung. Der Mitarbeiter im geschilderten Fall erlebte durch sein rotes T-Shirt dabei einen Spießrutenlauf durch die hämischen Reihen seiner Kollegen, die sich als uniforme und regelkonforme Gruppe selbst bestätigten und feierten. Spielästhetik, Rahmen und Abgrenzung vom Nicht-Spiel Das vorangehend beschriebene Konzept einer steuerbaren Subjektivation durch eine spielerische ästhetische Form liefert somit zunächst auch in einem größeren Kontext Erklärungsmodelle, warum sich eine so reglementierte Sphäre wie die der Wirtschaft Rollenmodelle und Innovationsschübe aus einem so kontingenten Bereich wie dem des darstellenden Spiels verspricht. Mit dem Theaterbegriff wird dabei die Kontingenz, der offene und nur bedingt zu steuernde Prozess, assoziiert. Das Spiel, nicht im Sinne des play sondern des regelbasierten game, weist wiederum Aspekte des reglementierten Ausgangs und der gedrosselten Kontingenz auf. Im Folgenden soll es nun darum gehen, dass mit dem Spiel des ‚Als-ob‘, der ‚zweiten Welt‘ der Diegese in einer Simulation Situationen durch Äs-
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thetik genau so gesteuert und getestet werden, dass der Spielrahmen exakt und auch nur den Anteil innerhalb dieses Spielrahmens schützt, der für das Unternehmen von Interesse ist. Man bedenke, die Verminderung der Konsequenz des Handelns durch das Spiel eines Assessment Centers betrifft nicht die Bewerbungssituation der spielenden Kandidatin. Wohl aber können Vertreter des Unternehmens vor Einstellung, Bezahlung und Probearbeit die Außenwirkung der Bewerberin an ihrer zukünftigen Stelle in der Simulation austesten. Erweist sie sich etwa im Umgang mit Kunden als katastrophal unfähig, wird sie die Konsequenzen deutlich spüren, da ihre Bewerbung scheitert, während für das Unternehmen umgekehrt aber kein Schaden entstanden ist. Wie also lässt sich dieses Verhältnis von Spiel zu Nicht-Spiel aus ludologischer Perspektive beschreiben? Eine bei Johan Huizinga wie auch in vielen anderen Spieltheorien wiederkehrende Denkfigur ist es, dass Spiel sich von anderen Tätigkeiten abgrenzen lassen muss. Ist es dabei ebenso erschöpfend, wie Kunst oder Theater zu definieren, mustergültige Kriterien für das Spiel aufzustellen und Phänomene der geisteswissenschaftlichen Beobachtung daran so exakt einteilen zu wollen, wie in der Mengenlehre, bleibt es doch interessant, welche Konzepte dem Spiel in den jeweiligen Theorien als abgrenzendes Antonym entgegengestellt werden. Überall – so Huizingas Versuch, sich von den biologistischen Erklärungsmodellen des Spiels zu lösen – trete demjenigen, der den Blick auf die Funktion des Spiels richtete, dieses als eine bestimmte Qualität des Handelns entgegen, die sich vom ‚gewöhnlichen Leben‘ unterscheide.120 Das Andere – der Normalfall von dem Huizinga das Spiel differenziert – wird bei ihm also das ‚gewöhnliche Leben‘, an anderer Stelle auch die „gewöhnliche Welt“121 genannt. Diese Setzung muss zunächst im Zusammenspiel mit den anderen von ihm genannten Definitionskriterien betrachtet werden, denn eine solche Abgrenzung von Spiel und gewöhnlichem Leben stünde schon allein für sich genommen auf tönernen Füßen: Das gewöhnliche Leben – und Huizingas Analyse des Ursprungs der Kultur im Spiel ist bestes Beispiel dafür – ist durchdrungen von Ereignissen, Interaktionen und Produkten, die entweder Aspekte des Spiels in sich tragen oder explizit Spiele genannt werden. Keinesfalls ließe sich ohne weiteres behaupten, man hätte etwas gänzlich Ungewöhnliches im Leben getan, wenn man ein Videospiel gespielt, im Fernsehen ein Fußballspiel verfolgt oder einen Spieleabend mit Freunden veranstaltet hätte. Mehr Aufschluss über die Relevanz der Perspektive gibt eine andere, weniger absolut formulierte Passage Huizingas, in der er erneut einschränkt, dass das Spiel als außerhalb des gewöhnlichen Lebens empfunden werde.122 Wiederum sind hier Forschungsperspektive, Perspektive des Adressaten der ästhetischen Erfahrung des Spiels und präzise Definition von entschei-
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dender Bedeutung: Objektiviert Huizinga an einer Stelle fraglich und auf vielfältige Weise anfechtbar, dass Spiel außerhalb des gewöhnlichen Lebens stehe, so ist seine Feststellung, dass Spiel durch den Spieler als außerhalb des gewöhnlichen Lebens stehend empfunden werde, eine entscheidende Qualifizierung der ästhetischen Erfahrung seiner Teilnehmerinnen. Die Abgrenzung von Spiel und Nicht-Spiel ist mit der Erkenntnis einer subjektiven, ästhetischen Perspektive der Spielerin dabei keinesfalls erschöpfend erklärt. Soziologische, ethnologische und linguistische Modelle, wie das in der Theaterwissenschaft häufig gebrauchte Konzept von Liminalität nach Victor Turner,123 des metakommunikativen Rahmens nach Gregory Batesons Spieltheorie124 oder der Modulation von Handlung in zeitlichen Klammern in Goffmans Rahmenanalyse125, vertiefen das Verständnis davon, wie sich Spiel von Nicht-Spiel abhebt bei weitem besser, als die Setzung vermag, es grenze sich in der Empfindung vom gewöhnlichen Leben ab. Was etwa die Kommunikationsmodelle der Transponierung von eigentlichen in uneigentliche Handlungen und Aussagen jedoch nicht leisten, ist, die Rolle der Ästhetik in diesen partizipatorischen Konstellationen zu beleuchten. Dass Spiel eine Handlung sei, die auf der Ebene ästhetischer Erfahrung als außerhalb des gewöhnlichen Lebens stehend empfunden werde, macht also einen erheblichen Unterschied zu dem Postulat aus, Spiel stehe außerhalb des gewöhnlichen Lebens. Spiel ist eben nicht zuletzt auch ein kommunikativer Vertrag zwischen den Beteiligten, es als solches zu betrachten, eine Einsicht, die zu den bereits angedeuteten Problematiken der Verunklarung dieses Vertrags führt. Denn konsequenzvermindertes Spiel und sein Außen erscheinen bei genauerer Betrachtung an genauso vielen Stellen klar abgrenzbar wie an anderen – dies wird ja nicht zuletzt gerade durch Huizingas Studie deutlich – komplex ineinander verwoben. Spiele haben Anteil am gewöhnlichen Leben, es gibt klare Abgrenzungen von Spiel und Nicht-Spiel, wie An- und Abpfiff einer Fußballpartie, genauso ließen sich aber graduelle Abstufungen, Grauzonen und subjektive Auslegungen identifizieren – man denke nur an das Setting von Boals Unsichtbarem Theater, das den Umstehenden nicht mehr den Kontext liefert, dass es sich um eine Spielszene handelt,126 der sie beiwohnen. Eine während eines Gastvortrags an der Freien Universität Berlin beschriebene Aktion politischen, angewandten Theaters etwa inszenierte in einem Wiener Kaffeehaus eine Szene rassistischer Beleidigung, die mehrere Kunden involvierte, bei der verschiedene Schauspieler – das Opfer, die Täterin und diverse andere ‚gestellte Cafégäste‘ mit unterschiedlichen Haltungen zu dem gespielten Konflikt – sich unter die anwesenden Besucherinnen mischten.127 Ganz im Sinne des Unsichtbaren Theaters sollte die Szene die umstehenden, unfrei-
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willigen Zuschauerinnen aktivieren und damit durch Spiel direkt in politisch-gesellschaftliche Realität eingegriffen werden. Dabei perpetuieren die Initiatoren einer solchen Szene eine Problematik, die so sonst an dieser Stelle nicht aufgetaucht wäre mit bestem Wissen und Gewissen, dass sie so hätte passieren können, und konstruieren damit in der spezifischen Situation aber zugleich die Realität eines politischen Klimas, das sie eigentlich opponieren möchten, um geistige Mitstreiter zu rekrutieren. Obgleich einer solchen Anwendung des Theaters im Sinne Boals natürlich ein humanistischer und sozialer Gestus zugesprochen werden kann, muss man sich die Frage stellen, wo – um seiner politischen Intention subversiver, liberal-humanistischer Aufklärung entkernt – dann die Grenze zur Manipulation und zum Kulminationspunkt der sogenannten False-Flag-Aktion ist. Boal sprach sich vehement dagegen aus, dass seine Methoden in anderen Kontexten als den politischen Rahmen, die er selbst setzte, zur Anwendung gelangten.128 Das hat das Unternehmenstheater allerdings nicht daran gehindert, dies dennoch zu tun und etwa sein Forumstheater mit großem Erfolg in Schulungs-Workshops für das Management anzuwenden. Das Modell des ‚Mystery Shopping‘, ein Tool des Quality Managements und der Selbstkontrolle des Dienstleistungsbereichs von Unternehmen, zeigt ebenfalls Züge dieser Vermengung vom unsichtbaren, wahrheits- und realitätskonstituierenden Spiel mit dem Arbeitsalltag. Geschulte Testkäuferinnen – manchmal auch Testanruferinnen – prüfen dabei Mitarbeiterinnen im Service-Bereich eines Unternehmens anhand eines Kriterienkatalogs und treten als einfache Käuferinnen oder anspruchsvolle Kunden mit komplexen Problemstellungen oder Beschwerden auf. In Wirklichkeit jedoch sind sie Schauspielerinnen im Dienste des Arbeitgebers, die Daten zur Qualitätssicherung über den Servicemitarbeiter erheben und somit ebenfalls durch Spiel die soziale Realität des Arbeitsalltags zum Wohle und zur Kapitalsteigerung des Unternehmens formen sollen.129 Und nicht zuletzt wird das „self-defining-feedback“130 nach einem Potentialanalyseverfahren mit Seminarschauspiel anhand einer Spielszene von einem Schauspieler – manchmal sogar noch in der Rolle – gegeben. Dieses Feedback soll Entwicklungsfelder einer Person nicht zuletzt im Bereich intersozialer Kompetenzen aufzeigen und zur Selbstoptimierung auffordern. So wird hier, wie im vorangehenden Kapitel ausführlich dargelegt, die Persönlichkeit eines Individuums durch Spiel modelliert. Ein brüchiger, durchlässiger Rahmen, eine Durchdringung von Spiel und Nicht-Spiel scheint letztendlich jenseits dessen, dies nun affirmativ oder kritisch bewerten zu wollen, an vielen Stellen, nicht nur in Unternehmen, auf. Huizingas Beobachtung, Spiel werde als außerhalb des gewöhnlichen Lebens stehend empfunden, mag man gar gegenüberstellen, dass man
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bei der Betrachtung vieler Phänomene gesellschaftlicher Interaktion und Selbstverständigungsprozesse umgekehrt auch zu dem Schluss kommen möchte, das ‚gewöhnliche Leben‘ werde nur außerhalb des Spiels empfunden, denn Realität als sinnstiftende Konstruktion der Wirklichkeit, die immer auch in Interaktion mit anderen konstituiert wird, erscheint vom Spiel durchwoben, von ihm bisweilen ununterscheidbar oder mehr noch erst durch das Spiel hervorgebracht. Doch wird nicht nur das ‚gewöhnliche Leben‘ angeführt, um das Spiel ex negativo zu beschreiben, auch Begriffe wie ‚Ernst‘ oder ‚Arbeit‘ werden nicht zuletzt im Alltagsverständnis als definierendes Antonym herangezogen.131 Dem in diesem Kapitel Titel gebenden Begriffspaar ‚Spiel‘ und ‚Ernst‘ widmet Huizinga eine ausführliche Passage. Er kommt dabei zu dem Ergebnis, dass eine Dichotomie der beiden Begriffe einer genaueren Analyse nicht standhält, da die beiden Konzepte sich nicht komplementär gegenüberstünden: Ernst sei zwar als Nicht-Spiel definiert, Spiel aber keineswegs als Nicht-Ernst, da Spiel den Ernst mit einschließen könne.132 Zudem gebe es andere kulturelle Phänomene, die er dem Nicht-Ernst zurechnen würde, wie das Lachen oder das Komische, die dennoch nicht automatisch in die Kategorie des Spiels fielen.133 So führt Huizinga aus, dass Spiel und Ernst sich lediglich „in unserem Bewußtsein“134 gegenüberstünden – ein weiterer Hinweis auf die vage „traumwandlerische Sicherheit“135, die Helmar Schramm dem Alltagswissen attestiert, wenn es um das Identifizieren von Spielen gehe. Weiterhin qualifiziert Huizinga zur Abgrenzung des Spiels vom NichtSpiel das Spiel als eine Handlung, die als ‚nicht so gemeint‘ empfunden werde.136 Was heißt im Zusammenhang des Spiels ‚nicht so gemeint‘? Wenn beim Kartenspiel mit vier Assen drei Neunen ausgestochen werden oder beim Fußball auf das Tor geschossen wird, so ist die Handlung auch auf der Empfindungsebene nur schwerlich als ‚nicht so gemeint‘ zu klassifizieren. Der Kartenspieler und der Stürmer tun exakt, was sie meinen, und dies wird auch so empfunden. Man begeht keine symbolische, keine mimetische, keine ‚Als-ob‘-Handlung, es sei denn, man argumentierte mit einer schwer nachweisbaren Sublimationsthese, in der der Fußball affektiv den Kampf oder gar gleich Krieg zwischen Nationen ersetzte137 oder sich in unendlichen und nicht nachweisbaren Transformationen historisch vom realen zum fiktiven Kampf entwickelt habe. Huizingas Kriterium vom Spiel als einer Handlung, die als nicht so gemeint empfunden wird, scheint bei genauerer Betrachtung lediglich auf die Aspekte von Spiel zuzutreffen, die mit narrativen Anteilen oder mimetischen Handlungen überformt werden.
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So gibt es natürlich Spielformen, die nicht-so-gemeinte Handlungen beinhalten – Kuchen backen im Sandkasten, das Abschießen des Gegners beim Lasertag, Hamlet ersticht Polonius im Barbican-Theatre, eine Atombombe löscht im Videospiel Fallout eine Kleinstadt aus. Diese Spiele weisen aber eben, anders als Fußball, Backgammon oder Verstecken, entweder eine nachahmende oder aber erzählerische Komponente auf. Wo verortet sich das Rollenspiel des Assessment Centers? Jede Handlung der Bewerberin – darauf wurde im vorangehenden Kapitel bereits eingegangen – oszilliert zwischen den Polen ‚so gemeint‘ und ‚nicht so gemeint‘. Sie spielt sich selbst möglichst authentisch in einer konstruierten Situation. Ihre Handlungen in einem für das Assessment Center inszenierten Kundengespräch haben eine andere Auswirkung auf die Realität außerhalb des Spiels als ein tatsächliches Kundengespräch: Verärgert sie den Kunden in der Simulation, hat dies keine Konsequenzen für den Ruf des Service der Firma, sondern nur für ihr berufliches Fortkommen. Das Spiel der erweiterten Personalauswahlverfahren ist ein Hybrid aus Handlungen, die nicht so gemeint sind, und Handlungen mit ernsten Konsequenzen. Gregory Batesons Theorie des Spiels als metakommunikativer Rahmung hat hier eine wichtige Beobachtung zum Phänomen des Spiels beigesteuert. „Die Mitteilung ‚das ist ein Spiel‘“ – so Bateson – „legt […] einen Rahmen jener Art fest, bei der es leicht zu Paradoxien kommt“138. Bateson erläutert, dass die Feststellung ‚Dies ist ein Spiel‘ sich übertragen lässt in die Aussage ‚Diese Handlungen, in die wir jetzt verwickelt sind, bezeichnen nicht, was jene Handlungen, für die sie stehen, bezeichnen würden‘139. Kurz: „Das spielerische Zwicken bezeichnet den Biß, aber es bezeichnet nicht, was durch den Biß bezeichnet würde.“140 Im Folgenden verweist Bateson darauf, dass diese metakommunikativen Rahmen durchaus uneindeutig werden und kollabieren können: Auf den Andamanen wird Friede geschlossen, nachdem jeder Seite die zeremonielle Freiheit gegeben wurde, die andere zu schlagen. Dieses Beispiel zeigt jedoch auch die Labilität des Rahmens ‚Dies ist ein Spiel‘ oder ‚Dies ist ein Ritual‘. Die Unterscheidung zwischen Karte und Territorium kann stets zusammenbrechen und die rituellen Streiche des Friedensschlusses tendieren dazu, als ‚reale‘ Kampfhiebe missverstanden zu werden. In diesem Fall wird die Friedenszeremonie zu einer Schlacht (Radcliff – Brown).141 Aus Batesons Ausführungen geht hervor, dass durch die Markierung ‚Dies ist ein Spiel‘ innerhalb des Spielrahmens selbst die Unterscheidung zwischen eigentlicher und uneigentlicher Handlung verunklart wird, denn
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setzt zwar die Hervorhebung des Spiels einen Rahmen, der alle Beteiligten dazu auffordert, die folgenden Handlungen als konsequenzvermindert oder uneigentlich wahrzunehmen, so wäre es ein Trugschluss anzunehmen, dass damit alles fortan Getane und Gesagte automatisch vollkommen aus dem ‚gewöhnlichen Leben‘ entrückt wäre. Vielmehr bietet der metakommunikative Rahmen ‚Dies ist ein Spiel‘ je nach seinen Regeln die Möglichkeit, im Rahmen des Spiels Eigentliches und Uneigentliches als gleichberechtigt nebeneinander zu stellen oder gar zu vermengen. So ist es auch Batesons Alleinstellungsmerkmal unter den Spieltheoretikern, die die Spiele in verschiedene Bereiche einteilen, dass er beiläufig Spiele, die auf der Prämisse ‚Dies ist ein Spiel‘ fußen, von denjenigen scheidet, denen in der hier vorliegenden Studie eine entscheidende Bedeutung zukommt: den Spielen, die auf der Prämisse ‚Ist das Spiel?‘ beruhen.142 Als Beispiel nennt Bateson hier bezeichnenderweise die „Schikanen der Initiation“143. Nicht zuletzt rückt Bateson die metakommunikativen Rahmen des Spiels in die Nähe seiner double-bind-Theorie zur Entstehung von Schizophrenie, da mit metakommunikativen Spielrahmen um Situationen, die die Grenzen von eigentlichen und uneigentlichen Handlungen und Aussagen verwischen, intersozial paradoxe Botschaften und Signale forciert werden.144 In ebendiesen Grenzbereichen scheint sich das Applied Theatre zu bewegen, mehr noch, es tendiert dazu, die Verunklarung explizit nutzbar zu machen, um mit Ernstem Spiel soziale Realität zu transformieren. Das dritte Kriterium, das Huizinga in Homo Ludens anführt, um die Sphäre des Spiels vom Nicht-Spiel zu differenzieren, ist, dass die besagte Handlung „sich innerhalb einer eigens bestimmten Zeit und eines eigen bestimmten Raums vollzieht“ und „nach bestimmten Regeln ordnungsgemäß verläuft“145. Die Durchführung eines Assessment Centers ist ein wiederkehrender Prozess in den Rekrutierungsverfahren von Firmen und könnte durchaus auch der gewöhnliche Arbeitsalltag von Human-Resource-Management und Betriebspsychologen genannt werden. Auch Bewerberinnen können eine gewisse Routine beim mehrfachen Durchlaufen des Bewerbungsprozesses erlangen. Die gleiche Stellung zwischen Routine und Hervorhebung könnte man aber auch vom Theaterspiel postulieren, das eine raum-zeitliche Hervorhebung beinhaltet, auch wenn eine Inszenierung bereits ein dutzend Mal aufgeführt und zum Arbeitsalltag des Schauspielerensembles wurde. Auch auf dem Spiel des Assessment Centers liegt eine Emphase, die räumlich, zeitlich und ästhetisch gesetzt ist. Wird zwar scheinbar ein normaler Arbeitsprozess simuliert, so gibt es doch ein Arrangement der Blicke im Raum, eine zeitliche Verabredung und ein vorbereitendes Modulieren
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und Hinarbeiten auf eine artifiziell konstruierte, inszenierte Situation, die es erlauben zu postulieren, dass sich ein Assessment Center im ästhetischen Arrangement von anderen Arbeitsvorgängen innerhalb einer Firma, die man mit Huizinga das empfundene gewöhnliche Leben nennen könnte, abgrenzt, auch wenn Beobachtungen der inszenierten Wirklichkeit des ‚gewöhnlichen Lebens‘ innerhalb einer Firma, wording, Corporate Identity, gamification, die presentation of self in everyday life eines Firmenalltags wiederum diese Trennschärfe auf andere Weise verschwimmen lassen. Der Unterschied zwischen der Arbeit im inszenierten Firmenalltag und der Arbeit im Assessment Center erscheint so äquivalent zum Unterschied von Theatralität zu Theater. Wenn Spiel sich von Nicht-Spiel durch eine Emphase auf eine bestimmte Zeit und einen bestimmten Raum trennt, muss dies weiterhin weder heißen, dass ein eigener Raum für das Spiel geschaffen wurde, noch dass die zeitliche Abgrenzung keine Zwischenzustände, wie gleichzeitiges Schachspielen und eine nicht-gespielte tagespolitische Unterhaltung zu führen, zuließe. Auch im Rollenspiel des Assessment Centers wird ein spezifischer Ort, meist ein Seminarraum innerhalb der Firma, aber auch Tagungsräume in Hotels oder ähnliches, auf das Spiel hin präpariert. Requisiten können zum Einsatz kommen und vor allem das Sitzarrangement betont die artifizielle Beobachtungssituation, in der sich eine Spielszene, die der Alltagsroutine der zu besetzenden Position nachempfunden wurde, entfalten soll. Ein zeitlicher Anfang und ein Ende erscheinen zunächst sehr klar markiert. Gerade, wenn in einem Assessment-Center-Verfahren über einen ganzen Tag hinweg mehrere Bewerberinnen bewertet werden sollen, ist ein engmaschiger Zeitplan, der auf Minuten genau Vorgespräche, Spielzeit, Beratung und Feedback terminiert, nicht ungewöhnlich. Allerdings ist auch hier deutlich die Oszillation zwischen Spiel und Nicht-Spiel zu beobachten, wie etwa wenn nach dem markierten Ende des Rollenspiels, der Bewerber außerhalb seiner Spielszene – also raum-zeitlich scheinbar wieder im Bereich des Nicht-Spiels angekommen – dennoch Feedback von seinem professionellen Spielpartner innerhalb der Rolle erhält. Oder etwa dass das Bewerten der sozialen Rolle der Bewerberin auch zu Zeitpunkten des Assessment Centers weitergeführt wird, wenn der offizielle Teil der Veranstaltung scheinbar abgeschlossen ist – wie beim Abendessen des Gabeltests, wie es im ersten Kapitel angerissen wurde. Nicht nur zeitlich, auch räumlich kann diese Entgrenzung nachgezeichnet werden: Keine erhabene Bühne, kein Vorhang, keine auch nur provisorisch mit Kreide oder Klebeband gezogene Linie trennen das Spielgeschehen von einem Zuschauerbereich ab: Der räumliche Grenzverlauf
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des Rollenspiels in den Seminarräumen bei Assessment und Development Centern ist ganz im Gegenteil absichtlich vage gesetzt. Das Spiel entfaltet sich stets um Seminarschauspieler und Kandidaten herum, wobei sich, wie in der vorangehenden Analyse angemerkt, eine Art transportable vierte Wand entfaltet, die an keiner Bühnengrenze verläuft, sondern sich stets diffus um die Spielenden herum manifestiert und bei Bewegung durch den Raum auch mitgenommen, erweitert und wieder eingeschränkt werden kann.146 In zahlreichen Aspekten – räumlichen, zeitlichen, konditionalen – erscheint der Rahmen dieser Spiele brüchig. Sind dies Phänomene einer Entgrenzung des Spiels und seinem Übergriff auf Sphären des vermeintlichen Nicht-Spiels, muss an anderer Stelle jenes „hohe[.] Maß an Kontingenz“147 mit der Aufführungssituationen einhergehen, als durch die Regelgebundenheit des Spiels eingedämmt charakterisiert werden. Das Theater der erweiterten Personalauswahlverfahren ist ein Spiel mit gedrosselter Kontingenz. So soll zunächst durchaus mit Mitteln des freien Spiels – in Abgrenzung etwa zu einem schriftlichen Einstellungstest – der Raum für sich nicht notwendig oder zwangsläufig so ergebende Reaktionen und Handlungen, für ‚kreative‘ Antworten auf die Spielsituation – theaterwissenschaftlich formuliert – für Emergenzen geöffnet werden. Die Beobachtung der Bewerberin soll unter annähernd realistischen Arbeitsbedingungen, also unter dem Stress einer Situation erfolgen, die nach vielen Verlaufsformen hin offen erscheint. Die Anbieterfirmen externer Assessment-Center-Prozesse reden von der „Messung im Ruhezustand“ bei einem vorab absolvierten, schriftlichen Onlinetest und von der „Messung im Aktionszustand“148 in der danach erfolgenden Simulation eines Arbeitsvorgangs im Rollenspielverfahren. Öffnet das freiere Verständnis von Spiel als play auf der einen Seite den Raum für Kontingenz, für den liminalen Zustand auf der Schwelle, der Freiräume des Handelns schafft und das Spiel als verwandt mit Kunst und Ritual erscheinen lässt, so wirken der Kontingenz des „betwixt and between“149 in den erweiterten Personalauswahlverfahren auf der anderen Seite die Aspekte des game, die Regelgebundenheit, der Würfelwurf mit einem zugegebenermaßen ebenfalls offenen Ausgang – jedoch nur zwischen eins und sechs –, das Abprüfen von Kompetenzen der Arbeitspersönlichkeit unter dem Blick der Prüfer entgegen. Hat play oder paida unendlich viele Verlaufsformen und Ausgänge, hat das game oder ludus unendlich viele unter dem Regime der Regel.150 Der Bewerberin ist der Katalog an Schlagworten der Kompetenzen, die hier abgeprüft und für die zu besetzende Position abverlangt werden, in der Regel explizit oder implizit weitestgehend bewusst – Organisationsfähigkeit, Empathiefähigkeit, Kundenfreundlichkeit, Stressresistenz, Führungsstärke, Teamfähigkeit, Problemorientierung etc. – je nach
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zu besetzender Position kann dieser Katalog an Abfragewerten variieren. Kreativität, Spiel und die damit einhergehende Kontingenz entfalten sich hier lediglich in einem raumzeitlich exakt abgesteckten Rahmen, einer akribisch auf Messpunkte hin inszenierten Spielsituation und in einem fest geschnürten Korsett sozialer Erwünschtheit, das lediglich die Diagnose gedrosselter und gelenkter Kontingenz zulässt. Das Rollenspiel ist ein Spiel mit strengen sowohl explizit ausgesprochenen als auch implizit vorausgesetzten Regeln. Spielästhetik und Nutzen Der letzte noch nicht diskutierte Punkt aus der Spieldefinition von Homo Ludens betrifft das Postulat, das Spiel sei eine Handlung, an die kein materielles Interesse geknüpft sei und mit der kein Nutzen erworben werde.151 Hier entfernt sich Huizingas Definition wohl am weitesten von den Spielen, die Gegenstand dieser Analyse sind. Rollenspiele erweiterter Personalauswahl- und Potentialanalyseverfahren werden aus Gründen wirtschaftlicher Effizienz eingesetzt, um Kompetenzen einer potentiellen Arbeitnehmerin noch vor der Probezeit einzuschätzen, eine bereits eingestellte Mitarbeiterin auf ihre Effizienz an ihrer spezifischen Position hin zu prüfen oder zur Selbstoptimierung aufzufordern. Sie sind in einigen ihrer Ausformungen eine Art spielerischer Wettkampf mehrerer Bewerberinnen um eine ausgeschriebene Stelle. Nutzen der Firma an diesen Rollenspielen ist zum einen eine professionelle Erhebung beobachteter Kompetenzen und Softskills, anhand derer man sein Personal auswählt oder schult und formt. Ein Nebeneffekt ist eine valide Datensammlung an Entscheidungskriterien, die zur Einstellung oder Entlassung einer Person geführt haben, sollte es zu Klagen vor dem Hintergrund von Gleichstellung und Diskriminierung kommen. Auch die Bewerberin wiederum spielt aus wirtschaftlichem Interesse: Beendigung der Arbeitslosigkeit, Übergang in ein anderes, gewünschtes Arbeitsverhältnis bei Assessment-Center-Formen zur Rekrutierung, Erhalt des Arbeitsplatzes, Erwerb oder Ausbau von Kompetenzen oder Aufstieg auf eine firmenintern ausgeschriebene Position im Falle des Development Centers. Nicht zuletzt spielt auch der Seminarschauspieler aus materiellem Interesse – ein Punkt, der ihn in dieser speziellen Theaterform allerdings nicht von anderen Menschen seiner generellen Profession als Darsteller scheidet und der Berufsschauspielerin an sich in den Spielen eine Sonderstellung einräumt, die die Frage nach dem materiellen Interesse am Spiel verkompliziert. Lediglich die fiktiven, narrativ gesetzten Interessen innerhalb der Spielszene – der Kunde, der Beratung beim Kauf eines Autos wünscht,
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der Servicemitarbeiter, der beraten möchte, um der Person zu helfen und so seinem Arbeitsalltag und normalem Broterwerb nachgeht –, diese Ziele und Zweckausrichtungen des Handelns verbleiben rein in der Fiktion der Diegese. Außerhalb der metakommunikativen Rahmung des Spiels sind diese Interessen konsequenzlos und münden nicht direkt im wirtschaftlichen Nutzen oder Mehrwert eines in dieser Situation verkauften Automobils. Der wirtschaftliche Nutzen für beide Personen jedoch findet sich außerhalb dieser Spielklammer wieder. Könnte man dies nun auch der Beobachtung zuschreiben, dass H uizinga eben von einem Idealspiel schreibt, das sich in allen konkreten Spielformen lediglich als durchmischt von anderen kulturellen Formen des Nicht-Spiels manifestiert, so soll doch im Folgenden Huizingas Definition des Spiels als jenseits von materiellem Interesse kritisch befragt werden. Es ist bezeichnenderweise speziell dieser Punkt des Nutzens und materiellen Interesses, in welchem Caillois bei Huizingas Werk Klärungsbedarf sieht und ihm ein erweitertes Konzept entgegenstellt, auf das im Folgenden eingegangen werden soll.
4 Agon, Mehrwert und die Korruption der Spiele Caillois’ Spielbegriff Wie anfangs erläutert, ist Huizingas Homo Ludens lediglich einer von zahlreichen möglichen Einstiegspunkten in die geisteswissenschaftliche Betrachtung des Spiels, der nicht zuletzt auch gewählt wurde, da die hier vorliegende Studie sich nicht in einer neuen Geschichte der Spielbegriffe verlieren kann. Gerade Huizingas Standardwerk der Ludologie erweist sich dabei allerdings in seinen Aspekten, Spiel als eng verwoben mit verschiedensten Ausformungen menschlicher Kultur zu betrachten und damit ein Konzept transitorischer Ästhetik zu einem Kernbegriff der Analyse von gesellschaftlichen Phänomenen zu machen, als geistesverwandt zum Phänomen der Theatralität. Huizingas Spieldefinition als Ausgangspunkt zu nutzen, um die Verflechtungen der Sphären von Theater und Arbeitswelt am Beispiel von Assessment Centern, Development Centern und Corporate Identity zusammenzudenken, hat aufgezeigt, dass einige Merkmale seines Spielbegriffs, wie etwa die Verankerung des Terminus im Feld der Ästhetik, die involvierte subjektive Perspektive oder die Problematisierung der scheinbaren Dichotomie des Begriffspaars Spiel und Ernst bei der Beschreibung der Ludifizierung der Arbeitswelt fruchtbar zu machen sind. An anderen Stellen jedoch, wie etwa den Aspekten der Trennung vom gewöhnlichen
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Leben, der Freiwilligkeit und auch der Annäherung daran, was Spielästhetik effektiv bedeuten könnte, wurden ergänzende Theorien des Spiels herangezogen, während Huizingas Definition eher als Negativfolie der Argumentation diente. Ebenso verhält es sich mit dem Kriterium, dass an das Spiel kein materielles Interesse geknüpft sei und mit ihm kein Nutzen erworben werde.152 Zwar ließe sich auch hier einwenden, dass lediglich das Idealspiel keinen Nutzen und kein materielles Interesse involviere, während zahlreiche Ausformungen der konkreten Spiele sich mit anderen Phänomenen des gewöhnlichen Lebens vermengten, die den Spielen diese Aspekte hinzufügten – allein, im Folgenden soll eher davon ausgegangen werden, dass Huizinga auf diese Weise argumentiert, da er kein Konzept von soziologischen Kapitalbegriffen153 in Betracht zieht, die in direkter Beziehung und im Austausch zum Finanz- und Sachkapital stehen können. Im Folgenden soll Roger Caillois’ auf Huizingas Thesen aufbauende, soziologische Studie Les jeux et les hommes. Le masque et le vertige – ins Deutsche übersetzt als Die Spiele und die Menschen. Maske und Rausch – herangezogen werden, um speziell zwei Phänomene des Spiels zu fokussieren, die Caillois’ Theorie tiefer gehend erläutert als Huizingas Ansatz und die gleichzeitig essentiell zum Verständnis der Ernsten Spiele der Personalauswahlverfahren sind: „agon“154 und materielles Interesse – zwei Kategorien, die auch in einer theaterwissenschaftlichen Analyse der Ästhetik der Aufführung kaum jemals zum Gegenstand werden, im Unternehmenstheater wie im Applied Theatre aber äußerst relevante Faktoren darstellen. Zunächst jedoch muss in aller gebotenen Kürze Caillois’ Spielbegriff dargelegt werden, der sich in einigen Punkten explizit von Huizinga abgrenzt: Schon im ersten Absatz in der einführenden Vorrede zu seiner soziologischen Studie über das Spiel nimmt Caillois Bezug auf Huizingas Homo Ludens und nennt es zwar „originell“, „bedeutsam“ und „außerordentlich fruchtbar“, lässt aber auch nicht aus, dass seiner Ansicht nach die „Behauptungen Huizingas zum großen Teil anfechtbar“155 seien. Keinen Zweifel lässt Caillois damit daran, dass seine Studie auf der von Huizinga fußt, zugleich aber Leerstellen ausweisen und ergänzen wird. Ebendiese Auslassungen in Huizingas Spieldefinition, die Caillois zugleich „zu allgemein wie anderseits zu begrenzt“156 nennt, sind es, die auch für die Betrachtung des Konzepts Ernster Spiele im Bezug auf das Theater der Assessment und Development Center bedeutsam sein werden, denn er nähert sich in diesen Betrachtungen seiner Studie dem Begriffspaar Spiel und Arbeit an. Einer der wesentlichen Beiträge Caillois’ zum ludologischen Diskurs besteht darin nachzuweisen, dass Huizingas Spielbegriff zu bemüht ist,
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alle Arten von Spiel und damit alle Spielhaltungen seiner Spieler unter eine Kerndefinition des Idealspiels zu stellen und damit grundsätzliche Wesensverschiedenheiten unterschiedlicher Spieltypen ignoriert.157 In seinen folgenden Ausführungen unterteilt Caillois dementgegen die Sphäre des Spiels zunächst in vier sehr unterschiedliche Sektoren, deren Aspekte nicht allen Spielen gleichermaßen inhärent sein müssen, dennoch in unterschiedlichen Anteilen jedes Spiel ausmachten. Die konkreten Spiele können dabei einem oder auch mehrerer dieser Sektoren gleichzeitig zugeteilt werden. Caillois nennt den Wettstreit agon, den Zufall alea, die Maskierung mimicry und den Rausch ilinx.158 Anteile von agon wären überall dort zu verorten, wo man im Spiel einen Gegner zu übertrumpfen sucht, etwa bei den olympischen Spielen, im kompetitiven Online-Computerspiel oder bei Brettspielen wie Mensch- ärgere-dich-nicht. Alea findet sich in den Glückspielen am Roulettetisch, in Anteilen aber z. B. wiederum auch beim Mensch-ärgere-dich-nicht, denn hier kommt es nicht nur auf die richtige kompetitive Strategie, sondern durchaus auch auf Würfelglück an. Mimicry findet sich selbstredend im Theater und überall dort, wo man Rollen, Masken und Verkleidungen verwendet, wie beim Live action role-playing game oder auch auf der Halloween-Party, und der Rausch des ilinx bezeichnet die Spiele, die zugleich auch durch Bewegung auf den Körper einwirken, wie der nicht-kompetitive Extremsport, die Schaukel oder diverse Jahrmarktattraktionen wie Karussells oder Fun-Houses. Diese vier Teilaspekte nennt Caillois Sektoren, in denen sich Spiele gleicher Art zusammenfänden.159 In seinen folgenden Ausführungen wird dabei deutlich, dass alea, mimicry, agon und ilinx für Caillois nicht lediglich Teilaspekte und Sektoren von Spielen darstellen, sondern zugleich auch korrespondierende, psychologische Grundhaltungen von Menschen sind.160 Diese Haltungen manifestierten sich dabei sowohl in den Spielen als auch im ‚gewöhnlichen Leben‘ jenseits der Spiele.161 Weiter geht Caillois davon aus, dass, ähnlich einem ins aktive und partizipatorische gewendeten aristotelischen Konzept von theatraler Wirkungsästhetik und Katharsis, diese psychischen Grundhaltungen durch das Spiel kanalisiert, potenziert, aber auch abreagiert werden können.162 Dabei kommt – ganz aristotelisch, ohne dass er diesen Bezug aktiv ausweisen würde – der Geschlossenheit der Spiele in Raum und Zeit eine nicht unwesentliche Bedeutung zu, da diese „Spieltriebe“163, so Caillois, dazu neigten, ohne geschlossene Rahmen auszuufern und dabei schädliche Wege für Individuum wie Gesellschaft nehmen könnten.164 So kann er jedem seiner Sektoren des Spiels auch einen korrespondierenden, institutionalisierten und gesellschaftlichen Aspekt des Nicht-Spiels, aber auch eine destruktive Entgleisung gegenüberstellen.165 Ein Ausdiffundieren der
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schädlichen Aspekte der Spieltriebe ins gewöhnliche Leben durch brüchige Rahmen nennt Caillois „Die Korruption der Spiele“166: Diese […] Qualitäten besagen recht wenig über die verschiedenen psychologischen Haltungen, welche die Spiele bestimmen. Indem sie jedoch die Welt des Spiels und die Welt der Wirklichkeit einander gegenüberstellen und indem sie betonen, das Spiel sei im wesentlichen eine Betätigung für sich, legen sie die Annahme nahe, daß jede Vermengung mit dem gewöhnlichen Leben Gefahr liefe, die eigentliche Natur des Spiels zu verderben und zu zerstören. Unter diesem Gesichtspunkt kann man sich fragen, was aus den Spielen wird, wenn die strenge Abschließung, die ihre idealen Regeln von den diffusen und listigen Gesetzen des Alltagsdaseins trennt, ihre un erläßliche Eindeutigkeit einbüßt.167 Im Einbüßen der Eindeutigkeit, dem brüchigen Rahmen, der Verunklarung der Spielverabredung sieht Caillois ernsthafte, ethische Konsequenzen für die Gesellschaft.168 Er begegnet der Vermengung von Spiel und Alltag mit großer Skepsis wie moralischer Wertung und erläutert, dass bei solchen Phänomenen, in denen das Spiel nicht mehr begrenzt erscheint und auch das Einverständnis zum Spiel in Frage gestellt wird, weder Form noch Freiheit des Spieles fortbestünden.169 Für jeden Teilaspekt des Spiels, agon, alea, mimicry und ilinx, zählt er die entsprechende „Perversion“170 auf, mit der sie, wenn sie nicht durch die Regelhaftigkeit begrenzt und abgeschlossen wird, schadhaft in die Gesellschaft sickert. Spiel erscheint ihm an dieser Stelle zusammengedacht mit der psychologischen Haltung des Spielers in den jeweilig vier Aspekten nicht zuletzt auch immer mit dem Trieb, dem Spieltrieb eben, einherzugehen, der ohne die regelhafte Begrenzung durch Raum und Zeit außer Kontrolle geraten kann: Bemerkenswert ist, daß in keinem Falle, weder für agon, alea noch mimicry die Intensität des Spiels zur Ursache dieser verderblichen Verirrung wird. Diese ergibt sich immer erst aus der Vermengung mit dem gewöhnlichen Leben. Sie entsteht, wenn der Trieb, der das Spiel leitet, sich außerhalb der strengen Grenzen von Zeit und Raum ohne gültige und zwingende Konventionen entfaltet.171 So ordnet er in einer Übersicht den vier Sektoren eindeutige Spiele, Phänomene aus dem Bereich des Nicht-Spiels, die dieser psychologischen Haltung auf sozial integrierter, institutionalisierter Ebene im gewöhnlichen Leben entsprechen, als auch ihre ‚Korruptionen‘ zu, bei der die spielerische
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Haltung entgrenzt und destruktiv für Individuum und Gesellschaft ins gewöhnliche Leben eindringt.172 Interessanterweise ist den Teilaspekten agon und mimicry, die die wesentlichen Sektoren der Rollenspiele der Assessment und Development-Center-Prozesse ausmachen, im gewöhnlichen Leben bei Caillois jeweils auch die Arbeit gegenübergestellt.173 Im Hinblick auf Phänomene der Durchdringung der Sphären von Kunst und Spiel, wie der Arbeit und des Spiels, der gamification, der Serious-Games-Gattung des Computerspiels,174 aber auch vieler Phänomene des Theaters, das seinen konventionellen Rahmen verlässt – Unternehmenstheater, sogenanntes theatre for development, Theater in Konfliktzonen –, scheint dabei ein aktuelles Phänomen ganz im Gegenteil zu Caillois’ These zu sein, dass sich Spiele an vielen zu beobachtenden Stellen entgrenzen, die nicht rein destruktiv wirken sollen, sondern, auch wenn sie ein bestehendes Regelsystem befragen und mit Kontingenz einhergehen, letztendlich mit systemstabilisierenden Intentionen in einem System eingesetzt werden, das die stetige, kreative Veränderung zum Leitmotiv erklärt hat. Bezeichnend an Caillois’ Spielbegriff ist vor allem, dass die Sphären von Spiel und ‚gewöhnlichem Leben‘ in dieser Sicht weniger aufgrund taxonomischer, definitorischer Kriterien getrennt erscheinen. Vielmehr handelt es sich bei Caillois um eine ethische Aufforderung, die beiden Bereiche unter bestimmten Voraussetzungen getrennt zu halten, damit die Spielantriebe nicht eskalieren, da sie sonst dazu neigten, sich destruktiv mit dem gewöhnlichen Leben zu vermengen. Caillois’ wirkungsästhetisches Konzept der Abfuhr von Trieben in der Partizipation am Spiel, das mit Moreno auch beinahe „handlungskathartisch“175 charakterisiert werden kann, korrespondiert, sobald die Spielrahmen brüchig werden, auf interessante Weise mit dem partizipatorischen Konzept der Wirkungsästhetik von Boal: In the Legislative Theatre the aim is to bring the theatre back to the h eart of the city, to produce not catharsis, but dynamisation. Its objective is not to pacify its audiences, to tranquillise them, to return them to a state of equilibrium and acceptance of society as it is, but, again contrarily, to develop their desire for change.176 Boal, dessen Theaterästhetik, wie vorangehend erläutert, explizit auf der Verunklarung des Theatervertrags und auf brüchige Rahmen baut, ist als Systemkritiker anders als Caillois nicht an der Stabilisierung der gesellschaftlichen Verhältnisse durch eine klare Begrenzung der Spiele interessiert. Beide beschreiben dieselbe Wirkungsweise, wenn die Spiele brüchige Rahmen erhalten und dadurch zu Ernsten Spielen werden. Allein ihre po-
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litische Perspektive darauf, ob das gesellschaftliche System in der jeweils vorgefundenen Form ihrer unterschiedlichen Kontexte als erhaltenswert erachtet wird, lässt sie in der Wertung der politischen Konsequenz der Ernsten Spiele andere Ausgänge kommentieren: Wo Boal, der linke Systemkritiker in Opposition zu einer Militärdiktatur auf der einen Seite, von Dynamisierung und Zerstörung von Blockaden spricht, schreibt Caillois, ebenfalls ein antifaschistischer Intellektueller im nun um demokratische Stabilität auf dem europäischen Kontinent bemühten Nachkriegsfrankreich, auf der anderen Seite von Verfall, Perversion und Korruption. Was weder der um demokratische Stabilität bemühte Caillois noch der um Dynamisierung und Demokratisierung kämpfende linke Theateravantgardist Boal ahnen konnten, ist, dass die Organisationskultur im Neoliberalismus sich dahingehend entwickeln würde, die stetige Dynamisierung, das Aufbrechen verkrusteter Strukturen, das Wegwischen des Althergebrachten und Feiern des Neuen in stetiger Transformation und Selbstoptimierung zum Leitbild wie zur Überlebensstrategie auf dem globalen Markt zu erklären – Teilerklärung einer Annäherung von Unternehmenskultur und Ernstem Spiel. Den vier vorangehend angeführten Grundsektoren des Spiels werden von Caillois weiterhin noch zwei zusätzliche Unterscheidungskriterien auf einer anderen Ebene beigefügt: ludus, das regelgebundene, und paida, das freie Spiel.177 Letztere beiden Kriterien sind mit allen vier Sektoren kombinierbar.178 Neben dieser systematischen Unterscheidung verschiedener Spieltypen kommt Caillois zu einer auf Huizingas Kriterien fußenden Definition des Spiels, die sich von dem Vorbild jedoch in einigen, entscheidenden Nuancierungen abhebt: Das Spiel ist: 1. eine freie Betätigung, zu der der Spieler nicht gezwungen werden kann, ohne daß das Spiel alsbald seinen Charakter der anziehenden und fröhlichen Unterhaltung verlustig ginge; 2. eine abgetrennte Betätigung, die sich innerhalb genauer und im voraus festgelegter Grenzen von Zeit und Raum vollzieht; 3. eine ungewisse Betätigung, deren Ablauf und deren Ergebnis nicht von vornherein feststeht, da bei allem Zwang, zu einem Ergebnis zu kommen, der Initiative des Spielers notwendiger Weise eine gewisse Bewegungsfreiheit zugebilligt werden muß. 4. eine unproduktive Betätigung, die weder Güter noch Reichtum noch sonst ein neues Element erschafft und die, abgesehen von einer Ver-
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schiebung des Eigentums innerhalb des Spielerkreises, bei einer Situation endet, die identisch ist mit der zu Beginn des Spiels; 5. eine geregelte Betätigung, die Konventionen unterworfen ist, welche die üblichen Gesetze aufheben und für den Augenblick eine neue, alleingültige Gesetzgebung einführen; 6. eine fiktive Betätigung, die von einem spezifischen Bewußtsein einer zweiten Wirklichkeit oder einer in bezug auf das gewöhnliche Leben freien Unwirklichkeit begleitet wird.179 Von den letzten beiden Punkten führt Caillois an, dass sie nicht beide gleichzeitig zuträfen, sondern ganz im Gegenteil dazu neigten, sich gegenseitig auszuschließen.180 In den Punkten der raum-zeitlichen Abgrenzung, der freien und geregelten Handlung stimmen somit Caillois’ und Huizingas Spieldefinitionen hier weitestgehend überein. Auch Caillois nimmt im Punkt der Freiwilligkeit Bezug auf die Empfindung der Spielerin gegenüber ihrem Tun, wenn er erläutert, dass der spielerischen Handlung im Zwang ihr eigentlicher Charakter verloren ginge.181 Er ergänzt weiterhin den ungewissen Ausgang und unterschlägt zumindest in der Kerndefinition die Tendenz zur Gemeinschaftsbildung. Von einigen Kriterien Huizingas allerdings grenzt er sich noch expliziter ab. So führt er an, dass der Punkt, dass Spiele immer mit dem Geheimnis, dem Mysterium einhergingen, anfechtbar sei, da die Spiele sich zugleich immer auch als solche ausstellten und sichtbar werden würden: Überwiege im Mysterium die sakrale Funktion von Maske und Kostüm über das Vergnügen an der Fiktion, so handele es sich nicht um Spiel, sondern Institution.182 Weiterhin blickt Caillois differenzierter auf das Kriterium der nicht-so-gemeinten Handlung, die zwar beim Theaterabend oder Räuber-und-Gendarm-Spiel gelte, jedoch ein zweifelhaftes Kriterium im Hinblick auf Schach oder ein Kartenspiel darstelle.183 Dem entgegen entwickelt er die vorangehend genannten Sektoren mimicry, alea und agon sowie in Punkt 5. und 6. das Konzept der entweder geregelten oder fiktiven Betätigung.184 Spielästhetik, materielles Interesse, Nutzen und Mehrwert Entscheidend für die hier vorliegende Studie zu Personalauswahlverfahren erscheint nun, dass Caillois das definitorische Kriterium Huizingas relativiert, dass an das Spiel kein materielles Interesse geknüpft sei.185 Er behauptet, dass es bei Huizinga eine signifikante Leerstelle im Hinblick auf das Glücksspiel gäbe und führt aus, dass mit dem Spielen sehr wohl ein ökonomisches Interesse von Gewinn und Verlust einhergehen könne, und es bisweilen außerordentlich gewinn- und verlustbringend sei.186 In Abgrenzung zu Huizinga postuliert Caillois, dass das Spiel vielmehr in
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sich selbst nicht produktiv sei: Innerhalb des Spiels könne es lediglich zu Verschiebungen des Eigentums, nicht aber zu Kapitalzuwachs oder Güterproduktion kommen.187 Das Geld etwa, das beim Poker eingesetzt werde, fließe von außerhalb des Spielereignisses in das Spiel ein, vermehre sich dort jedoch nicht, sondern wechsele den Besitzer. Somit unterscheide sich das Spiel von Kunst und Arbeit, da es weder Mehrwert, Werk noch irgendetwas Neues hervorbringe: „Weder Ernten noch irgendein hergestellter Gegenstand, weder ein Kunstwerk noch vermehrtes Kapital“188. Ist dies auch eine wichtige und vertiefende Nuancierung gegenüber Huizinga, so beinhaltet diese Erläuterung Caillois seinerseits auch eine bemerkenswerte Leerstelle, die gleichzeitig von entscheidender Bedeutung für die Beantwortung der Frage ist, warum in Unternehmen gespielt wird: Arbeit scheint bei Caillois fest an ein Verständnis von materieller Produktion und direktem Zuwachs von Geld- oder Sachkapital geknüpft zu sein. Seine Sicht spiegelt dabei genau wie Huizingas Definitionen sowohl ein inzwischen historisches Alltagsverständnis, lässt sich aber auch bis zum Ende des 20. Jahrhunderts in kunstwissenschaftlicher Theoriebildung wiederfinden. Auch etwa im Schlagwort der posthistoire im Zusammenhang und in Abgrenzung von der Postmoderne-Debatte wird, um nur ein knappes Beispiel anzuführen, der Spielbegriff ins Feld geführt, wenn es darum geht, dass keine neuen Werke mehr geschaffen werden, sondern dass das Vorgefundene nur noch spielerisch variiert wird.189 In den Bereichen, in denen Assessment und Development Center als Einstellungs-, Schulungsverfahren oder Qualitätsprüfungen zum Einsatz kommen, wie in denen, in den gamification greift, wird aber kein Produkt von Arbeit im konservativen Sinne des direkten Zuwachses von Warenproduktion und Sachkapital, das in Finanzkapital umgewandelt wird, erstellt.190 Das aktuelle Phänomen der gamification etwa, also die Durchdringung der Arbeitswelt mit motivations- und leistungssteigernden Spielmechanismen für die Mitarbeiterinnen, findet sich bezeichnenderweise weitestgehend in Bereichen der „immateriellen Arbeit“191 und hat erst mit dem Computer und seinen Möglichkeiten geradezu gläserner statistischer Erhebung der Leistung, mit der massiven Verbreitung des Computer- und Videospiels wie mit der New Economy an Bedeutung gewonnen – Phänomenen der Arbeitswelt, die erst mehr als ein halbes Jahrhundert nach Caillois’ Beobachtungen und auch nach der oben als Beispiel ins Feld geführten Postmoderne-Debatte massiv die ökonomische Sphäre prägten und veränderten. Die Ludifizierung der Arbeitswelt etwa durch das Spiel (play) des Unternehmenstheaters und das Spiel (game) der gamification findet in den Bereichen der Dienstleistung wie Kundenberatung, dem von der direkten Produktion abgelösten Verkauf,
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sowie im Management statt192 – Sektoren einer Arbeit also, die sich nicht in einem erstellten Objekt und maximal beim Verkauf in einem unmittelbaren Zuwachs von Geldkapital messen lässt. Das eigentliche Produkt der kognitiven, immateriellen und affektiven Arbeit193 aber liegt in der Kommunikation und im intersozialen Handeln. Wenn nun aber Kommunikation, emotionale Affizierung und soziales Handeln Produkte immaterieller Arbeit sein können, die sich mit einer Vermehrung von ökonomischen Kapital koppeln lassen, so muss auch das Spielen produzieren können, denn es generiert ein soziales Ereignis: In ihm wird gehandelt, kommuniziert, ausprobiert, emotional affiziert, zerstreut, Ansehen gewonnen und vieles mehr.194 So lässt sich aus Caillois’ These der Trennung der Charakteristika von Kunst und Arbeit auf der einen, Spiel auf der anderen Seite, durch die Produktion eines Werks aus theaterwissenschaftlicher Perspektive herauslesen, dass der Literaturwissenschaftler und Soziologe auch das durchaus kostenpflichtige, transitorische Ereignis einer Aufführung nicht als einen geschaffenen Mehrwert oder auch nur etwas Neues betrachten würde, noch, dass er performative Schaffensprozesse im Sinne der theaterwissenschaftlichen Lesart von John Austins Sprechakttheorie bedenkt195 oder davon ausgehen würde, dass man für eine emotionale Affizierung als Produkt bezahlen würde.196 Sowohl Kommunikation als auch Emotionen als, wie Annemarie Matzke es fasst, „Prozesse des Produzierens“197 von Arbeit wie das Ereignis als ‚transitorisches Produkt‘ von Kunst, die produktive Theaterarbeit198 oder das „how-to-do-things-with-words“199 der Sprechakttheorie liegen im toten Winkel dieser Argumentation und könnten also unter dieser Perspektive weder ein kapitalisierbares Produkt noch Gewinn erwirtschaften. So müsste Kunst für Caillois bedeuten, ein Bild gemalt oder eine Skulptur aus Stein als Werk präsentieren zu können, nicht das transitorische Ereignis. Arbeit und ihr geschaffener Mehrwert wären demzufolge lediglich (und man denke an das Beispiel zur Abgrenzung von Alltag und Theatersituationen in Erika Fischer-Lichtes semiotischer Theatertheorie)200 einen Krug hergestellt, nicht etwa aber einen Kunden beraten zu haben. In wirtschaftlichen Konkurrenzsituationen würde sich dieser Logik nach nur derjenige durchsetzen, der bessere Krüge herstellte. Die Realität zeigt aber, dass ein nicht zu vernachlässigender Faktor auch darin besteht, die Krugmacher durch den richtigen Führungsstil zu motivieren und an den hergestellten Krug für den Kunden eine Emotion zu knüpfen, um ihn besser zu verkaufen als die Konkurrenz. Letztendlich kann man mit dieser immateriellen, affektiven Aufladung dann sogar schlechte, überteuerte Krüge herstellen und durch Kundenbindung an den Mann bringen.
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Arbeit erscheint so zunächst bei Caillois weitestgehend von der Sphäre des Spiels getrennt zu sein. Damit steht er durchaus im Einklang mit dem Kanon der Spielbegriffe seiner Zeit. Der Spielbegriff und die Arbeit werden aus historischer Perspektive verstärkt mit dem Aufstieg des Bürgertums, das sich von der Scheinwelt des Adels abgrenzt, als Antonyme behandelt,201 wobei sie, wie viele im Denken binär strukturierte Gegenstände, sich gegenseitig definieren und beeinflussen.202 Im Diskurs um den definitorisch schwer greifbaren Begriff des Spiels werden sowohl in der Wissenschaftsgeschichte wie auch im Diskurs des Alltags dem Spiel stets Antonyme beigefügt, die es ex negativo bestimmen sollen. Neben den Begriffspaaren Spiel und Ernst sowie Spiel und gewöhnliches Leben wird, so Schramm, im 19. Jahrhundert unter den Prägungen der industriellen Praxis, der Begriff der Arbeit zu einem wichtigen, abgrenzenden Bezugspunkt für den Begriff des Spiels.203 Ist die Sphäre der Arbeit – Schramm spricht in Bezug auf das gesellschaftliche Selbst- und Weltverhältnis des 19. Jahrhunderts auch von der „Härte sozialer, ökonomischer, juristischer und politischer Widersprüche“204 – eben durch Zwänge und Notwendigkeiten definiert, wird das Spiel in Wechselbeziehung zu Ästhetik- und Kunstideal des 18. Jahrhunderts durch die Zweckfreiheit definiert und somit als ästhetische Opposition zum „zweckorientierten Maschinenwesen“ gesetzt.205 Auch bei Huizinga findet man, wie vorangehend dargelegt, das freie Handeln und somit eine Abgrenzung zum Arbeitsbegriff, als eine definitorische Grundbedingung des ästhetischen Spielbegriffs, wenn er schreibt: „Alles Spiel ist zunächst und vor allem ein freies Handeln. Befohlenes Spiel ist kein Spiel mehr. Höchstens kann es aufgetragenes Wiedergeben eines Spiels sein.“206 Will sich Huizinga dabei nicht zuallererst von der Arbeit, sondern von ethologischen, psychologischen und soziologischen Erklärungsmodellen der Nützlichkeit des Spiels bei Tieren und Kindern abgrenzen, bei denen aus der Perspektive dieser Disziplinen durchaus argumentiert werden kann, dass ein determinierender Instinkt befiehlt zu spielen207, so kommt Huizinga daraufhin zum Spiel der Erwachsenen. Hier grenzt auch er durch den Begriff der ‚Freizeit‘ im Diskutieren der Begriffe Spiel und Freiheit das Spiel von der Sphäre der Arbeit ab: [F]ür den erwachsenen und verantwortlichen Menschen ist das Spiel eine Funktion, die er ebensogut lassen könnte. Das Spiel ist überflüssig. Nur insoweit wird das Bedürfnis nach ihm dringend, als es aus dem Vergnügen an ihm entspringt. Jederzeit kann das Spiel ausgesetzt werden oder ganz unterbleiben. Es wird nicht durch physische Notwendigkeit auferlegt und noch viel weniger durch sittliche Pflicht. Es ist keine Aufgabe. Es wird in der ‚Freizeit‘ gespielt. 208
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Erst mit der Betrachtung des Spiels als Kulturfunktion, so Huizinga weiter, träten die Begriffe Müssen, Aufgabe und Pflicht mit ihm in Verbindung.209 Wenn Huizinga von Spiel spricht, muss, wie bereits dargelegt, dabei stets zwischen einem idealisierten Spielbegriff, den konkreten, tatsächlich gespielten Spielen und den von Prinzipien des Spiels durchwobenen Kulturphänomenen unterschieden werden. So können dann von ihm an späterer Stelle bei der Betrachtung des „heiligen Ernsts“210 im Spiel durchaus auch der Berufssportler, professionelle Musiker und Schauspieler betrachtet werden,211 ohne sie, anders als Caillois,212 aufgrund des Spiels als Arbeit und Broterwerb aus der Betrachtung auszuschließen und als Gegenbeispiele oder Sonderfälle behandeln zu müssen. Doch ist es auch gerade Caillois’ Spielbegriff, der einräumt, dass sich die spielerischen Teilaspekte von ilinx, alea, agon und mimicry auch auf andere Weisen jenseits des Spiels manifestieren können. Zum einen diffundierten diese psychischen Grundhaltungen, die in Spielen zum Ausdruck kommen, wie Eingangs erläutert, als Triebe durchaus destruktiv in die Gesellschaft, zum anderen aber auch in „institutionellen Formen, die dem sozialen Leben integriert sind“213. Als Beispiele führt Caillois hier fast ausschließlich Phänomene der Arbeitswelt an, wenn er etwa mimicry den Repräsentationsberufen und der Uniform, alea der Börse und agon der wirtschaftlichen Konkurrenz des freien Marktes als ihr sozial integriertes, institutionalisiertes Pendant aus der Sphäre des Nicht-Spiels zur Seite stellt.214 Auch bedenkt er, wie Huizinga, die professionellen Spieler, wenn er aus dem Bereich des Sports etwa Radfahrer, Boxer oder Jockeys anführt, von denen er allerdings bezeichnenderweise mit einigen sprachlichen ‚Weichmachern‘ postuliert, sie seien „selbstverständlich keine Spieler im eigentlichen Sinne, sondern vielmehr Berufstätige. Wenn sie spielen, spielen sie bestimmt ein anderes Spiel.“215 In Bezug auf das Spiel des professionellen Bühnenschauspielers, einem weiteren jener Berufsspieler Caillois’, verweist Annemarie Matzke in ihrer Diskussion der kontextabhängigen Relationsbegriffe Spiel, Theater und Arbeit im Hinblick auf eine Diskursanalyse der Probe auf eine geradezu paradoxe Lexikondefinition des Spiels aus dem Grimm’schen Wörterbuch. Diene der Zweck der Darstellung allein der Unterhaltung der Zuschauer, so kann man hier lesen, sei das Spiel bezüglich der Darsteller nicht als Spiel zu werten, wohl aber im Hinblick auf die Zuschauer.216 So legen diese Konzepte der möglichen Durchmischung von Spiel, Arbeit und ‚gewöhnlichem Leben‘ die hier formulierte These nahe, dass das Spiel eben nicht lediglich Gegenstand oder Handlung sondern auch eine Aushandlung über die Deutung einer Situation sein kann, in dem das Handeln eine spezifische ästhetische Qualität hat und Handelnde
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mit einer entsprechenden Verabredung, Erwartungs-, Wahrnehmungsund Geisteshaltung involviert sind: ein metakommunikativer Vertrag, der erfüllt oder aber auch einseitig gebrochen werden kann und so zum Ernsten Spiel wird. Auch der Philosoph und Spielexperte Gunter Gebauer widmet sich in seinem Beitrag Das Spiel und die Arbeitsgesellschaft dem Begriffspaar ‚Spiel‘ und ‚Arbeit‘. Er bemerkt dabei, dass das Verhältnis dieser sich scheinbar wechselseitig bestimmenden Begriffe in der vorgefundenen Literatur ein eher einseitiges Liebesverhältnis darstellt: Lese man in der Literatur über Spiel, so Gebauer, zwar viel über einen zumeist undifferenzierten Arbeitsbegriff, so verliere die Theorie über den Arbeitsbegriff kaum Worte an das Spiel.217 Zur Trennung der beiden Sphären, die, wie vorangehend anhand von Caillois’ Spielbegriff dargelegt, nicht definitorisch, essentialistisch den Begriffen inhärent ist, sondern vielmehr als aktiver Handlungsvollzug gefordert wird, findet sich auch hier eine aufschlussreiche Passage: Gebauer erläutert, dass Kant sich in seiner Pädagogik dagegen ausspricht, dass Kinder durch Spiele lernen sollten.218 Kant rät zur Trennung von Lernen und Spiel – durchaus verwandten Termini zu Arbeit und Freizeit – mit dem Verweis darauf, dass jedes zu seiner Zeit stattfinden solle, um auch Erholung zu gewährleisten.219 Dies zeigt im Umkehrschluss jedoch erneut, dass auch hier das Spiel von Arbeit, wie die Arbeit von Spiel durchwebt sein kann, ohne dass hier definitorische Ausschlusskriterien der Ludologie von Zweckfreiheit oder Nicht-Arbeit zwangsläufig greifen würden. Spiel und Arbeit wurden vielmehr stets aktiv von einem ordnenden Geist wie von einem gesellschaftlichen Paradigma getrennt, einer Sicht auf Spiel, die sich gewandelt und an einigen Stellen gar ins Gegenteil verkehrt zu haben scheint: Die Ludifizierung der modernen, neoliberalen Arbeitswelt durchmischt Spiel und Arbeit offenbar mit großem Erfolg mit Phänomenen wie gamification, chill-out-zones mit Hängematten und Spielekonsolen in den Firmensitzen der New Economy und des Start-up-Sektors, aber auch Unternehmenstheater, theatralen Personalauswahlverfahren und ludischen Modulen von Fortbildungsseminaren. Gebauer weist in Das Spiel und die Arbeitsgesellschaft ebenfalls darauf hin, dass mit Beginn des 20. Jahrhunderts Spiel und Arbeit in der anthropologischen Literatur als lediglich scheinbares Gegensatzpaar aufeinander bezogen seien.220 So merkt er an, dass sowohl Arbeit als auch Spiel in ihrer Interdependenz als Begriffspaar auch historisch wandelbare Konzepte seien.221 Dies verdeutlicht er an der Beobachtung, dass in der Literatur zum Spiel kaum Ausführungen dazu zu finden seien, auf welchen Arbeitsbegriff man sich hier jeweils beziehe – „die Lohnarbeit, die Erwerbsarbeit,
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die unternehmerische Tätigkeit, die Kopfarbeit oder was immer“222. Wenn Spiel und Arbeit nun sich als historisch verändernde Konzepte darstellten – so Gebauer –, stellt sich die interessante Frage, ob sich auch ihr Wechselverhältnis entsprechend wandle.223 Am Beispiel des Sports expliziert er, wie der Fußball in Deutschland um 1900 „eine Spielform nach den Prin zipien der Angestelltenkultur war“224. Dieser Vereinskultur stellt er die aus der Zeit des Erscheinens seines Beitrags, 1996, aktuellen Spielformen des Sports gegenüber – „Mountain-Biking, Paragliding, Body-Shaping, die health sports“225 etc. – und kommt zu dem Schluss: Auffällig an all diesen Erscheinungen ist, dass der Gedanke der Produktivität aus dem Bereich der Arbeit in den des Spiels übernommen worden ist. Produziert wird der Körper des Sportlers durch den Körper: Im Training erhöht der Körper seine eigene Muskelmasse, Durchblutung, Widerstandsfähigkeit … Der Körper ist sowohl Produktionsmittel als auch Produkt. Daß man den Körper durch Training verbessern kann, ist ein alter Gedanke, aber heute wird er auf breitester Basis, außerordentlich intensiviert, von einer Fülle technischer Geräte unterstützt und an einer Vielzahl von Orten praktiziert, mit hohem Zeitaufwand und mit dem ausdrücklichen Ziel, den Körper zu verändern, mehr noch: aus ihm einen anderen, einen neuen Körper zu machen, ihn zu produzieren – eine Art ‚Geburt durch sich selbst‘. Nach der Geburtsarbeit und der Geburt durch die Arbeit erkennen wir nun die Geburt im Spiel. Der Marxismus wollte mit der Befreiung der Arbeit den neuen Menschen hervorbringen. Jetzt sieht es so aus, als wollte auch der Kapitalismus, der immer an der alten Anthropologie festgehalten hat, den Menschen erneuern – dies aber nur im Spiel.226 Liest man noch bei Caillois’ Einwand zu Huizingas These, das Spiel sei fern allen materiellen Interesses, dass in Abgrenzung dazu im Spiel um Einsatz zumindest nichts produziert werde,227 so erklärt Gebauer hier, wie in seinen Beispielen aktueller Sportarten die Logik der Arbeit einer Gesellschaft sich im Spiel wiederspiegelt und diese Spiele den Körper als Ware produzieren. In den vergangenen zwanzig Jahren zwischen der obenstehenden Analyse Gebauers und der hier vorliegenden Studie haben die Individual- und Extremsportarten ihren Siegeszug fortgesetzt. Gebauers Beispiele – Body-Shaping, Paragliding, Mountain-Biking – sind alles Spielarten, in denen das Individuum in einem letztendlich doch freizeitindustriellen Massenmarkt das Phantasma seiner Einzigartigkeit feiern kann – ein Trugbild, das perfekt jenes Paradoxon einfängt, dass auch die Maschinerie der Arbeitswelten des neoliberalen Kapitalismus ölt: Jeder Einzelne muss
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aus der Masse als besonders hervorstechen – jeder einzelne strebt danach, teamfähig und doch an der Spitze zu sein, jeder Einzelne ist kreativ und doch konform, jeder liefert zweihundert Prozent Leistung, obwohl einhundert Prozent doch die mögliche Höchstleistung markiert, jeder gibt bereits sein Bestes und optimiert sich dennoch paradoxerweise stetig selbst. Allein, etwas konnte aus Gebauers Perspektive aus dem Jahr 1996 heraus noch nicht vorhergesagt werden. Im Body-Shaping ist der Körper selbst Beweis, Produkt und Ware der Selbstoptimierung, der in Erscheinung tritt. Die anderen Beispiele der Fun- und Extremsportarten der Freizeit industrie, die nicht mehr auf Teams, sondern auf Individuen ausgelegt sind, eben jenes Paragliding, Base-Jumping, Free-Climbing, Windsurfing, Mountain-Biking etc. bedürfen jedoch Zeugen, da ihnen weder der Körper noch die Anekdote letztlich als Produkt ausreicht. Hier waren die neuen Dispositive der social-media Hand in Hand mit verbesserter Elektro nik – Helmkameras, mobiles Internet, Smartphone, Facebook – willfährige Handlanger, um das gewünschte Imago auch vor mehr als den leiblich anwesenden Zeugen und laienhaften Schnappschüssen analoger Kameratechnik zu dokumentieren und jenseits des geformten Körpers als Produkt und Beweis das Individuum medial verdoppelt als ‚besonders‘ auszustellen. Damit lassen sich diese Spiele, wie andere ehemals der Freizeit oder dem Privaten zugerechnete Sphären – wie Fotos vom Arrangement des Essens in den sozialen Medien oder die Anzahl der ‚Freunde‘ im Netzwerk – zur Arbeit am Ideal-Ich zählen. Die Notwendigkeit der Arbeit am Außenbild im Spiel korrespondiert dabei mit der Arbeit am Außenbild auf der Arbeit durch Spiel. Das Spiel produziert in beiden Fällen soziales Kapital. Gebauer betont am Beginn seiner Beobachtung explizit, aus Gründen der Eingrenzung im Hinblick auf das sich wandelnde Wechselverhältnis des relationalen Begriffspaars Spiel und Arbeit, für das Spiel nur Beispiele aus dem Bereich des Sports heranzuziehen.228 Erweitert man die Perspek tive der aktuellen Durchmengung von Imago-produzierendem Spiel und Arbeit, so fällt etwa im Bereich der Fernsehshows vor allem aus den Themenfeldern Kochen, Modeln, Singen, Tanzen, aber vereinzelt auch Tätowieren, Puppenspiel oder Start-up-Gründung, auf, dass sie einen deutlichen Assessment-Center-Charakter adoptiert haben. Längst etwa präsentiert nicht mehr nur der Fernsehkoch ein raffiniertes Rezept, das ohne hin niemand nachkocht, Laienkandidaten treten in einem spielerischen Deathmatch mit unterschiedlichen Aufgabenstellungen gegeneinander an. Die Struktur ist immer die gleiche, sei es beim Modeln, Singen oder beim Kochen: Die Gruppe von Laien versucht, sich unter den Augen des Experten zu beweisen, der ihre Leistung als würdig oder als ungenügend bewertet. Der Schwächste verlässt die Gruppe, die anderen kommen eine Runde
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weiter, bis der Sieger übrigbleibt und dem Publikum zumindest suggeriert wird, dass er, ehemals einer von ihnen, nun mit dem Star oder Experten auf Augenhöhe ist oder zumindest die Schwelle zu seiner Sphäre überschritten hat. Die Persiflage wie dunkle, dystopische Verkehrung dieser Spielstruktur des Assessment Centers findet sich in der erfolgreichen Jugendbuchund Filmreihe The Hunger Games wieder. Hier wird die Gesellschaftsordnung selbst massiv von einer Assessment-Center-Struktur geprägt, in der der Eintritt aus der Armut (eine Mittelschicht ist nicht mehr existent) auf die Seite der oberen Zehntausend durch tödliche Spiele erfolgt. Nimmt man das Science-Fiction-Genre als Spiegel der Lust- und Angstphantasien der Konsumenten in gesellschaftlicher Selbstverständigung ernst und tut es nicht als arbiträre Unterhaltung ab, so macht es nachdenklich, dass ein Setting einer solchen, ins Phantastische gekehrten und überspitzt parodierten, neoliberalen Härte des Spiel-oder-Stirb zum Setting eines der erfolgreichsten Jugendbücher der Dekade wurde. Doch auch andere Spiele haben sich seit Gebauers Beitrag fortlaufend im Wechselverhältnis zu den Strukturen der Arbeitswelt weiterentwickelt, wenn man die komplexen Systeme der Statistiken und Achievements zur Auswertung und zum Vergleich der eigenen Performance im Verhältnis zu anderen Spielern im Bereich der PC- und Konsolenspiele ansieht. Diese ähneln dabei frappierend den Auswertungen der Performance eines Call-Center-Agenten im Dienstleistungsprekariat:229 Es gibt virtuelle Orden dafür, wie viel Zeit man in einem Spiel verbracht hat, für die Häufigkeit, eine repetitive Handlung, wie das Sammeln von Heilkräutern, wieder und wieder ausgeführt zu haben, oder dafür, eine bestimmte Tätigkeit endlich mit einer prozentualen Genauigkeit ausgeführt zu haben, wie etwa, dass man auf den Gegner nun mit einer Trefferquote von achtzig Prozent schieße und somit immer akkurater werde. Das Pendant im Call-Center ist das Monitoring-Tool, das nach den gleichen Prinzipien funktioniert: Wie lang war man am Arbeitsplatz eingeloggt, wie viele Kunden-E-Mails hat man nacheinander bearbeitet, hat man es im Survey endlich geschafft, die Kundenzufriedenheit bei der Telefonberatung im Feedback über achtzig Prozent zu steigern. Allein, die narrative Überformung findet nicht statt – man wird nicht Held eines fiktiven Fantasy-Kontinents, sondern erhält lachende oder weinende Emoticons, von denen ein lächerliches Zubrot zum Lohn, das sich euphemistisch ‚Bonus‘ nennt, abhängig ist.230 Was nun das Body-Shaping für den Körper und die social media für die Repräsentation im Bild, Text und audiovisuellen Medium leisten kann, kann das darstellende Spiel offenbar für die Persönlichkeit in leiblicher Kopräsenz. Auch hier wird im und mit Spiel ein Produkt erschaffen, dass Mehrwert in sich trägt. Produziert werden hier die intersozialen Kompeten-
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zen, der authentische Ausdruck der Führungskraft, der empathische Umgang mit Patienten oder die Kundenfreundlichkeit. Im Assessment Center zur Rekrutierung wird das geschliffene Produkt warenästhetisch präsentiert, um es als attraktiv genug auszuweisen, es einzukaufen. Im Training des Development Centers beweist die Mitarbeiterin, dass das Ideal-Ich der kompetenten Arbeitspersönlichkeit, das wording des Firmenvokabulars, Gesprächsführungsstrategien, Ausdrucksfähigkeit in Wort und Geste internalisiert wurden, oder aber offenbart vor Richtern und Zeugen, dass daran als Arbeit an sich selbst eben noch gearbeitet werden muss. Produktionsmittel wie Produkt ist der Ausdruck. Auch hier kann man postulieren, dass darstellendes Spiel zur Formung der Persönlichkeit bei weitem kein rein rezentes Phänomen ist – man kann hier mit Blick auf Franciscus Langs de actio scena231 theaterhistorisch noch weiter zurück gehen als zu den Ästhetiken der direkt im Unternehmenstheater angewandten Theatermacher Boal, Brecht oder Moreno – allein neu ist, den edukativen Gedanken direkt mit Kapitalzuwachs zu koppeln. Seine Geburtsstunde erlebt das Assessment Center, wie im ersten Kapitel dargelegt wurde, in den 10er Jahren des 20. Jahrhunderts als Eignungsprüfung für den Offiziersrang unter dem Eindruck des Kriegs.232 Erst allerdings im Zuge der Human-Relations- Bewegung,233 der wissenschaftlichen Diskursivierung des Managements, eines Strukturwandels der Arbeit234 hin zum Dienstleistungsparadigma der Kontrollgesellschaften235 und der Ausweitung der Bereiche der immateriellen Arbeit in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts verbreiten sich daran anschließend auch massiv die theatralen Personalauswahl- und Schulungsverfahren des Unternehmenstheaters. Dort, wo nicht länger Waren produziert, sondern Kommunikation das Hauptprodukt ist, kann mit Hilfe von Applied Theatre an den letzten Schrauben der Effizienz gedreht werden, wenn alle Maschinen der Produktion bereits feinjustiert sind. Horkheimer und Adorno attestierten in den 1940er Jahren der betriebswirtschaftlichen Kameradschaftspflege, dass jeder Fabrik zur Produktionssteigerung an ihr gelegen sei und somit noch die letzte private Regung unter gesellschaftliche Kontrolle gebracht wird.236 Das sozioökonomische Paradigma der Fabrik – so liest man es etwa bei Deleuze – wurde in den westlichen Gesellschaften inzwischen von demjenigen des Unternehmens abgelöst.237 Gut siebzig Jahre später kann man davon sprechen, dass nicht in erster Linie in den Fabriken, wohl aber in den dazugehörigen Service- und Vertriebsabteilungen sowie in den Führungsetagen der Unternehmen, sich das Applied Theatre der Aufgabe der Effizienzsteigerung durch Formung der allgemeinen sozialen Interaktion, sei es mit Kunden, Kollegen, Vorgesetzten oder Untergebenen, angenommen hat. Beratung, Lob, Motivation, Beschwichtigung, Smalltalk, Kündigung oder persönliche Krise: Das Applied
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Theatre stellt für all das Formeln des authentischen Ausdrucks bereit, die im und mit Spiel produktiv hervorgebracht und erlernt werden können – mit ästhetischen Mitteln, die bemerkenswerterweise einer politisch linken, liberalisierenden Kunstpraxis entwachsen. Sektoren und Pole: paida, ludus – game und play Im Folgenden soll das Rollenspiel im Assessment Center in Caillois’ Sektoren des Spiels betrachtet werden. Vergegenwärtigen wir zunächst noch einmal in aller gebotenen Kürze, was die Aspekte von Spiel und Arbeit an dem im ersten Kapitel beschriebenen Development-Center-Verfahren waren, das eindeutig als Arbeit der Beteiligten, wenn auch nicht als ihr Arbeitsalltag, gekennzeichnet war: Die Handlungen im Potentialanalyseverfahren stellen den Beruf des Seminarschauspielers wie des Trainers dar, finden in der Arbeitszeit und am Ort der Arbeit des Personalmanagements und der Mitarbeiter im Verfahren statt, und eine Weigerung zum Rollenspiel kann als eine Arbeitsverweigerung mit all ihren Konsequenzen gewertet werden.238 Das zuvor beschriebene Development-Center-Verfahren wird in einem Halbjahresturnus in der Hauptzweigstelle des deutschen Automobilherstellers durchgeführt und konnte von den Teilnehmern auch mehrfach durchlaufen werden. Gegenüber dem Alltag der geprüften Mitarbeiter wie auch der auswertenden Personalmanagerinnen und Psychologen waren die Rollenspiele aber auch räumlich und zeitlich hervorgehobene Situationen. Selbst für den Seminarschauspieler des Anbieters von Rollenspielen in erweiterten Personalauswahlverfahren kann man, wie eben auch von Mitarbeiterinnen eines Ensemble-Theaters, davon sprechen, dass, obgleich ihrer beruflichen Sonderstellung nach das Spiel ihre Arbeit darstellt, die zwanzig Minuten des Rollenspiels im Verfahren sich vom restlichen Alltag durch spezifische Kriterien der Hervorhebung und verminderten Konsequenz diverser Handlungen und Aussagen abgrenzen. Für eine Betrachtung dieser Verfahren als Spiel wie als Theater sprechen eben diese, im ersten Kapitel dieser Studie analysierten Hervorhebungen und Handlungen von verminderter Konsequenz vor Zuschauerinnen unter einem Regelsystem mit einem ungewissen Ausgang wie das Bewusstsein einer Form von Fiktion des Arbeitsalltags bei den Partizipierenden des Rollenspiels.239 Eine Sonderstellung würde in Abgrenzung zum Mitarbeiter im Development Center die externe Bewerberin auf eine Anstellung im Assessment-Center-Verfahren darstellen. Hier ist das Spiel nicht die bereits geregelte Arbeitszeit, sondern der Einstellungstest wie die Arbeitsprobe im Spiel. Im Vokabular der Performance-Forschung könnte man auch, wie im ersten Kapitel dargelegt, von einer ludischen liminalen Phase, betwixt and
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between240, sprechen, in der eine externe Person Initiation in eine Gemeinschaft wünscht und dafür ein Ritual durchlaufen muss, in dem sie durch die Wiedergabe des Gebarens, das in dieser Gesellschaft üblich ist, beweisen möchte, dass sie dazugehören kann. Hier, wie auch im Development Center, scheinen sich eine Verpflichtung, vielleicht gar ein Zwang zum Spiel im Unternehmen identifizieren zu lassen. Dieses Theater ist Schwellenritual, ist Prüfung oder gleich Teil bezahlter Arbeit. Die Weigerung zum Spiel kann in der Verweigerung der Aufnahme in die Gemeinschaft oder im Ausstoß aus derselben münden.241 Das macht es nach Huizinga zu einem jener von den Prinzipien des Idealspiels durchdrungenen Kulturphänomene des konkreten Spiels aus der Sphäre der Arbeit, nach Caillois zu einem institutionalisierten, vielleicht gar korrumpierten Spiel – einem Ernsten Spiel. Zur Erinnerung: Caillois teilt die Spiele in vier Sektoren – alea, ilinx, agon und mimicry – und innerhalb dieser Sektoren noch einmal anhand zweier Pole – ludus und paida – game und play.242 Dem Prinzip des paida wird das freie, improvisierte, das Vergnügen und die unkontrollierte Phantasie zugeordnet, ludus steht für das Unterwerfen des Spiels unter die „willkürlichen, gebieterischen und absichtlich hemmenden Konventionen“243 eines Regelsystems. Ein Spiel kann nun in den vier Sektoren verortet und zudem graduell anhand der beiden Pole paida und ludus bestimmt werden.244 So wären die anarchischen, überlieferten Fastnachtsspiele des Karnevals ein Beispiel für ein Spiel des Sektors mimicry, welches stark in Richtung des Pols paida ausschlägt. Irgendwo auf der Mittelstrecke zwischen paida und ludus würde wohl das Live action role-playing game verortet werden. Eine Lessing-Inszenierung in der Guckkastenbühne dagegen weist nach Caillois’ System einen starken Ausschlag Richtung ludus auf: Die Theatervorstellung ist für Caillois Beispiel dafür, wie das freie Maskenspiel der mimicry durch ein Regelsystem des Textes und der Verhaltenskonventionen von Zuschauer und Darsteller in Richtung ludus gedrosselt wird.245 Erika Fischer-Lichtes Verständnis der Aufführung und ihrer nur bedingt steuerbaren Kontingenz246 würde dagegen das Theaterereignis auf dieser Achse dabei gewiss weiter in Richtung des Pols paida rücken, als Caillois, der ein Literaturtheater mit den Konventionen des 18. und 19. Jahrhunderts vor Augen hat, wenn er vom Theater spricht. Das improvisierte Rollenspiel weiterhin unterliegt ebenfalls sowohl Regel als auch Freiheit, die Verlaufsformen des Live action role-playing game etwa erscheinen dabei im Hinblick auf die Handlung noch weniger regelgebunden als jene Formen von Aufführungen, die auf einem Text oder einer reglementierten Inszenierung basieren. Der Assessment-Prozess nun ordnet sich viele Aspekte des game oder ludus bei, die die eigentliche Kon-
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tingenz eines improvisierten Spiels massiv drosseln: Zunächst hat das Spiel der Assessment-Center-Prozesse eine begrenzte Anzahl von Ausgängen, unterliegt nicht zuletzt dem Wettkampfprinzip des Spiels um etwas und endet anders als die Aufführung des Kunsttheaters in komplexeren Abstufungen der Bewertung ‚gewonnen‘ oder ‚verloren‘. Fällt ein Kandidat zu sehr aus der Rolle, ist er zu introvertiert, zu provokativ, bringt er eine Trotzhaltung zum Ausdruck, ist dementsprechend seine in Zahlen und Daten übertragene Performanz unzureichend und seine Aufstiegschancen oder gar Weiterbeschäftigung steht durch das Spielergebnis zur Disposition – er hat verloren. Bei akzeptablen, durchschnittlichen oder guten Bewertungen verbleibt er im System und hat unter Umständen gar Aufstiegsmöglichkeiten – er hat gewonnen. Dem Agenten des kontingenten, theatralen play, dem Schauspieler als Experten wird in diesen Verfahren offenbar genauso sehr Potential zugesprochen wie an anderer Stelle misstraut. Zum Kontingenzmanagement, zur wissenschaftlich messbaren Methode wie zur Drosselung von paida und mimicry wird die Performance des Notebooks, die Statistik, die Vergleichbarkeit in Zahlen und Systematiken des agonalen, regelgebundenen game zu dem Verfahren hinzugezogen. Diese Verflechtung von game und play lässt sich ebenfalls im vorab entworfenen ‚Theatertext‘ oder zumindest inneren Ablaufplan der Handlung, wie ihn Trainer und Seminarschauspieler konzipiert und weiterentwickelt haben, nachweisen. Nach Selbstaussage im Interview wird bei einigen der externen Anbieter für Managercoaching, Assessment und Development-Center-Prozessen der inhaltliche Ablauf des Rollenspiels tatsächlich als explizit so genanntes Drehbuch verfasst,247 das dem dramaturgischen Aufbau des nonlinearen Schreibens folgt: Der Handlung liegt ein Narrativ voller Wenn-dann-Bedingungen zu Grunde, das gewisse Eckpfeiler für den Seminarschauspieler in eine Spielszene schlägt, die ebenso reglementiert ist, wie sie zugleich auch von Improvisation abhängt. Ein solcher Ablaufplan des Spiels stellt Bedingungen auf wie: Geht nach Szenenabschnitt A der zu prüfende Kandidat auf folgende, subtil geäußerte Beschwerde, die diese und jene Kompetenz illustrieren und prüfen soll, an folgender Stelle des Rollenspiels nicht umgehend ein, steigere deine Wut in zwei Abstufungen, ansonsten geht es bei B weiter … Solche nonlinearen ‚Drehbücher‘ (firmeninterner Terminus eines externen Anbieters, obgleich hier nicht ‚gedreht‘, also audiovisuelles Material produziert, sondern in leiblicher Kopräsenz gespielt wird)248 sind nicht mehr als Fließtext, sondern als Baumdiagramm mit narrativem Inhalt darzustellen – bestimmte Wege auf diesem Diagramm entsprechen dabei bestimmten, erreichten Werten. Wählte der zu prüfende Kandidat
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im Spiel etwa den Weg über das Baumdiagramm, bei dem zur Lösung der Aufgabenstellung der narrative Abschnitt durchschritten werden musste, in dem der Seminarschauspieler wütender wird, um sein Problem deutlich zu machen, so wird dies mit weniger Punkten auf der Skala für Empathie und Problemorientierung bestraft. Dies sind zugleich die Systematiken des PC-Rollenspiels, dessen nonlineare ‚Drehbücher‘ der durchschrittenen Narration und Punktevergabe für gewählte Pfade ganz ähnlichen Mechanismen folgen.249 Das Applied Theatre der Personalauswahl- und Potentialanalyseverfahren ist wie jedes Theaterereignis von paida und ludus geprägt. Als Amalgam aus play und game hat es allerdings starke Tendenzen zum regelbasierten Pol der Spielphänome, denn das Theater wird zum Messinstrument, die Schauspielerin zur Prüferin und die dramatische Handlung zum Punktespielparkour. Sektoren und Pole: agon Verortet man diese Rollenspiele im Unternehmenskontext weiterhin in Caillois’ vier Sektoren des Spiels, so sind der Zufall des Glückspiels – alea250 – oder der Rausch der Bewegungsspiele – ilinx – nicht von entscheidender Bedeutung. Sie können vor allem dem agon, dem spielerisch ausgetragenen Wettstreit, und der mimicry, der fiktiven Betätigung im Als-ob der Simulation des Arbeitsalltags, zugeschrieben werden. Das agonale Prinzip des Spiels ist das des Wettkampfs gegeneinander und um etwas. Deutlich tritt es im Mannschaftssport und im sportlichen Kräftemessen um Geschicklichkeit, Geschwindigkeit, Stärke, aber auch im Schach oder Quiz, wo die Auseinandersetzung intellektueller Art oder die Fertigkeiten des Gedächtnisses gefragt sind, in Erscheinung.251 Im agonalen Spiel geht es um den Triumph gegenüber dem Gegner in einer spielerischen Herausforderung, ebenso aber darum, durch künstlich erzeugte Voraussetzungen des Kräftemessens ideale Ausgangsbedingungen zu schaffen: Das Bestreben, gleiche Anfangschancen zu erhalten, gehört so offenkundig zum eigentlichen Prinzip der Rivalität, daß man sich sogar bemüht, die Gleichheit unter verschieden klassifizierten Spielern durch ein handicap wiederherzustellen, das heißt, proportional zur relativen Stärke der Teilnehmer innerhalb der vorher bestehenden Gleichheit der Chancen eine zweite Ungleichheit einzuräumen. Es ist bezeichnend, daß ein solcher Brauch bei jenem agon der Muskelkraft erfordert, ebenso üblich ist (Sportveranstaltungen), wie etwa bei jenem agon, der mehr die Verstandeskräfte beansprucht (beim Schachspiel gibt man oft einem schwächeren Spieler einen Bauern, einen Springer oder einen Turm vor).252
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Wie bereits erwähnt, sind Caillois’ Sektoren des Spiels – alea, mimicry, ilinx und agon – zugleich den psychischen Grundhaltungen der Spielenden zuzuordnen und haben in institutioneller oder korrumpierter Form auch ihre Pendants in gesellschaftlichen Phänomenen außerhalb der Spiele. Dem agonalen Prinzip von Wettstreit ordnet Caillois in seiner entgrenzten, pervertierten Korruption die Gewalttätigkeit, den Machtwillen und die List als Haltungen zu.253 Wo allerdings das Agonale institutionalisiert und „dem sozialen Leben integriert“254 in Erscheinung trete, sei bezeichnenderweise in Examina und in wirtschaftlichen Konkurrenzsituationen.255 Assessment-Center-Verfahren, wie sie vorangehend analysiert wurden, nun sind theatrale Spiele, die gleichzeitig Examina in wirtschaftlichen Konkurrenzsituationen darstellen: Die ausgewertete Statistik der Spielleistung des Kandidaten dient zwar gerade auch im Potentialanalyseverfahren zur Selbsteinschätzung und Aufforderung zur Selbstoptimierung, wird allerdings um eine firmenintern ausgeschriebene Position gespielt oder aber, in formal gleich ablaufenden Assessment-Center-Verfahren um eine vakante Stelle, so wird hier auch der agonale Aspekt offenbar. Denn selbstverständlich dienen die Messpunkte des Spiels nicht allein zur Schulung und Analyse der Entwicklungsfelder, sondern auch als Vergleichswerte gegenüber den anderen Spielern – so sehr, wie Torschussstatistiken im Fußball oder Kill-/ Death-Ratios von Spielern auf Spieleservern von Multiplayer-Egoshootern statistische Auswertung, Ranking-Listen und High-Scores ermöglichen. Auch das Rollenspielmodul im Einstellungsverfahren schafft artifi ziell gleiche Ausgangsbedingungen, so dass die erhobenen Daten zur Vergleichbarkeit der Performanz anderer Spieler und damit zum berechenbaren Wert für die Gemeinschaft werden. Interessanterweise speist sich aus diesem agonalen Prinzip der gleichen Ausgangsbedingungen im Spiel, wie im ersten Kapitel dargelegt, auch ein sekundäres Argument für erweiterte Personalauswahlverfahren: Anders als nach der Einstellung oder Beförderung durch eine schriftliche Bewerbung und ein herkömmliches Bewerbungsgespräch gilt die Datenerhebung des Assessment-Center-Verfahrens als weniger anfechtbar bei Klagen gegen intransparente und wohlmöglich diskriminierende Einstellungskriterien.256 Die Spielklammer bringt scheinbar ein objektivierendes Moment gleicher Bedingungen für alle Kandidatinnen mit sich: Das Spiel, sowohl agon als auch alea, ist also ein Versuch, die stets gegebenen Verwirrungen des Alltagslebens durch perfekte Situationen zu ersetzen, Situationen, in denen der Anteil des persönlichen Verdienstes oder des Zufalls klar und unwiderlegbar hervortritt; sie schließen auch ein, daß allen die gleichen Möglichkeiten eingeräumt sind, ihren Wert
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zu beweisen oder, auf der anderen Ebene, der gleichen Chancen einer Schicksalsgunst teilhaftig zu werden.257 Darüber hinaus gilt dies den Anbietern für professionelle Seminarschauspieler in diesen Prozessen gar als Verkaufsargument für ihre Dienstleistung, da explizit darauf hingewiesen wird, dass ein von Laien durchgeführter Assessment-Center-Prozess niemals diese Chancengleichheit bereitstellen könne.258 Hierbei wird vor allem mit dem Einsatz der Seminarschauspielerin argumentiert, die aufgrund ihrer professionellen Ausbildung ein gleichbleibendes Niveau des Spiels garantieren kann, während, wie im ersten Kapitel bereits erläutert und argumentativ durch Studien der Organisationspsychologie belegt, der für das Rollenspiel herangezogene, interne Mitarbeiter als Laienspielpartner in drei aufeinanderfolgenden Spieldurchläufen das Risiko birgt, dreimal völlig unterschiedliche Spielqualitäten abzuliefern und somit die Chancengleichheit im Einstellungsverfahren zu gefährden: Ist er etwa im dritten von drei angesetzten Rollenspielen ermattet oder nervlich zu sehr beansprucht, spielt er einen schwierigen Mitarbeiter unter Umständen von Beginn an wesentlich aggressiver und verändert die Ausgangslage für den Test. Nur ein professionell ausgebildeter Seminarschauspieler, so hier die Argumentation, könne eine solche Chancengleichheit im improvisierten Spiel aufrechterhalten.259 Caillois geht nun weiter davon aus, dass die Spielsektoren oft gerade in Mischformen von meist zwei Aspekten zutage treten und führt mit Theatervokabular aus, dass gerade im Wettkampf das Agonale immer mit Spuren der mimicry einherginge: Jeder Wettkampf ist, wie ich bereits sagte, in sich selbst ein Schauspiel. Er läuft nach immer gleichen Regeln und in immer der gleichen Erwartung des Endergebnisses ab. Er fordert die Gegenwart eines Publikums, das sich an die Schalter des Stadions oder des Velodroms drängt, wie an die Kino- und die Theaterkassen. Die Wettstreiter werden für jeden Vorsprung, den sie sich sichern beklatscht. Ihr Kampf hat seine Höhepunkte, die den verschiedenen Akten oder Episoden eines Dramas entsprechen. Hier muss man schließlich daran erinnern, bis zu welchem Grade der Champion und der Star austauschbare Figuren sind. Es besteht eine Verbindung von zwei Tendenzen, denn die mimicry schadet dem Prinzip des agon nicht nur nicht, sondern stärkt es durch den Zwang, dem sich jeder Konkurrent ausgesetzt sieht, ein Publikum nicht zu enttäuschen, das ihm sowohl Beifall klatscht als ihn auch kontrolliert. Er fühlt sich als Repräsentant, er ist verpflichtet, so gut wie möglich zu spielen, das heißt, einerseits mit vollkommener
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Korrektheit und anderseits mit der äußersten Anstrengung, den Sieg davon zu tragen.260 Zieht Caillois auch einen Vergleich zwischen Schauspiel und Wettkampfspektakel, so kommt ihm der Umkehrschluss, ein Theater mit agonalen Zügen, in seinen zahlreichen Beispielen der Verbindung zweier Sektoren unverständlicherweise nicht in den Sinn, obwohl gerade das antike Theater auch Wettbewerbe – eben den namensgebenden tragischen Agon – kannte.261 Galt hier der Ruhm beim Sieg neben den Darstellenden vornehmlich dem Dichter, so kann man umgekehrt jedoch festhalten, dass auch dieses agonale Spiel, das zugleich eine der ersten überlieferten Theaterformen darstellt, brüchige Rahmen und ernste ‚berufliche‘ und politische Konsequenzen hatte: Der Autor des Wettbewerbs, der zum Sieger erklärt wurde, war in der attischen Gesellschaft so hoch angesehen, dass er in politische und militärische Ämter gewählt wurde.262 Caillois nun aber verortet das Theater im Sektor der mimicry mit gleichzeitig starkem Ausschlag hin zum regelgebunden ludus – also dem regelgebundenen Als-ob, wie der Maske oder der Illusion. Abgesehen von der Rahmung eines Theaterfestivals oder der Auswertung einer Kritik, spielt allerdings ein agonales Prinzip auch in der theaterwissenschaftlichen Analyse der Aufführung tendenziell kaum eine Rolle. Hervorzuheben wäre hier aus der Theoriebildung der Performance Studies allerdings Jon McKenzies Buch Perform or Else, das die These vertritt, dass das kulturelle Performance-Konzept agonal und verwandt mit kompetitiven, ökonomischen Wettbewerbssituationen ist.263 Aus der Perspektive der hier vorliegenden Studie ist es dabei schon fast ungewöhnlich zu nennen, dass McKenzie in seinem Kapitel zur Engführung des ökonomischen mit dem theatralen Performance-Begriff Rollenspiele in Personalauswahlverfahren mit keinem Wort erwähnt. McKenzie problematisiert hier gleichzeitig allerdings auch, wie weitläufig die Phänomene sind, die unter der komplexen Definition von kultureller, ökonomischer und technologischer Performance ihren Platz finden können.264 Der Aspekt des Spiels, ein eigenes Regelsystem innerhalb der Spielklammer aufzustellen, das die Regeln des Alltags für die Dauer des Spiels ersetzt oder an anderer Stelle ergänzt, um gleiche Ausgangsbedingungen für alle am Wettbewerb Beteiligten zu schaffen, erscheint aber auch in einigen Theaterformen des Applied Theatre von Bedeutung, die nicht dem agonalen Prinzip folgen: So können durch die Regel gleicher Ausgangsbedingungen für alle Beteiligten im sogenannten theatre for development oder im Theater zur Konfliktprävention und -bewältigung durch dieses Regelsystem Gruppen innerhalb einer Gemeinschaft eine Stimme gegeben werden, die sonst nicht geduldet wird: In einer eigentlich streng patriarchal
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geprägten Kultur können Frauen innerhalb der Theaterklammer gleichberechtigt mit Männern das Wort führen,265 ausgegrenzte Ethnien erhalten ein Forum, das ihnen im Alltag verwehrt ist, Täter und Opfer eines Konflikts überwinden im schützenden Rahmen des Spiels das Schweigen über ein Verbrechen.266 Auch in anderen Formen des Unternehmenstheaters als denen der hier fokussierten Einstellungs- und Potentialanalyseverfahren wird sich diese enthierarchisierende Eigenschaft zunutze gemacht, wenn etwa Führungskräfte und Mitarbeiterinnen ihrer Abteilung durch das Spiel ihre Kommunikationsformen verbessern sollen und z. B. Boal’sches Forumstheater zum Einsatz kommt. Hier schwebt dann das agonale Prinzip außerhalb der Spielklammer als Damoklesschwert über den Spielenden, da der Spielrahmen zwar konsequenzvermindert, aber nicht konsequenzlos ist und längst nicht alles als Unernst verstanden sein will, nur weil es im Spiel geäußert wurde. Somit kann das Sprechen, Handeln und Spielen unter dem scheinbar enthierarchisierenden Moment der metakommunikativen Spielklammer auch lediglich ein Spiel von sozialer Erwünschtheit darstellen.267 Sektoren und Pole: mimicry Rollenspiele im Unternehmenskontext unterliegen durch die Wettbewerbssituation der Firmen selbst wie der von Bewerberinnen oder Mitarbeiterinnen untereinander so zum einen ganz klar dem agonalen Prinzip, doch auch die mimicry, der die Illusion, die Maske, die Verkleidung, die Imagination einer zweiten Wirklichkeit, das Spielen einer Rolle und die fiktive Betätigung zugeschrieben werden, sind natürlich Aspekte dieser Simulationsübungen.268 Rein oberflächlich betrachtet, könnte der Einwand erfolgen, dass es sich kaum um Illusion und Verstellung im Sinne des Theaterspiels handeln mag, wenn ein Kandidat für eine Prüfung ein Ideal-Ich entwirft, das durch ein Prüfungskomitee auf ihn und seine Kompetenzen zurückgebunden wird. Jedoch es verbleibt, wie im Ausklang des ersten Kapitels dargelegt, dass der Seminarschauspieler eine komplett fiktive Persona darstellt und auch alle Arbeitshandlungen fiktive und lediglich auf dem Arbeitsalltag basierende Tätigkeiten sind. Caillois nun führt Als-ob-Spiele von Kindern, Karnevalskostüme von Erwachsenen und auch das Theater als Beispiele für mimicry ins Feld, wobei sehr deutlich wird, dass sein Begriff von Theater die konventionelle Guckkastenbühne des Literatur- und Kunsttheaters meint.269 Ist damit auch sein Theaterbegriff in seinen Passagen zur mimicry für diese Studie zweitrangig, so werden seine Ausführungen fruchtbarer, wenn er versucht, definitorische Grenzen von Spiel und Nicht-Spiel der mimicry zu ziehen: Wer sich nämlich dagegen verkleide, um tatsächlich irrezuführen – Caillois nennt hier den Spion und den Flüchtling270 –, der spiele nicht. Interessant
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erscheinen gerade an dieser Stelle die vielen Zwischenstadien zwischen Spiel und Nicht-Spiel, die ein elaborierterer Theaterbegriff als der Caillois’ bereithält.271 Dem Unsichtbaren Theater Boals ist, wie zuvor ausgeführt, gerade das Moment der Irreführung der umstehenden, unfreiwilligen Zuschauerinnen nicht fremd – die Verunklarung des Theatervertrags ist ganz im Gegenteil kritisches Moment der Strategie seiner Wirkungsästhetik. Formen des immersiven Theaters weiter können die Zuschauerin in ihren durchaus illusionistischen Spielwelten mit perfiden, moralischen Tests her ausfordern, die das Spiel entgrenzen und die Frage stellen, wo Spiel für die involvierten Besucher aufhört und was sie als ‚Figur‘ moralisch verantworten oder ertragen können: In den immersiven Spielwelten der Gruppe SIGNA etwa werden gerade solche Charakterproben häufig installiert – man soll ein Glas Salzwasser austrinken, ansonsten werde ein anderer Mitspieler bestraft,272 man soll eine Figur und damit im Grunde auch einen Darsteller schlagen, weigere man sich, würde ein dritter Mitspieler aus dem Ensemble SIGNAs zuschlagen, nur eben umso heftiger273 etc. Und gerade Caillois’ Beispiel des Spions als Nicht-Spieler ist äußerst interessant gewählt, da in den Geburtsstunden des modernen Assessment-Center-Verfahrens, wie in Kapitel eins ausgeführt wurde, eben diese Rollenspiele, die aus den theatralen, militärischen Planspielen der heerespsychologischen Auswahlverfahren erwuchsen, zur Ausbildung von US-amerikanischen Auslandsgeheimdienstmitarbeitern des OSS angewandt wurden.274 Wenn der Spion also nicht spielt, so wurde er auf dieses Nicht-Spiel doch zumindest mit Spielen trainiert. Allerdings: Auch der Berufsschauspieler bereitet Caillois Probleme, denn ist das Theater bei ihm zwar eindeutig Spiel, so ist der bezahlte Schauspieler seiner Ansicht nach freilich in ein Spiel involviert, allerdings spiele er nicht.275 Diese von ihm fast beiläufig noch fallengelassene These verdeutlicht zugleich eine geradezu paradoxe Denkfigur, die mit seinen vorangehend erläuterten Postulaten und Leerstellen über die Produktivität des Spiels korreliert: Das Theater ist neben Karneval und Räuber-und-Gendarm-Spiel Caillois’ alleiniges Beispiel für geregelte mimicry,276 Spiel ist nach Caillois’ Definition eindeutig eine Betätigung, Schauspieler im Theater aber spielen nicht, wenn sie bezahlt werden. Folglich spielen im Theater nur Zuschauer und unbezahlte Laienschauspieler. Sobald gearbeitet wird, kann offenbar nicht gespielt werden, denn mimicry wird bei Caillois nicht zuletzt aus der Freude heraus erklärt, was der Pragmatik des Broterwerbs und somit auch den Assessment und Development Centern nicht entspräche. Die ‚zweite Wirklichkeit‘ der Alltagssimulation und der Einsatz des Seminarschauspielers in einer von ihm völlig abständigen Rolle sprechen somit zwar für den Sektor mimicry, der Kandidat, der in der Prüfung zwischen Selbst und Selbstent-
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wurf oszilliert, und der Ernst, mit dem der Prozess begangen wird, rückten ihn somit in Caillois’ System allerdings eher in die Nähe der Nicht-Spieler Spion und Flüchtling. Spielergebnis Die theatralen Module von Personalauswahlverfahren der Assessment und Development Center wurden im ersten Kapitel dieser Studie zunächst historisch auf psychologische Auswahlverfahren im Kontext von Militär und Geheimdienst sowie auf Mitarbeiterschulungen nach den Methoden Morenos zurückgeführt. Die Verfahren wurden dabei dem Unternehmenstheater zugerechnet. Anschließend wurde der ambivalente Umgang mit Unternehmenstheater im Diskurs um Applied Theatre illustriert, um letztendlich theatrale Module von Assessment-Center-Prozessen und Potentialanalyseverfahren dem Korpus des Applied Theatre zuzurechnen. In einer anschließenden Analyse und Diskussion wurden die Aspekte der Verfahren hervorgehoben, in denen ihr Theatercharakter zum Tragen kommt. Andere Aspekte, vor allem das Spiel um Einsatz, die partizipatorische Simulation, das Gewinnen oder Verlieren einer vom Alltag enthobenen Situation, wiederum ließen es fruchtbar erscheinen, das Theater der Personalauswahlverfahren unter der Perspektive der Ludologie zu betrachten. Dabei wurde zunächst eingangs festgehalten, dass die Verfahren Spiel zu nennen, sie keinesfalls aus einem Theaterparadigma herauslöst, da mit Hermann oder Fischer-Lichte alle Theateraufführungen auch eine spezifische Form von Spiel darstellen277 – lediglich gesellen sich neben dieser spezifischen Form auch andere, in einer theaterwissenschaftlichen Betrachtung konventionellerweise weniger fokussierte Aspekte diesen Verfahren bei. Zunächst wurden dabei eingangs Spielbegriffe vorgestellt. Kennedy C. Chinyowa wurde mit seinem Postulat zitiert, dass es sich bei Applied-Theatre-Formen um ernste Spiele handele,278 ein Terminus, der sich als Arbeitsbegriff durch die Betrachtung ziehen sollte. Mit Helmar Schramm wurde der Begriff des Spiels insofern problematisiert, als dass ein wie auch immer gearteter ‚gesunder Menschenverstand‘, ein common sense zu glauben scheint, Spiel von anderen Phänomenen trennen zu können, sich dies auf wissenschaftlichem Niveau jedoch wesentlich schwieriger gestaltet als mit nicht argumentativ verankerter Alltagsintuition.279 Schließlich wurde Johan Huizingas Homo Ludens herangezogen, um eine kanonisierte, kulturwissenschaftliche Definition des Spiels zum Ausgangspunkt einer Diskussion der Ästhetik des Assessment Centers zu machen. Huizingas Spieldefinition trennte dabei, so wurde aufgezeigt, ein Idealspiel von den konkreten Spielen und erwies sich in der Perspektive, Spiel sei Ursprung der Kultur und durchwebe alle ihre Bereiche auch in Sphären des Nicht-
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Spiels, als geistesverwandt zum Konzept der Kulturen des Performativen wie der Theatralitätsforschung. Freiwilligkeit im Handeln bildet dabei für Huizinga ein entscheidendes Kriterium für das Spielen, während am Assessment-Center-Prozess die Möglichkeit eines unfreiwilligen Spiels diskutiert werden muss. Huizinga fasst weiter Spiel als einen Gegenstand der Ästhetik auf. Jedoch wurde aufgezeigt, dass sein Verständnis von Ästhetik noch stark von der Distanznahme, dem Kontemplieren und dem interesselosen Wohlgefallen ausgeht, so dass bisweilen seine Beschreibungen der Ästhetik des Spiels dem partizipatorischen Aspekt nicht gerecht werden. Der Ästhetik des Spiels der Assessment-Center-Prozesse wurden partizipatorische ästhetische Konzepte – Schauspieltheorien, das wirkungsästhetische Konzept von bleed aus dem Bereich des Live action role-playing game, die relational aesthetics aus der Kunstwissenschaft sowie ein Versuch über die Warenästhetik zum Vergleich zur Seite gestellt, um auch das Assessment Center als einen Gegenstand der Ästhetik des Applied Theatre ausweisen zu können. Mit der Theorie der metakommunikativen Interaktion Gregory Batesons und der Rahmenanalyse wurde aufgezeigt, dass die Ernsten Spiele des Applied Theatre offenbar entgrenzt sind und brüchige Rahmen haben, die den Theatervertrag verunklaren. Danach wurde ein zweites, großes Standardwerk der Ludologie herangezogen, das sich intensiver den negativen Aspekten solcher brüchiger Rahmen widmet und Huizingas Perspektive erweitert und ergänzt: Roger Caillois’ Die Spiele und die Menschen half zunächst zusammen mit Gunter Gebauers Beitrag Das Spiel und die Arbeitsgesellschaft dabei zu erläutern, wie Spiel und Arbeit ins Verhältnis zu setzen sind und warum in einer Sphäre immaterieller Arbeit gerade das Spiel kapitalisierbar ist, da es eben entgegen kanonischer Annahmen doch materielles Interesse involvieren kann und auch produziert. Anschließend wurde Caillois’ Prinzip des agonalen Spiels und der ‚Korruption der Spiele‘ mit den erweiterten Personalauswahlverfahren verglichen. Wichtig war hier nicht zuletzt auch die Erkenntnis, dass die Trennung von Spiel und Nicht-Spiel weniger den Gesetzen einer epistemologischen Taxonomie der konkreten Spiele und Nicht-Spiele gehorcht, als vielmehr eine ethische Forderung und bewusste, kulturelle Handlung darstellt. Setzt man ästhetisch keine Rahmen und produziert somit Authentizitätseffekte, ohne diese klar auszuweisen, um in politische und gesellschaftliche Realität zu intervenieren, so verunklart man in darstellenden Formen den Theatervertrag. Die Intervention des Spiels in die Sphäre des Nicht-Spiels ist damit als im Ästhetischen verankert erklärt worden. Assessment-Center-Prozesse wie Unternehmenstheater und AppliedTheatre-Projekte weisen allesamt durch das partizipatorische Rollenspiel oder auch nur durch gemeinschaftsbildende spielerische Übungen Aspekte
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auf, die erlauben, sie der Sphäre des Spiels zuzuordnen. Gleichzeitig ist ihnen, wie im ersten Kapitel dargelegt wurde, gemein, dass ihre Ziele, ihre Konzepte, ihre Politiken explizit auf eine politische und soziale Realität gerichtet sind, in die sie zu intervenieren wünschen. Diese Entgrenzung und Vermengung zwischen Spiel und gewöhnlichem Leben bringt es, ganz wie Caillois es mit der „Korruption der Spiele“ anmahnt, mit sich, dass die Haltungen der Spieler sich verändern und mitunter auch die Freiwilligkeit verloren geht.280 Bezeichnend ist jenseits ethischer Wertung dabei, als welch machtvolle Instrumente die Spiele im Hinblick auf den Einfluss auf die politische, ökonomische oder soziale Realität erscheinen können, wenn man ihre bisweilen destruktive Kontingenz in der Entgrenzung zu regulieren vermag. Und exakt das ist es, was das Unternehmenstheater im Kern ausmacht: Es kanalisiert die Wirkmacht der Spielaspekte von agon und mimicry in die gewünschte Bahnen. Die theatralen Module von Assessment und Development Centern sind ästhetische Dispositive, die die erwünschten psychologischen Haltungen von agon und mimicry der Mitarbeiterin mit dem Potential des Spiels selektieren, proben, kanalisieren und forcieren. Im Folgenden soll eine weitere Analyse eines Assessment-Center-Prozesses in einer Kleinstadt in Nordrhein-Westfalen die Spielaspekte dieser Verfahren am Beispiel fokussieren.
5 Mise-en-abyme [[...]] „Ihre Fahrkarte bitte!“ Der Zugbegleiter der Deutschen Bahn tritt ins Abteil und wendet sich an den nächsten zu kontrollierenden Fahrgast, der allein in einer Zweiersitzreihe Platz genommen hat und in seinen Papieren liest. Er reagiert nicht. „Entschuldigen Sie … Ihre Fahrkarte bitte!“ Der Schaffner wendet sich dem Fahrgast zu, spricht ihn nun direkt mit zugewandtem Blick freundlich an, da er vermuten muss, dass dieser beim Lesen so in Gedanken war, dass er die Aufforderung überhört hat. Der Fahrgast schaut von seinen Papieren auf, stößt ein leises, abgehacktes, sarkastisches Lachen aus, das andeutet, dass er sehr wohl zugehört hat, aber sich gestört fühlt oder die Aufforderung als Zumutung wahrnimmt, und erwidert mit einer subtil provokativen Intonation: „Nein … wissen Sie was? Ich werde Ihnen meine Fahrkarte nicht zeigen!“ Der Schaffner ist sichtlich irritiert, zieht die Augenbrauen hoch und wirkt verloren. Er versucht, auf die Anfeindung nicht ebenfalls mit Ag-
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gression zu reagieren und beginnt, dem Fahrgast sachlich und um Ruhe bemüht klarzumachen, dass er sich an die Beförderungsregeln zu halten hat: „Dann haben wir ein Problem, denn ich darf Sie nicht ohne gültigen Fahrausweis fahren lassen“, äußert er so neutral und wenig autoritär oder belehrend wie möglich. Das bringt den Fahrgast dennoch endgültig zur Weißglut: „Problem – Sie sprechen von Problem? Wenn Sie wüssten, was Sie mir für Probleme bereitet haben! Ich habe einen gültigen Fahrausweis, das können Sie mir glauben, und jetzt gehen Sie weiter! Das ist doch eine Frechheit!“ Der Schaffner versucht, dem Fahrgast daraufhin klarzumachen, dass er, selbst wenn er behaupte, einen gültigen Fahrausweis zu haben, diesen zeigen oder ein Bußgeld in Kauf nehmen müsse, woraufhin der Fahrgast einsilbig, mit beinahe traurig-zornigem Fatalismus reagiert und sich, das Bußgeld in Kauf nehmend, weiterhin weigert, seine Fahrkarte vorzuzeigen. Mehr an sich selbst gerichtet als an seinen Gesprächspartner, betont er mit bitterer Stimme, dass dies das letzte Mal war, dass er mit der Deutschen Bahn gefahren sei und dass das Bußgeld für ihn den Gipfel der Ironie darstelle. Der Schaffner versucht es mit Empathie: „Entschuldigen Sie, ich sehe, dass Sie sich sehr ärgern und offenbar ein Problem haben. Ich weiß aber gar nicht, was passiert ist. Es tut mir sehr leid, aber ich muss auch meiner Arbeit nachgehen!“ Diese Öffnung des Gesprächs weg vom eigentlichen Ziel des Schaffners – der Kontrolle der Fahrkarte – hin dazu, den Kunden in seinem Ärger aufzufangen und an dem emotionalen Hindernis in der Kommunikation zu arbeiten, bringt die beiden Streitenden in der Lösung des Problems näher. Der Fahrgast beginnt – zunächst noch sehr agitiert – zu erzählen, dass er einen wichtigen Arbeitstermin habe und aufgrund der Verspätung des Zugs von zwanzig Minuten, die auf dieser Strecke, die er regelmäßig fährt, nicht zum ersten Mal passiert, diesen Termin nun unweigerlich verpasst, da ein Anschlusszug nicht mehr erreicht wird. Er erklärt weiter, dass es nicht einmal eine vernünftige Durchsage gegeben habe, er sich auf die Bahn verlassen können müsse, dass er eigentlich Bahncard-100-erste-Klasse-Kunde sei und dass der verpasste Termin für ihn eine mittelschwere Katastrophe darstelle. Der Schaffner ist nun zum einen im Bilde, dass der Fahrgast ein Premiumkunde ist, der immerhin etwa siebentausend Euro im Jahr für sein Ticket ausgibt und somit zu einem Kundensegment gehört, an dem der Deutschen Bahn viel gelegen ist. Dazu kommt, dass der Ärger des Fahrgasts durchaus nachvollziehbar ist und sich darüber hinaus durch die richtige Gesprächsführungsstrategie vielleicht wird abfangen lassen können.
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Der Schaffner erläutert die Umstände der Verspätung, für die nicht das Zugpersonal dieses Zuges, sondern die Logistik im letzten Bahnhof verantwortlich war, und entschuldigt sich dennoch persönlich beim Fahrgast für die Unannehmlichkeiten, die dieser Umstand mit sich bringt. Er bestätigt dem Kunden, dass er seinen Ärger nachvollziehen kann, bittet umgekehrt noch einmal für seine Position um Verständnis und fragt, ob er irgendetwas für ihn tun könne, um ihm in seiner Situation auszuhelfen. Der Kunde benötigt alternative Anschlussmöglichkeiten, die der Schaffner auf seinem Tablet in Erfahrung bringen kann. Die Situation entspannt sich – der Fahrgast gesteht ein, in seinem Ärger überreagiert und sich unangemessen an dem Schaffner ausgelassen zu haben. Am Ende des Gesprächs zeigt der Fahrgast seine Bahncard 100 schließlich vor. Man entschuldigt sich noch einmal gegenseitig und verabschiedet sich höflich. [...] „Ihre Fahrkarte bitte!“ Der Servicemitarbeiter der Deutschen Bahn spielt, dass er ein Zugabteil betritt, um die Fahrkarten der Fahrgäste zu kontrollieren. In Wirklichkeit befindet er sich in einem Seminarraum der Deutschen Bahn bei einem Rollenspiel-Coaching für Servicemitarbeiter. Im Stuhlkreis um die Spielszene herum sitzen andere Angestellte aus dem Servicebereich des Unternehmens und der Trainer des Seminars. Die Mitte des Raums ist zur Spielfläche erklärt worden, zwei nebeneinander gestellte Stühle sollen die Sitzreihe eines ICE simulieren. Der Servicemitarbeiter der Bahn wurde nicht vorab informiert, was ihn im Detail erwartet. Er weiß nur, dass er ein Rollenspiel durchlaufen wird, das thematisch an seinen Arbeitsalltag angebunden ist, dass er Fahrkarten kontrollieren muss und dass der fiktive Zug, in dem er eingesetzt ist, eine leichte Verspätung haben soll. Auf einem der Stühle, die improvisiert eine Sitzreihe des Zugabteils darstellen sollen, hat ein Seminarschauspieler Platz genommen, der den Servicemitarbeiter als Spielpartner durch das Rollenspiel begleitet, durch das Erkennen und Reagieren auf spezifische kommunikative Strategien das Gespräch lenkt und gleichzeitig den Servicemitarbeiter beobachtet und bewertet, um ihm im Anschluss an das Spiel Feedback geben zu können. Der Seminarschauspieler hat sich einige Blätter leeres Kopierpapier genommen, das er nun als Requisite nutzt und spielt, er würde konzentriert darin lesen und den Schaffner bewusst ignorieren. Der Servicemitarbeiter kann natürlich erwarten, dass dies keine einfache Fahrkartenkontrolle wird und der Fahrgast mit irgendeinem Problem im Zusammenhang mit der narrativ gesetzten Verspätung an ihn herantreten wird. Allein, welcher Art das Problem sein wird, kann er nicht wissen.
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Nach kurzem Abwarten und ausbleibender Reaktion auf die Aufforderung, die Fahrkarten vorzuzeigen, wendet er sich dem Seminarschauspieler direkt zu, versucht Augenkontakt herzustellen und bittet erneut um die Fahrkarte. Der Seminarschauspieler blickt von seinen leeren Blättern auf, stößt ein leises, abgehacktes, sarkastisches Lachen aus, das andeutet, dass seine Figur sich gestört fühlt oder die Aufforderung als Zumutung wahrnimmt und erwidert mit einer subtil provokativen Intonation: „Nein … wissen Sie was? Ich werde Ihnen meine Fahrkarte nicht zeigen!“ Er beginnt an dieser Stelle, ein Problem für den Servicemitarbeiter aufzubauen, das nur durch bestimmte, kommunikative Strategien gelöst werden kann, die seine Figur zum Einlenken bewegen werden. Der Fortlauf des Rollenspiels ist dabei aus seiner Perspektive eine Mischung aus freier Improvisation und geplanter Gesprächsführung, in der bestimmte Abschnitte festgelegt, einige vorbereitet, aber auf die Situation hin moduliert, andere wiederum völlig frei und spontan sein können. Der Servicemitarbeiter hat noch keine Strategie, wie er sich der Lösung des ihm gestellten Problems weiter annähern kann und erläutert zunächst Fakten, wie sie sich in seinem Arbeitsalltag aus dieser Konfliktsituation ergeben würden. Er bemüht sich dabei aber um einen freundlichen und gelassenen Ton, da er bemerkt, hier mit einer Figur konfrontiert zu werden, die unterschwellig sehr wütend ist: „Dann haben wir ein Problem, denn ich darf Sie nicht ohne gültigen Fahrausweis fahren lassen.“ Der Seminarschauspieler hat die Agenda seiner Figur strategisch mit seinem Trainer vorbereitet. Der Fahrgast, der für dieses Rollenspiel entworfen wurde, ist eigentlich ein gut zahlender Premiumkunde der Deutschen Bahn, der entsprechenden Service erwartet. Er ist Vorstandsmitglied eines großen Unternehmens und hat ein dringendes Meeting, das ihm auch ohne logistische Probleme der Anreise schon Stress bereitet und das er durch eine Verspätung des Zugs nicht mehr wird wahrnehmen können, da er unweigerlich einen Anschlusszug verpassen wird. Diese Situation hat eine Menge Wut in dem Kunden aufgebaut, da er der Meinung ist, gutes Geld für einen Service zu bezahlen, den er nicht erhält. Hinzu kommt, dass er aufgrund des aufgestauten Ärgers seiner Figur für den Servicemitarbeiter zunächst irrational auftritt, da er den Charakter seines Fahrgastes so anlegt, dass er nicht geradeheraus den Kern des Problems anspricht, sondern sich passiv-aggressiv verhält, um die Situation bewusst eskalieren zu lassen. Dabei verweigert er trotzig bis fatalistisch die Fahrkartenkontrolle, um sich mehr und mehr in die Rolle des Opfers eines – seiner Ansicht nach – schlechten Service zu steigern. Die Figur ist somit derart entworfen,
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dass sie zunächst abweisend, einsilbig und den Ärger unterdrückend auftritt, so dass allein das Grundproblem, dass der Kunde zutiefst verärgert ist, noch jenseits dessen, warum er verärgert ist, erst bei der Eskalation des Gesprächs zu Tage treten wird. Sobald nun deutlich werden wird, dass die Figur verärgert ist, wird sie wiederum den Grund des Ärgers erst nennen, wenn bestimmte Schlüsselworte fallen, die ihr in der Gesprächsführung Empathie gegenüberbringen. Der Seminarschauspieler greift nun improvisiert das vom Servicemitarbeiter fallengelassene Wort ‚Problem‘ auf und baut es in die Konversation ein. Jetzt ist der Zeitpunkt gekommen, den Ärger seiner Figur deutlich nach außen zu tragen, ohne den Grund zu nennen. Er legt entrüstet die Papiere nieder, schaut seinen Spielpartner kurz an, dann, unterstützt von agitierter Gestikulation und mit erhobener Stimme, eher larmoyant und gekränkt in den Raum monologisierend als weiter zum Schaffner sprechend, lässt er es aus der Figur herausplatzen: „Problem – Sie sprechen von Problem! Wenn Sie wüssten, was Sie mir für Probleme bereitet haben! Ich habe einen gültigen Fahrausweis, das können Sie mir glauben, und jetzt gehen Sie weiter! Das ist doch eine Frechheit!“ Der Servicemitarbeiter wirkt von der weiter aufkochenden Antipathie leicht irritiert, tritt einen halben Schritt zurück: Eben noch äußerte sein Spielpartner eine unterschwellige Wut und eröffnete ein passiv-aggressives Spiel der Verweigerung, jetzt hebt er die Stimme und der Ärger tritt offen zutage. Allerdings wird aus den Äußerungen nicht erkennbar, worüber sich die Figur erregt. Anstatt nachzufragen, was denn diese ‚Frechheit‘ sei, über die der Kunde so wütend ist, dass er die Kontrolle verweigert, versucht der Servicemitarbeiter jedoch weiter, die Situation mit seiner Autorität auf direktem Weg zu lösen. Sachlich angebunden, erläutert er, dass der Fahrgast ein Bußgeld in Kauf nehmen muss, wenn er sich weiter unkooperativ verhalten wird, da jeder sich an die Beförderungsbedingungen zu halten habe. Diese kommunikative Strategie, die nicht empathisch auf das Problem des Fahrgasts eingeht, sondern den Versuch darstellt, die Situation autoritär zu lösen, um direkt zum Ziel zu kommen, wird vom Seminarschauspieler identifiziert und abgestraft. In seinem internalisierten ‚Bedingungsbaum‘ des Rollenspielnarrativs, in dem bei einer bestimmten Anzahl möglicher Reaktionen des Spielpartners die entsprechenden Gegenreaktionen antizipiert und festgelegt sind, muss er nun weiter Hindernisse aufbauen, um den Servicemitarbeiter zu zwingen, eine andere Lösungsstrategie zu entwickeln, um den Streit zu schlichten und das Ziel – das Vorzeigen der Fahrkarte und das Lösen des Konflikts – zu erreichen. Da er sich bereits vorangehend stark erregt hat, wählt er im Folgenden das Verhalten aus, sich
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beleidigt, resignierend zu verschließen. Er verschränkt die Arme, wendet den Blick vom Schaffner ab, starrt zur Seite aus dem imaginierten Fenster des Abteils, beobachtet, wie die imaginierte Landschaft vorbeizieht, und spricht anscheinend mehr zu sich selbst als zum Servicemitarbeiter mit bitterer Stimme davon, dass dies das letzte Mal gewesen sein werde, dass er mit der Deutschen Bahn gefahren sei und dass das Bußgeld wohl der Gipfel der Ironie sei. Der Servicemitarbeiter reagiert aufmerksam. Er bemerkt, dass er in der Gesprächsführung nicht die Oberhand bekommt, wenn er keine Anhaltspunkte erhält, warum der Fahrgast, den der Seminarschauspieler für seine Testsituation entworfen hat, sich so erregt. Mit dieser Erkenntnis verändert er seine Taktik, versucht sich an einer deeskalierenden Gesprächsführungsstrategie und äußert: „Entschuldigen Sie, ich sehe, dass Sie sich sehr ärgern und offenbar ein Problem haben. Ich weiß aber gar nicht, was passiert ist. Es tut mir sehr leid, aber ich muss auch meiner Arbeit nachgehen!“ Der Schaffner schlägt eine Brücke zu dem wütenden Fahrgast, indem er empathisch auf den Kunden eingeht und Interesse für sein Problem äußert. Gleichzeitig versucht er seinen Standpunkt auf einer zwar beruflichen, aber dabei nicht als Funktion, sondern als Mensch agierenden, persönlichen Ebene zu verdeutlichen. Er sucht den Kontakt zum Kunden, bleibt dabei sowohl zielorientiert und authentisch als auch deeskalierend und empathisch – er hält möglichen Ärger über den persönlichen Angriff zurück, um einzulenken und den Streit zu schlichten. Wichtig ist zudem, wie eine vorherige Schulung klargemacht hat, im wording sogenannte Ich-Botschaften zu verwenden und sich nicht hinter dem kollektiven Wir als Agent des anonymen, gesichtslosen Firmenkorpus zu verstecken. Diese Kommunikationsstrategie wird wiederum vom Seminarschauspieler identifiziert und entsprechend belohnt, indem seine Figur sich öffnet und neue Details zur Lösung der Situation preisgibt. Nun ist der Zeitpunkt gekommen, die Agenda seiner Figur zu enthüllen, wenngleich sich auch der Fahrgast noch nicht beruhigen wird. Durchaus mit wütender und agitierter Stimme schimpft der Seminarschauspieler über die zwanzig Minuten Verspätung, die der Zug inzwischen habe, darüber, dass diese Verspätungen öfter vorkämen und dass er einen wichtigen Arbeitstermin wahrnehmen müsse, den er unweigerlich verpassen werde, da der Anschlusszug nicht erreicht werde. Mit dieser gespielten Schimpftirade umrahmt der Seminarschauspieler zum ersten Mal in dem Gespräch überhaupt das emotionale Problem, das zwischen seiner Haltung und der Lösung der Situation – dem Vorzeigen der Fahrkarte – steht. Obgleich äußerlich betrachtet der Streit hier weiter an Fahrt aufnimmt, da der Kunde sich noch stärker agitiert zeigt, ist dieser
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Abschnitt zugleich als ein Teilerfolg des Servicemitarbeiters zu bezeichnen, da er durch die Gesprächsführung überhaupt zum zugrundeliegenden Problem vorgedrungen ist. Und auch ein weiteres, entscheidendes Detail lässt der Seminarschauspieler in seine Beschwerde einfließen: Er beklagt indirekt, wie viel Geld er der Bahn für den Service, den sie ihm nicht liefert, zahlt, indem er fallen lässt, er sei Bahncard-100-erste-Klasse-Kunde. Auch hier muss der Servicemitarbeiter aufmerksam werden, da seiner Firma an einem solchen Premiumkunden sehr viel gelegen ist. Hier handelt es sich nicht um einen betrunkenen Fußballfan, der versucht hat, eine Kurzstrecke mit der Regionalbahn schwarzzufahren, sondern um einen Kunden, der immerhin siebentausend Euro im Jahr für seine Bahncard ausgibt. Der Servicemitarbeiter hat nun mit einer offenbar erfolgreichen Gesprächsführungsstrategie agiert – authentisch, empathisch, zielorientiert, professionell, aber dennoch auf einer persönlichen Ebene, in der er sich nicht hinter seiner Funktion und in der Rede nicht hinter einem unpersönlichen ‚wir‘ versteckt, sondern sich mit seiner Firma identifizierend als Repräsentant seines Unternehmens handelnd entschuldigt, zuhört, deeskaliert und dann problemorientiert die Situation analysiert und abwägt, welcher Handlungsspielraum ihm zur Lösung gegeben ist. Das Spiel – bzw. sein Spielpartner, der sich hier an vorgegebene Regeln des Spiels hält – belohnt ihn dafür mit narrativen Versatzstücken, die zusammengesetzt werden müssen, um die Lösung des Problems in Angriff nehmen zu können. Der Servicemitarbeiter hat nun in verschiedenen Stadien des Gesprächs alle Informationen erspielt, die er benötigt. Stadium eins war die Ausgangssituation: Ich habe einen Fahrgast, den ich kontrollieren muss. Der Zug, in dem ich eingesetzt bin, hat Verspätung. Stadium zwei offenbarte das Hauptproblem des Spiels: Der Kunde zeigt mir aus irgendeinem Grund seine Fahrkarte nicht und agiert irrational. Stadium drei liefert erste Anhaltspunkte zur Problemlösung: Der Kunde ist extrem verärgert, behauptet eine Fahrkarte zu haben, diese aber nicht vorzeigen zu wollen, da er sich schlecht behandelt fühlt. Ihm wurden Probleme bereitet, die wahrscheinlich mit der Verspätung zusammenhängen könnten. Der Übergang von Stadium drei zu Stadium vier ist dabei der neuralgische Punkt der Interaktion. Hier können die Informationen zur Lösung des Spiels mit der richtigen Gesprächsführungsstrategie erspielt werden. Beharrt der Servicemitarbeiter auf den Beförderungsbedingungen und auf seiner Autorität, so wird der Kunde sich weiter verweigern, erregen und beleidigt das Bußgeld in Kauf nehmen. Das Spiel würde im schlimmsten Fall damit enden, dass ein Premiumkunde vergrault wurde – der schlechtmöglichste Ausgang. Wird der vorangehend beschriebene Weg über Empa-
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thie, persönliche Ansprache und richtiges Zuhören eingeschlagen, so werden in Stadium vier die Schlüsselinformationen fallengelassen: Der Kunde ist Bahncard-100-erste-Klasse-Kunde, die Verspätung des Zugs bereitet ihm massive Terminschwierigkeiten, er fühlt sich ungerecht behandelt, da er viel Geld für einen Service bezahlt, den er nicht erhält. Die Verspätung erlebt er dabei nicht zum ersten Mal. Heute ist sie aber besonders proble matisch, da der Termin, den er verpasst, sehr wichtig ist. Stadium fünf wäre die Lösung des Konflikts – unter den gegebenen Umständen dem Kunden den bestmöglichen Service liefern, so dass der Fahrgast in seinem Ärger abgefangen wird, bereit ist, seine Fahrkarte vorzuzeigen und eventuell nicht als Premiumkunde der Bahn verloren geht. Dieser Ausgang könnte als ‚das Spiel gewinnen‘ bezeichnet werden. Zwischen Stadium vier und fünf muss der Servicemitarbeiter also alle erspielten Details bewerten und entscheiden, welcher Handlungsspielraum ihm gegeben ist. Dabei sind bestimmte Faktoren nicht veränderbar, würden den (interessanterweise niemals explizit ausgesprochenen, sondern eher implizit zwischen allen Spielteilnehmern vereinbarten) ‚Realismus‘ der Diegese stören. So könnte z.B. der Servicemitarbeiter nicht das Rollenspiel lösen, indem er zu dem Fahrgast sagen würde: „Ich verstehe jetzt ihr Problem, Sie müssen den Anschlusszug erreichen – ich werde den Zugführer anweisen, schneller zu fahren!“ oder „Ich werde Sie mit einem speziellen goldenen Service-Hubschrauber der Deutschen Bahn für solche Fälle abholen lassen!“ Alle Spielpartner scheinen intuitiv zu verstehen, was in diesem Spielrahmen sozial erwünscht und was als Scheinlösung, Sarkasmus oder Infantilität nicht in Frage käme. Obgleich man also ohnehin nur in einem fiktiven Abteil sitzt und suggeriert, die Landschaft würde draußen vorbeiziehen, während man fährt, ist das Spiel als Simulation von Realität einem Ernst in den Regeln unterworfen, der die Fiktion lenkt. Diese Regeln orientieren sich am Arbeitsalltag – zur Lösung des Problems darf nur das herangezogen werden, was dem Servicemitarbeiter auch in der realen Situation an Lösungsmöglichkeiten zur Verfügung stehen würde: Den Zug schneller fahren zu lassen, den Anschlusszug durch einen Telefonanruf auf den Fahrgast warten zu lassen oder aber den Fahrgast zu teleportieren, gehören also nicht in diesen Spielrahmen. Sollten solche ja durchaus äußerst kreativen, aber unrealistischen deus-ex-machina-Lösungsstrategien herangezogen werden, müsste der zu prüfende Kandidat mit Unterbrechung des Spiels und wahrscheinlich mit Minuspunkten in der Bewertung rechnen. Obwohl aber der Servicemitarbeiter das Hauptproblem des Kunden, die Verspätung des Zugs, nicht ungeschehen machen kann, bleiben ihm dennoch verschiedene kommunikative Strategien, um an sein Ziel – das Vorzeigen der Fahrkarte – zu kommen. Der Schlüssel dazu ist das richtige
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Zuhören, das Einschätzen, welchen Handlungsspielraum er hat, und die emotionale Deeskalation der Situation. Zunächst kann der Servicemitarbeiter an einigen Äußerungen in den Schimpftiraden – wie etwa, dass es nicht einmal eine vernünftige Durchsage gab – ableiten, dass der Kunde nicht über den Grund der Verspätung informiert ist. Diese Information, die zudem in diesem Beispiel das Zugpersonal als Verantwortliche teilweise entlastet und die Logistik des Bahnhofspersonals während eines Zwischenhalts in die Verantwortung zieht, wird dafür sorgen, dass der Kunde die Projektionen seines Ärgers auf einen konkreteren Umstand lenken kann. Der zweite Schritt erfolgt auf der Ebene intersozialer Kompetenzen in der persönlichen Ansprache und einer kommunikativen Arbeit an der emotionalen Verfasstheit des Kunden. Es muss erkannt und anerkannt werden, dass er sich ärgert, dieser Ärger muss als begründet und nachvollziehbar ausgewiesen werden, und es muss eine Entschuldigung erfolgen, die authentisch ist und möglichst empathisch und sympathisch geäußert wird. Dabei sollte sich der Servicemitarbeiter nicht hinter einer Wir-Formulierung verbergen, sondern persönlich als Repräsentant der Deutschen Bahn auftreten und sich für die Unannehmlichkeiten entschuldigen, die durch die Verspätung verursacht wurden. Nun sollte Hilfe im Rahmen der Möglichkeiten angeboten werden – in diesem Fall tritt der Kunde mit der Frage nach Anschlusszügen, die noch erreicht werden könnten, an den Servicemitarbeiter heran. Dieser kann auf seinem Tablet die bestmögliche noch zu erreichende Verbindung zum Reiseziel des Kunden heraussuchen und ihm so ersparen, beim Umsteigen am Zielbahnhof weiter Zeit zu verlieren, indem er erst einen Informationsstand aufsuchen müsste. Dabei ist ausgeschlossen, dass er sein Ziel durch einen anderen Anschlusszug doch noch rechtzeitig erreichen wird. Jedoch beschwichtigen all diese, im Rahmen des Möglichen liegenden Zugeständnisse die Figur des Seminarschauspielers in seinem Ärger. Zuletzt wird um den eigenen Standpunkt geworben: Der Servicemitarbeiter kommt auf den Streit zu sprechen, entschuldigt sich erneut, wendet diesmal aber ein, die Situation möge auch aus seiner Position heraus betrachtet werden. Er sei auch nur seiner Arbeit nachgegangen und wusste nicht um die Probleme des Kunden, bis man darüber ins Gespräch kam. So verdeutlicht der Servicemitarbeiter seinem Spielpartner, warum er zunächst so gehandelt hat, wie er gehandelt hat, und weshalb das Streitgespräch derart eskalieren konnte. Die offene und persönliche Ansprache, die emotionale Deeskalation gepaart mit Hilfsbereitschaft und Servicekompetenz führen als richtige und erwünschte Spielstrategie dazu, dass der Seminarschauspieler Stadium fünf als erfüllt und das Spiel generell als ‚gewonnen‘ ansieht. Er ist nun bereit, seine Fahrkarte vorzuzeigen.
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Mit den Worten „Vielen Dank!“ beendet der Trainer das Spiel. War bisher eine Art von vierter Wand vor den im Halbkreis aufgestellten Stühlen, auf denen die anderen Teilnehmerinnen des Rollenspiel-Coachings und der Trainer sitzen, aufrechterhalten worden, markiert das Ergreifen des Wortes durch die Spielleiterin von außerhalb der sich entfalteten Diegese des Zugabteils den Abschluss der Spielfiktion. Es folgt nun das Feedback für den Servicemitarbeiter. Der Trainer hat sich während des Rollenspiels Notizen auf einem Klemmbrett gemacht und bittet nun den Seminarschauspieler, der als Spielpartner den verärgerten Kunden verkörpert hat, dem Servicemitarbeiter als erstes Resonanz auf das Spiel zu geben. Sichtbar verändert dieser seine Haltung und seine Intonation. Er streift die Verfassung seiner Rolle, die Verärgerung, den Stress ab und wird freundlich und sachlich. Der Servicemitarbeiter nimmt auf einem Stuhl Platz, während der Seminarschauspieler sich ihm zuwendet und erklärt, an welchen Stellen er Hindernisse für ihn aufgebaut hat, da die Gesprächsführungsstrategie für die Lösung des Problems nicht zielführend war, und an welchen Stellen er gut reagiert hat, um die Situation zu lösen. Der Servicemitarbeiter hört aufmerksam zu, bestätigt und ergänzt Eindrücke des Seminarschauspielers aus seiner Perspektive, erläutert, wie verwirrend es zunächst für ihn war, als er scheinbar grundlos von der Figur des Kunden verbal angegriffen wurde. Er wirkt sichtbar erleichtert, lacht an einigen Stellen, wenn er das Streitgespräch mit dem Seminarschauspieler rekonstruiert. Der Trainer seinerseits gibt kein Feedback, sondern sagt ein weiteres Mal „Vielen Dank“, um das Spiel im Spiel zu beenden und die zweite Diegese hinter der ersten zu durchbrechen. ... Mise-en-abyme,281 ein Abgrund der Simulakren und eine Herausforderung an die analytische Beschreibung – der Theaterwissenschaftler wird einem Spiel mit zwei Diegesen, nach dem kommunikationstheoretischen Modell des Spiels von Gregory Bateson mit zwei paradoxen Rahmen, die die Spielebenen bezeichnen,282 einem Spiel im Spiel zur Personalauswahl beiwohnen. Tanja Wetzel erläutert an Hamlet, seinem gespielten Wahn und seinem Engagement als Laienregisseur diese ästhetische Konstellation der mise-en-abyme im Theater: Die Ermordung des Gonzago, das Stück, das Hamlet inszeniert, soll eine Wahrheit des ersten Spielrahmens – die Schuld von Hamlets Onkel Claudius, die Ermordung von Hamlets Vater und Erschleichung des Throns, an dessen Reaktion auf die Darbietung enthüllen. Gleichsam durchdringt das Spiel im Spiel bei Hamlet als selbstreferentielles Moment aber auch beide Spielrahmen und wirkt illusionsbrechend, wenn
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das Publikum hier für einen kurzen Moment im Spiel auf seine eigene Position als Zuschauer zurückgeworfen erscheint.283 Das folgende Rollenspiel hat eine ähnlich verflochtene Konstellation wie Die Ermordung des Gonzago: Ein Anbieter für Seminarschauspiel im Unternehmenskontext284 hat Bewerberinnen zu einem Assessment Center für die Ausbildung zur Seminarschauspielerin eingeladen. Der Dienstleister führt Manager-Coaching-Seminare, theatrales Kommunikationstraining, Development Center und Assessment Center in großen Unternehmen in verschiedenen Ländern Europas durch. Die unterschiedlichen, auf den Bedarf zugeschnittenen theatralen Module, die dieser Unternehmenstheateranbieter im Repertoire hat, sind dabei im eigenen Haus entwickelt worden, basieren aber im Kern auf ästhetischen Entwürfen des Theaters von Boal und Moreno.285 Zu dem angebotenen Modell gehört jeweils ein anleitender, beobachtender und auswertender Trainer, der meist selbst nicht schauspielerisch aktiv in den Kursen agiert, und ein Seminarschauspieler, der hauseigene Techniken der Eigen- und Fremdbeobachtung während seines Spiels erlernt hat und zudem ebenfalls Kenntnisse besitzt, über eine Spielszene und seinen Spielpartner ein konstruktives Feedback zu geben. Um diese Methoden zu erlernen und für den Anbieter für Seminarschauspiel im Unternehmenskontext zu arbeiten, musste er nach einer bereits abgeschlossenen Schauspielausbildung eine einjährige, kostenpflichtige Zusatzausbildung bei dem Anbieter in Seminarblöcken durchlaufen, bei der ihm zusätzlich zu seinen Kompetenzen als Schauspieler die Techniken des Seminarschauspielers beigebracht wurden. Der Anbieter kann auf einen Pool freier Mitarbeiterinnen zurückgreifen, die für spezifische Seminare, Development oder Assessment Center an Firmenstandorten gebucht werden und dort in Kombination mit einem Trainer diese theatralen Module mit den Bewerberinnen oder Angestellten durchführen. Die Seminarschauspieler müssen wiederum, so die Aussage des Anbieters, sorgfältig ausgewählt werden, da nicht jeder Schauspieler automatisch zum Seminarschauspieler geeignet sei: Er muss fähig sein zu jenem konstruktiven Feedbackgespräch im Anschluss der Szene, er muss Improvisationstechniken der Reaktion und Modulation – wie sie vorangehend im ersten Kapitel bereits beschrieben wurden – beherrschen, und – so wird es ausdrücklich vom Anbieter betont – viele Schauspieler liefen Gefahr, „zu groß zu spielen“286, womit gemeint ist, dass sie, wie vorangehend bereits angerissen, in einer möglichst realistisch gehaltenen Diegese während eines Development Centers etwa der Deutschen Bahn nicht auftreten können, als würden sie einen großen Hamletmonolog geben. Stattdessen sollen sie fähig sein, sich zurückzunehmen, sich der Situation des intimeren Rollenspiels und auch dem Niveau des immer mit unterschiedlichen
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kommunikativen Kompetenzen ausgestatteten Spielpartners anzupassen, um ihn unterstützend, didaktisch, aber gleichsam bewertend durch das Spiel zu tragen und nicht „zum Verschwinden zu bringen“.287 Die Seminarschauspielerin wird hier zur Expertin für illusionierendes Spiel wie für Aspekte der Realität des Arbeitsalltags, der von Spiel durchdrungen ist. Nach erfolgreichem Abschluss der Zusatzqualifikation zur Seminarschauspielerin, wird den Darstellerinnen garantiert, dass sie in das Register der freien Mitarbeiterinnen für Coachings und Auswahlverfahren des Anbieters aufgenommen werden. Für eine Schauspielerin, die sich für eine solche Zusatzqualifikation entscheidet, bedeutet dies zunächst eine zeitliche und finanzielle Investition. Auch der Anbieter für Seminarschauspiel aber verpflichtet sich zeitlich, personell und finanziell, diese Kurse bereitzustellen. Zudem ist ihm im eigenen Interesse der Qualität der Dienstleistung, die mit dem Stab an zur Verfügung stehenden Seminarschauspielern steht und fällt, daran gelegen, nur so viele Kandidaten auszubilden, dass diesen auch gewährleistet werden kann, dass sie späterhin eingesetzt werden. Den Markt mit Seminarschauspielerinnen zu überfüllen, die nicht gebucht werden und womöglich zur Konkurrenz wechseln oder auf eigene Faust ihre Dienstleistung anbieten, kann keinesfalls im Interesse des Unternehmenstheateranbieters liegen. Weiterhin muss vor Beginn der Ausbildung eine qualitative Vorauswahl getroffen werden, da, wie bereits erwähnt, eben nicht automatisch jeder Schauspieler dazu geeignet sei, als Seminarschauspieler zu arbeiten.288 Dieser Vorauswahl nun wohnt der Theaterwissenschaftler bei: einem Assessment-Center-Verfahren für Schauspielerinnen im Assessment-Center-Verfahren. Einem Spiel, das bei erfolgreichem Ausgang für die Beteiligten Parteien zunächst Strukturkapital, Beziehungskapital und Humankapital, danach auch Geldkapital produzieren kann. Vorab erfolgten Bewerbungen, Einladungen, eine Vorstellungsrunde und ein mehrstündiger Block, in dem die Konzepte des Seminarschauspiels erläutert und am praktischen Beispiel vorgeführt wurden. Auf dieser Präsentation und Erläuterung der Konstellation von Seminarschauspieler und Mitspieler in einer theatralen Prüfungssituation beruhen im Übrigen die vorangehenden Ausführungen der strategischen Handlungen von ‚Kandidat‘ und ‚Seminarschauspieler‘ in der zweiten Diegese des Spiels, die aus einer rein analytischen Außenperspektive in der Komplexität der doppelten Verschachtelung als nicht-involvierter Zuschauer nicht mehr zu decodieren gewesen wären. Zentraler Bestandteil des eintägigen Auswahlverfahrens sind also zwei gleichartig strukturierte Rollenspielmodule, von denen eins hier fokussiert werden soll: Die Bewerber289 auf den Ausbildungsplatz spielen mit einem Seminarschauspieler eine Szene aus ihrem potentiellen, künftigen Arbeitsumfeld – sie spielen, sie seien ein Seminarschauspieler in
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einem Development Center, während der tatsächliche Seminarschauspieler einen Kandidaten spielt, der in einem Development Center spielt und bewertet werden muss. Die Ebenen der Beschreibung sind also komplex: Man spielt in einem Assessment Center ein fiktives Assessment Center, in dem eine fiktive Bahnreise gespielt wird. Der Bewerber auf den Ausbildungsplatz ist ein Schauspieler, der einen Seminarschauspieler spielt, der einen verärgerten Bahnreisenden spielt. Sein Spielpartner ist ein Seminarschauspieler, der einen Kandidaten im Assessment Center spielt, der seinen Arbeitsalltag als Kontrolleur im Service der Bahn spielt. Neben der Herausforderung an die Grenzen der Selbstabständigkeit des Schauspielers, der ein Spiel im Spiel gibt, kommt in dieser speziellen Konstellation erschwerend hinzu, dass beide Spielpartner zusätzlich ein Auge auf die Eigen- und eines auf die Fremdbeobachtung setzen müssen, da sie beide angehalten sind, in ihrer Rolle als Seminarschauspieler dem jeweils anderen Feedback über ihr Spiel zu geben: Der Bewerber innerhalb der zweiten Spielklammer als konsequenzverminderte Handlung innerhalb der ersten Diegese in Bezugnahme auf die zweite, in der er einen Seminarschauspieler spielt, der einem Servicemitarbeiter der Deutschen Bahn im Development Center Feedback gibt, der Seminarschauspieler wiederum nach dem Öffnen aller Spielklammern in Bezugnahme auf die spielerischen Qualitäten des Bewerbers in der Realität. Spielauswertung Wie im vorangehenden Kapitel bereits angedeutet wurde, wird die konkrete Theateraufführung des Assessment Centers in dieser Analyse als eine dispositive Anordnung aus Blick- und Machtachsen mit Teilhabenden in unterschiedlichen Machtrelationen verstanden, in dessen Zentrum sich insbesondere ein Subjekt unter den Augen der anderen Anwesenden im Spiel unter Beweis stellen muss. Auch hier soll die Dispositivanalyse mit der Aufführungsanalyse verbunden werden, um über die performativen Aspekte der Aufführungen des Assessment Centers hinaus die Verbindung aus der Ästhetik des Spiels mit den ihr inhärenten Machtrelationen des Theaters der Selektion in den Blick zu nehmen. Darüber hinaus soll in diesem Analysebeispiel aber das Spiel als ästhetische Kategorie stärker in den Fokus der Analyse kommen als im ersten Beispiel aus Rijswijk, das dem Theaterbegriff und seinen Konnotationen gewidmet war. Mittelpunkt der Aufmerksamkeit ist, wie in jedem anderen dieser Prozesse, auch in diesem Auswahlverfahren der Bewerber – hier der Schauspieler, der Kosten und Zeit investiert hat, um an dem Spielverfahren teilzunehmen, das ihm bei positiver Bewertung eine Zusatzausbildung zum Seminarschauspieler eröffnen wird. Diese wird ihm einen neuen Markt, eine
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neue Sparte des Schauspiels, und somit in einer bisweilen prekären Branche die Möglichkeit erschließen, einen lukrativen Zuverdienst zur weiterhin künstlerischen Betätigung zu erwirtschaften oder aber sich für eine Spezialisierung und völlige Ausrichtung seines Berufslebens als Schauspieler auf das Seminarschauspiel zu entscheiden. Das hier stattfindende Spiel erfolgt dabei freiwillig, denn der Schauspieler ist kein Mitarbeiter, der im Rahmen seiner vertraglich geregelten Arbeitsbedingungen dazu angehalten ist zu spielen. Allerdings, am Gelingen oder Misslingen seiner theatralen Prüfung hängt ökonomisches Interesse und ein Zuwachs an Beziehungs- und Strukturkapital. Auch spielt er hier gegen Konkurrenz. Eine unbeschwerte Haltung des Spielens, wie sie vorangehend an den Spielbegriffen Huizingas und auch Caillois’ aufgezeigt wurde, wird er daher nicht einnehmen. Auch etwa ein halbes Dutzend andere Kandidaten sind zu diesem Auswahlverfahren angereist und konnten sich gemeinsam in einer Vorstellungsrunde sowie bei einem Mittagessen kennenlernen. Sie erhielten im Vorfeld ein längeres Briefing über das Berufsbild der Seminarschauspielerin und das Konzept der von ihnen geforderten Performance. Im auswertenden Rollenspiel allerdings sind die anderen Bewerber nicht anwesend, um keine Vorteilsposition aus Informationen zu ziehen, die im Feedback den Kandidaten gegeben werden, die vor ihnen das Rollenspiel durchlaufen. Das Spiel ist also, wie vorangehend in den Ausführungen zum agonalen Prinzip Caillois’ diskutiert, zum einen kompetitiv, wird durchaus auch gegen Mitbewerber gespielt, kann gewonnen oder verloren werden und sorgt in seinen gesetzten Regeln und Rahmenbedingungen für möglichst gleiche Ausgangsbedingungen für alle Kandidaten. Anwesend während des Spiels waren der Bewerber, der Seminarschauspieler, die Leiterin und Geschäftsführerin des Unternehmenstheateranbieters, die zugleich ausgebildete Psychologin ist und als Trainer in besagten theatralen Seminarangeboten fungiert, der stellvertretende Geschäftsführer des Unternehmens und zwei Theaterwissenschaftler, die in dem Unterprojekt Corporate Theatre des ERC-Projekts The Aesthetics of Applied Theatre jeweils unterschiedliche ästhetische Formen des breiten Spektrums an Unternehmenstheater unter dem Vorzeichen Applied Theatre untersuchten. Daraus ergibt sich beim Publikum wie den Teilhabenden dieser theatralen Veranstaltung ein komplexes Geflecht aus Macht- und Interessensrelationen, die den alleinigen Grund zur Veranstaltung dieses Spiels darstellen: Das Spiel ist „aufgetragen“290, wie Huizinga es formuliert. Wer den Ausbildungsplatz möchte, der muss spielen. Weder wird – selbstverständlich – im Sinne von Huizingas Idealspiel aus Lust am Spiel oder der Schönheit der Bewegung heraus gespielt, noch wird eine Szene aus einem künstlerischen Interesse heraus gegeben oder beobachtet. Die
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‚Kunstfertigkeit‘ der spielerischen Qualitäten des Bewerbers wird auf seinen Nutzen hin geprüft. Dieses Spiel ist konsequenzverminderte Prüfung wie Probe eines kommenden Spiels: dem Assessment Center eines Anderen. Konsequenz und ‚Als-ob‘ vermischen sich erneut, sogar komplexer als im Beispiel aus Rijswijk, denn wird hier zum einen gespielt, um neue freie Mitarbeiter auf die Probe zu stellen bzw. eine Ausbildung durchlaufen zu dürfen, so sind verschiedenste Handlungen innerhalb der zwei Diegesen von verminderter Konsequenz: Fahrkarten sind hier keine Fahrkarten und die Verweigerung der Kontrolle wird kein reales Bußgeld zur Folge haben. Öffnet sich die erste Spielklammer, so dass der Servicemitarbeiter der Bahn sein Feedback vom ‚Seminarschauspieler‘ erhält, so ist auch das eine miseen-abyme der Referentialität: Das Gespräch dient eigentlich der Prüfung des gespielten Prüfers und hat keine Konsequenz für den Servicemitarbeiter. Der Inhalt der Worte ist dabei Spiel, wie sie allerdings gewählt sind, ob sie leicht fallen, strukturiert und empathisch geäußert sind, ist Teil der konsequenzhaften Prüfung. So dient die Konstellation des Spiels im Spiel im Beispiel des Auswahlverfahrens in ihrer Verschachtelung zum einen pragmatisch der Simulation in einer möglichst treuen Annäherung an den Referenten des Spiels, der eben in einer komplizierten Sachlage in diesem Fall auch ein Spiel darstellt, zum anderen wird es aber auch zu einem Vehikel jener vorangehend beschriebenen, brüchigen Rahmen. Im künstlerischen Bereich kann etwa die mise-en-abyme in einer Art Kommentarfunktion auf die Realität die verschiedenen Spielebenen durchdringen.291 Definitorisch spricht man, so Tanja Wetzel, von Spiel im Spiel, wenn „mindestens ein Element einer übergeordneten Ebene (inhaltlicher oder formaler Natur) analog auf einer untergeordneten Ebene erscheint“292. Liest man in Wetzels Beitrag zum Lexikon der Ästhetischen Grundbegriffe davon, dass das Spiel im Spiel zunächst im Literarischen verortet ist, so geht sie doch auch explizit auf das Theater im Theater ein, das eine „Auflösung der Geschlossenheit“ indiziere.293 Als Beispiel wird, wie vorangehend erwähnt, Die Ermordung des Gonzago aus Hamlet angeführt, in der durch ein Spiel im Spiel – ein Spiel zweiter Ordnung – Wahrheiten sowohl im Spiel erster Ordnung (der Diegese Hamlets) als auch in der Realität offenbart oder befragt werden sollen: „Literarisch“, so wird hier ausgeführt, „hat die mise-en-abyme zumeist die Funktion, Leerstellen der übergeordneten Ebene wie im Hamlet auszufüllen und Rätsel aufzudecken; daneben kann sie auch illusionsdurchbrechend wirken“294. Warum nun aber der starke Fokus auf das mise-en-abyme-Element dieser Situation? Das oben analysierte Assessment Center für Schauspieler, die im Assessment Center arbeiten sollen, könnte man als skurrilen Spezialfall bezeichnen, der in seiner Beobachtung, wie eine fehlgedruckte Briefmarke,
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einen gewissen Seltenheitswert mit sich bringt, jedoch keinen Aussagewert über die Kuriosität der verschachtelten Spielebenen hinaus in sich tragen könnte. Doch die mise-en-abyme, davon soll im Folgenden ausgegangen werden, ist auch in konventionelleren Assessment-Center-Prozessen ein relevantes Muster. So geht auch Annemarie Matzke auf das Theater im Theater ein und scheidet dabei zwei verschiedene Darstellungskonventionen voneinander. Ziele, so Matzke, das Spiel im Spiel als eine zweite fiktionale Aufführungssituation innerhalb einer Aufführungssituation auf eine Parodie des Wirklichkeitseindrucks des szenischen Geschehens ab, so organisiere sich das Motiv des ‚Theaters auf dem Theater‘ häufig um das Proben.295 „Im Vorspielen, Unterbrechen, Korrigieren und Verwerfen“, so Matzke, „wird das Theater als Möglichkeitsraum ausgestellt.“296 Diese Erkenntnis Matzkes beleuchtet und verkompliziert den Spezialfall des Assessment Centers im Assessment Center gleichermaßen, denn es ist anders als im Kunsttheater immer zugleich die eigentliche Aufführung als auch die Probe für die von Theatralität durchwebten Settings des Arbeitsalltags. Die Rollenspiele der Assessment und Development Center wie auch andere Formen des Applied Theatre lassen sich, wie vorangehend dargelegt, als Theater bezeichnen, das sich gleichsam auf eine andere Aufführung, auf die Möglichkeitsräume der Aufführung des Sozialen im Sinne der Persönlichkeitsdarstellung im von Theatralität durchwebten Alltag bezieht. Diese Theatralitätsphänomene auf institutioneller Ebene werden im folgenden dritten Kapitel als Dispositiv nächsthöherer Ordnung – als Mesodisposi tiv – gefasst werden. Insofern weisen auch diese Theaterformen einen mise-en-abyme-Aspekt der Theatralität auf: Ein Theater formt den Habitus innerhalb einer Sphäre, in der konstant Persönlichkeitsdarstellung zum Arbeitsalltag gehört bzw. die Arbeit an sich darstellt. In diesen Formen des Unternehmenstheaters wird also als Scharnier zwischen Theater und Theatralität eine Rolle inszeniert, vorgeführt, gespielt wie gleichzeitig auch modelliert und entwickelt, die an späterer Stelle zur Aufführung gelangt – diese Aufführung ist der Firmenalltag, die Rolle ist die ‚Arbeitspersönlichkeit‘, die Goffman’sche presentation of self in everyday life. Jedes Assessment und Development Center trägt so Aspekte vom Spiel im Spiel in sich: Die erste Spielebene ist die Fiktion des Rollenspiels, die zweite Spielebene die theatral durchwebte Performance im unternehmerischen Alltag. Somit haben die Aufführungen der Assessment und Development Center Verwandtschaft mit einer weiteren, theatralen Einrichtung: mit der des Ekkyklema. Die Psychologen Renner und Laux verweisen in ihrem Beitrag Theater als Modell in der Persönlichkeitspsychologie auf die Aspekte der Persönlichkeitsdarstellung im Alltag und nennen hier explizit – aber
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bei weitem nicht ausschließlich – Bewerbungssituationen als Ereignisse, in denen theatrale Persönlichkeitsdarstellung zum Tragen kommt.297 Am Beispiel der Testsituation eines psychologischen Gefängnis-Experiments, des bekannten wie berüchtigten Zimbardo-Experiments, erläutern sie das Verhältnis von Theatralität der Persönlichkeitsdarstellung im Alltag und dem Theater solcher artifiziell erzeugter Situationen von Verhaltensbeobachtung unter Testbedingungen mit Rollenspielcharakter und den brüchigen Rahmen des Ernsten Spiels. Sie bedienen dabei die Metapher des Ekkyklema, der Bühne auf der Bühne, einer anderen Form von Spielrahmen im Spielrahmen zur Hervorhebung und Steuerung der Aufmerksamkeit der Zuschauerinnen: Wir möchten abschließend an einem Beispiel zeigen, dass Theater als Metapher auch auf sozialwissenschaftliche Forschungsmethoden, -ergebnisse und deren Publikation angewendet werden kann. Wir greifen dabei auf eine antike Vorrichtung und deren Funktion zurück – auf das Ekkyklema […]. Beim Ekkyklema handelt es sich um eine mobile Bühne im griechischen Drama, die auf die Hauptbühne gerollt wurde. Die Funktion solcher ekkyklematischer Szenen war, die Aufmerksamkeit des Publikums auf bestimmte Aspekte des eigentlichen Dramas auf der Hauptbühne zu lenken. Dem Publikum sollten also bestimmte Aspekte des sich vollziehenden Dramas bewusst gemacht werden, die ohne die ekkyklematische Szene vielleicht übersehen worden wären. Psychologische Experimente können – wie ekkyklematische Szenen – die Aufmerksamkeit verschiedener Publika auf bisher vernachlässigte oder übersehene Phänomene der sozialen „Wirklichkeit“ (also der „Hauptbühne“) lenken.298 Die Attribute der ekkyklematischen Szene, wie sie von Laux und Renner auf das psychologische Experiment mit Rollenspielelementen übertragen werden, finden sich auch in der Praxis der theatralen Module von Assessment und Development Center wieder. Auch hier wird ein artifizieller Rahmen von Hervorhebung und Konsequenzminderung zu einer bestimmten Zeit, in einem bestimmten Raum gesetzt, um die Persönlichkeitsdarstellung des Alltags in einem ohnehin von Theatralität durchwebten Unternehmensalltag unter einem bewertenden Blick des Aufführungsarrangements genauer zu fokussieren als im regulären, theatralen Rahmen. Die Blickachsen der Partizipierenden in dem hier analysierten Auswahlverfahren für Schauspieler parallelisieren sich wie im vorangehend diskutierten Beispiel aus Rijswijk zu den Machtachsen und dem ökonomischen
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Interesse: Das Spiel findet in einem Meetingraum des Anbieters innerhalb eines großen Stuhlkreises mit nun vorwiegend leeren Stühlen statt. An einem Punkt des Kreises, der den optimalen Blick auf das Spiel des Bewerbers ermöglicht, sitzen die beiden Leiter und Geschäftsführer des Unternehmens, ihnen schräg gegenüber haben sich die beiden Theaterwissenschaftler platziert, die von ihrem Platz aus beide Spielenden gut im Blick haben. Das Spiel zwischen Seminarschauspieler und Bewerber findet leicht abgerückt von der Mitte des Stuhlkreises statt. Die Anwesenheit der beiden Theaterwissenschaftler bildet dabei eine Ausnahme in diesem Prozess, ihre Involvierung erfolgt aufgrund des Forschungsinteresses, ihre Blicke werden das Spiel privilegieren, aber auch die anderen Anwesenden beobachten und sich bis zu einem gewissen Grad selbst reflektieren. Sie stehen dabei in einem Abhängigkeitsverhältnis zu den Geschäftsführern, da sie hier zu Gast in einem streng vertraulichen, eigentlich firmeninternen Prozess sind, dessen Beobachtung weitaus mehr Nutzen für ihre eigene Forschung als für die Anbieter des Seminarschauspiels verspricht. Die beiden Geschäftsführer haben vorwiegend Interesse an der Qualität des Schauspielers, der sich auf die Ausbildung zum Seminarschauspieler an ihrem Haus beworben hat. Dieses Interesse kann man sowohl ästhetisch als auch ökonomisch nennen, da beide Kategorien in dem Berufsbild des Seminarschauspielers enggeführt sind. Erfüllt der Bewerber die Anforderungen an sein Spiel, so wird er zu einer Ausbildung am Haus zugelassen, für die er zunächst Geld investieren muss. Die Geschäftsführung bezahlt aber wiederum den Ausbilder, der die Kurse für die zugelassenen Bewerber geben wird, hofft jedoch am Ende des Prozesses auf einen neuen freien Mitarbeiter, einen Zuwachs an Humankapital, der für diverse theatrale Seminare und Potentialanalysen in großen Unternehmen in ganz Europa an ihrem Haus gebucht werden kann. Wie in jeder anderen Firma sind auch die Geschäftsführer des Anbieters für Unternehmenstheater auf verlässliche Mitarbeiter angewiesen und prüfen vor der Investition an Geld und Zeit in die Ausbildung im konsequenzverminderten Rahmen des Spiels, ob bei den Kandidaten Grundvoraussetzungen für die Arbeit als Seminarschauspieler gegeben sind. Folglich werden ihre Aufmerksamkeit und ihre Blickachsen die anwesenden Theaterwissenschaftler weitestgehend ignorieren und ihren Seminarschauspieler in Strategie und Reaktion aufmerksam, aber nicht primär verfolgen. Untereinander werden sie sich knapp zur Verständigung austauschen und sich hauptsächlich auf den spielenden Bewerber fokussieren. Um sich dabei nicht nur auf einen subjektiven Eindruck und Bauchgefühl zu verlassen, notieren die Geschäftsführer während des Spiels wichtige Kriterien auf einer Bewertungstabelle, die sie
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auf einem Klemmbrett vor sich haben. In neun Bewertungsfeldern können auf dem Bewertungsbogen jeweils fünf Noten vergeben werden: Diese Noten reichen, an ein Schulnotensystem von eins bis fünf erinnernd, von „schlecht“, über „mäßig“, „befriedigend“, „gut“ zu „herausragend“. Die neun Bewertungsfelder, in denen der Bewerber im Spiel überzeugen – das Spiel also ‚gewinnen‘ oder ‚verlieren‘ – kann lauten folgendermaßen: 1. Der Kandidat ist authentisch in seiner/ihrer Rolle. 2. Der Kandidat bleibt auch bei Störungen authentisch. 3. Der Kandidat knüpft gut Kontakt mit dem Teilnehmer. 4. Der Kandidat hilft dem Teilnehmer, in seiner/ihrer Rolle zu bleiben. 5. Der Kandidat erkennt, wann das erwünschte Verhalten gezeigt wird und „belohnt“ den Teilnehmer dann mit einer Nuancierung des Spiels. 6. Der Kandidat sieht sich selbst als Instrument und nicht als Ziel an. 7. Der Kandidat gibt dem Teilnehmer Feedback, aus dem hervorgeht, welches Verhalten der Teilnehmer eingesetzt hat und welche Reaktion dies beim Kandidaten zur Folge hatte. 8. Der Kandidat gibt Feedback innerhalb der Rolle und außerhalb. 9. Der Kandidat gibt Feedback in der Ich-Form.299 Punkt eins und zwei zielen dabei direkt auf die schauspielerischen, ästhetischen Qualitäten des Bewerbers ab, der eben, wie vorangehend erläutert, nicht wie für ein Bühnenpublikum spielen darf. Erneut wird deutlich, dass Authentizität eine zentrale ästhetische Kategorie dieser Spiele ist. Punkt drei bis sieben prüfen das Vermögen zur Improvisation, die Internalisierung und Umsetzung der im Briefing vorgestellten, kommunikativen Strategien und die Fähigkeit zur gleichzeitigen Eigen- und Fremdbeobachtung ab und stehen damit gleichsam für die Verbindung des Ästhetischen mit dem Ökonomischen: Ist der Schauspieler gleichzeitig dazu in der Lage, eine Spieldiegese authentisch aufrechtzuerhalten, durch Gesprächsführungsstrategie in gewünschte Bahnen zu lenken und Ich-abständig qualitativ zu bewerten? Punkt acht und neun sind ästhetische Symptome der Simulation in ihrer Eigenschaft, die Kategorien real und fiktiv kollabieren zu lassen: Fiktive Figur oder realer Schauspieler können einer Teilnehmerin eines Assessment oder Development Centers Feedback in Ich-Form in Bezug auf ihre Leistung in der Realität geben, die im Spiel befragt wurde. Beliebiger, als die Aussagen der Anbieter vermuten ließen, erschien bei der Auswahl zunächst die schauspielerische Tradition, aus der die Bewerber für die Ausbildung zum Seminarschauspieler stammten. In Interviews mit verschiedenen Seminarschauspielerinnen wurden sowohl eher auf Körper-
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mechanik beruhende Stile,300 stärker auf rhetorische Traditionen fußende Ausbildungen301 als auch Stanislawski-Methode302 und Method-Acting303 angeführt. Dreh- und Angelpunkt der Auswahl ist die Authentizität, das Wissen darum – laut Aussage der Geschäftsführer des Seminarschauspieleranbieters –, nicht „zu groß spielen“ zu dürfen, wie die Fähigkeit zum fragmentierten Spiel, zum schnellen Ablegen und Wiedereinfinden in die Rolle.304 Der als Spielpartner des Bewerbers eingesetzte, bereits ausgebildete Seminarschauspieler wird weiterhin seinen Blick aufspalten. Er wie auch der Bewerber sind ‚spect-actors‘ dieses Verfahrens. Sein konkret physischer Blick wird sich während des Rollenspiels auf seinen Spielpartner konzentrieren, da die Spielszene – im Versuch realitätsnah eine Arbeitssituation zu simulieren – mit einer Art vierten Wand, mit der „willing suspension of disbelief“305 auf Seiten der Schauspieler ihre Diegese entfalten wird. Die im Kreis um den Spielraum sitzenden Teilnehmer und Teilhabenden an dem Prozess werden und müssen folglich, solange das Spiel aufrecht erhalten bleibt, vom Seminarschauspieler ignoriert werden. Ein zweiter, eher metaphorisch gemeinter ‚Blick‘ im Sinne der gesteigerten Aufmerksamkeit für anwesende Personen muss zudem ihm selbst gelten. Zwar ist eine gewisse, mal mehr, mal weniger stark ausgeprägte Selbstreflexion von Menschen in sozialer Interaktion wie die Plessner’sche exzentrische Positionalität im Allgemeinen und eine gesteigerte Eigenwahrnehmung eines Schauspielers während des Spiels im Besonderen an sich noch keine bemerkenswerte Konstellation. Dennoch ist der Seminarschauspieler von seinem Berufsbild her insbesondere gefordert, nicht nur den Kandidaten im Spiel zu begleiten, zu beobachten, herauszufordern und zu tragen, um ihm anschließend Feedback auf sein Verhalten zu geben; er muss zugleich dazu in der Lage sein, seine eigenen Reaktionen stetig zu analysieren, auf das aktuelle Geschehen im Rollenspiel inhaltlich improvisiert, aber strategisch festen Regeln folgend anzupassen und dieses Verhalten parallel zu memorieren, um es in einem Feedback zu erläutern. Der Seminarschauspieler muss nicht nur versiert reagieren, um die Herausforderung für den Kandidaten auf angemessenen Levels zu halten, er muss dieses Spiel eben auch retrospektiv verbalisieren und erklären können. Die Komplexität ist gerade in diesem Beispiel nicht zu unterschätzen. Der Seminarschauspieler entwirft eine Rolle, die eine Rolle spielt, und muss diese im Spagat von paida und ludus zwischen Improvisation auf der Handlungsebene und Regelhaftigkeit auf der Prüfungsebene authentisch aufrecht erhalten und reflektieren. Parallel dazu muss er seinen Spielpartner beobachten, der ebenso wie er selbst eine Rolle spielt, die eine Rolle spielt, und diesen während des Spiels herausfordern, prüfen, anschließend bewer-
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ten und Szene und Bewertung in einem Feedback rechtfertigen. Diese Spaltung des Blicks geschieht, während es gleichzeitig in der Verantwortung des Seminarschauspielers liegt, den Spielfluss aufrecht zu erhalten. Auch der Seminarschauspieler spielt dabei – betrachtet man die Machtachsen – in Abhängigkeit: Er übt seinen Beruf aus, wurde von der Geschäftsführung für das Auswahlverfahren gebucht und bezahlt und spielt unter den Augen seiner Arbeitgeber. Die ästhetische Qualität seines Spiels, seine Fähigkeit, das Spiel wie gewünscht zu lenken und sein kompetentes Feedback am Ende sind Routine seines Arbeitsalltags und vermengen gleichsam Spielästhetik und ökonomisches Interesse. Ähnliches lässt sich für die Blickstrukturen und Machtrelationen des Bewerbers beobachten. Auch er muss sich der willing suspension of disbelief des Rollenspiels ergeben und wird folglich die anwesenden Geschäftsführer und die beiden Theaterwissenschaftler ignorieren, während umgekehrt alle Blicke ihn privilegieren werden. In diesem speziellen Assessment Center hat der Bewerber allerdings in dieser Hinsicht einen Vorteil, da er als bereits ausgebildeter Schauspieler solche Spielsituationen und das Aufrechterhalten einer vierten Wand eher gewohnt ist, als herkömmliche Mitarbeiterinnen es wären, bei denen in Rollenspielen durchaus die Beobachtung gemacht wurde, dass vereinzelt ein unsicherer Blick auf die anwesenden Prüferinnen oder eine Konjunktivformulierung über die fiktive Situation oder die Rolle der Spielpartnerin Diegese, Spielrahmung, Illusion und vierte Wand punktuell durchbrechen können. Auch ist er als ausgebildeter Schauspieler beruflich die Selbstabständigkeit während des Agierens gewohnt, kennt Improvisationstechniken und spielerische Prüfungssituationen und ist dazu in der Lage, während des Spiels sein Verhalten und das seiner Spielpartnerin zu reflektieren und zu modulieren. Der aufgespaltene Blick zwischen Fremd- und Eigenbeobachtung, wie das Ignorieren weiterer Anwesender im Raum mag gerade eine Kernkompetenz des Schauspielberufs darstellen. Ebenso wie der Bewerber die Blickstrukturen dieser Konstellation auf sich bündelt, so ist er auch in dem Netz aus Machtrelationen an einer speziellen Stelle angeordnet: Geschäftsführer und Seminarschauspieler fokussieren fast ausschließlich ihn, die Theaterwissenschaftler schauen neben den anderen Anwesenden zu einem großen Anteil ihn an und nicht zuletzt ‚betrachtet‘ er sich auch selbst im Sinne der Introspektion. Das Spiel wird veranstaltet, um seine Fähigkeiten einzuschätzen und über seine berufliche Zukunft zu entscheiden. Folglich stellt er den Fokuspunkt eines ganzen, heterogenen Ensembles306 – der Blickachsen, der Raumanordnung, des Regelsystems, der Handlung und der Ansprache – dar. Anders allerdings als in einem Assessment Center, das nicht für eine Variante des Schauspielberufs abgehalten wird, stellt das Schauspiel und
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die Modulation des Auftretens in dieser Eignungsprüfung zum Seminarschauspieler zudem den tatsächlichen Hard Skill des Kandidaten dar und ist in dieser kuriosen Sonderstellung genauso mit anderen, nicht-theatralen Modulen von Assessment Centern vergleichbar, in denen etwa Bewerber auf eine Anstellung als Buchhalter schriftlich mathematische Aufgaben lösen müssen. Die Aufforderung zu spielen in diesem speziellen Assessment-Center-Verfahren kommt nicht zwangsläufig der Forderung nach der Modulation der Persönlichkeit gleich, etwa dem Einstudieren der Authentizität beim Loben oder Entlassen im Arbeitsalltag einer Managerin, da die Qualität des Spiels hier in Bezug auf explizit ausgewiesene Spielsituationen und nicht in Bezug auf Situationen bewertet und eingeübt wird, die die Theatralität intersozialen Handelns im Arbeitsalltags betreffen. Kurz gesagt, dieses Assessment Center prüft in Rollenspielen, ob ein Schauspieler die richtigen Schauspieltechniken für Spielsituationen hat, wobei das Spielen sein Beruf ist. Andere Assessment Center prüfen in Rollenspielen, ob etwa eine Führungskraft mit den richtigen Persönlichkeitsmerkmalen und Kompetenzen auftritt, um ihre Abteilung zu leiten, wobei die Frage, ob ihr Beruf unter anderem auch das Spielen einer Rolle beinhaltet, nicht einfach zu beantworten ist und von der Auslegung und dem Grad der Metaphorik beim Gebrauch der Begriffe von Rolle, Selbstdarstellung und Spiel abhängt. Dieses Mesodispositiv der Theatralität auf der Ebene der Unternehmen und Institutionen soll im dritten Kapitel dieser Studie genauer fokussiert werden. In diesem Sinne weist das beobachtete Assessment Center durchaus Aspekte des klassischen Castings am Theater oder für den Film auf und verweist damit gleichzeitig auf eine weitere theatrale Form, die, wie im ersten Kapitel angedeutet, mit Personalauswahlverfahren verwandt erscheint: Neben den kanonischen, historischen Wurzeln moderner Assessment-Center-Verfahren in heerespsychologischen Auswahlverfahren und im therapeutischen Spiel ist es das einfache Vorsprechen für eine Rolle, das mit großer Wahrscheinlichkeit vor dem Aufkommen der Arbeits-, Betriebs- und Organisationspsychologie wie überhaupt der ludifizierten Arbeitswelt eine theatrale Eignungsprüfung für einen Beruf darstellte. Wenn also, wie Gunter Gebauer darlegt, Spiel und Arbeit als relationales Begriffspaar gleichzeitig immer auch historischen Veränderungen ausgesetzt waren,307 so erscheint mit der immateriellen, der affektiven Arbeit und Kapitalbegriffen jenseits von Geld und Ware auch das Spielen von ökonomischem Interesse. Nicht länger offenbar sollen aktuell Spielen und Arbeit getrennt werden, sondern ganz im Gegenteil amalgamiert, um performativen Mehrwert zu produzieren. So wird der Schauspieler in dieser Gesellschaft dann auch nicht vor die Stadttore verbannt, mit Satan oder
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dem Bordell assoziiert oder zumindest als Lebenskünstler und Bohemien zugleich gefeiert, aber in seiner Sonderstellung auch als Exzentriker der Gesellschaft abgegrenzt: Ganz im Gegenteil wird die Kreativität – wortwörtlich genommen die Fähigkeit aus sich selbst heraus zu schöpfen – also performativ eine Art creatio ex nihilo zu bewerkstelligen, zum Leitmotiv der Kompetitivität auf dem globalen Markt. Ein ästhetisches Dispositiv des Theaters der Selektion durchwirkt dabei strukturierend, so soll im dritten Kapitel dieser Studie aufgezeigt werden, die Mikroebene des Handelns, die Mesoebene der Institutionen und Unternehmen bis hin zur Makroebene der Gesellschaft.
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5 Mise-en-abyme 1 Die Beobachtung fußt auf Interviews mit Teilnehmerinnen des Development-CenterVerfahrens in den Niederlanden. J. S., Automobilverkäufer, und S. R., Servicemitarbeiter, Vertragswerkstatt, Automobil AG, im Interview mit dem Autor im Rahmen von Feld forschung am 2. Juni 2014. 2 Vgl. Fischer-Lichte: „Theatralität als kulturelles Modell“, S. 18. 3 Zum histrionischen Verhaltenscluster noch jenseits von Pathologien vgl. Laux, Renner: „Theater als Modell für die Persönlichkeitspsychologie“, S. 96–99. 4 Vgl. Fischer-Lichte: „Theatralität als kulturelles Modell“, S. 8f. 5 Vgl. ebd. 6 Kotte: S. 56. 7 Vgl. ebd., S. 60. 8 Vgl. Lorber: S. 42. 9 Vgl. Lorber: S. 39f. 10 „In diesem Sinne kann Kunst die Natur nicht nur verbessern, sondern auch ein ausgezeichnetes Mittel zur Unterweisung und Erziehung der Jugend sein, dem sich der Jesuitenpater Lang Zeit seines Lebens verpflichtet fühlt“. Roselt, Jens: „Perfektion vom Scheitel bis zur Sohle. Franciscus Lang und das Barocktheater“, in: ders. (Hg.): Seelen mit Methode. Schauspieltheorien vom Barock bis zum postdramatischen Theater, Berlin 2005, S. 74–78, hier S. 75 (im Folgenden zitiert als: Roselt: „Perfektion vom Scheitel bis zur Sohle“). 11 Huizinga: S. 7. 12 Vgl. Fischer-Lichte: Ästhetik des Performativen, S. 47, Kotte: S. 31–47 und Balme: Einführung in die Theaterwissenschaft, S. 57f. 13 Chinyowa: S. 345. 14 S. E., Theatertherapeutin, im Publikumsgespräch mit dem Autor im Rahmen des Workshops „Zwischen Freiheit und Norm!? Theater in Therapie und in Unternehmen“ am 22. Februar 2014. 15 Vgl. Heinicke: „Zwischen Narrenfreiheit und neokolonialem Protektorat“, S. 60. 16 Vgl. Warstat u. a.: „Einleitung“, S. 10f. 17 „Unternehmenstheater beruft sich auf Moreno, Boal oder gar Brecht um dann unter Umständen mittels eines lustigen Theaterstücks den Mitarbeitern zu kommunizieren, dass sie entlassen werden. Ein Witz der Geschichte?“ Hüttler: S. 182, vgl. auch Ackroyd: „Applied Theatre: Problems and Possibilities“, S. 5. 18 Warstat u. a.: „Einleitung“ S. 11. 19 Vgl. Chatfield, Tom: Fun Inc. Why Games are the 21st Century’s Most Serious Business, Croydon 2010, S. 162f. (im Folgenden zitiert als: Chatfield); Stampfl, Nora: Die verspielte Gesellschaft. Gamification oder Leben im Zeitalter des Computerspiels, Hannover 2012, S. 69f. (im Folgenden zitiert als: Stampfl) sowie Heidt, Margareta: Gamification. Grundlagen der Implementierung spieltypischer Elemente im Wirtschaftskontext, Saarbrücken 2012, S. 38f. (im Folgenden zitiert als: Heidt). 20 Vgl. Wetzel: S. 581–618, insbesondere S. 586f. 21 Schramm: S. 307. 22 Vgl. ebd. 23 Vgl. Huizinga: S. 64 u. 101ff. 24 Vgl. ebd., S. 64. 25 Vgl. Wetzel: S. 580. 26 Ebd., S. 581. 27 Für einen Überblick über das breite Spektrum dessen, was als Spiel gilt oder von Aspekten des Spiels durchwoben erscheint, muss auf die Werke Homo Ludens von Johan Huizinga und Roger Caillois’ Les jeux et les hommes insgesamt verwiesen werden. 28 Zum Sprachspiel bei Wittgenstein vgl. Schramm: S. 307. 29 Vgl. Ackroyd: „Applied Theatre: Problems and Possibilities“, S. 5. 30 Vgl. Huizinga: S. 9. 31 Vgl. Fischer-Lichte: Ästhetik des Performativen, S. 47, Kotte: S. 31–47 sowie Balme: Einführung in die Theaterwissenschaft, S. 57f.
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Ernste Spiele 32 Selbst absolut aktuelle Beiträge zum Spieldiskurs, die sich mit der gamification befassen, beziehen sich dabei noch immer vornehmlich auf Huizinga und Caillois, vgl. Raessens S. 100–104; Stampfl: S. 4–9 oder Heidt: S. 20f. 33 „Since the 1960s, when the word ludic became popular to denote playful behaviour and fun objects – think for example of the Dutch counterculture movement Provo and the Situationist International of founding member Guy Debord – playfulness has gradually become a central category of our culture. The popularity of computer games is a striking example in this respect. […] Although computer games draw a lot of attention, they are not the only manifestation of this ludification process. Play is not only characteristic of leisure, but also turns up in those domains that once were considered the opposite of play, such as education (e. g. educational games), politics (playful forms of campaigning, using gaming principles to involve party members in decision-making processes, comedians-turnedpoliticians) and even warfare (interfaces resembling computer games, the use of drones – unmanned remote-controlled planes – introducing war à la PlayStation).“ Raessens: S. 94. 34 Vgl. etwa die Umschreibung der Betrachtung des Spiels als „Paradigma sog. ‚poietischer‘ Prozesse im Gegensatz zu gesellschaftlichen Handlungszwängen“. Wetzel: S. 577. 35 Vgl. Kotte: S. 41ff. 36 Schillers und Kants Gedanken zum Spiel etwa sind ihm hier kaum Randnotizen wert, vgl. Huizinga: S. 49 u. 189. 37 Vgl. ebd., S. 9f. 38 Vgl. ebd., S. 10. 39 Vgl. ebd. 40 Vgl. ebd. 41 Vgl. ebd. 42 Vgl. ebd., S. 12f. 43 Vgl. ebd., S. 10. 44 Ebd. 45 Ebd., S. 22. 46 Vgl. ebd., S. 101. 47 Vgl. ebd., S. 89. 48 Vgl. Caillois: S. 11f. 49 Vgl. Huizinga: S. 56f. 50 Ebd., S. 211. 51 Ebd., S. 219. 52 Ebd., S. 215. 53 Vgl. ebd., S. 15. 54 Vgl. ebd., S. 62f u. 68. 55 Eine ähnliche Differenzierung findet sich auch bei Helmut Plessner und in Roger Caillois’ Betrachtung der „Korruption der Spiele“, vgl. Gebauer: S. 25 und Caillois: S. 52–65. 56 Huizinga: S. 16. 57 Vgl. Wetzel: S. 577f. 58 Huizinga: S. 16. 59 Vgl. ebd. 60 Vgl. Evers, Lempa: S. 236; Hüttler: S. 184. 61 Vgl. Schreyögg, Dabitz: S. 6; Hüttler: S. 184 sowie Lempa, Evers: S. 247f. 62 Vgl. Evers, Lempa: S. 238. 63 Eine ausführliche Diskussion des Phänomens der leistungssteigernden und datengenerierenden Implementierung von Spielaspekten und Spieldynamiken in Arbeitsprozesse, die in den letzten Jahren unter dem Namen gamification Einzug in diverse Bereiche des Wirtschaftslebens genommen hat, findet sich bei Stampfl, Chatfield und Heidt. 64 Vgl. Evers, Lempa: S. 238f. 65 Adamowsky, Natascha: „Copy – Gedanken zur ludischen Praxis des Nachahmens“, Vortrag auf der Konferenz Unfreiwillige Spiele – Zur Formung von Subjektivität in einer theatralen Gesellschaft, Institut für Theaterwissenschaft, Freie Universität Berlin, 3. Juli 2015.
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5 Mise-en-abyme 66 Evers, Lempa: S. 239. 67 Vgl. ebd., S. 247f. 68 Vgl. Warstat: „Theatralität“, S. 363f. 69 Vgl. Warstat u. a.: „Einleitung“, S. 17. 70 Huizinga: S. 15. 71 Ebd. 72 Ebd. 73 Ebd. 74 Vgl. ebd. 75 Vgl. Wetzel: S. 587f. 76 „To witness a reenactment is to be a bystander, a passer-by, possibly out of step, in the leak of another time, or in a syncopated temporal relationship to the event that (some) participants hope will touch the actual past, at least in a partial or incomplete or fragmented manner.“ Schneider: S. 9f. 77 Vgl. Schlickmann: „Wir müssen über SIGNA reden“, S. 56f und dies.: Adventure and Meeting, S. 106f. 78 Vgl. White: S. 228. 79 Vgl. Heinicke: „Wohin denn ich?“ und Warstat u. a.: Theater als Intervention, S. 143. 80 Huizinga: S. 15. 81 Ebd., S. 22. 82 Vgl. Czirak, Adam: „Partizipation“, in: Fischer-Lichte, Erika/Kolesch, Doris/Warstat, Matthias (Hg.): Metzler Lexikon Theatertheorie, Stuttgart, Weimar 2014, S. 242–248, hier S. 246 (im Folgenden zitiert als: Czirak: „Partizipation“). 83 Vgl. Schneider: S. 58f. 84 Vgl. Harvie: S. 50f. 85 Huizinga: S. 15. 86 S. C., Seminarschauspieler, Freiberufler, Coach und Spielpartner in Assessment-Center- und Potentialanalyseverfahren, Rhetoriktrainer, Synchronsprecher, im Interview mit dem Autor am 25. Juni 2014. R. A., Seminarschauspieler, Trainer und Coach in Assessment-Center-Prozessen, Potentialanalyseverfahren und im Mitarbeiter-Coaching, im Interview mit dem Autor im Rahmen von Feldforschung am 2. Juni 2014. S. A., Seminarschauspielerin, Trainer und Coach in Assessment-Center-Prozessen, Potentialanalyseverfahren und im Mitarbeiter-Coaching, im Interview mit dem Autor im Rahmen eines Präsentationstags 9. Mai 2014. P. L., Unternehmenstheateranbieter, Coach, Psychologe, im Interview mit dem Autor im Rahmen von Feldforschung am 3. Oktober 2014. 87 Vgl. Huizinga: S. 22. 88 P. L., Unternehmenstheateranbieter, Coach, Psychologe, im Interview mit dem Autor im Rahmen von Feldforschung am 3. Oktober 2014. 89 Ebd. 90 Schramm: S. 307. 91 Zur Eigenschaft von Simulationen, Kategorien von Original und Kopie zu verunklaren, vgl. Dotzler, Bernhard J.: „Simulation“, in: Barck, Karlheinz u. a. (Hg.): Ästhetische Grundbegriffe, Bd. 5, Stuttgart, Weimar 2000, S. 509–534, hier S. 511. 92 Vgl. Hüttler: S. 107. 93 Vgl. ebd., S. 133. 94 Chinyowa: S. 345. 95 Vgl. Hüttler: S. 48–52. 96 Vgl. ebd., S. 150. 97 Schlickmann: „Wir müssen über SIGNA reden“, S. 66f. 98 Kopp, Herwig: „Nordic-Larp – Hirnforschung, Bleeding und echte Gefühle“, Vortrag im Panel „Entgrenzte Spiele“ im Rahmen des Gamefest 2016 im Computerspielemuseum Berlin, 24. April 2016. 99 Vgl. Schlickmann: „Wir müssen über SIGNA reden“, S. 70f.
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Ernste Spiele 100 Vgl. Schlickmann: Adventure and Meeting, S. 109–113 sowie dies.: „Wir müssen über SIGNA reden“, S. 55ff. 101 Aisthetisch wird hier im Sinne einer sinnlichen Wahrnehmung in historisierbarer, kultureller Rahmung, aber noch jenseits eines Kunstdiskurses verortet, gebraucht. Zum Begriffspaar sowie zur Abgrenzung von ästhetisch/aisthetisch vgl. Barck, Karlheinz: „Ästhetik/ästhetisch“, in: ders. u. a. (Hg.): Ästhetische Grundbegriffe, Bd. 1, Stuttgart, Weimar 2000, S. 308–400, hier S. 309–311 sowie 316. 102 Es lohnt sich hier auch der Vergleich zu Arlie Russel Hochschilds Begriff der „Gefühlsarbeit“ (emotional labor), den sie ebenfalls anhand von Feldforschungsbeobachtungen im Assessment Center – in diesem Fall für Flugbeleiterinnen – exemplifiziert. Die hier vorliegende Studie bemüht sich dabei quasi um ein Instrument innerhalb des Produktionsprozesses der Gefühlsarbeit. Vgl. Hochschild, Arlie Russel: Das gekaufte Herz. Die Kommerzialisierung der Gefühle, Frankfurt a. M. 2006, S. 29f. (im Folgenden zitiert als: Hochschild). 103 Bourriaud: S. 14f u. 18f. 104 Vgl. ebd., S. 11. 105 Vgl. ebd., S. 45f. 106 Hier lohnt auch ein Vergleich zu Claire Bishops kritischer Position zur Funktion partizipatorischer Kunst in Bezug auf Bourriaud, vgl. Bishop: S. 11. 107 Vgl. Bourriaud: S. 8f. 108 Interessanterweise wird an späterer Stelle im dritten Kapitel dieser Studie darauf zurückzukommen sein, dass Dispositive historisch auf einen Mangel – eine urgence – innerhalb der Gesellschaft, in der sie sich entfalten, reagieren. 109 Vgl. Bishop: S. 13ff. 110 Vgl. ebd., S. 2f und Harvie: S. 8. 111 Vgl. Huizinga: S. 22. 112 „Zwischen die Makro- und Mikroebene geschobene und beide vermittelnde Betrachtungsweise. Zwischen Gesamtgesellschaft und Kleingruppe bzw. sozialem Handeln des Individuums stehen danach die Organisationen.“ http://www.wirtschaftslexikon.co/d/ mesoebene/mesoebene.htm (zuletzt aufgerufen am 23. September 2017). 113 Vgl. Huizinga: S. 22. 114 Vgl. Caillois: S. 10f. 115 Vgl. Harvie: S. 41. 116 Vgl. Baudry, Jean-Louis: „Ideological Effects of the Basic Cinematographic Apparatus“, in: Rosen, Philip (Hg.): Narrative, Apparatus, Ideology. A Film Theorie Reader, New York 1986, S. 286–298, hier S. 294 (im Folgenden zitiert als: Baudry: „Ideological Effects of the Basic Cinematographic Apparatus“). 117 Vgl. Huizinga: S. 22. 118 Vgl. etwa Hesse, Schrader: S. 451f. 119 S. T., Nachwuchsführungskraft, Second Level Manager, Call Center Outsourcing AG, im Interview mit dem Autor am 12. April 2015. 120 Vgl. Huizinga: S. 12. 121 Ebd., S. 22. 122 Vgl. ebd. 123 „In other words, in liminality people ‚play‘ with the elements of the familiar and defamiliarize them.“ Turner, Victor: From Ritual to Theatre. The Human Seriousness of Play, New York 1982, S. 27. 124 Vgl. Bateson: S. 249f. 125 Vgl. Goffman, Erving: „Moduln und Modulation“, in: Wirth, Uwe (Hg.): Performanz. Zwischen Sprachphilosophie und Kulturwissenschaften, Frankfurt a. M. 2002, S. 185–192, hier S. 189f. 126 Einen ausführlichen Überblick über formale Konzeption, praktische Umsetzung und Geschichte des Unsichtbaren Theaters liefert Henry Thorau in seiner gleichnamigen Studie. Aus Thoraus Auseinandersetzung mit dieser Theaterform geht zugleich hervor, wie eng sie mit Boals politischer Haltung verflochten ist, und lässt damit die Leserin auch erahnen, wie dieses Theater in falschen Händen eingesetzt werden könnte, vgl. Thorau, Henry: Unsichtbares Theater, Berlin, Köln 2013, S. 41ff.
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5 Mise-en-abyme 127 Thorau, Henry: Gastvortrag im Rahmen des Workshops Theatre for change today des ERC-Projekts The Aesthetics of Applied Theatre am Institut für Theaterwissenschaft der Freien Universität Berlin, 13. Juni 2014. 128 Vgl. Hüttler: S. 131f. 129 Von solchen theatralen Qualitätstests für Verkäufer kann man schon bei Goffman lesen, vgl. Goffman: S. 135. Eine telefonische Variante dieses Quality-Management-Tools wurde dem Autor von einem Manager eines Call-Center-Dienstleisters im Interview geschildert. S. T., Nachwuchsführungskraft, Second Level Manager, Call Center Outsourcing AG, im Interview mit dem Autor am 12. April 2015. 130 Laux, Renner: „Theater als Modell für die Persönlichkeitspsychologie“, S. 90f. 131 Vgl. Schramm: S. 312; Gebauer: S. 23 sowie Huizinga: S. 14. 132 Vgl. Huizinga: S. 56. 133 Vgl. ebd., S. 14. 134 Ebd. 135 Schramm: S. 307. 136 Vgl. Huizinga: S. 22. 137 Das Verhältnis von Spiel und Arbeit fokussierend schreibt Gunter Gebauer zum Fußball dagegen interessanterweise, dass der organisierte Vereinsfußball Anfang des 20. Jahrhunderts viel eher die Sphäre der Arbeit der Angestelltenkultur spiegele, vgl. Gebauer: S. 38. 138 Bateson: S. 257. 139 Ebd., S. 244. 140 Ebd. 141 Ebd., S. 247. 142 Vgl. ebd. 143 Ebd. 144 Vgl. Bateson, Gregory: „Vorstudien zu einer Theorie der Schizophrenie“, in: ders.: Ökologie des Geistes, Frankfurt a. M. 1985, S. 270–301, hier S. 276ff. 145 Huizinga: S. 22. 146 Zu den uneindeutigen Rahmen anderer Unternehmenstheaterformen vgl. auch: Hüttler: S. 171f. 147 Fischer-Lichte: „Aufführung“, S. 17. 148 P. L., Unternehmenstheateranbieter, Coach, Psychologe, im Interview mit dem Autor im Rahmen von Feldforschung am 2. Juni 2014. 149 Turner: „Betwixt and Between”, S. 93ff. 150 Vgl. Caillois: S. 36f. 151 Vgl. Huizinga: S. 22. 152 Vgl. ebd. 153 Vgl. Bourdieu, Pierre: „Ökonomisches, kulturelles und soziales Kapital“, in: ders.: Die verborgenen Mechanismen der Macht, Hamburg 1992, S. 49–75. 154 Caillois: S. 21. 155 Ebd., S. 9. 156 Ebd., S. 10. 157 Vgl. ebd., S. 17. 158 Vgl. ebd., S. 19. 159 Vgl. ebd. 160 Vgl. ebd., S. 27 u. 43. 161 Vgl. ebd., S. 65. 162 Vgl. ebd., S. 64. 163 Ebd., S. 63. 164 Vgl. ebd., S. 64. 165 Vgl. ebd., S. 65. 166 Ebd., S. 52.
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Ernste Spiele 167 Ebd. 168 Vgl. ebd., S. 52ff. 169 Vgl. ebd., S. 53. 170 Ebd. 171 Ebd., S. 59. 172 Vgl. ebd., S. 65. 173 Vgl. ebd. 174 Vgl. Egenfeldt-Nielsen, Simon: „Die ersten zehn Jahre der Serious Games-Bewegung. Zehn Lektionen“, in: Freyermuth, Gundolf S./Gotto, Lisa/Wallenfels, Fabian (Hg.): Serious Games. Exergames. Exerlearning – Zur Transmedialisierung und Gamification des Wissenstransfers, Bielefeld 2013, S. 145–163. 175 Zum wirkungsästhetischen Konzept der „Handlungskatharsis“ Morenos im Unternehmenstheater vgl. auch Hüttler: S. 150. 176 Boal, Augusto: Legislative Theatre. Using performance to make politics, London, New York 1998, S. 20. Zum wirkungsästhetischen Konzept der „Dynamisierung“ Boals im Unternehmenstheater vgl. auch Hüttler: S. 133. 177 Vgl. Caillois: S. 20. 178 Vgl. ebd., S. 46. 179 Ebd., S. 16. 180 Vgl. ebd., S. 17. 181 Vgl. ebd., S. 16. 182 Vgl. ebd., S. 10. 183 Vgl. ebd., S. 15. 184 Vgl. ebd., S. 16f. 185 Caillois führt hier keinen direkten Gegenbeweis zu Huizinga, der ja durchaus Glückspiele wahrnimmt, aber ihr materielles Interesse nicht dem Idealspiel zurechnet. Genauso wie die Tatsache, dass bei Caillois die Triebe zum Spielen zurückkehren, die Huizinga als biologisch, psychologische Beobachtungen beiseiteschiebt, bedeutet dies kein direktes Widerlegen der Thesen aus Homo Ludens, sondern eher eine andere Perspektive auf das Phänomen Spiel. 186 Vgl. Caillois: S. 11. 187 Vgl. ebd., S. 11f. 188 Ebd., S. 12. 189 Vgl. Wetzel: S. 578. 190 Vgl. Obermann, Höft, Becker: Assessment Center-Praxis 2016, S. 3. Hier werden neben Banken, Versicherungen, Beratung, Handel, Gesundheitswesen, Dienstleistungen etc. zwar auch Kfz-Bau und Maschinenbau angeführt – auch in diesen Bereichen kann aber davon ausgegangen werden, dass Rollenspiele in Personalauswahlverfahren eher die Nachwuchsführungskräfte durchlaufen werden als der Facharbeiter am Fließband. Vgl. ebd., S. 7. 191 Lazzarato: S. 39ff. 192 Vgl. Obermann, Höft, Becker: Assessment Center-Praxis 2016, S. 7. 193 Vgl. Hochschild: S. 30. 194 Vgl. dazu auch Ulrich Bröcklings Ausführungen zu Kreativität, die dem Spiel zugeschrieben wird und dabei auch impliziert, dass etwas kreiert, also etwas Neues geschaffen wird. Bröckling: Das unternehmerische Selbst, S. 158f. Eine ganz ähnliche These vertrat auch Doris Kolesch in ihrem Beitrag „Prosumer Portfolio: Towards an Aesthetic of Affective Values“ zur Konferenz Profitable Aesthetics. Performative Strategies of Involvement, die vom Forschungsprojekt The Aesthetics of Applied Theatre vom 21. bis zum 22. Oktober 2016 an der Akademie der Künste in Berlin abgehalten wurde. 195 Vgl. Fischer-Lichte: Ästhetik des Performativen, S. 31f. 196 Vgl. Hochschild: S. 29f. 197 Matzke: S. 41. 198 „Das Theater produziert, ohne stabile Produkte zu hinterlassen.“ Matzke: S. 41. 199 Vgl. Fischer-Lichte: Ästhetik des Performativen, S. 31f.
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5 Mise-en-abyme 200 Vgl. Fischer-Lichte: Semiotik des Theaters, S. 17. 201 Vgl. Wetzel: S. 586. 202 Vgl. Schramm: S. 312; Gebauer: S. 23f. 203 Vgl. Schramm: S. 312. 204 Ebd. 205 Vgl. ebd., S. 311f. 206 Huizinga: S. 16. 207 Vgl. ebd. 208 Ebd. 209 Vgl. ebd. 210 Ebd., S. 27. 211 Ebd. 212 Vgl. Caillois: S. 12. 213 Ebd., S. 65. 214 Vgl. ebd. 215 Ebd., S. 12. 216 Vgl. Matzke: S. 43. 217 Vgl. Gebauer: S. 23. 218 Vgl. ebd., S. 29. 219 Vgl. ebd., S. 28f. 220 Vgl. ebd., S. 23. 221 Vgl. ebd., S. 24. 222 Ebd. 223 Vgl. ebd., S. 23f. 224 Ebd., S. 38. 225 Ebd., S. 39. 226 Ebd. 227 Vgl. Caillois: S. 11f. 228 Vgl. Gebauer: S. 24. 229 S. T., Nachwuchsführungskraft, Second Level Manager, Call Center Outsourcing AG, im Interview mit dem Autor am 12. April 2015. 230 Ebd. 231 Vgl. Roselt: „Perfektion vom Scheitel bis zur Sohle“, S. 75. 232 Vgl. Rothe: S. 57. 233 Vgl. ebd. 234 Vgl. Boltanski, Chiapello: S. 22. 235 Vgl. Deleuze: „Postskriptum über die Kontrollgesellschaften“, S. 254. 236 Vgl. Horkheimer, Max/Adorno, Theodor W.: Dialektik der Aufklärung. Philosophische Fragmente, Frankfurt a. M. 2004, S. 159. 237 Vgl. Deleuze: „Postskriptum über die Kontrollgesellschaften“, S. 256. 238 Vgl. Evers, Lempa: S. 238; Hüttler: S. 184. 239 Vgl. Kotte: S. 54ff. 240 Vgl. Turner: „Betwixt and Between“, S. 93ff. 241 Vgl. Evers, Lempa: S. 247f. 242 Vgl. Caillois: S. 19f. 243 Ebd., S. 20. 244 Vgl. ebd., S. 46. 245 Vgl. ebd., S. 40f. 246 Vgl. Fischer-Lichte: Ästhetik des Performativen, S. 61.
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Ernste Spiele 247 R. F., Unternehmenstheateranbieter, Coach, Rhetoriktrainer, Sachbuchautor, im Publikumsgespräch mit dem Autor am 7. November 2015 im Rahmen des Workshops „Staging Business – Theater in Unternehmen“. 248 Ebd. 249 Vgl. Kuschke, Julius: „Nichtlineare Geschichten entwerfen“, in: Making Games – Magazin für Spiele-Entwicklung und Business-Development (6/2011): Storytelling, S. 12–17. 250 Zwar mag man hier einwenden, dass ein Bestehen der Assessment-Center-Situation auch mit Glück und Zufall, mit der Kontingenz von Theatersituationen einhergehen kann, lediglich geht es hier um Spielarrangement-, -intention und -haltung der Spieler und Initiatoren, die alles andere wollen, als die Entscheidung, wer sich im Bewerbungsprozess durchsetzt, dem Zufall zu überlassen, sondern ganz entschieden die Kontrolle bzw. Selbstermächtigung im Spiel suchen. 251 Vgl. Caillois: S. 21f. 252 Ebd. 253 Vgl. ebd., S. 65. 254 Ebd. 255 Vgl. ebd. 256 Vgl. Wendel, Sybouts: S. 22; siehe auch den Punkt „Fairness“ in Arbeitskreis Assessment Center e. V.: AC-Standards, S. 14. 257 Caillois: S. 27. 258 P. L., Unternehmenstheateranbieter, Coach, Psychologe, im Interview mit dem Autor im Rahmen eines Präsentationstags am 9. Mai 2014. 259 Ebd. 260 Caillois: S. 83f. 261 Vgl. Fischer-Lichte: Geschichte des Dramas, S. 13. 262 Vgl. ebd. 263 Vgl. McKenzie, Jon: Perform or Else: Form Discipline to Performance, London, New York 2001, S. 5–9 (im Folgenden zitiert als: McKenzie) sowie darin „Between Theatre and Management“, S. 81–88. 264 Vgl. ebd., S. 3f. 265 Vgl. Breed: „Environmental aesthetics, social engagement and aesthetic experiences in Central Asia“, S. 87f. 266 Vgl. Breed, Ananda: „Performing the Nation: Theatre in Post-Genocide Rwanda”, in: The Drama Review, Vol. 52, No. 1: War and Other Bad Shit, Frühjahr 2008, S. 32–50, hier S. 40f. 267 Vgl. Evers, Lempa: S. 248. 268 Vgl. Caillois: S. 29f. 269 Vgl. ebd., S. 30. 270 Vgl. ebd. 271 Vgl. Kirby: S. 105. 272 Schilderung einer Studierenden des Autors nach Besuch der SIGNA-Installation Söhne & Söhne im Wintersemester 2015/16. Der Autor gelangte bei seinem Besuch von Söhne & Söhne zwar ebenfalls zur Station dieser Salzwasserprobe, konnte das moralische Dilemma jedoch anders als seine Studierende in der Spielhandlung abwenden. 273 Schilderung einer Kollegin des Autors nach Besuch der SIGNA-Installation Club Inferno im Frühjahr 2013. Zu den entgrenzten Spielen der Gruppe SIGNA siehe auch: Weigel, Matthias: „Die Toten ficken die Lebenden“, nachtkritik.de, März 2013. www.nachtkritik. de/index.php?option=com_content&view=article&id=7849:club-inferno-fuer-die-berliner-volksbuehne-umspielen-signa-dante-und-laden-ihr-publikum-ins-separee&catid=38:die-nachtkritik&Itemid=40 (zuletzt aufgerufen am 22. September 2017). 274 Vgl. Rothe: S. 62. 275 Vgl. Caillois: S. 54. 276 Vgl. ebd., S. 46. 277 Vgl. Fischer-Lichte: Ästhetik des Performativen, S. 47.
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5 Mise-en-abyme 278 Vgl. Chinyowa: S. 345. 279 Vgl. Schramm: S. 307. 280 Vgl. Caillois: S. 52f. 281 Zum Konzept der mise-en-abyme sowohl in der Kunstgeschichte als auch in Literatur und darstellendem Spiel vgl. Wetzel: S. 612. 282 Vgl. Bateson: S. 249f. 283 Vgl. Wetzel: S. 612. 284 Name und Standort dürfen aufgrund von Datenschutzvereinbarungen nicht genannt werden. 285 Vgl. Evers, Lempa: S. 237. 286 P. L., Unternehmenstheateranbieter, Coach, Psychologe, im Interview mit dem Autor im Rahmen von Feldforschung am 3. Oktober 2014. 287 Ebd. 288 Ebd. 289 Im vorliegenden Fall allesamt Männer, daher ist das Maskulinum hier nicht generisch, sondern wird der spezifischen Situation, dass explizit Ausbildungsplätze für männliche Schauspieler ausgeschrieben waren, gerecht. 290 Huizinga: S. 16. 291 Vgl. Wetzel: S. 612. 292 Ebd. 293 Vgl. ebd. 294 Ebd. 295 Vgl. Matzke: S. 119f. 296 Ebd. 297 Vgl. Laux, Renner: „Theater als Modell für die Persönlichkeitspsychologie“, S. 88. 298 Ebd., S. 105f. 299 Wortlaut des Bewertungsbogens. 300 R. A., Seminarschauspieler, Trainer und Coach in Assessment-Center-Prozessen, Potentialanalyseverfahren und im Mitarbeiter-Coaching, im Interview mit dem Autor im Rahmen von Feldforschung am 2. Juni 2014. 301 S. C., Seminarschauspieler, Freiberufler, Coach und Spielpartner in Assessment-Centerund Potentialanalyseverfahren, Rhetoriktrainer, Synchronsprecher, im Interview mit dem Autor am 25. Juni 2014. 302 Ebd. sowie S. A., Seminarschauspielerin, Trainer und Coach in Assessment-Center-Prozessen, Potentialanalyseverfahren und im Mitarbeiter-Coaching, im Interview mit dem Autor im Rahmen eines Präsentationstags 9. Mai 2014. 303 P. L., Unternehmenstheateranbieter, Coach, Psychologe, im Interview mit dem Autor im Rahmen eines Präsentationstags am 9. Mai 2014. S. C., Seminarschauspieler, Freiberufler, Coach und Spielpartner in Assessment-Center- und Potentialanalyseverfahren, Rhetoriktrainer, Synchronsprecher, im Interview mit dem Autor am 25. Juni 2014. 304 P. L., Unternehmenstheateranbieter, Coach, Psychologe, im Interview mit dem Autor im Rahmen eines Präsentationstags am 9. Mai 2014 und P. L. im Interview mit dem Autor im Rahmen von Feldforschung am 3. Oktober 2014. 305 Balme: „Applied Theatre“, S. 191. 306 Vgl. Foucault: Dispositive der Macht, S. 123f. 307 Vgl. Gebauer: S. 23f.
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THEATRALE DISPOSITIVE
1 Jenseits der Aufführungsanalyse Erweiterte Personalauswahlverfahren mit theatralen Komponenten – Rollenspielmodule im Assessment oder Development Center – lassen sich, so wurde in den vorangehenden Kapiteln dargelegt, als Ereignisse beschreiben, in denen Menschen an einem bestimmten Ort für eine bestimmte Zeit in leiblicher Kopräsenz aufeinander treffen und Handlungen vollziehen, die eine spezifische Bedeutung hervorbringen.1 Diese Bedeutungen wurden nicht zuvor andernorts festgelegt. Unter den Teilhabenden lassen sich ausgebildete Akteure, nicht-professionelle Mitspielerinnen, involvierte Zuschauerinnen und Spielleiterinnen identifizieren, die zeitweilig die Rolle von Beobachtern hervorgehobener Handlungen der jeweils anderen einnehmen. Mit Körper und Stimme werden Zeichen hervorgebracht, die sowohl performativ etwas Neues kreieren als auch als repräsentativ für eigentliches Handeln interpretiert werden. Es gibt einen Grad von Selbstreferentialität, aber auch von ‚Als-ob‘ und Fiktionalität in den Spielhandlungen. Der Liveness-Charakter, die Teilimprovisation und die Dynamik zwischen den zeitweiligen Zuschauerinnen und den Spielerinnen schaffen einen Raum für Kontingenz und Emergenzen. Durch den agonalen Charakter des Spiels wird die Darstellung zum Vergleichs- und Messinstrument. Anhand der erbrachten performativen Leistung entscheidet sich der Zugang zur privilegierten Teilhabe2 nicht nur an Unternehmen, sondern auch an staatlichen Institutionen, Förderprogrammen und Ausbildungen. All diese, in den vorangehenden Kapiteln beleuchteten Kriterien erscheinen hinreichend, um die Diagnose zu stellen, dass es sich bei den Ernsten Spielen der erweiterten Personalauswahlverfahren um eine Variante des Theaters, um einen weiteren Aspekt des so heterogenen Applied-TheatreSektors Theater in Unternehmen und in der konkreten Situation damit um eine Form der Aufführung, wenn auch nicht der künstlerischen Aufführung handelt. Doch erinnern wir uns an das Bild der Ekkyklema, an die Konstellation, dass die Ernsten Spiele brüchige Rahmen haben und einen Habitus für den Arbeitsalltag formen. Auch die theatral eingeübte
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Kundenfreundlichkeit des Servicemitarbeiters, die Verhaltensnormen der Corporate Identity oder etwa die vorangehend beschriebene Haltung des Wollen-Sollens, die vom Management im Bezug auf die Teilnahme an den Spielen eingefordert wird, evozieren eine Als-ob-Haltung jenseits der Aufführungssituationen: Die Unternehmenskultur, in die diese Theaterformen eingebettet sind, hat ebenfalls theatralen Charakter im Sinne der Inszenierungen der Persönlichkeit im Alltag, der „presentation of self in everyday life“3. Assessment und Development Center erscheinen unter dieser Perspektive als Theater, das wiederum Subjekte formt und erwählt, die im Kontext einer Theatralität der Arbeitswelt zu verorten sind. Nach den Beobachtungen aus den ersten beiden Kapiteln läge zunächst die Schlussfolgerung nahe, dass bei einer theaterwissenschaftlichen Perspektive auf diese Personalauswahlverfahren die Aufführungsanalyse das Mittel der Wahl darstellen würde, um ihre theatralen Aspekte wie ihre Ästhetik forschend jenseits einer quantitativen Auswertung oder Beurteilung von Aussagekraft, Effizienz und Nachhaltigkeit zu untersuchen. Das Konzept der ‚Aufführung‘ ist ein Kernbegriff der Disziplin, ist, zugespitzt formuliert, die Stunde Null der Theaterwissenschaft und ihrer Begrifflichkeiten von Ästhetik – löst man sich doch hiermit von der Auffassung, dass der Text einer Bühnenautorin das ‚eigentliche‘ künstlerische Werk darstelle, bei dem der Umsetzung als Inszenierung oder einer spezifischen Aufführung nur die Rolle der ästhetischen Zweit- und Drittverwertungskette zugeschrieben wurde.4 Mit der theaterwissenschaftlichen Aufwertung der Aufführung durch Max Herrmann geriet auch der Werkbegriff als einem ästhetischen Produkt, das abgeschlossen, greifbar, kurz gesagt eine Sache – ein Bild, ein Buch, eine Skulptur – ist, ins Wanken, beschrieb man doch mit der Aufführung als dem ureigenen ästhetischen Gehalt des Theaters ein transitorisches, flüchtiges Ereignis als Kunst,5 dem ein eigener Ästhetikbegriff geschuldet war.6 Entgegen der Deutungshoheit eines Literaturtheaters, einer werkzentrierten Auffassung von Ästhetik und in zweiter Welle damit einhergehend auch entgegen eines Paradigmas der Kultur als Text entstanden im 20. Jahrhundert sowohl avantgardistische Manifeste als auch ästhetische Theorie aus dem Umfeld von Theater und Performance, die sich einem neuen Verständnis von Ästhetik annahmen: Artauds Theater der Grausamkeit, das Konzept von ästhetischer Erfahrung,7 die „Ästhetik des Performativen“8 oder auch das „postdramatische Theater“9 sind nur einige wichtige Beispiele für das Erstarken des Aufführungsbegriffs, der in Engführung mit soziologischen und anthropologischen Konzepten von Aufführung von Goffman über Turner bis Butler einen ganzen Sektor der Theaterwissenschaft aus einem Kunstparadigma entlässt und interdisziplinär mit Soziologie, Psychologie, Kulturwissen-
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Theatrale Dispositive
schaften, Gender Studies, Anthropologie und vielen anderen Disziplinen verwebt.10 Die Hervorhebung der ästhetischen Autonomie der Aufführung in den Geburtsstunden der Theaterwissenschaft erwuchs also nicht zuletzt daraus, Kämpfe gegen den Werkgedanken auf dem ästhetischen Feld auszutragen – Kämpfe einer Disziplin, die sich gegen eine Deutungshoheit der Literaturwissenschaft gegenüber dem Theater als dramatischem Text zur Wehr setzen musste.11 Was zunächst innerhalb eines ästhetischen Diskurses gelang, konnte auf einer wissenschaftstheoretischen Ebene auf ein Modell der Analyse von Kultur appliziert werden. Die Vorstellung der Kultur als Text wurde als Paradigma durch das Verständnis der Kulturen des Performativen abgelöst, das in nahezu allen Kulturwissenschaften zur Anwendung kommt.12 Applied Theatre nun stellt innerhalb dieses Paradigmas nicht mehr länger nur die Frage, wie ein transitorischer Vorgang ohne eindeutig ausweisbare Autorschaft im ästhetischen Feld der Kunst zu verorten sei und sich dabei von seinen im performativen Akt zitierten Inspirationen emanzipiert, sondern wie eine Theaterform ästhetisch, politisch und ethisch zu beschreiben ist, die durch ihre brüchigen Spielrahmen in alle erdenklichen Richtungen in andere Sphären als die der Kunst disseminiert wird und der deshalb dennoch nicht allein mit dem Dachbegriff cultural performance oder Theatralität des Alltags genüge getan wurde.13 Diesem Theater, das soll im Verlauf des abschließenden Kapitels aufgezeigt werden, wohnt eine „Scharnierfunktion“14 zwischen Theater und Theatralität inne. Das folgende Kapitel ist der aus der Feldforschung und der Arbeit im Umfeld des Forschungsprojekts The Aesthetics of Applied Theatre abgeleiteten Beobachtung erwachsen, dass im Theater des Assessment Centers – wie in allen Formen des Applied Theatre – der, für die Disziplin so entscheidende Begriff der Aufführung nicht als der alleinige Zugang und folglich die Aufführungsanalyse nicht als der methodologische Schlüssel zur dennoch theaterwissenschaftlichen Betrachtung des Phänomens gesehen werden kann.15 Selbstverständlich wurde auch in bisheriger methodologischer Praxis der Analyse von Theater die Aufführung in ihrem sozialen oder politischen Umfeld kontextualisiert, und selbstredend gibt es ganze andere Sektoren der theaterwissenschaftlichen Forschung jenseits der Aufführungsanalyse, wie etwa theaterhistorische Forschung, die philosophische Theoriebildung oder die Analyse von Schauspieltheorie. Dennoch zeigen gerade die Aufführungssituationen des Applied Theatre und noch spezifischer des Theaters in Unternehmen in besonderer Weise, dass ihre transitorische Ästhetik nur dadurch zu analysieren ist, sie in einem verflochtenen Wechselverhältnis mit den Proben, mit anderen, vorgängigen Aufführungen, mit
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1 Jenseits der Aufführungsanalyse
Rollenmodellen des Verhaltens wie mit gesellschaftlichen und politischen Rahmenbedingungen zu situieren: Applied theatre ist ein durch und durch prozessuales Geschehen; wichtig ist immer der gesamte Planungs-, Arbeits- und Reflexionsvorgang, einschließlich der Präsentationen und der ihnen folgenden Auswertungsgespräche. Fast alle Versprechungen des applied theatre richten sich an Mitwirkende, nicht an Zuschauende, und entsprechend müssen alle Prozesse, in die die Mitwirkenden involviert sind, auch zum Gegenstand der ästhetischen Reflexion werden. Erforderlich ist ein ästhetischer Zugang, der die noch verbliebenen Differenzen zwischen Produktions-, Rezeptions- und Werkästhetik überwindet. Alle Handlungsvollzüge, die ein applied-theatre-Projekt ausmachen, sind von Interesse; alle sind einzubeziehen, wenn der ästhetische Gehalt eines Projektes diskutiert werden soll.16 Im Theater in Unternehmen und spezifisch in den theatralen Personalauswahl- und Schulungsmaßnahmen werden somit Fragen relevant, die über Fragestellungen bekannter Modelle von Aufführungsanalyse17 hinausgehen: Welche Auswirkungen und Nachhaltigkeit hat die Aufführung? Welche Anzeichen für das Verhältnis von Authentizitätseffekt des Schauspielers im Spiel und Persönlichkeit außerhalb des Spiels kann man aus der Situation ableiten? Wie schlägt sich Schauspieler A im Vergleich zu Schauspieler B in derselben Spielsituation? Wer bezahlt wen? Wer bezahlt wen? etwa ist keine Frage, die in einer theaterwissenschaftlichen Aufführungsanalyse unter ästhetischen Gesichtspunkten einer Produktion des Kunsttheaters typischerweise von Belang wäre, obgleich selbstverständlich der Geldfluss, sei es die verkaufte Eintrittskarte, sei es die Förderung durch die öffentliche Hand, auch das regelt, was in ästhetischen Kategorien auf der Bühne zu sehen ist. Wer bezahlt wen? hebt als Frage zunächst auf einen Machteffekt in der Spielsituation ab, der jeder Theatersituation inhärent ist, der sich aber in den hier betrachteten Phänomenen als untrennbar mit der Ästhetik des Spiels, mit den Handlungen der Schauspielerinnen verwoben erweist, denn die Ästhetik ist hier mit direkten, intervenierenden Interessen politischer oder ökonomischer Art verbunden. Die Analysebeispiele der ersten beiden Kapitel – Ernste Spiele in Rijswijk und mise-en-abyme – sollten eine erste Ahnung davon geben, was eine theaterwissenschaftliche Dispositivanalyse bedeuten könnte. Jedoch – so soll im Folgenden dargelegt werden – waren diese Betrachtungen lediglich Vorschläge, die den Teilaspekt einer Dispositivanalyse der Aufführung selbst betreffen. Sie werden hier als erster Schritt der Analyse eines
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Theatrale Dispositive
Mikrodispositivs gewertet, dass sich in einem nicht zu vernachlässigenden Wechselverhältnis zu Dispositiven nächst höherer Ordnung befindet. Die voranstehende Beobachtung soll damit allerdings nicht zum Anlass genommen werden, sich auf eine müßige Gegenüberstellung einzulassen, die darauf fußt, im Applied Theatre Kunst von Nicht-Kunst zu trennen. Wenn Applied Theatre jenseits des Stadttheaters oder etwa der Räume, die die Performance-Art sich aneignet, mit konkreten Wirkungsversprechen in Gefängnisse, therapeutische Einrichtungen, Unternehmen oder Schulen kommt, so gilt es aus ästhetischer Sicht vielmehr zwei Perspektiven zu differenzieren: Die eine wäre, dass jene Applied-Theatre-Projekte ihre künstlerischen Mittel instrumentalisieren, dem Zweck unterordnen und somit quasi den Gedanken einer ästhetischen Autonomie der Kunst ‚beflecken‘ oder aber politische Ästhetiken zweckentfremden, wenn ihre Ernsten Spiele mit einem spezifischen Wirkungsversprechen versuchen, in soziale und politische Realität einer Gemeinschaft zu intervenieren.18 Dieser Deutung soll sich hier nicht angeschlossen werden. Entgegen des Postulats des manipulativen Einsatzes ästhetischer Mittel im Applied Theatre steht die Einsicht, dass „ästhetische Dispositive nie abgetrennt von ihrem historischen und sozialpolitischen Kontext zu analysieren sind und sich in ihnen immer auch Macht manifestiert“19: Ästhetik ist in diesem Sinne Äußerung einer Gesellschaft und wirft Fragen auf, was zu welchem Zeitpunkt zum Gegenstand von Kunst werden kann, wer sich auf welche Weise äußern darf, und auch, wer eventuell weiterhin unrepräsentiert bleibt und schweigen muss.20 Das Ereignis der Aufführung muss so auch in der konkreten Analyse als verwoben mit einem „heterogenen Netz“21 aus Teilelementen jenseits der leiblichen Kopräsenz der Aufführungssituation betrachtet werden, zwischen dessen einzelnen Komponenten sich Macht entfaltet, die auf die Subjekte in der Aufführungssituation einwirkt, sie prozessual formt und Wissen über sie generiert. Korrespondierend dazu hat das Forschungsprojekt, aus dem die hier vorliegende Studie erwachsen ist, methodisch parallel zur Aufführungsanalyse ethnographische Methoden der Feldforschung, qualitative Interviews und nicht zuletzt den dokumentarischen Film ausgearbeitet und angewandt. Keinesfalls soll hier allerdings die Analyse der Aufführung als ein zentraler Bestandteil theaterwissenschaftlicher Forschung für null und nichtig erklärt werden: Lediglich sind Assessment Center, als Theater betrachtet, wie auch andere Formen des Applied Theatre in ihrer jeweiligen Ausformung so abhängig von diesem heterogenen Netz aus Faktoren, die sich nicht in der einzelnen Aufführung selbst beschrei-
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1 Jenseits der Aufführungsanalyse
ben lassen, dass diese Studie den Versuch darlegen soll, eine Aufführungsanalyse mit einer hier zu entwickelnden interdisziplinären Methodik der Dispositivanalyse22 ins Verhältnis zu setzen, um dem Phänomen – seiner Ethik, Ästhetik und Politik – gerecht zu werden und seine machtdynamischen Rahmungen mit zu bedenken. Das Theater selbst als Dispositiv zu bezeichnen, bringt dabei wohlgemerkt nur wenig Innovationsgrad mit sich.23 Selbst in der Geburtsstunde des Dispositivkonzepts, so wird im Folgenden dargelegt werden, wurde schon übertragend vom Theater gesprochen. Hier wird allerdings vorgeschlagen werden, dass bei einer zu entwickelnden theaterwissenschaftlichen Dispositivanalyse verschiedene Ebenen von Dispositiven, die in Immanenz zueinander stehen, berücksichtigt werden müssen. Bei der bisherigen Verwendung des Dispositivbegriffs im theaterwissenschaftlichen Kontext entsteht zuweilen der Eindruck, man wolle sich nicht festlegen, ob mal die Aufführung, mal die Inszenierung, dann die Probe, ‚das Theater‘ an sich, was immer das im Einzelfall bedeuten mag, oder aber das Geflecht aus allem und mit ihm die Kunst per se als Dispositivanordnung bezeichnet wird. Hat auch der Begriff immer eine notwendige Unschärfe und bezeichnet eben ein Geflecht aus höchst unterschiedlichen Teilelementen und Ebenen, so ist aber doch gerade Präzision bei der Anwendung eines poststrukturalistischen Diskurses angebracht, der bisweilen droht, ins Idiosynkratische abzugleitenden, wenn es darum geht zu benennen, ob denn Aufführung, Inszenierung, Theater oder ein Geflecht aus allem das Dispositiv darstellen soll. Die hier vorliegende Studie setzt an dieser Stelle an. War dabei die Analyse der Ernsten Spiele in Rijswijk das Angebot dieser Arbeit an eine Aufführungsanalyse als Dispositivanalyse eines Mikrodispositivs, ähnlich der Ebene der Gefängniszelle in Foucaults Überwachen und Strafen,24 so muss im Folgenden der Frage nachgegangen werden, ob denn auch die Ebene des Gefängnisses sowie die Ebene der Disziplinargesellschaft in Foucaults Dispositivkonzept ein analysierbares Pendant in der Betrachtung der ästhetischen Dispositive findet. Das Mikrodispositiv befindet sich immer in Immanenz mit Dispositiven nächsthöherer Ordnung.25 Das Modell Panoptikum – Disziplinargesellschaft, also Mikround Makrodispositiv26 – soll dabei um eine Ebene erweitert werden: Dem Mikrodispositiv der Aufführung wird dabei die Rolle der Gefängniszelle mit dem unter einem Blick der Macht auftretenden Delinquenten in einer konkreten Situation zukommen. Dieses steht, so soll im Folgenden dargelegt werden, in Immanenz zu einem Mesodispositiv der institutionellen Ebene – eine Rolle, die bei Foucault die Gefängniseinrichtung als ganzes erfüllt – und einem Makrodispositiv der gesamtgesellschaftlichen Ebene. Die Bezeichnung Mesodispositiv ist im Diskurs ein Neologismus der hier
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Theatrale Dispositive
vorliegenden Studie und entlehnt sich dem Begriff der „Mesoebene“27 der Wirtschaftssoziologie. Mesoebene bezeichnet hier eine vermittelnde Ebene der Organisationen in der Betrachtung zwischen gesamtgesellschaftlichen Phänomenen und der Interaktion von Individuen oder kleinen Gruppen.28 Im Folgenden soll nun zunächst geklärt werden, wie sich der Begriff des Dispositivs in die Beobachtungen dieser Analyse einfügt.
2 Der Dispositivbegriff Es ist nicht übertrieben zu sagen, dass jedes Dispositiv ein Brei aus Sichtbarem und Sagbarem ist.29 Gilles Deleuze
Die Frage, was in diesem Kontext ein Dispositiv sei, muss daraufhin konkretisiert werden, dass dieser Begriff je nach Disziplin und Autorin auf unterschiedliche Weise eingesetzt, aufgegriffen und erweitert wurde. So erscheinen die Phänomene, die der medienwissenschaftliche Dispositivbegriff umfasst, auf den ersten Blick nur bedingt vereinbar mit dem Gebrauch des Begriffs in der Soziologie. Dennoch sind beide Verwendungen verwandt und lassen sich effektiv aufeinander beziehen.30 Für die Darlegung dessen, wie der Terminus sich für das theaterwissenschaftliche Arbeiten am Gegenstand des Applied Theatre fruchtbar machen lässt, soll zunächst in aller gebotenen Kürze seine Verwendung nachgezeichnet werden: Der Begriff ‚Dispositiv‘ leitet sich von dem französischen Wort ‚le dis positif‘ ab und hat dabei in einem direkten Übersetzungsversuch die Denotationen des Apparats31, der Vorrichtung, Einrichtung32 oder Maßnahme.33 Die mitschwingenden Konnotationen wären das System wie das Werkzeug und entsprechend dem zuvor angedeuteten Gebrauch sowohl in der Medienwissenschaft wie auch in der Soziologie evoziert le dispositif sowohl Assoziationen über Systeme technischer wie auch gesellschaftlicher Ausprägung. Alle diese Angebote zur Übertragung in die deutsche Sprache berühren dabei zugleich gewisse Teilaspekte des spezifischeren Konzepts genauso, wie sie andere nicht transportieren. So wird das Dispositiv nicht etwa mit dem deutschen Wort ‚System‘ übersetzt, obgleich letztendlich auch Systemstrukturen betrachtet werden, da es sich um eine spezifische, komplexere Systemstruktur handelt: Das Dispositiv beinhaltet eben nicht nur die Struktur des Systems, sondern gerade die Entfaltung der Machtdynamiken in den Relationen dieses Systems und ihr Wirken auf die Subjekte, auf die diese Struktur ausgerichtet und mit denen sie wechsel-
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2 Der Dispositivbegriff
seitig verflochten ist.34 In dieser heterogenen Struktur entstehen Wissen, Macht- und Subjekteffekte.35 Insofern würden der Übersetzung ‚System‘ etwa diejenigen Konnotationen des ‚Apparats‘ verloren gehen, die in der Zusammenwirkung einzelner technischer (der Fotoapparat) oder aber auch bürokratisch-institutioneller Teilelemente (der „Staatsapparat“36) etwas produktiv hervorbringen. Die Übersetzungen ‚Maßnahme‘ oder ‚Einrichtung‘ öffnen den Konnotationsraum zu Machtrelationen und damit zu den Dispositiven, die in Gefängnis oder Klinik wirksam sind. Sie erfassen aber wiederum nicht die Komplexität der Struktur des Dispositivs und den Gedanken, dass sich hinter seinem Machteffekt kein klar zu benennender Stratege37 (kein einzelnes Gesetz einer Regierung, keine Anordnung eines Arztes, kein einschlägiges Buch eines Forschers, sondern das gesamte Netz aus Diskursivem und Nicht-Diskursivem38) identifizieren lässt. Vereinzelt finden sich bei Autoren synonyme Verwendungen und auch alternative Übersetzungen – an vielen Stellen der deutschen Ausgabe des Foucault-Buchs von Gilles Deleuze liest man synonym für den Begriff Dis positiv vom „Diagramm“39, von konkreten Einrichtungen oder von ‚Maschinen‘, von der ‚abstrakten Maschine‘, der „Gefängnis-Maschine“ oder von der „Schul-Maschine“40. Es gilt dabei, wachsam zu unterscheiden, ob die Termini synonym füreinander stehen wie Maschine und Dispositiv oder ob sie innerhalb der Dispositive qualitative Unterscheidungen treffen, wie Diagramm, Makrodispositiv oder abstrakte Maschine in Abgrenzung zu konkreter Einrichtung, konkreter Maschine oder Mikrodispositiv.41 Durch einen der grundlegenden Texte für die Verwendung des Dispositivkonzepts in der Filmwissenschaft, Jean-Louis Baudrys „Cinema: effets idéologiques produits par l’appareil de base“ oder „Ideological Effects of the Basic Cinematographic Apparatus“42, setzt sich im Feld der Analyse des Kinos eher der Terminus „Apparatustheorie“43 durch, so dass bisweilen die Begrifflichkeiten ‚Apparatus‘ aus der Filmwissenschaft und zumindest ‚Mikrodispositiv‘ der Dispositivanalyse überschneidende Konzepte darstellen.44 Allerdings bewegt sich das Apparatus-Konzept Baudrys anders als das Denken Foucaults noch stark im psychoanalytischen Paradigma und basiert zudem auch auf dem Subjektivierungsmodell Louis Althussers.45 Zu einer Engführung von Apparatustheorie und dem Foucault’schen Dispositivmodell in der Film- und Medienwissenschaft kommt es erst an späterer Stelle innerhalb der Disziplinen.46 Foucault’sches Käfigtheater Das Konzept des Dispositivs, wie es in dieser Studie verwendet wird, entstammt den Arbeiten Michel Foucaults, die man als interdisziplinär zwischen Geschichtswissenschaft, Soziologie und Philosophie beschrei-
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ben könnte. Das Dispositiv dient ihm als Instrument, um an konkreten historischen (Umbruch-)Punkten gesellschaftliche Machtverhältnisse, Generierung von Wissen und das Formen von Subjekten in angemessener Komplexität zu beschreiben und dabei monokausale Erklärungsmodelle zu revidieren.47 Das Dispositiv – nach Foucault – ist dabei ein Netz aus heterogenen Elementen und kann insofern als „strategisch“48 beschrieben werden, als dass es einer dringenden gesellschaftlichen Anforderung nachkommt.49 Diese sogenannten heterogenen Ensembles können nun so unterschiedliche Dinge beinhalten wie ein Buch, einen Diskurs, ein Gesetz, Architektur, Medien, institutionelle Anordnungen oder soziale Interaktion. Es ist dabei ein nicht zwangsläufig allein repressives Denken über Macht – denn Wissens-, Macht- und Subjekteffekte werden hier beschrieben, ohne dass ein spezifischer, monokausaler Ausgangspunkt, ein „Stratege“50, das Handeln eines „meta- oder transhistorisches Subjekt[s]“51 angenommen wird. Dass ein Dispositiv in einer spezifischen Form in Erscheinung tritt, habe – so Foucault – historisch vielmehr mit einem allgemeinen Bedarf, einer Dringlichkeit oder einem „Notstand (urgence)“ zu tun, auf den auf verschiedenen Ebenen geantwortet wird.52 Foucault wählt zur Erläuterung dieser Wirkung eines Makrodispositivs ein Beispiel aus der Sphäre der Arbeitswelt, in dem das Konzept der Beschäftigung von Arbeitern in der Industrialisierung einen Umbruch erfährt: In den Jahren zwischen 1825 und 1830 sieht man lokal und in der Tat geschwätzig eine Reihe wohldefinierter Strategien auftauchen, um die Arbeiter der ersten Schwerindustriezentren an dem Ort, an dem sie arbeiten, festzuhalten. Es handelte sich darum, den Beschäftigungswechsel zu erschweren. So bildeten sich etwa in Mulhouse, oder im Norden Frankreichs, vielfältige Techniken aus: man übte Druck auf die Leute aus, sich zu verheiraten, man stellte Wohnungen zur Verfügung, baute Arbeitersiedlungen, man praktizierte jenes hinterhältige System der Verschuldung, von dem Marx spricht, und das darin besteht, die Miete im Voraus zu kassieren, während der Lohn erst am Ende des Monats ausgezahlt wird. Dann gibt es da noch das System der Sparkasse und das des Anschreibens bei den Gemüse- oder Weinhändlern, die nichts anderes als Agenten des Arbeitgebers sind, usw. … Schritt für Schritt bildet sich um all dies herum ein Diskurs: der Diskurs der Phil anthropie nämlich, der Diskurs der Moralisierung der Arbeiterklasse. Dann verallgemeinern sich die Erfahrungen dank der Vermittlung von Institutionen und Gesellschaften, die ganz bewußt Moralisierungsprogramme für die Arbeiterklasse vorlegen. Auf diesem Boden beginnt das Problem der Frauenarbeit, das Problem der Einschulung der Kin-
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der und das des Verhältnisses zwischen beiden Wurzeln zu schlagen. Zwischen der Einschulung der Kinder, die eine zentrale, auf der Ebene des Parlaments, getroffene Maßnahme ist, und dieser oder jener Form einer rein lokalen Initiative, die zum Beispiel im Hinblick auf die Unterkunft der Arbeiter ergriffen wird, haben Sie alle Arten von Übersetzungs-Mechanismen [sic] (Arbeitgeberverbände, Handelskammern, usw. …), die nach Maßgabe der zeitlichen oder örtlichen Umstände erfinden, modifizieren, umstellen: und zwar so geschickt, daß man eine globale, kohärente, rationale Strategie erhält, von der man aber nicht mehr zu sagen wüßte, wer sie entworfen hat.53 Dieses Beispiel eines Dispositivs auf einer breiten gesellschaftlichen Ebene zeigt, wie aus einem ökonomischen Bedarf heraus ein heterogenes Ensemble verschiedenster diskursiver und nicht-diskursiver Elemente, äußeren Einwirkungen, aber auch Selbsttechniken sich auf eine ganze gesellschaftliche Gruppe ausrichtet und in der Macht, die es entfaltet, ganze Lebensweisen, ja Subjektivität einer sozialen Schicht im Sinne von Selbst- und Weltverhältnis auf den Bedarf hin formt. Den Ausgangspunkt der Methodik der Dispositivanalyse jedoch bildet Foucaults bekanntes Werk Überwachen und Strafen und seine darin enthaltene Beschreibungen der Entwürfe der Gefängnisarchitektur des Bentham’schen Panopticons – einer überschaubareren Mikrodispositivanordnung, die wiederum innerhalb des heterogenen Ensembles eines Makrodispositivs situiert ist und nicht zuletzt eine Theatralitätskomponente aufweist.54 Foucault zeigt hier den historischen Übergang von den sogenannten Spiegelstrafen – etwa dem Dieb wird die Hand genommen, die gestohlen hat – zu einem Rechtssystem, das auf Änderung des Verhaltens durch Disziplin, auf Körper und Psyche des Straftäters zugleich einwirken soll. In diese Neuausrichtung der Herrschaftstechnik eingebunden sind Gesetze, Gerichte, Wärter, eine spezifische Gefängnisarchitektur, ein Diskurs, in dem der Gedanke von Resozialisierung vor den der Bestrafung tritt, und nicht zuletzt der Delinquent selbst und seine Selbsttechniken der Disziplinierung.55 Das Bentham’sche Panopticon verbleibt dabei zunächst ein Entwurf, dessen Umsetzung sich jedoch späterhin im größeren Kontext betrachtet auch jenseits des Strafvollzugs dominant an zentralen Stellen innerhalb der Gesellschaft architektonisch manifestiert: in Kasernen, Schulen, Manufakturen, Sanatorien etc. Darüber hinaus lässt sich sein inhärentes Konzept auch jenseits der Institutionen abstrakter als Leitgedanke der Herrschaftstechniken der Disziplinargesellschaften wiedererkennen.56 Vom konkreten Gegenstand des Gefängnisses im Wechselverhältnis zur Disziplin zurücktretend, ist Foucaults Werk somit nicht nur eine histo-
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rische Abhandlung über Rechtssysteme und Strafvollzug, sondern die Entwicklung einer historisch-soziologischen Methodik der Analyse, die in ihrem Nachgang von verschiedensten Disziplinen aufgegriffen und auf ihre Gegenstände angewendet wird. 57 Foucault beschreibt in Überwachen und Strafen die Architektur des Panopticons als so konzipiert, dass Gefängniszellen in einem Kreis um einen Wärterturm angelegt sind, der überall Einblick in die Zellen hat, in den selbst jedoch aus der Zelle nicht geblickt werden kann. Der Verlauf der Blickachsen ist in dieser architektonischen Anordnung folglich mit Macht aufgeladen: Während es den Gefangenen in den Zellen verwehrt ist, den Blick auf den Ausgangspunkt der Machteffekte zu richten, haben die Wärter im Turm jederzeit Einblick in jede Zelle. Die Gefangenen müssen sich also stetig unter Beobachtung wähnen, selbst wenn der Blick des Wärters nicht auf sie gerichtet oder der Turm gar zu bestimmten Zeiten unbesetzt wäre. Dem voraus geht ein Wissen der Delinquenten um die ‚Spielregeln‘, nach denen es sich zu verhalten gilt, um einer Strafe bei Nichteinhaltung zu entgehen. Das Handeln nach den von außen durch das Gesetz auferlegten Regeln soll solange unter dem tatsächlichen oder aber auch nur vermuteten Blick des Wärters im Turm durchexerziert werden, bis das gespielte Verhalten sich in der Seele sedimentiert hat. Die Delinquenten werden in der Dauer ihrer Haft so diszipliniert, dass sie den Wärter als immer anwesend annehmen müssen und ihn letztendlich internalisieren und somit ihr Verhalten wie ihre psychische Haltung ändern.58 Den beiläufigen Vergleich zum Theater liefert Foucault selbst, wenn er in Überwachen und Strafen zu den Zellen des Panopticons bemerkt: „Jeder Käfig ist ein kleines Theater, in dem jeder Akteur allein ist, vollkommen individualisiert und ständig sichtbar.“59 Abstrahierend kann man bereits hier eine Analogie zu den Beispielen angewandten Theaters ziehen, sind doch die Subjekte, die in das Dispositiv der Disziplin des Panopticons eingeflochten sind und dort geformt werden sollen, ähnlich wie der Laienschauspieler des Assessment Centers60, der Theatertherapie oder aber einem Theater zur Gewaltprävention, einem zweifachen Blickregime ausgesetzt: Das Dispositiv forciert im Panopticon in einer komplexen Verschränkung aus Architektur, Diskurs, Gesetz, Rechtsprechung, Exekutive, Subjekt, Regierungs- und Selbsttechnologie zugleich Eigen- und Fremdbeobachtung. Dem Delinquenten wird eine Bühne bereitet, an deren Fluchtpunkt ein Subjekteffekt61 entsteht und im Idealfall ein Subjekt geformt werden soll. Aufführung muss hier von Inszenierung unterschieden werden, denn das Konzept des Panoptismus impliziert eine Dauer wie einen Prozess, der über eine singuläre Aufführung hinausgeht: Das Subjekt inszeniert sich auf den Bedarf hin und weist sich in einer Reihe von nach-
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einander erfolgenden Aufführungen der Inszenierung als mehr und mehr selbstidentisch mit ebendieser Inszenierung aus. Nicht zu vernachlässigen ist dabei der Gedanke, dass der Wärterturm leer sein kann, aber nicht muss, so dass das Subjekt in der Hinwendung zu sich selbst den Blick auf die Frage hin spaltet, wie es wohl zu sein habe, um erwählt zu werden. Was im Panopticon die Vorführungen vor dem leeren Wachturm sind, sind im Assessment-Center-Prozess die zur Hilfe genommene Ratgeberliteratur, das Feedbackgespräch nach der (gescheiterten) Bewerbung, die Wiederholungen des Development Centers, die Übungen vor dem Spiegel und die zahlreichen Angebote von kostenpflichtigen Rhetorik-Coachings und Assessment-Center-Trainings, die Eigenbestrebungen des Subjekts erwählt zu werden und sich dabei in der Persönlichkeitsdarstellung einem idealen Selbstentwurf zu nähern. Denn auch im Konzept des Panopticon-Gefängnisses ist, wie im Assessment Center, durchaus Platz für den Gedanken, dass das auftretende Subjekt wahrgenommen und erwählt werden will. Es will dahingehend vom Blick der Macht erkannt werden, dass es sich mit seinen hervorgehobenen Handlungen als bereit zum Übergang von einer Gemeinschaft in die andere erweist. Im besetzten Wachturm kann der Blick der Macht selektieren und bestimmen, ob der Erblickte nun noch länger zum Heer der Gefangenen oder wieder zur freien Gesellschaft gehört, genauso wie er bestimmen kann, ob die Bewerberin weiter im Limbus der Arbeitslosigkeit verharrt oder in die Gemeinschaft des Unternehmens erwählt wird. Um sich als würdig zu erweisen, vom Blick der Macht erwählt zu werden, tritt das geformte und sich weiter im Prozess der Formung befindliche Subjekt auf dieser ‚Bühne‘ mit Hilfe performativer Handlung wie interpretierbarer Zeichen seines Denkens und Fühlens auf, die wahrgenommen und analysiert werden können – eine ästhetische Komponente der Authentizitätseffekte der Persönlichkeitsdarstellung innerhalb des Dispositivs und zugleich ein Anhaltspunkt, dass neben den Sozialwissenschaften und der Psychologie hier auch ein Gegenstand von Interesse für die theaterwissenschaftliche Methodologie vorliegt. Die Analyse des Panoptismus aus Überwachen und Strafen inspiriert Foucault, sein Konzept des Dispositivs auch an weiteren historischen Umbruchpunkten als wirksam zu beschreiben. Doch auch andere Autoren und Disziplinen greifen den Begriff auf, erweitern ihn und wenden ihn mit leichten Nuancierungen auf ihre Gegenstände an. Die Immanenz der Dispositive Bereits in Foucaults erster Arbeit zum Dispositivbegriff wird damit deutlich, dass hier Mechanismen von unterschiedlicher Größe und Reichweite beschrieben werden. Stellt sein konkretes Beispiel der Bentham’schen Pan
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opticonsanordnung dabei ein Mikrodispositiv dar, das bereits so diverse Dinge wie u. a. Gesetz, Exekutive, Architektur und Selbsttechniken auf der Handlungsebene des Subjekts beinhaltet, so wird mit seinen weiteren Ausführungen zum Disziplinardispositiv in Überwachen und Strafen und in seinen Arbeiten über Normalität und das Dispositiv der Sexualität in Der Wille zum Wissen deutlich, dass Dispositive von einer Größenordnung beschrieben werden können, die nicht nur Häftlinge oder Patienten einer Einrichtung, sondern ganze Gesellschaften umfassen.62 Weiterhin wird deutlich, dass diese Systemstrukturen unterschiedlicher Größenordnungen aufeinander einwirken und sich gegenseitig durchdringen können: eine Immanenz der Dispositive. Das Mikrodispositiv des Gefängnisses ist im heterogenen Ensemble des Dispositivs der Disziplin enthalten – diese Immanenz wird nun im weiteren Verlauf dieses Kapitels relevant werden, wenn es darum geht, dass ekkyklematische Verhältnis von der Aufführung des Assessment Centers zur Theatralität des Arbeitsalltags zu fassen. Anschließend an Foucault verwendet Deleuze für die ein gesellschaftliches Feld komplett strukturierenden Dispositive parallel den Begriff des „Diagramms“63 und differenziert in seinen Arbeiten über Foucaults Dispositivkonzept daran anknüpfend jene gesamtgesellschaftlichen Makrodispositive, die er auch als „abstrakte Maschinen“64 bezeichnet, von Mikrodispositiven, die in einem enger begrenzten Feld wirken: Was bezeichnet Foucault als abstrakte oder konkrete Maschine (er wird von der ‚Gefängnis-Maschine‘, aber auch von der Schul-Maschine, der Hospital-Maschine sprechen …)? Die konkreten Maschinen, das sind die Einrichtungen, die aus zwei Formen bestehenden Dispositive; die abstrakte Maschine, das ist das informelle Diagramm. Kurz, die Maschinen sind eher sozialer als technischer Natur. Genauer gesagt, es gibt eine Technologie des Menschen vor der materiellen Technologie. Ihre Wirkungen erstrecken sich zweifellos über das gesamte soziale Feld; damit sie selbst jedoch möglich wird, ist es erforderlich, daß Werkzeuge, daß materielle Maschinen zuerst von einem Diagramm ausgewählt und von solchen Einrichtungen übernommen werden.65 Die Termini ‚Diagramm‘ und ‚abstrakte Maschine‘ bezeichnen dabei das Phänomen umfassender, ganze gesellschaftliche Felder betreffender Dispositive, die Deleuze späterhin synonym auch „Makrodispositive“66 nennt und die in der hier vorliegenden Studie im Folgenden ebenfalls als ‚gesamtgesellschaftliches Dispositiv‘ oder ,Makrodispositiv‘ bezeichnet werden sollen. Disziplin, Sicherheit oder Normalismus67 wären Beispiele für diese Makrodispositive. Denkfiguren wie das Kinodispositiv, das Gefängnis-
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Panopticon, die Schule oder aber auch das Theater als dispositive Anordnung wären dagegen – Deleuze folgend – zunächst Beispiele für Dispositive konkreterer, ‚technischer‘ Qualität und implizit auch geringerer Größenordnung, die keine gesamtgesellschaftlichen Makrodispositive darstellen und sich etwa als konkrete Institutionen, Anordnungen oder Medien materialisieren. In der etwa acht Jahre später erschienenen Schrift Lust und Begehren wird Deleuze allerdings seine quantitative Unterscheidung von Makround Mikrodispositiv erneut in den Fokus nehmen und seine eigenen Ausführungen kritisch befragen, wenn er schreibt: Der Unterschied zwischen „Mikro“ und „Makro“ war natürlich kein Größenunterschied in dem Sinne, daß die Dispositive der Macht kleine Gruppen betroffen hätten (die Familie hat nicht weniger Ausdehnung als jede andere Formation).68 Das Problem, dass die mikrodispositive Anordnung (das Gefängnis) zunächst einen konkreteren und weniger komplexen Aufbau zu haben scheint, sich reell aber als ebenso verästelt und abstrakt wie ein Makrodispositiv (die Disziplin) erweist, ergibt sich in Deleuze’ Modell nicht zuletzt aus der gegenseitigen „Immanenz“69 von Mikro- und Makrodispositiv. Die eine Seite der Durchdringung erscheint dabei zunächst logischer als die andere: So kann zunächst das Mikrodispositiv, das nicht ein gesamtes gesellschaftliches Feld umfasst, als funktionales Teilelement des heterogenen Netzes eines Makrodispositivs fungieren. Diese Beobachtung findet sich bereits in Foucaults Überwachen und Strafen: Kann das Konzept des Bentham’schen Panopticons selbst als dispositive Anordnung analysiert werden, die konkret auf die dort zu Inhaftierenden einwirken sollte, so bildet umgekehrt dieser architektonische Entwurf zusammen mit anderen konkreten Einrichtungen, Kasernen, Fabriken, Gefängnissen, Schulen, Hospitälern, wie abstrakten Gesetzen, Maßnahmen, wissenschaftlichen Schriften und alltäglichen Praktiken als Gesamtheit das ganze Gesellschaften durchdringende Makrodispositiv der Disziplin heraus.70 Dessen Wissensgenerierung, Macht- und Subjekteffekte werden nicht mehr nur lediglich anhand von Menschen in einer konkreten Einrichtung wie Häftlingen oder Psychiatriepatienten aufgezeigt, vielmehr werden sie als wirkmächtig beschrieben, um historische Veränderung in den westeuropäischen Gesellschaften zu erklären. So erläutert auch Deleuze das Wechselverhältnis von Makro- und Mikrodispositiv, die Unterscheidung, aber auch die gegenseitige Durchdringung, am Beispiel des Panopticons aus Überwachen und Strafen und beschreibt es als konkretes (‚technisches‘) Mikrodispositiv in
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dem heterogenen Ensemble eines abstrakten (‚sozialen‘) Makrodispositivs der Disziplin:71 Und wenn die Techniken im engeren Sinne in diese Einrichtungen einbezogen sind, so deshalb, weil diese Einrichtungen selbst, mitsamt ihren Techniken, von dem Diagramm [dem gesamtgesellschaftlichen Dispositiv, F. E.] ausgewählt worden sind: dem Gefängnis beispielsweise kann in den nach dem Modell der Souveränität organisierten Gesellschaften eine marginale Existenz zukommen (die lettres de cachet), es existiert als Dispositiv erst, wenn ein neues Diagramm, das Disziplinar-Dispositiv, es die ‚technologische Schwelle‘ überschreiten läßt. Es ist, als ob die abstrakte Maschine [das gesamtgesellschaftliche Dis positiv, F. E.] und die konkreten Einrichtungen [Mikrodispositive, F. E.] zwei Pole bildeten und man unmerklich von einem zum anderen überginge. […] Wenn wir unablässig von einem Pol zum anderen übergehen, so deshalb, weil jede Einrichtung [Schule, Kaserne, Werkstatt, Gefängnis, F. E.] die abstrakte Maschine in Gang setzt, jedoch in unterschiedlichem Maße: es sind gleichsam die Wirkungskoeffizienten des Diagramms, und je höher der Grad ist, um so höher strahlt die Einrichtung je nach der Gesamtsituation des sozialen Feldes auf die anderen aus.72 Das heterogene Ensemble des Bentham’schen Panopticons wäre nach dieser Beschreibung also ein konkretes Mikrodispositiv eingebettet wiederum in ein gesamtgesellschaftliches Dispositiv der Disziplin. Wenn Deleuze allerdings die Dispositive größerer Ordnung abstrakt oder sozial, die Mikrodispositive (wie Schulen, Kasernen, Gefängnisse) technisch und konkret nennt, so entgeht der Denkfigur, dass auch das Mikrodispositiv abstrakte Komponenten in seinem heterogenen Ensemble aufweist – es ist ja gerade der Mehrwert der Dispositivanalyse in Abgrenzung zur Beschreibung eines komplexen Systems, dass hier Diskurs mit Architektur, Selbsttechniken und Psyche mit Gesetzestext verflochten erscheinen. Und umgekehrt manifestiert sich das Makrodispositiv immer auch konkret – eine nur logische Folgerung, wenn sich konkret manifestierende Mikrodispositive als Teil seines heterogenen Ensembles erweisen. Gerade deswegen umfasst es mehr, als das Wort Diskurs oder Paradigma mit sich bringt. Fast liest sich diese Passage, als wolle Deleuze gedanklich den vorstrukturierenden Diskurs nun doch wieder von den konkreten Manifestationen von Praktiken und Architektur trennen. Lösung dieses Problems insinuiert er aber selbst, wenn er darüber reflektiert, man käme bei der Betrachtung von Makro- und Mikrodispositiv unweigerlich dazu, die beiden
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als zwei Pole zu beschreiben, bei denen „man unablässig von einem zum anderen überginge“73. Makrodispositiv und Mikrodispositiv sind letztendlich nur aus der Perspektive, die die Theoretikerin einnehmen möchte, voneinander geschieden – es handelt sich bei der Betrachtung der Mikrophysik der Macht eines Dispositivs und seines heterogenen Ensembles nicht zuletzt um ein komplexes Geflecht aus induktiven und deduktiven Methoden: Sie geht von einem Machteffekt auf ein oder mehrere Subjekte aus und richtet den Blick darauf, welche Elemente daran beteiligt sind, diesen hervorzubringen. Wählt sie dabei die Subjektivität im Umbruch einer ganzen Epoche zum Gegenstand, so wird das zu beschreibende Dispositiv ein gewaltiges, ja bis ins letzte Detail niemals komplett zu erfassendes heterogenes Ensemble besitzen – sie muss sein Zusammenspiel aus den wirkmächtigsten Komponenten heraus analysieren, um zu verhindern, dass ihre Landkarte nicht so groß gerät wie das Land. Das Dispositiv ist damit aber nicht abstrakt, es manifestiert sich weiterhin auch konkret, es ist nur zu komplex für eine gleichzeitig kleinteilig akribische als auch überschaubare Beschreibung geworden. Ein Mikrodispositiv erscheint dagegen weniger abstrakt als konkret technisch, da die Beschreibung seines inneren Aufbaus in seiner Komplexität weitestgehend handhabbar zu verbleiben scheint. Oder einfacher ausgedrückt: Die Dispositivanordnung etwa des Kinos hat oberflächlich betrachtet zunächst einen überschaubareren Aufbau als das Sexualitätsdispositiv. Dass diese Komplexität des Mikrodispositivs aber nur überschaubarer scheint, ist auf die gegenseitigen Immanenz zurückzuführen, die zu denken durch die sprachliche Unterscheidung von Makro- und Mikrodis positiv erschwert wird, da sie in diesen quantitativen Kategorien wenig nachvollziehbar erscheint: Klingt es logisch, dass das Mikrodispositiv, sprachlich durch die Vorsilbe als etwas Kleineres gekennzeichnet, im heterogenen Ensemble des größeren Makrodispositivs enthalten ist, wirkt es schon weniger nachvollziehbar zu postulieren, dass das Große im Kleinen enthalten, also das Makrodispositiv Anteil am heterogenen Ensemble des Mikrodispositivs haben muss. Dies ist jedoch der Fall: Die beiden Phänomene durchdringen sich letztendlich gegenseitig. Darauf verweist Deleuze in seiner letzten Schrift zum Dispositiv, nachdem er erläutert, dass der Unterschied zwischen Mikro- und Makrodispositiv keiner der Reichweite sein könne: Ebenso wenig handelt es sich um einen äußeren Dualismus, denn es gibt Mikro-Dispositive, die dem Staatsapparat immanent sind, und da Segmente des Staatsapparates auch in die Mikro-Dispositive eindringen, gibt es eine vollständige Immanenz der beiden Dimensionen.74
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Effektiv bedeutet dies, dass nach Foucault und Deleuze das Makrodispositiv der Disziplin auch in eine mikrodispositive, panoptische Gefängnisanordnung zurückwirken muss und zum Element des heterogenen Ensembles wird, das dort seine Subjekte formt, denn zumindest die diskursiven Anteile des Makrodispositivs können in Form von Gesetz und Wissen auch wiederum die mikrodispositive Struktur mit durchdringen. Das heißt weiterhin, dass im Dispositiv der Disziplin zwar parallele, konkrete Mikrodispositive wie Schulen, Kliniken oder Kasernen keinen Anteil an der konkret technologischen Gefängnisanordnung haben. Wohl generiert das Makrodispositiv auch dort aber Wissen und strukturiert einen Diskurs, der auf das Mikrodispositiv einwirkt. Mehr noch: In Lust und Begehren kommt Deleuze zu dem Schluss, dass die Dispositive der Macht sich nicht darauf beschränkten, normalisierend zu wirken oder Wissen zu generieren, sie wären „wahrheitskonstitutiv (für die Wahrheit der Macht)“75. Wissen und Wahrheit nun fließen als Wechselwirkung der Wirkmacht der Dispositive (gedacht als Prozess mit einer Dauer) auch in das heterogene Ensemble des Mikrodispositivs zurück. So durchdringen Anteile des Makrodispositivs auch wiederum das Mikrodispositiv und lassen die Frage, was an der qualitativen Unterscheidung der beiden Dispositivarten abstrakt, was konkret ist, ebenso verschwimmen, wie es die Unterscheidung von Makround Mikroebene zwar als pragmatisch aber ebenso heuristisch relativiert. Um diese machtvollen Geflechte, die auf Subjekte einwirken und Gesellschaften strukturieren, analysieren zu können, soll aber mit der Erkenntnis der gegenseitigen Immanenz keinesfalls dafür plädiert werden, diese Unterscheidung in der hier zu entwickelnden Methode einer theaterwissenschaftlichen Dispositivanalyse aufzuheben. Man kann einem Modell schließlich nicht vorwerfen, dass es nicht die volle Komplexität der Realität abbildet – das Modell ist seinem Wesen nach weniger komplex, um einen Fokus auf einen Sachverhalt zu gewähren. Und so wird es ganz im Gegenteil in der hier vorliegenden Studie als sinnvoll erachtet, im Denken um die Dispositive nicht nur die Unterscheidung von Makro- und Mikrodispositiv beizubehalten, sondern zudem eine weitere, der soziologischen Netzwerkforschung bzw. Wirtschaftssoziologie entlehnte Ebene der Dispositive auszudifferenzieren und einzuführen: Scheidet und eint Deleuze zugleich in einer Ergänzung Foucaults das Makrodispositiv, das eine ganze Gesellschaft durchwirken kann vom Mikrodispositiv,76 so soll hier auch noch einmal zwischen einer mikrodispositiven Anordnung des konkreten Ereignisses, wie der Aufführung, der Filmvorführung, dem Handeln des Gefangenen unter dem Blick aus dem Wärterturm in seiner Zelle, und einem Mesodispositiv77 unterschieden werden, das auf der Ebene der Institutionen wirkt. Deleuze selbst insinuiert in seiner letzten Schrift zu den Dis-
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positiven, Lust und Begehren, dass bei den Betrachtungen der Dispositive auf der Ebene der Institutionen, den Staatsapparaten, sich bei genauerer Betrachtung Dispositive in Immanenz sowohl oberhalb als auch unterhalb dieser Ebene identifizieren lassen: Diese These über die Dispositive der Macht schien mir in zwei getrennte, aber keinesfalls widersprüchliche Richtungen zu weisen. Auf alle Fälle ließen sich diese Dispositive nicht auf einen Staatsapparat reduzieren. Sondern in der einen Richtung bestanden sie aus einer diffusen, heterogenen Mannigfaltigkeit, aus Mikro-Dispositiven. In einer anderen Richtung verwiesen sie auf ein Diagramm, auf eine Art abstrakte Maschine, die dem ganzen gesellschaftlichen Feld immanent ist […].78 Ein Konzept des Mesodispositivs soll hier also helfen, mehr zu beschreiben, als die konkrete Assessment-Center-Anordnung, die in dieser Studie als Mikrodispositiv behandelt wird, aber weniger als die Politiken und Ökonomien der Struktur des Neoliberalismus, in denen sich die hier relevanten Makrodispositive situieren. Das Mesodispositiv wäre die Beschreibung des Einwirkens auf Subjekte auf der Ebene der Behörde, des Unternehmens, aber auch des Kinos in Abgrenzung zur Filmvorführung. Es soll die Ebene der Institution beschreiben helfen, an deren heterogenem Ensemble die Praktiken des Arbeitsalltags, die Arbeitsregeln, die Verträge, die Vorgesetzten, die Architektur, aber auch die mikrodispositiven Anordnungen von Assessment Centern oder Potentialanalyseverfahren als auch Anteile der Makrodispositive der neoliberalen Wirtschaftsordnung beteiligt sind. Auch beim heuristischen Hilfskonstrukt des Mesodispositivs muss davon ausgegangen werden, dass es in gegenseitiger Immanenz zu Makround Mikrodispositiv existiert. Somit ergeben sich nach den Größenordnungen Gesellschaft, Institution, Personengruppe oder Person parallel die macht- und strukturanalytischen Ebenen Makrodispositiv, Mesodispositiv und Mikrodispositiv. Diese Aufteilung hilft als Arbeitshypothese dabei zu beschreiben, wie die theatralen mikrodispositiven Anordnungen der Ebene des Verhaltens und der Handlung bis in die gesellschaftliche Ebene einwirken können. Im Folgenden soll also in dieser Analyse davon ausgegangen werden, dass die Aufführungen des Theaters der Assessment Center nach dem oben erläuterten Konzept als ästhetische Mikrodispositivanordnungen zu beschreiben sind, die gleichsam Teilelement eines größeren heterogenen Netzwerks eines theatralen Mesodispositivs der Institutionen und gesamtgesellschaftlicher Makrodispositive sind, die neoliberale Subjektivität her-
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vorbringen und die wiederum durch die gegenseitige Immanenz der drei Ebenen durch Wissens- und Wahrheitskonstitution auf diese theatralen Mikrodispositive zurückwirken. Eine theatrale Komponente der Subjektkonstitution ist dabei – so wurde es vorangehend an Foucaults Erläuterungen des Panopticons aufgezeigt – bei weitem kein Alleinstellungsmerkmal des Neoliberalismus. Eine solche Diagnose des globalen Kapitalismus als Maskenspiel wäre plakativ und würde verkennen, dass auch in den Souveränitätsgesellschaften oder eben in den Disziplinargesellschaften Theatralität eine entscheidende Rolle spielte und auch in diesen, wie vielen anderen Gesellschaftsmodellen das Selbst- und Weltverhältnis im Theater gesucht und erneuert wurde.79 Neu aber erscheint ein Theater in der Scharnierfunktion zum Eintritt in die zumindest privilegierte Teilhabe an der gegenwärtigen Gesellschaft. Das ästhetische Dispositiv: Apparatustheorie In der Beobachtung zunächst einen Schritt zurücktretend von den Makrodispositiven, soll im folgenden Abschnitt der Frage nachgegangen werden, was in dieser Perspektive die Besonderheit eines explizit ästhetischen Dispositivs sein kann. Die Spielästhetik des Theaters der Selektion ist, so wurde im zweiten Kapitel argumentiert, unmittelbar mit seinem Machteffekt verwoben. Zudem wurde postuliert, dass die Theateraufführungen der Assessment-Center-Verfahren in einem ekkyklematischen Verhältnis zu Theatralitätsphänomenen im Unternehmensalltag stehen. Selbst- und Weltverhältnis scheinen also mit Ästhetik verflochten bzw. durch ästhetische Konstellationen hervorgebracht. Wie also lässt sich ein solches ästhetisches Dispositiv beschreiben? Das Bentham’sche Panopticon wurde vorangehend als ein Mikrodispositiv innerhalb des Makrodispositivs der Disziplin erklärt. Auch wurde dargelegt, dass Foucault selbst eine Analogie zum Theater bedient, wenn er jenen aisthetischen Charakter des Blickarrangements beschreibt, dass jede Zelle ein kleines Theater für sich und jeder Insasse auch ein Akteur sei, der dort zu seinem individuellen Auftritt käme.80 Doch die Rede vom Theater ist natürlich übertragend und das Gefängnis per se bei weitem kein ästhetisches Arrangement. Jedoch existieren auch jenseits der Analogien und Metaphern explizit Gegenstände aus dem künstlerisch, ästhetischen Feld, die durch eine Dispositivanalyse ihre inhärenten und gerade durch ästhetische Mittel hervorgebrachten Macht- und Subjekteffekte offen legen. Die Aufführung wurde dabei zeitnah im Bereich der Theaterwissenschaft ebenso als Dispositiv beschrieben81 wie die Kunst und mit ihr das Theater82. Für das Kino dagegen ist das Paradigma des Dispositivs bereits beinahe ein wissenschaftshistorischer Diskurs der filmwissenschaftlichen
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Apparatustheorie der 1970er Jahre.83 Bevor diese Analyse sich dem Theater als Dispositiv zuwenden wird, soll daher im Folgenden zunächst ein schlaglichtartiger Exkurs zur Verwendung des Dispositivkonzepts in der Medien- und Filmwissenschaft unternommen werden. Der Foucault’sche Begriff des Dispositivs findet sich auch im Diskurs der Medienwissenschaften und den verwandten Disziplinen der Filmwissenschaft, Fernsehwissenschaft, Cultural Studies und Game Studies wieder. Hier wird ganz im Sinne Foucaults die Ästhetik des jeweils zu betrachtenden Mediums weder als eine Technikgeschichte der neuen Apparate, Aufnahme-, Wiedergabe- und Erzähltechniken erklärt noch in kunsthistorischer Manier als der diverse Stil unterschiedlicher Autoren, nationaler Kinematographien oder ‚Epochen‘. Stattdessen wird das jeweilige Medium als komplexe Verschränkung aus diskursiven und nicht-diskursiven Teilelementen gedacht, die nicht notwendigerweise in dieser Art eine Relation ausbildeten, in das Subjekte auf die jeweils medienspezifische Art eingebunden erscheinen und das Macht-, Wissens- und Subjekteffekte erzeugt. 84 Symptomatisch für die kanonische film- wie medienwissenschaftliche Verwendung des Dispositivbegriffs erscheint es nun, den Terminus heranzuziehen, um das heterogene Ensemble des zu betrachtenden Mediums an sich als Mikrodispositiv zu analysieren: Der Schwerpunkt in der Medienwissenschaft liegt allerdings bei Modellen, die Einzelmedien selbst als Dispositive verstehen. Entsprechende Untersuchungen interessieren sich weniger für die Stellung von Medien in einem Geflecht von Diskursen und Praktiken als für das Geflecht, aus dem ein Medium besteht. […] Einen zentralen Aspekt dieser Gleichsetzung von Medien mit Dispositiven bildet in der Regel das Verhältnis der Subjekte zu der apparativen Konstellation und die damit ermöglichten oder erzwungenen Wahrnehmungsformen und Selbstverhältnisse.85 So beschreibt Markus Stauff in seiner Dispositivanalyse des „Fernsehens als heterogenem Ensemble“86 den Gebrauch des Terminus ‚Dispositiv‘ im Diskurs der Medienwissenschaften und den verwandten Disziplinen, während er zugleich abweichend vom Kanon seiner eigenen Disziplin gesamtgesellschaftliches Dispositiv und Mediendispositiv als das Verhältnis von Makro- und Mikrodispositiv aufeinander bezieht.87 Mehr noch als im medienwissenschaftlichen Diskurs verhandelt dabei die Filmwissenschaft in der Apparatustheorie den perspektivischen Spagat, ihren Gegenstand als Mikrodispositiv mit spezifischen Macht-, Wissens-
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und Subjekteffekten auf die Zuschauerin zu fassen und ihn gleichzeitig im künstlerisch-ästhetischen Feld zu verorten. Jean-Louis Baudrys Konzept der Ideologischen Effekte erzeugt vom Basisapparat88 wirft vor der Betrachtung von Technik, Narration, nationalen Kinematographien, Autorenhandschrift, Genre, Bildkomposition oder Schule Fragen auf, in welcher spezifischen Weise im Kino apparative Anordnung, die Stillstellung der Zuschauerin im dunklen Raum, Filmbild als ‚scheinnaturalisierte‘ Reproduktion der Zentralperspektive89 und Subjekt ineinander verschränkt, spezifische, in der Ästhetik begründete Machtund Subjekteffekte generieren. Hierbei kommen ideologische Effekte jenseits der Beobachtung der symbolischen Prozesse des jeweilig projizierten Films an sich in den Blick.90 Würde die ideologiekritische Analyse des Narrativs und der symbolischen Prozesse eines Films eben danach schauen, wie z. B. Angehörige ethnischer Minderheiten in einem Film repräsentiert sind oder ob der Film sich vor dem Hintergrund des politischen Klimas einer Dekade analysieren ließe, fokussiert die Apparatustheorie noch vor narrativem Inhalt und projiziertem Bild die technischen Voraussetzungen des Kinoereignisses in Verschränkung von gesellschaftlicher wie ästhetischer Konvention der öffentlichen Filmvorführung und des in die Projektion eines Films eingebundenen Subjekts.91 Aus der Außenperspektive erscheint daher bisweilen diese Ausrichtung der Filmwissenschaft wie eine Filmtheorie ohne Filme. Die Apparatustheorie, vertreten etwa durch Baudry und Jean-Louis Comolli, fokussiert explizit spezifische ästhetische Komponenten des Kinos als apparativer Anordnung vor dem konkreten Film:92 die Montage und vor allem die scheinbar ‚natürliche‘, da technische Reproduktion der Zentralperspektive.93 Eine Dispositivanalyse des Kino ereignisses – also der Filmvorführung – erklärt somit Macht-, Wissens- und Subjekteffekt als einer spezifischen Ästhetik des Kinodispositivs inhärent. Denkt man nun die symbolischen Prozesse, also den narrativen Filminhalt eines spezifischen Films und seine Bildsprache wiederum mit diesen grundlegenden Beobachtungen der Ästhetik des apparativen Dispositivs des Kinos zusammen, so hat man die gegenseitige Immanenz von Dispositiven verschiedener Ebenen im Blick: Das Mesodispositiv des Kinos als kultureller Praxis generiert in seiner konkreten, grundlegenden ästhetischen Anordnung Macht-, Wissens- und Subjekteffekte, die sich in einem Mikrodispositiv der Filmvorführung manifestieren – ein ästhetisch erzeugtes Welt- und Selbstverhältnis. Kommt der Filminhalt hinzu, der Anteile von Makrodispositiven in das Mikrodispositiv der einzelnen Filmvorführung transportiert, so hat das Dispositiv ‚Kino‘ als Prozess gesellschaftlicher Selbstverständigung also wiederum Anteil an einem gesamtgesellschaftlichen Dispositiv – etwa der ‚Normalität‘ – , in das, neben dem Kino,
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noch ganz andere Medien, Institutionen, Diskurse, Gesetze und Apparate involviert sind.94 Im Spannungsfeld dieses Verhältnisses von Makrodispositiv und ästhetischem Mikrodispositiv bewegt sich auch etwa jene Ausrichtung feministischer Filmtheorie, die sich explizit auf die Apparatustheorie beruft.95 So kann man etwa an Filmen des klassischen Erzählkinos Holly woods analysieren, dass die Erzählung und der Blick einen Subjekteffekt generieren, der männlich kodiert ist und somit Anteil daran hat, eine heteronormative, weiße, männliche Perspektive als ‚Normalität‘ im narrativen Zugang zur gesellschaftlichen Selbstverständigung zu produzieren. Damit war historisch das Mesodispositiv ‚Kino‘ Teil eines weiteren, heterogenen Netzes, das auch aus Rechtsprechung, Alltagssprache, Formularen, Titeln, Medizin etc. bestand, das zwar Veränderungen durchlaufen hat, aber z. T. weiter besteht und stetig aktualisierend ‚männlich‘ und ‚normal‘ in eins setzte. Die Ästhetik des Kinos selbst also erweist sich noch vor der Ästhetik einer spezifischen Filmschule oder eines geschätzten Regisseurs als untrennbar verflochten mit Subjekt- und Machteffekten, die ein Selbst- und Weltverhältnis formen. Doch der Apparatustheorie – als einer Variante der ästhetischen Dispositivanalyse – liegt ein konkurrierendes Subjektivierungsmodell zugrunde. Anteil am Dispositivbegriff, wie er sich in der Medien- und Filmwissenschaft herausgebildet hat, hat neben Foucault vor allem der Ideologiebegriff und das Konzept der „Anrufung“96 Louis Althussers.97 Althusser betrachtet Ideologie dabei als das imaginäre Verhältnis des Individuums zu den Produktionsbedingungen, das von den sogenannten „Ideologischen Staatsapparaten“ determiniert wird.98 Diese Ideologischen Staatsapparate setzt er nicht mit dem tatsächlichen Staat gleich, sondern definiert sie als unterschiedliche, machvolle Institutionen, die eine Gesellschaft effektiv strukturieren: Kirche, Familie, Schule, kulturelle Produktion etc.99 Diese Institutionen geben den Handlungsspielraum des Subjekts vor100 und, mehr noch, sie konstituieren und formen Subjekte gleichsam, indem die Ideologie die Individuen als Subjekte ‚anruft‘.101 Im Beispiel Althussers wird so ein Subjekt von außen geformt, indem ein Polizist es mit seinem Namen anruft und der Angesprochene dies annimmt, indem er sich zum Ausgangspunkt des Wortes der Macht umdreht und es damit bestätigt. Wichtig für den Fortgang der Argumentation ist hierbei, wie in Foucaults Modell von Subjektkonstitution von einem Subjektbegriff auszugehen, in dem das vorgängig bereits geformte Subjekt als fortwährender Prozess weiterer Formung beschrieben wird. Denn ein ‚Paradox‘ im Konzept des Dispositivs ist, dass das Subjekt zugleich vorhanden ist als auch im Netz der Dispositive erst entsteht.102 Der Subjektbegriff dieser Arbeit wird das Subjekt daher, ähnlich wie Giorgio Agamben es fasst, als stetigen Pro-
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zess der Formung von innen wie von außen fassen. Diese Auffassung von Subjektivität in Wechselwirkung mit Dispositiven beschreibt Agamben in Was ist ein Dispositiv?, wenn er postuliert: „Deshalb schließen Dispositive immer einen Subjektivierungsprozess ein, da sie ihr Subjekt selbst hervorbringen müssen.“103 An anderer Stelle konkretisiert er weiter: Subjekt nenne ich das, was aus der Beziehung, sozusagen aus dem Nahkampf zwischen den Lebewesen und den Dispositiven hervorgeht. Natürlich scheinen sich die Substanzen und die Subjekte wie in der alten Metaphysik zu überlagern, jedoch nicht vollständig. Insofern kann ein und dasselbe Individuum, ein und dieselbe Substanz der Ort mannigfaltiger Subjektivierungsprozesse sein: der Mobiltelefonnutzer, der Internetsurfer, der Schreiber von Erzählungen, der Tangobegeisterte, der Globalisierungsgegner, usw., usw. [sic]104 Den Vorgang der Subjektkonstitution durch die Ideologischen Staatsapparate bezeichnet Althusser nun weiterhin als Anrufung oder „interpellation“105. Das Interpellationskonzept hat dabei eine bemerkenswerte Ähnlichkeit zum Blick aus dem Wärterturm in Foucaults Modell des Panoptismus: Die Macht bringt in Form der konkreten Institutionen, die bei Foucault Anteil makrodispositiver Anordnungen, bei Althusser Teile der Ideologischen Staatsapparate sind, die Subjekte prozessual hervor, bei Foucault metaphorisch durch den Blick, in Althussers Modell, ebenfalls übertragend, dagegen durch die an sie gerichtete Sprache. Gemein ist diesen Konzepten von Subjektkonstitution, dass die Hervorbringung des Subjekts, so bemerkt es Judith Butler in Rekurs auf Foucault und Althusser, mit ihrer Unterwerfung einhergeht: ein Konzept der Subjektivierung durch Subjektivation.106 Mit Perspektive auf das partizipatorische Applied Theatre mag dabei deutlich werden, warum Foucaults Konzept subjektkonstituierender Strukturen dem Modell zunächst eher entsprechen mag als Althussers: In Foucaults analytischem Modell tritt das Subjekt explizit unter einem Zuschauerblick auf und hat durch Selbsttechniken innerhalb des heterogenen Ensembles des Dispositivs einen performativen Anteil an den Machteffekten. Althussers Konzept dagegen beinhaltet keine performativen Selbsttechniken – die Rolle des Subjekts bei der eigenen Formung beschränkt sich lediglich auf Bestätigungen der Interpellation. Damit ließ sich in einer Art Zirkelschluss Althussers Modell in der Apparatustheorie der 1970er Jahre fruchtbar auf das Kino anwenden, weil man hier noch von einem passiven Zuschauer sprechen wollte, der sich an einen Platz im dunklen Kinoraum setzt, an dem vorbereitet durch die Verschränkung
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von Architektur, Blickstrukturen, Apparat und Filminhalt Subjekteffekte generiert werden.107 In Verschränkung mit psychoanalytischer Theoriebildung geriet die Filmvorführung so zur Regression, zum traumähnlichen Zustand.108 Dieses Konzept wurde allerdings späterhin durch eine filmwissenschaftliche Rancière-Lektüre des emanzipierten Zuschauers, der körperlich passiv, aber dennoch einen geistig reflektierenden Anteil an dem haben kann, dem er gegenüber gesetzt wird, revidiert.109 Von Interesse sollen hier nun weniger die spekulativen Modelle von ideologisch gefangengenommenen Zuschauerinnen in passiven oder aktiven Blickregimen sein als vielmehr die aus der Apparatustheorie erwachsene Idee von ästhetisch generierten Subjekteffekten. Der kaschierte Projektor, Schnitt und Zentralperspektive bereiten einem Subjekt einen Königsplatz in einem Selbst- und Weltverhältnis vor, damit es dann den Filminhalt reflektieren kann. Doch auch das Aufführungsmodell Foucaults, so soll hier postuliert werden, bietet zunächst nur einen solchen Subjekteffekt an, lässt ihn am Fluchtpunkt der Ausrichtung des Dispositivs entstehen, dann aber nicht durch eine Zuschauerin auf einem speziell ausgerichteten Platz reflektierend entgegennehmen, sondern aktiv annehmen und performen. Der Subjekteffekt der einzelnen Aufführung mag dabei flüchtig sein und kaum so wirkmächtig, als dass es angemessen erschiene, von Subjektivierung, von Menschenformung oder gar von Subjektivation zu sprechen. Nur als Prozess in einer Reihe von Aufführungen innerhalb einer wiederkehrenden Inszenierung der Persönlichkeitsdarstellung beginnt er, in der Seele zu sedimentieren und Ich zu Ideal-Ich zu transformieren. Bezogen auf den dis positiven Charakter der Aufführungen der erweiterten Personalauswahlverfahren und des Applied Theatre korrespondiert diese Beobachtung mit dem Workshop-Charakter dieses Theaters, mit den wirkungsästhetischen Charakteristika, die im zweiten Kapitel mit dem Konzept von bleed jenseits von Katharsis der singulären Aufführung erläutert wurden, mit der Einbettung in den theatral überformten Arbeitsalltag wie mit Rothes Brückenschlag vom Assessment Center zum auf die handlungstheoretische, mikrosoziologische Ebene der Inszenierung abzielenden Terminus der Dramatologie,110 wie er von Goffman geprägt wurde. In all diesen Konzepten spielt bezogen auf die ästhetisch hervorgebrachten Subjekteffekte nicht die singuläre, sondern die wiederholte Aufführung in einem Setting, Rahmen oder Machtgeflecht die entscheidende Rolle bei der Analyse. Es ist Giorgio Agamben, der dabei anhand der mikrodispositiven Selbsttechnologie der Beichte bemerkt, dass die Spaltung des Subjekts im Dispositiv, wie sie vorangehend als A und A’, als Ich und Ideal-Ich, anhand der Mitarbeiterin im Development Center beschrieben wurde, entschei-
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dend für den Prozess des Dispositivkonzepts sei.111 Diese Beobachtung macht die Schauspieltechnik als Selbsttechnologie der Selbstabständigkeit und Selbstbeobachtung zum idealen Katalysator der Macht- und Subjekt effekte im heterogenen Ensemble des ästhetischen Dispositivs. 112 Der Dispositivbegriff – Resümee Bevor diese Modelle von Subjektkonstitution durch ästhetische Mikrodispositive, die sich in einem Zustand der Immanenz mit einem Mesodispositiv auf institutioneller Ebene und einem gesamtgesellschaftlichen Dispositiv befinden, auf theatrale Prozesse in der Sphäre der Wirtschaft angewendet werden, soll zunächst für den Überblick zusammenfassend festgehalten werden, welche Aspekte in dieser Analyse als die charakteristischen Merkmale eines Dispositivs gelten, wenn von diesem Konzept die Rede ist: 1. Das Dispositiv beschreibt ein Analyseinstrument, um Systeme sowie die Macht, die sich in ihnen entfaltet, zu untersuchen und dabei Monokausalität zu vermeiden. 2. Der Gedanke der Dispositivanalyse setzt unterschiedlichste Teilelemente, stoffliche Objekte, abstrakte Anordnungen, sprachliche Phänomene – etwa, Gegenstände wie ein Klinikgebäude, Medizinrecht und den Diskurs um Normalität (also das, was wissenschaftlicher Diskurs, Rechtsprechung, aber auch Alltagssprache an Äußerungen über Normalität treffen) – ins Verhältnis, um eine Machtdynamik darzulegen, die in der Generierung von Wissen und der Ausübung von Praxis auf Subjekte einwirkt. Dieses Netz aus Teilelementen des Dispositivs, die Herrschaftstechnologien, aber auch Selbsttechniken des Subjekts beinhalten können, nennt Michel Foucault „heterogene Ensembles“113. 3. Das Dispositiv richtet sich immer auf ein oder mehrere Subjekte aus, auf die es Macht ausübt und die es in der Dauer seines Wirkens formt.114 Dies wird in dieser Analyse Subjektivierung oder „Subjektivation“115 genannt werden. Subjektivierung bezeichnet dabei den Prozess der Formung eines Subjekts, Subjektivation – Butler entlehnt –, beschreibt denselben Effekt, fügt der Denkfigur jedoch hinzu, dass dem Prozess der Subjektkonstitution immer zugleich eine Unterwerfung zugrunde liegt. 116 Das Konzept der Subjektivierung beinhaltet dabei, so fasst es Ulrich Bröckling zusammen, vor allem das Paradox, dass das Subjekt zugleich vorgängig vorhanden sein muss als auch im Prozess entsteht.117 In dieser Arbeit wird Subjektivierung bzw. Subjektivation nicht als ein Prozess verstanden, der auf eine tabula-rasa-Persönlichkeit trifft. Auch wird nicht davon ausgegangen, dass eine einzelne konkrete Mikrodispositivanordnung ein Subjekt komplett verändern, eine
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Persönlichkeit formen, manipulieren oder gar austauschen könnte. Die mikrodispositive Anordnung bietet vielmehr die vorangehend nach der Apparatustheorie beschriebenen Subjekteffekte an, die erst mit der Dauer mehrerer mikrodispositiver Aufführungen in Wechselwirkung mit einer mesodispositiven Inszenierungsebene als Menschenformung – als Prozesse von Subjektivierung wie Subjektivation – beschrieben werden können. 4. Das Dispositiv wird nicht ausschließlich mit dem konkreten Blick assoziiert. Das In-den-Blick-Nehmen eines Individuums oder einer Gruppe durch die dispositive Anordnung kann auch abstrakter erfolgen als durch direkte optische Anordnungen, wie etwa den Wachturm, das Kino oder das Fernsehen. Auch ein Gesetz oder eine wissenschaftliche Praxis kann im übertragenen Sinn den Fokus auf etwas richten. Insofern unterscheidet sich der Ansatz dieser Analyse von einem enger gefassten, medienwissenschaftlichen Verständnis von Dispositiv, obgleich natürlich auch die optischen, medialen Dispositive in dieser Interpretation des Begriffs als Mikrodispositive ihren Platz finden. 5. Das Konzept des Dispositivs beinhaltet eine nicht-teleologische Erklärung der beobachteten Prozesse. Die Relation und auch die Modifikationen der heterogenen Teilelemente mögen z. T. auf einen Ursprung – auf ein Gesetz, einen wissenschaftlichen Paradigmenwechsel, eine Institution – zurückgeführt werden, dennoch ist das Denken der Dispositivanalyse geprägt von den Möglichkeiten der Kontingenz und Überdeterminierung historischer Prozesse.118 Die Relationen des heterogenen Netzes haben sich weder zwangsläufig so ergeben noch gab es eine außerhalb des Diskurses stehende Macht, die, alle Teilelemente überblickend, diese auf eine Weise angeordnet hat, um einen gewünschten Zweck zu erfüllen.119 Dies soll aber nicht ausschließen, dass es Teilelemente des Netzes gibt, die stärker auf dessen Machteffekt einwirken als andere. 6. Dispositive können zunächst scheinbar sehr unterschiedliche Größenordnungen annehmen, je nachdem auf welche Phänomene die Analyse den Fokus setzt und welche Teilelemente dabei dem Dispositiv zuzuordnen sind. Die einfache apparative Anordnung der Filmvorführung wäre ein Beispiel eines Mikrodispositivs, genauso gibt es aber Makrodispositive, die auf einer gesamtgesellschaftlichen Ebene beschrieben werden können. Die hier vorliegende Studie bedient sich zusätzlich des heuristischen Arbeitsbegriffs des Mesodispositivs, das auf einer Ebene zwischen Makro- und Mikrodispositiv verortet ist und damit mehr beschreibt als das heterogene Ensemble einer Assessment-Center-Anordnung, einer Theateraufführung oder einer Filmprojektion, jedoch
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weniger als ein Makrodispositiv der Disziplin120, der Normalität121 oder der Kreativität122. Der Begriff Mesodispositiv differenziert dabei Dispositive innerhalb einer Ebene voneinander, die Deleuze noch insgesamt als Dispositiv oder konkrete Einrichtung bezeichnen würde,123 und wäre die Abgrenzung von der Filmvorführung zur kulturellen Praxis Kino, der konkreten Aufführung zum Theater oder eben von der konkreten Assessment-Center-Einrichtung zur Ebene von Thea tralität und Menschenformung im Unternehmen. Beachtet man jedoch die Immanenz der verschiedenen Dispositivarten, so werden die Kategorien Mikro-, Meso- und Makrodispositiv wiederum verkompliziert. 7. Dispositivanordnungen können wiederum Teilelemente von anderen Dispositiven sein.124 So kann bei Deleuze das Mikrodispositiv Anteil am heterogenen Ensemble eines Makrodispositivs haben: Das Panopticon ist Teil der Disziplin, das Kino hat Anteil an der Normalität. Umgekehrt lässt sich aber durch die gegenseitige Immanenz auch beschreiben, dass das Makrodispositiv Anteil an der Mikrodispositivanordnung hat: Wissen, Diskurse, Gesetze, Praktiken, die Anteil am Makrodispositiv der Disziplin haben, wirken auch in die konkrete Gefängniseinrichtung zurück.125 Genauso verhält es sich auch in der hier vorgenommenen Unterscheidung der Mikrodispositivanordnung der Kompetenzprüfung der Persönlichkeitsdarstellung im Assessment-Center-Verfahren, die Anteil am heterogenen Ensemble der Subjektivation durch Thea tralität im Unternehmen auf der Mesoebene wie an noch darzulegenden Dispositiven des Neoliberalismus auf der Makroebene hat. 8. Ästhetik aus der Perspektive einer Dispositivanalyse zu beschreiben, offenbart ihre inhärenten und stets mit ihr verflochtenen Macht- und Subjekteffekte. In dieser Perspektive gibt es keine Instrumentalisierung aber auch keine ästhetische Autonomie. ‚Zweckmäßigkeit ohne Zweck‘, ‚Interesseloses Wohlgefallen‘, ‚ästhetische Autonomie‘, kurz neutrale Haltungen der Kunst zu politischen Verhältnissen wären lediglich Ausdruck eines stabilisierenden Dispositivs der Normalität.126 9. Dispositive sind veränderbar und im Fluss.127 Durch Veränderungen der Teilelemente kann auch das Dispositiv verändert werden. So kann das vorangehend genannte Beispiel eines Dispositivs der Normalität, das ‚männlich‘ und ‚normal‘ in eins setzt, zwar noch immer beschrieben werden, man kann jedoch beobachten, wie es einer Dynamik unterliegt, in der diskursive und nicht-diskursive Teilelemente verändert werden, um den Machteffekt zu verändern. 10. Inhärent ist dem Konzept von Dispositiven auch eine Dauer. In der Fokussierung auf die Machteffekte der Subjektivation ist immer auch eine Prozessualität impliziert: Foucault etwa liefert konkrete histori-
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sche Beispiele, die die Gesellschaft und das Wirken von Dispositiven an einem Punkt des Umbruchs fokussieren. Bei der Beschreibung der Subjektivationsprozesse des Bentham’schen Panopticons etwa wird am Beispiel der Delinquenten, die ihm ausgesetzt sind, ein Prozess mit unterschiedlichen Stadien beschrieben:128 eine Reihe von Aufführungen einer Inszenierung.
3 Theater und Dispositiv Auch das Theater wurde und wird als ein ästhetisches Dispositiv beschrieben – als ein Arrangement aus Architektur, Diskurs, Blickstrukturen und Machtrelationen, in das Subjekte auf die jeweils spezifische Weise des ästhetischen Ansatzes eingebunden sind. Das Theater ein Dispositiv zu nennen, wäre an sich kein Novum. Jedoch relevant für die Dispositivanalyse der erweiterten Personalauswahlverfahren des Theaters in Unternehmen sollen im Folgenden nicht zuletzt auch Erkenntnisse und aufgeworfene Fragestellungen der vorangehend dargelegten Apparatustheorie und des medienwissenschaftlichen Diskurses sein: Wie lässt sich ein ästhetisches Dispositiv in Immanenz zu nächsthöheren Dispositiven analysieren? Inwieweit stellen die Ästhetik des Kinos und die Macht-, Wissens-, Realitätsund Subjekteffekte, die diese Ästhetik hervorbringt, zwei Seiten derselben Medaille dar? Nach der Apparatustheorie sind die Subjekt- und Machteffekte der Ästhetik des Kinos – nicht jedoch des einzelnes Films – selbst untrennbar mit dem Mikrodispositiv der Filmvorführung verflochten. Weder kann von Instrumentalisierung, Manipulation durch die Macht noch von ideologischer Aufladung gesprochen werden: Die ‚Naturalisierung‘ der Renaissance-Zentralperspektive, der dunkle Raum, die Montage sind spezifischen Kinoästhetiken noch vor der politischen Botschaft eines einzelnen Films vorgängig inhärent, wenn auch artifiziell hervorgebracht. Lässt sich auch das Theater so beschreiben? Was sind Gemeinsamkeiten, was die Unterschiede dieser ästhetischen Dispositive? Nicht unerwähnt bleiben soll in diesem Zusammenhang zudem, dass es explizite Versuche gibt, das ästhetische Dispositiv des Kinos wiederum von innen heraus in den Fokus zu nehmen und durch ein neues Arrangement seiner Elemente selbstreflexiv zu thematisieren. Beispiele hierfür wären die Montage der Nouvelle Vague oder die Ästhetik des Expanded Cinema. Die Arbeiten Valie Exports oder Anthony McCalls stehen dabei exemplarisch für eine Reflexion über Kino jenseits der symbolischen Prozesse auf der Leinwand.129 So steht etwa in McCalls Line Describing a Cone der konventionellerweise kaschierte Projektor offen im Zuschauer-
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raum und wird zusammen mit dem sich durch Rauch materialisierenden Lichtkegel der Projektion zum Fokuspunkt der Aufmerksamkeit wie zur Raumskulptur.130 Diese Arbeiten stellen Versuche der Durchbrechung und künstlerischen Reflexion auf die Illusionseffekte der Ästhetik des Erzählkinos dar, die, ähnlich wie der filmwissenschaftliche Diskurs der Apparatustheorie selbst, zunächst einmal die scheinbare Natürlichkeit der dispositiven Anordnung thematisieren und in Frage stellen.131 Nicht von ungefähr denkt man hier als Theaterwissenschaftler auch an die Intention hinter dem Brecht’schen Verfremdungseffekts. Jedoch stellen diese künstlerischen Arbeiten Experimentalfilme bzw. Performances dar, die keineswegs nachhaltige Veränderungen im Dispositiv des Erzählkinos hervorgerufen hätten. Das Expanded Cinema war kein nachhaltiger, ästhetischer Umbruchpunkt für die Konventionen des Kinos an sich, für die Art und Weise, wie innerhalb der Kinomaschinerie Filme produziert, wie sie rezipiert und mit ihnen Selbst- und Weltverhältnis verhandelt werden. Durch seine kritische Reflexion wird lediglich in einem begrenzten Expertenkreis Kunstinteressierter ein Bewusstsein über den Umstand geschaffen, dass die Ästhetik der apparativen Anordnung ihren Illusions-, Subjekt- und Machteffekt gerade durch ein Ausblenden des Arrangements, durch das Kaschieren des Projektors, den dunklen Raum, die Illusion von Bewegung und den zumeist unsichtbaren Schnitt erreicht. Somit stellen sie mehr einen machtanalytischen Blick auf die Mechanismen des Dispositivs, eine kurze Sichtbarmachung, keinesfalls aber einen ästhetischen Paradigmenwechsel dar. In anderen Fällen gar, so zeigt es gerade die hier vorliegende Arbeit am Beispiel der Theaterkonzepte Boals und Brechts im Unternehmenskontext, kann eine solche künstlerische Reflexion als Systemkritik von einem flexiblen System sogar inkorporiert werden. Das Theater also stellt ebenso wie das Kino ein ästhetisches Dispositiv dar, dem Macht-, Wissens- und Subjekteffekte inhärent sind und das Selbstund Weltverhältnis des Subjekts hervorbringt und strukturiert. Liegt diese Perspektive auf einen ästhetischen Subjektivierungsprozess sehr nahe, wenn es um eine Theaterform wie das Applied Theatre geht, die in ihren Zielsetzungen explizit ausspricht, gesellschaftliche Verhältnisse durch eine spezifische Anwendung zum Besseren zu transformieren und mit den Wirkungsversprechen ihrer Ästhetiken in verschiedenste Bereiche des sozialen Gefüges interveniert, so ist doch zunächst einmal festzuhalten, dass jede Form von Theater auch als ein prozessuales, heterogenes Ensemble aus Architektur, Regeln, Gesetzen, Konventionen, in die Struktur eingebundenen Subjekten und einem Geflecht aus Sprache, Blick- und Machtrelationen zu beschreiben ist. Wo im theaterwissenschaftlichen Diskurs auf das Konzept
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des Dispositivs zurückgegriffen wurde, muss allerdings stets fokussiert werden, welcher Theaterbegriff de facto mit dem Dispositiv amalgamiert wird. Denn dem Postulat des Theaters als Dispositiv ist keinesfalls inhärent, ob denn damit dezidiert gemeint sei, dass die kulturelle Einrichtung Theater, die konkrete Aufführungssituation, eine soziologische Theatermetapher oder verschiedene dieser Betrachtungsebenen eines Theaterbegriffs in Immanenz das heterogene Ensemble des Dispositivs Theater bilden. Für die Idee eines Theaters gedacht als explizitem Regierungsinstrument etwa, dem eine Foucault’sche, säkulare Pastoralmacht inhärent ist,132 muss man nicht auf Beispiele der unverkennbar auf Intervention abzielenden Gattungen des politischen Theaters oder des Applied Theatre zurückgreifen: So zeichnet Michael Lorber in seinen Reflexionen über ein Applied Theatre avant la lettre nach, dass auch etwa deutlich am Theaterentwurf Schillers, gut zweihundert Jahre vor dem Aufkommen des Terminus ‚Applied Theatre‘, der Gedanke einer sozialen Intervention durch das Theater, einer theatralen Gouvernementalität aufscheint.133 Und auch dem Theater der Passionsspiele und dem Karneval gedacht als Bachtin’schem Ventil zur Stabilisierung einer Gesellschaftsordnung in der Feier ihrer reglementierten und raum-zeitlich begrenzten Umkehrung, liegt ein Dispositivcharakter der Produktion von Selbst- und Weltverhältnis einer Gesellschaft und ihrer Subjektivität zugrunde. Matthias Warstat weiterhin legt – zunächst ohne den Begriff ‚Dispositiv‘ zu verwenden – das Verhältnis der dem Theaterereignis der Aufführung an sich inhärenten asymmetrischen Machtrelationen gerade am Modell des Kunsttheaters offen und schließt seine Beobachtung mit der Erkenntnis ab, dass es sich hier im größeren Rahmen betrachtet gleichsam um eine Denkfigur handele, die sich auf alle Formen von kulturellen Aufführungen anwenden ließe: Wie sich am Modell des Kunsttheaters zeigen lässt, sind theatrale Beziehungen stets machtförmig. Es gibt in Theateraufführungen zum einen asymmetrische Beziehungen zwischen verschiedenen Akteuren – wobei die Machtverhältnisse zwischen mehr oder weniger dominanten Darstellern nicht zu verwechseln, aber auch nicht zu trennen sind von den ungleichen Beziehungen zwischen dargestellten Figuren. Zum anderen gibt es die Machtrelation zwischen Akteuren und Publikum. Gerade diese zweite Relation kann sich im Zusammenspiel von Blicken, Ausstrahlungen und inszenatorischen Setzungen überaus komplex gestalten. Der Zuschauer hat Macht über die beobachteten Akteure, indem diese zu Objekten seiner Wahrnehmung und seines Deutungs-
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vermögens werden. Aber umgekehrt können die Akteure im Einsatz körperlicher Präsenz auch erhebliche Wirkung auf den Wahrnehmenden entfalten und dessen „Blickregime“ weitgehend unter ihre Kon trolle bringen. Performer und Zuschauer agieren zudem keineswegs auf neutralem Boden. Mit Eintritt in die Aufführung geraten sie auf ein inszenatorisch vorstrukturiertes Terrain, so dass eine dritte, mehr oder weniger verborgene Macht ins Spiel kommt: die des Regisseurs, der nicht nur das Bühnengeschehen, sondern die raumzeitliche Gesamtkonstellation der Aufführung im Vorfeld beeinflussen kann. – Ähnlich komplexe Machtkonstellationen wirken in kulturellen Aufführungen aller Art.134 An dieser Stelle kommt dann auch das Ernste Spiel, das partizipatorische Element des Mitspielens des Applied Theatres wieder in den Fokus, wenn Warstat explizit erwähnt, dass sich gerade auch asymmetrische Machtverhältnisse unter den Akteuren identifizieren ließen, die von denjenigen Relationen zwischen den von ihnen verkörperten Rollen zu unterscheiden und dennoch nicht vollkommen zu trennen wären. Späterhin spricht Warstat in seiner Studie zum Verhältnis politischer Theatralität, Theatertherapie und Performance-Kunst Krise und Heilung explizit vom „Dispositiv der Theateraufführung“135 und verwendet den Begriff damit analog zum Gebrauch in den Medienwissenschaften im Sinne der Mikrodispositivanordnung. Seine Ausführungen zu den Wirkungsversprechen der Schauspieltheorie Nikolai Evreinovs zeigen dabei bemerkenswerte Parallelen zum ‚Akteur‘ im Foucault’schen Panopticon, der sich unter dem Blick der Macht in der Hinwendung zu sich selbst spaltet und sich dann in einem Prozess aufeinanderfolgender Aufführungen einer Inszenierung des Ideal-Ichs diesem langsam annähert: Nach diesem Vorbild vermag sich jeder Mensch spielerisch neue Handlungsmöglichkeiten zu erschließen und neue (soziale) Rollen zu erarbeiten, die im konsequenten Durchspielen dauerhafte Realität gewinnen können. Theater schult Akteure und Zuschauer mithin in der Kunst der Selbstgestaltung; es führt vor, wie schwierige Lebenssituationen gemeistert und neue Perspektiven auf das eigene Schicksal entwickelt werden können.136 Auch hier konturiert Warstat Evreinovs Theaterkonzept also letztendlich als Durchspielen der sozialen Rolle in einer dispositiven Prozessualität, die über die singuläre Aufführung hinausgehen muss. Allein wird die Selbsttechnologie durch Evreinov als Selbstermächtigung beschrieben, die nicht
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in Wechselbeziehung zu einem Meso- und Makrodispositiv steht, das den Aspekt der Subjektivation im Prozess der Subjektivierung unterstreichen würde und den Handlungsspielraum des Subjekts massiv determiniert: Will nur der Mensch selbst seine schwierige Lebenssituation meistern oder besteht auch ein korrelierendes Interesse seines Arbeitgebers, der ihn umgebenden Gesellschaft und Wirtschaftsordnung, dass er funktioniert, dass er gesundet, sein Trauma überwindet, arbeitsfähig wird? Dass er seine Aggressionen abbaut, andere Ausdrucksmittel als Gewalt erlernt und das Mitspielen im Mikrodispositiv als Modell für das Mitspielen im Mesodispositiv der Institution und im Makrodispositiv einer gesellschaftlichen Ebene annimmt? Dass er seine Schüchternheit überwindet, vor Menschen zu sprechen, dass er selbstbewusst, kreativ, innovativ, als „Selbstgeführter“137, selbstverwirklichend auftritt? Im Applied Theatre wird Selbstermächtigung „gewährt, gefördert oder gar abverlangt“138 – was das Konzept von Selbstermächtigung an sich aushöhlt und mitunter zumindest in den Ex tremen als Phantasma von Handlungsmacht erscheinen lässt.139 Suggerierte Freiheit kann dabei im schlimmsten Fall als Machteffekt des Mikrodispositivs gelten. Die Dispositive aller Ebenen determinieren so den Handlungsspielraum und lassen die Selbstermächtigung und das Mitspielen wie etwa im immersiven Theater als scheinbare Handlungsmacht des Subjekts begreifen, das sich so sehr am Spiel auf der Vorderbühne beteiligt, dass es – anders als der emanzipierte Zuschauer Rancières – keine Zeit mehr hat, überhaupt noch über die Existenz einer Hinterbühne nachzudenken: Somit avancieren die partizipatorischen Modelle des Theaters zur, bisweilen unfreiwilligen, Parodie des neoliberalen Kapitalismus an sich.140 Auch Adam Czirak, der das Theaterereignis ebenfalls als ein partizipatorisches Geflecht aus Blick- und Machtrelationen fasst, benennt in seiner Diskursanalyse des Blicks die „Kommunikationsparadigmen“141 der, so Czirak, sich historisch wandelnden „Kommunikationsökonomie zwischen Bühne und Zuschauerraum“142 zusammenfassend als „voyeuristisches Dis positiv“143. Dabei verweist er darauf, dass mit dem Dispositivbegriff auch die asymmetrischen Machtrelationen des Theaterereignisses in den Blick der Analyse kommen.144 Die Ebene, an der sein theatraler Dispositivbegriff ansetzt, ist dabei der Aufführung übergeordnet, während er betont, dass die mit verschiedenen historischen Theaterästhetiken einhergehenden Relationen von Blick- und Macht sich im konkreten Theaterereignis je nach Arrangement stetig neu ins Verhältnis setzten.145 Cziraks voyeuristisches Dispositiv ist damit also ein Theaterdispositiv der Mesoebene. Der untergeordneten Ebene der Kommunikationsökonomie seines Konzepts kommt im Ansatz der Dispositivanalyse der hier vorliegenden Studie die Rolle der Mikrodispositive zu. Hier zeigt sich dann auch ein entscheidender Unter-
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schied zum ästhetischen Dispositiv des Kinos. Bereits die Blickökonomien des Mikrodispositivs werden in unterschiedlichen Ästhetiken des Theaters stets neu ausgehandelt, während sie im Kino, abgesehen von Beispielen wie dem Expanded Cinema, als relativ stabil zu bezeichnen sind. Hervorgehoben werden muss im theaterwissenschaftlichen Diskurs um das Dispositivkonzept die zeitlich fast parallel zu der hier vorliegenden Studie entstandene Publikation Theater als Dispositiv des gleichnamigen DFG-Forschungsprojekts an der Justus-Liebig-Universität Gießen unter der Leitung von Gerald Siegmund. Anders als diese Studie betont das Projekt allerdings wiederholt in seinem Selbstverständnis, die Theaterwissenschaft vornehmlich als Kunstwissenschaft und folglich ihre Aufgabe als Beschäftigung mit gegenwärtiger, darstellender Kunst zu sehen.146 Aus ganz offensichtlichen Gründen findet daher der Forschungsgegenstand des Assessment Centers keinen Platz unter dem Dach dieses Dispositivkonzepts. Deutlich grenzt sich – ähnlich wie vorangehend die hier vorliegende Studie – das DFG-Projekt von der Aufführungsanalyse als dominantem Bezugspunkt der theaterwissenschaftlichen Methodik ab.147 Dementgegen entwickelt das DFG-Forschungsprojekt ein Konzept des Theaters als ästhetischem Dispositiv, das sich unter anderem in seinen Aufführungen konkret materialisiere.148 Dies unterscheidet sich vom hier vorgelegten Konzept der Immanenz von Dispositiven und der Aufführung gedacht als Mikrodispositiv – doch wie vorangehend erläutert, ist eine solche Setzung nicht in den Kategorien wahr oder falsch zu bewerten, sondern hängt von dem Fokus ab, den die Forscherin setzen möchte.149 Die in der hier vorliegenden Studie vorgenommene Differenzierung aber, die Aufführung nicht lediglich als konkrete Materialisierung eines Theaterdispositivs zu denken, sondern an sich noch einmal als Mikrodispositivanordnung aufzufassen und zu analysieren, erwächst aus den völlig unterschiedlichen Blickökonomien und Machteffekten, den die vorangehend dargelegten, unterschiedlichen Arrangements von Raum, Zuschauerin, Mitspielerin und Machtpositionen in unterschiedlichen Theaterästhetiken mit sich bringen. Auch das Gießener DFG-Forschungsprojekt kommt zu dem Schluss, dass allein die Betrachtung des Theaters als Dispositiv und damit eben eine zu entwickelnde theaterwissenschaftliche Dispositivanalyse der Komplexität der rahmenden Bedingungen von Theater auch jenseits der Aufführung gerecht zu werden vermag: Theater als Dispositiv zu betrachten bedeutet, es in all seinen Dimensionen der institutionellen Verankerung und Arbeitsweisen, der Produktions- wie der Rezeptionsverhältnisse, der gesellschaftlichen Diskurse und ihrer materiell-technischen Praktiken zu beschreiben und jene
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Momente der Dysfunktion oder Fiktion, die im Rahmen der Materialisation evident werden, als jenen raren Moment zu verstehen, an dem ein Dispositiv sinnlich erfahrbar wird. Es heißt vor allem auch, das Theater in strategischer Beziehung zu einem künstlerischen und (oder) gesellschaftlichen Problem zu begreifen, und zu überlegen, wie sich die je spezifische Materialisation der thea tralen Ordnung dazu verhält.150 Aus dem Konzept des Theaters als Dispositiv, wie es rezent im DFG-Forschungsprojekt in Gießen entwickelt wurde, ergeben sich Vergleichsmomente, aber auch Unterschiede zur Methodologie der hier vorliegenden Studie. Geteilt wird die Einsicht, dass die Dispositivanalyse das Potential besitzt, sich der Komplexität des Gegenstands unter neuen, ästhetischen und zugleich machtanalytischen Fragestellungen zu nähern: In der hier vorgeschlagenen Analyse der Immanenz der Dispositivebenen des Theaters der Selektion kommt so ein Geflecht aus Politiken, Ethik und Ästhetik in den Fokus, wenn die Aufführungen der Personalauswahlverfahren, eingebettet in einen von Theatralität geprägten Arbeitsalltag der institutionellen Ebene und verflochten mit Dispositiven der Gesellschaftsordnung im Neoliberalismus betrachtet werden. Allein, wenn in den Ausführungen des Gießener Projekts beim Aufeinandertreffen von Kunst und Dispositiv von einem Widerspruch die Rede ist, der sich aus dem Moment der Freiheit der Kunst ergebe, das definitorisch mit der „Einschränkung und zielgerichteten Problemlösung des Dis positivs“151 kollidiere, sei auf das Konzept des Ernsten Spiels des zweiten Kapitels der hier vorliegenden Studie verwiesen. Ernstes Spiel ist als explizit ästhetische Kategorie ausgewiesen worden, die fruchtbar auf dispositive Anordnungen, auf Zweck, Zwang, Determinierung und Momente von Unfreiheit, aber auch Theater angewandt werden kann, und die Anteile des Theaters, das der Kunstsphäre zuzurechnen ist, sicher dort belässt, aber auch andere Phänomene von Theater in den Blick zu nehmen vermag, denn Kunst, Theater und Spiel haben große Schnittmengen, ohne damit zwangsläufig als Kategorien immer alle deckungsgleich zu werden. An anderer Stelle plädiert Gerald Siegmund dafür, dass die Theaterwissenschaft den Dispositivbegriff nutzbar machen solle, um „gesellschaftliche Produktion von Subjekten und künstlerische Produktion von Subjekten im Theater aufeinander bezogen zu denken“152: Theaterwissenschaft darf meines Erachtens nicht dabei stehen bleiben, diesen performativen Konstitutionsprozess von Gesellschaft und ihren Subjekten zu beschreiben, also anderen Disziplinen wie der Soziologie
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die theatralen Wurzeln ihres Subjektbegriffs nachzutragen. Sie müsste vielmehr danach fragen, was der spezifische Beitrag szenischer und im weitesten Sinne theatraler Vorgänge in der Auseinandersetzung mit einem über- und unterdeterminierten gesellschaftlichen Dispositiv sein könnte.153 Obgleich das DFG-Projekt also von der Theaterwissenschaft als vornehmlich der Kunst verpflichteten Disziplin sprechen möchte, fügen sich die Beobachtungen dieser Studie wie Antworten auf Siegmunds voranstehendes Postulat, da sie im ästhetischen Mikrodispositiv der Techniken des Theaters in Unternehmen und im Speziellen des Assessment Centers ein Theater als „Scharnierfunktion“154 zwischen der Persönlichkeitsdarstellung des Subjekts und den nach den Gesetzen der Theatralität strukturierten Arbeitswelt des Neoliberalismus in den Fokus nimmt. Mehr noch, Applied Theatre erscheint als effektiver Vermittler zwischen den Ebenen Theater und Theatralität, als Katalysator der Nivellierung zwischen prekärer und privilegierter Teilhabe, um Individuen in der Kunst zu unterweisen, in einer theatral strukturierten Gesellschaft erstmals oder wieder mitspielen zu dürfen. Machteffekte Das Konzept des ästhetischen Dispositivs, das Ästhetik nicht abgelöst von Macht betrachtet, sondern immer auch als Äußerung und Selbstverständigung in einer Gesellschaft, die determiniert, was etwa zum Gegenstand der Aufführung werden kann, „wer sich auf welche Weise äußern darf, und auch, wer eventuell weiterhin unrepräsentiert bleibt und schweigen muss“155, antwortet daher auch auf Fragen und Setzungen der Applied-Theatre-Debatte, wie sie im ersten Kapitel dieser Studie verhandelt wurden: Ist Unternehmenstheater dem Applied Theatre zuzurechnen, obwohl es sich marktkonform verhält? Korrumpieren diese Settings die ästhetischen Entwürfe Boals, Johnstones, Morenos oder Brechts? Auch die diversen Workshops und Aufführungen des Applied Theatre und mit ihm die des Unternehmenstheaters und der erweiterten Personalauswahlverfahren sind theatrale Dispositive, denen eine Machtstruktur immer schon inhärent ist. Abweichend, aber deshalb nicht etwa konträr zum DFG-Projekt Theater als Dispositiv, werden die Aufführungen und Workshops des Applied Theatre in dieser Studie aber nicht lediglich als die konkrete Materialisierung eines Theaterdispositivs bezeichnet:156 Im hier angewandten Modell gelten sie als Mikrodispositive der Aufführung und damit gleichsam als Teilelemente des heterogenen Ensembles eines Mesodispositivs. Dies trägt der Tatsache Rechnung, dass sie jeweils wiederum völlig unterschiedliche und komplexe, heterogene Ensembles ausbilden,
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die in völlig verschiedener Art Zuschauerinnen und Schauspielerinnen einbinden und dadurch je eigene Macht-, Wissens- und Subjekteffekte hervorbringen. Aus diesem Umstand erwuchs die Methodik der Mikrodispositiv analyse als Aufführungsanalyse des ersten und zweiten Kapitels, die im Falle des Kunsttheatersettings einer Shakespeare-Aufführung im Barbican, in einer Lecture-Performance bei einer Kulturveranstaltung in den Berliner Sophiensälen oder in einem historical reenactment zur Völkerschlacht bei Leipzig mit völlig anderen Resultaten, mit anderen Macht- und Blickachsen erfolgt wäre. Zur profansten Grundformel des Theaters, der hervorgehobenen Handlung vor einem Zuschauer – X repräsentiert S, während A zuschaut – gehörten immer auch schon die Komponenten eines dispositiven Machtgeflechts. Der Handelnde etwa betrachtet hier seine Handlung als wert genug, so Hans-Thies Lehman, als dass sie hervorgehoben wird, und nimmt sich somit Raum gegenüber dem Anderen für seinen Ausdruck: Theater begann, als einer sich aus dem Kollektiv löste, vor es hintrat und etwas von sich hermachte: der Angeber, der booster, der seinen Körper, den vielleicht besonders schönen und starken Körper vorzeigt und ausstellt, der sich kostümiert, von (eigenen) Heldentaten erzählt.157 Wenn man dieses Verhalten mit pathologisierendem Vokabular in seinen Extremen umschreiben möchte, so spricht man vom Narzissten oder vom Histrioniker – jenseits eines Störungsdiskurses der klinischen Psychologie könnte man etwa den extrovertierten „High-Self-Monitorer“158 oder aber auch den im ersten Kapitel dieser Studie erläuterten, demgegenüber gemäßigten Persönlichkeitsdarsteller nach Laux und Renner, das Individuum unter dem Eindruck des Leitbildes des „unternehmerischen Selbst“159 Bröcklings oder Reckwitz’ Kreativsubjekt160 anführen. Die Zuschauerin wiederum ist in der machtvollen Position, diese Handlung des anderen als wertvoll zu bestätigen oder aber ihr seinen Wert abzusprechen. Sei es in der Logik der oben zitierten Modellversion Lehmans, dass die tatsächlichen Heldentaten angezweifelt wurden, sei es – angewandt auf die Konstellationen des Kunsttheaters –, dass die Leistung einer Schauspielerin am Abend durch Kritikerinnen verrissen und durch ausbleibende Zuschauerinnen abgestraft wird. Im Falle der erweiterten Personalauswahlverfahren, in denen ebenfalls im Bewerbungsgespräch ‚einer vor die anderen tritt‘, von seinen ‚Heldentaten berichtet‘ und dann gebeten wird, sie in einem fiktionalen, konsequenzverminderten Spielrahmen eines Assessment Centers einmal nachzustellen, nuanciert sich das Machtgeflecht des Mikrodispositivs im Ernsten Spiel stark zugunsten der Spielleiter, die
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als Zuschauerinnen die Rolle des Selbstdarstellers anerkennen oder ablehnen können. Hier wird dann, wie im zweiten Kapitel erläutert, in einem ekkyklematischen Verhältnis das Theater zur Prüfinstanz der Theatralität. Je nach der spezifischen Konstellation des Aufführungsmodells also und der Konzeption aller anderen hinzukommenden ästhetischen Komponenten verkompliziert sich das Gefüge des theatralen Mikrodispositivs und die Machtachsen können zu Gunsten der Schauspieler-, Spielleiter- oder Zuschauerposition verschoben werden. Fischer-Lichte etwa erläutert, dass die Herausbildung des Literaturtheaters in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts nicht zuletzt den Versuch einiger bürgerlicher Intellektueller darstellte, auf der deutschen Theaterbühne die Vorherrschaft des Schauspielers zu brechen.161 Somit könnte man auch von einer Verschiebung der Machtachsen innerhalb der Aufführungspraxis des Theaters sprechen, bei der die Justierung von Teilkomponenten des heterogenen Ensembles im Mikrodispositiv der Aufführung den Machteffekt bis in die Dispositive nächsthöherer Ordnung nuanciert. Wenn Brecht weiterhin in der Ästhetik des Epischen Theaters die Schnüre und Seile der Bühne sichtbar machen lässt, um dem Illusionseffekt des Theaters entgegenzuwirken, so beschneidet er zunächst scheinbar den Machteffekt der Illusion auf der Bühnenseite der Schauspielerin und des Regisseurs. Ob er damit allerdings die Zuschauerposition massiv stärkt oder eine rhetorische Humilitas-Figur schafft, dem Autor – also sich selbst – mehr politische Authentizität in einem Gestus zu verleihen, der impliziert, er könne auf Illusionen verzichten und sei darum glaubwürdiger in seiner politischen Aussage, ist zu diskutieren.162 Boal auf der anderen Seite steigert im Mikrodispositiv der Aufführung des Unsichtbaren Theaters massiv die Macht der Schauspielerin durch die Verunklarung des Theatervertrags und das Verschleiern der Spielrahmung. In der Assessment-Center-Situation, so wurde in den vorangehenden Kapiteln in den Dispositivanalysen der konkreten Aufführungen dargelegt, wird die Macht des Persönlichkeitsdarstellers, die Zuschauer von seiner Rolle zu überzeugen, gerade durch die vom Unternehmen engagierte Spielpartnerin beschnitten, die bewusst Stresssituationen im Rollenspiel evoziert, um die Performance dieses Selbstdarstellertypus kritisch zu befragen.163 Auch hier also, wie im Kinodispositiv, ist die Ästhetik unmittelbar mit den Macht- und Subjekteffekten verflochten. Theaterästhetiken, die explizite Schauspieltheorien für ein im Spiel involviertes Subjekt beinhalten, erscheinen unter dieser Perspektive besonders fruchtbar für das Intervenieren in gesellschaftliche Verhältnisse, da sie die Feinjustierungen des Mikrodispositivs, die Selbsttechnologie der Aufspaltung und Hinwendung des Subjekts zu sich selbst unter einem machtvollen Blick forcieren.
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Das Mesodispositiv: Theatralität Die ersten beiden Kapitel der hier vorliegenden Studie waren mit der Analyse der Mikrodispositivanordnungen der Aufführungen des Theaters der Selektion beschäftigt. Dieses Kapitel nun soll zumindest andeuten, was eine Dispositivanalyse im Hinblick auf die Immanenz zu den Dispositiven nächsthöherer Ordnung bedeuten mag – ohne dass das Phänomen einer Theatralität der Arbeitswelt, geschweige denn Makrodispositive der neoliberalen Wirtschaftsordnung im Verhältnis zur Theatralität hier en detail dargelegt und ins Verhältnis gesetzt werden könnten. Auch hier, wie zuvor in den Kapiteln zum Applied Theatre und zum Spiel, soll die Beobachtung nicht zuletzt auch aus der Feldforschung erwachsen und theoretisch eingebettet werden. Das Forumstheater und das Theater der Unterdrückten Boals also, das Stegreiftheater Morenos, die Straßenszene Brechts – sie alle werden hier in der Anwendung als konkrete ästhetische Mikrodispositive betrachtet. Wohin ihre Interventionen gesellschaftspolitisch gelenkt werden, ergibt sich jedoch, anders als ihre Urheber es sich wohl wünschten, nicht aus ihrer ästhetischen Form an sich. Denn für das Mikrodispositiv stellt sich, so Deleuze, die Frage, welche „abstrakte Maschine es erwählt und über die technologische Schwelle schreiten läßt“164, also von welchem Meso- und Makrodispositiv es gleichzeitig durchdrungen und produktiv gemacht wird. Spricht, wie vorangehend erläutert, der Diskurs um das Dispositiv gewöhnlich nur von der Immanenz eines Mikro- und eines Makrodispositivs, so wurde hier im Modell der Dispositive eine Mesoebene der Betrachtung eingefügt. Die Mesoebene der Institutionen, das muss betont werden, bedenkt das Dispositivkonzept mit Gefängnis und Klinik dabei eigentlich von jeher. Neu an dem hier vorliegenden Modell ist also eher die Abscheidung eines weiteren Mikrodispositivs der Aufführung unterhalb der institutionellen Ebene. Diese Dreifaltigkeit der Dispositive läuft Gefahr, mehr sprachliche Idiosynkrasien in einem ohnehin bisweilen recht eigenwilligen Diskurs des Poststrukturalismus zu stiften, dennoch: Von der Handlungsebene des Subjekts in seiner Aufspaltung, Formung und Hinwendung zu sich selbst bei der Analyse der mikrodispositiven Struktur in der Betrachtung direkt auf die Wirkungsebene gesamtgesellschaftlicher Makrodispositive zu springen, hinterließe hier eine Leerstelle auf einer mittleren und vermittelnden Ebene von Großgruppe, Institution, Behörde, kultureller Einrichtung etc.165 Bei der Benennung des Mesodispositivs nun kommt es auch wiederum auf den Fokus an, den der Forscher selbst setzt. Um dies einmal ohne Fachsprache am anschaulichen Beispiel zu exemplifizieren: Ein System kann eingebettet in ein anderes System beschrieben werden. Das schließt
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aber nicht aus, dass es zugleich auch als Teil eines weiteren, dritten Systems beschrieben werden kann. Kurz gefasst: Ein Gymnasium, in sich ein intersoziales und bürokratisches Geflecht, kann als Teil des Schulsystems oder als Teil des Kommunalhaushalts beschrieben werden, ohne dass die zwei Sichtweisen konkurrieren. Auch bei der Immanenz der Dispositive greift ihre Eigenschaft der Überdeterminierung mehrerer, unabhängiger kausaler Zusammenhänge für ihr Auftreten.166 Wird die Aufführung also im DFG-Forschungsprojekt Theater als Dispositiv als konkrete Materialisierung eines Theaterdispositivs gefasst,167 so könnte man auch die hier beschriebenen Aufführungen des Unternehmenstheaters ohne Weiteres einem Mesodispositiv des Theaters zurechnen – allein, man würde den Fokus auf andere Zusammenhänge legen als diejenigen, die hier von Interesse sein sollen. Wie vorangehend angedeutet, werden die Prüfungen und Schulungen des Theaters der Selektion hier im Kontext einer Theatralität des Arbeitsalltags verortet und in dieser Studie soll ihr die Rolle des Mesodispositivs zukommen. Natürlich besteht der Unternehmensalltag dabei aus mehr als lediglich theatralen Settings: Von der Buchhaltung über die Produktion bis zur Putzkolonne finden sich selbstverständlich Bereiche, in denen dominant andere Kernkompetenzen gefragt sind als vorwiegend diejenigen aus dem Kontext der Persönlichkeitsdarstellung. Diese Studie allerdings setzt als theaterwissenschaftliche Beobachtung den Fokus auf die Aspekte des Unternehmens als mesodispositiver Ebene, die dem Bereich der „Theatralisierung der Alltagswelt“168 zugerechnet werden können. Auch Unternehmenssettings können als heterogene Ensembles beschrieben werden, in die Subjekte eingespannt und in denen Wissen, Macht- und Subjekteffekte zur Subjektivierung generiert werden. Corporate Identity, Management-Literatur, Firmenphilosophien als Diskurse der Menschenformung verbinden sich mit nicht-diskursiver Innenarchitektur von Meetingräumen, Foyers und Büros, die Aufführungssituationen forcieren sowie mit Praktiken von Präsentationen, wording, Habitus sowie den Mikrodispositiven der Aufführungen des Unternehmenstheaters zum Mesodispositiv der Theatralität. Man vergleiche hierzu, wie Arlie Russel Hochschild diese Mesoebene der Institutionen in Bezug auf Gefühlsarbeit und damit auf einen Aspekt von Persönlichkeitsdarstellung als inszenatorische Ebene fasst: Die Berufsschauspielerin besitzt nur wenig Mitspracherecht bei der Gestaltung der Bühne, der Auswahl der Requisiten, der Aufstellung der Mitspieler und bei ihrem eigenen Auftritt im Spiel. Das gilt auch im privaten Leben. In beiden Fällen ist die Person selbst Ort der Handlung.
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Sind Institutionen beteiligt, werden noch andere Faktoren wirksam; in institutionellen Zusammenhängen werden dem Individuum verschiedene Handlungselemente entzogen und durch institutionelle Mechanismen ersetzt. Der Ort der Handlung des Gefühlsmanagements erreicht die Ebene der Institution. Eine Vielzahl von Menschen und Gegenständen, die nach den Regeln und Gepflogenheiten der Institution organisiert sind, werden zu Trägern der Handlung. Institutionen jeglicher Art, Unternehmen, Gefängnisse, Schulen, Kirchen, übernehmen einige der Funktionen eines Regisseurs und verändern die Beziehungen zwischen Regisseur und Spieler. Vorgesetzte in Institutionen glauben ihre Sache gut gemacht zu haben, wenn sie Illusionen bei Angestellten und Arbeitern verankert haben, die die gewünschten Gefühle fördern, und wenn sie Bezugsgrößen im Umfeld des Gefühlsgedächtnisses ihrer Beschäftigten verortet haben, so daß für diese die Einstellung des Als ob bestimmend wird.169 Hochschild, die in ihrer Studie auch Goffman reflektiert,170 verwendet somit umfassend Theatervokabular bei der Beschreibung der Mechanismen von Menschenformung auf emotionaler Ebene am Arbeitsplatz. Sie fährt fort, die Machtrelationen und neuen, institutionellen Subjektivationsprozesse dahinter zu erläutern: Angestellte und ArbeiterInnen dürfen nicht wahrnehmen und denken, wie sie möchten; man verlangt von ihnen nicht nur, Gefühl auf institutionell anerkannte Weise zu zeigen (Oberflächenhandeln). Ginge es nur darum, wäre die Angelegenheit einfacher und weniger beunruhigend. Aber dabei bleiben die Institutionen nicht stehen. Einige von ihnen entwickeln ausgeklügelte Techniken des inneren Handelns; sie bringen ihrer Belegschaft bei, wie man sich etwas vorstellen kann, und beeinflussen damit auch, wie sie fühlen sollen.171 Lediglich die Eigenbestrebungen des Subjekts zur Selbstoptimierung, der Anreiz des Kapitalzuwachses in zumindest der privilegierten Teilhabe am Unternehmen geraten in Hochschilds obenstehender Beobachtung bisweilen aus dem Fokus, so dass der Mechanismus an dieser ausgewählten Stelle tendenziell wie ein totalitäres Zwangssystem beschrieben erscheint. Ansonsten lässt sich Hochschilds Analyse der Machtgeflechte der institutionellen Ebene vergleichsweise einfach in einen anderen Wissenschaftsdiskurs übersetzt als Dispositiv, eben als Mesodispositiv der Institutionen fassen. Wurden bereits in den zwei vorangegangenen Kapiteln die Aufführungsanalysen der zwei exemplarisch ausgewählten, erweiterten Personal-
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auswahlverfahren unter Einbeziehung der Blick- und Machtachsen während der Aufführung mit der Dispositivanalyse ins Verhältnis gesetzt, soll im Folgenden anhand konkret beobachteter Strukturen während der Feldforschungsaufenthalte in Unternehmen sowie der qualitativen Interviews mit Personalmanagerinnen zu den Rahmenbedingungen des Theaters der Selektion der Versuch erfolgen, neben der Analyse der Mikrodispositive Aspekte des Meso- und zumindest Spuren des Makrodispositivs, in dem sich dieses Theater situiert, in den Fokus zu nehmen. Selbstredend kann dabei – wie es vorangehend als Gefahr einer komplexen Dispositivanalyse angemahnt wurde – nicht die Landkarte genauso groß werden wie das Land, das sie abzubilden sucht. Zudem wurden der Strukturwandel des gegenwärtigen Neoliberalismus in Wechselwirkung zu der durch ihn hervorgebrachten Subjektivität auf der makrodispositiven Ebene an anderer Stelle umfangreicher und versierter beschrieben: Zu nennen sind hier Luc Boltanskis und Ève Chiapellos Der neue Geist des Kapitalismus, Andreas Reckwitz’ Die Erfindung der Kreativität und Ulrich Bröcklings Das unternehmerische Selbst, deren Erkenntnisse voranstehend in die Beobachtungen dieses Kapitels kaum mehr als schlaglichtartig eingeflossen sind. Was die hier vorliegende Analyse aber leisten kann, ist danach zu fragen, wie die Anteile der Gegenstände der theaterwissenschaftlichen Disziplin – die Theatralität und das Theater – an diesen Dispositiven der Meso- und Makroebene in den Fokus gesetzt werden können. Dazu soll zunächst ein Abschnitt der für die theaterwissenschaftliche Theatralitätsforschung grundlegenden soziologischen Studie Goffmans, Presentation of Self in Everyday Life, eine Relektüre unter den Vorzeichen der hier vorgeschlagenen theaterwissenschaftlichen Dispositivanalyse erfahren. Goffman für eine Dispositivanalyse heranzuziehen, mag dabei zunächst ungewöhnlich erscheinen. Die Konzepte eines Interaktions- und Handlungstheoretikers der soziologischen Mikroebene auf dispositive Machtdynamiken zu applizieren, geschieht in dieser Studie jedoch mit mehr als einem Ausgangspunkt: Theatrale Settings in Unternehmen, die Theatralität des Arbeitsalltags wird, wie vorangehend erläutert, in dieser Studie als Dispositiv der Mesoebene gefasst – Goffmans Interaktionstheorien der presentation of self sollen hier als entscheidende Wegmarkierung der anthropologischen Theatralitätsforschung172 herangezogen und auf den Aspekt der Menschenformung hin untersucht werden. Auch Rothe greift auf den Goffman’schen Terminus der „Dramatologie“173 zurück, wenn sie Assessment Center in ihrer Historie als theatrale Prozesse beschreibt und verweist damit zugleich auf eine der Aufführung übergeordnete Inszenierung der Mesoebene der Theatralität. Weiterhin nennen Laux und Renner in ihren Ausführungen zur Persönlichkeitsdarstellung und der Theatrali-
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tät als Modell für die Persönlichkeitspsychologie Goffmans Konzept noch nach mehr als fünfzig Jahren als den radikalen Ausgangspunkt der soziologischen Handlungstheorie, der von der Persönlichkeitspsychologie aufgegriffen und erweitert wurde.174 Von entscheidender Bedeutung für die Argumentation dieser Studie soll aber zudem sein, dass Goffmans Theorie der Selbstdarstellung im Alltag nicht lediglich ein auf den hier fokussierten Gegenstand applizierbares Konzept der sozialen Interaktion darstellt. Zum Anteil am dispositiven Geflecht wird seine Theorie nämlich zudem, da sie, so legt Hüttler es in seiner Schrift zum Unternehmenstheater dar, aktiv in der hier beschriebenen Sphäre gelesen, rezipiert und auf die Menschenformung angewendet wurde: Fast alle Beispiele Hüttlers für Konzepte, auf die Unternehmenstheateranbieter sich maßgeblich beziehen, stammen aus dem Bereich von Theatermachern und Pädagogen mit therapeutischer, avantgardistischer bis klassenkämpferischer Ambition. Doch eine Ausnahme fällt in der Auflistung ins Auge: Erving Goffman.175 Was in Goffmans Theorie dabei als eine mit der Interaktion verflochtene, technische wie politische und kulturelle Systemstruktur sowie determinierender Rahmen der Selbstdarstellung beschrieben ist,176 mag durch Relektüre die Rolle des Dispositivs zukommen: So fasst es Bröckling ebenfalls mit Theatervokabular, wenn er, wie es im Folgenden unter theaterwissenschaftlicher Perspektive geschehen soll, das Dispositivmodell Foucaults mit dem Interaktionsmodell Goffmans vergleicht,177 um sich der neoliberalen Subjektivität des ‚Unternehmerischen Selbst‘ anzunähern: Während Goffman sich vor allem für die impliziten Rahmungen des Alltagsverhaltens interessiert, fragt die Genealogie der Subjektivierung eher nach den expliziten Regeln, welche den individuellen Performanzen eine bestimmte Richtung zu geben versuchen. Nicht Rollenskripte, sondern Anleitungen zur Schauspielkunst sind ihr Gegenstand.178 Bröckling folgend, formuliert Goffman also die theoretischen Grundlagen dafür, dass die Persönlichkeit performt wird, Foucault, dass sie damit auch formbar wird. So wird Goffman hier nicht lediglich als anthropologisch, theaterwissenschaftliche Theoriebildung um Theatralität des Alltags ins Feld geführt. Denn sein Konzept der Selbstdarstellung, so erwähnen Laux und Renner weiter, beschäftige sich aus persönlichkeitspsychologischer Sicht wenig mit dem privaten Selbst.179 Die Mehrzahl seiner Analysebeispiele sozialer Interaktion kommt bezeichnender Weise aus dem Bereich der Arbeit. Um Theatralität, Persönlichkeitsdarstellung, Arbeit und Theater als machtvolle Geflechte der Menschenformung aufeinander
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zu beziehen, soll also der Versuch erfolgen, durch schlaglichtartige Beobachtungen theatraler Settings aus der Feldforschung jenseits konkreter Assessment-Center-Prozesse und der Relektüre einzelner Passagen aus Goffmans Presentation of Self in Everyday Life Spuren eines Dispositiv charakters der Theatralität in Unternehmen aufzuzeigen.
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Der Schlachtbetrieb „Wollt ihr, dass wir das hier alle gemeinsam umsetzen?“ F. L., die Führungskraft im mittleren Management der Call Center Outsourcing AG181 mit Verantwortung für ein ‚Projekt‘ mit etwa 75 Mitarbeiterinnen, ist zum Ende ihrer Präsentation gelangt. Im Arbeitsalltag sitzt sie in einem Großraumbüro an einer zentralen Stelle, von der aus sie die Arbeitsplätze aller ihrer Projektmitarbeiterinnen einsehen kann. Hier trennen keine Cubicle-Wände einen persönlichen Arbeitsbereich ab. Jeder ist sichtbar: Die Call-Center-Agenten der Abteilung sind zu viert mit dem Gesicht zueinander gewandt an jeweils vier zu einer Einheit gestellten Computertischen platziert. Jede Mitarbeiterin kann dreien ihrer Kolleginnen ins Gesicht schauen, wenn sie aufblickt. Bei der stets in den Arbeitsprozess einkalkulierten maximalen Auslastung der von allen geteilten Telefonleitung, für die diese Mitarbeiterinnen verantwortlich sind, kann somit jede Kollegin sofort sehen, wer für den Stress der anderen verantwortlich ist, wenn sie bummelt, keinen neuen Anruf entgegennimmt oder eine Toilettenpause zu Stoßzeiten macht. Das gesamte Großraumbüro fasst etwa einhundert Mitarbeiterinnen. Die eigenen hat F. L. sofort im Blick, wenn sie von ihren zwei, den Schreibtisch dominierenden Bildschirmen aufschaut. Das ‚Projekt‘, für das sie verantwortlich ist, gliedert sich noch einmal in drei Teilbereiche mit jeweils einer Teamleiterin, die ihre Gruppe ebenfalls sofort im Blick hat, wenn sie den Kopf hebt. Die gesamte Abteilung ist auf einem Stockwerk untergebracht. In der Art, wie das Gebäude entworfen wurde, kann man aber durch ausladende, freie Treppen in der Mitte des Großraumbüros in bis zu drei gleichartig arrangierte Etagen einsehen. So nutzt wiederum der Vorgesetzte F. L.s auch von Zeit zu Zeit die Möglichkeit, ans Geländer gelehnt aus dem oberen Stockwerk die Hälfte der Abteilung und eben F. L. an ihrem Arbeitsplatz aus der Adlerperspektive zu überblicken. Bei der Call Center Outsourcing AG handelt es sich um eine Outsourcing-Firma – sie übernimmt zu extrem günstigen Konditionen den Telefonservice-Bereich verschiedener Unternehmen: Für die Global
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Player Internet AG, die sich noch einmal in verschiedene Tochterfirmen aufgliedert, für die Energieversorger AG, für die Paketservice AG, für die Kleidungsversand AG, für die Bezahlfernsehen AG usw. Mit dem Wort ‚Projekt‘ ist hier der Outsourcing-Service für ein bestimmtes Unternehmen mit seinen je eigenen Bedarfsanforderungen an die Call-Center-Hotline der Call Center Outsourcing AG benannt. F. L. ist verantwortlich für das Outsourcing der Tochterfirma AG der Global Player Internet AG. Ihr Verantwortungsbereich gliedert sich in drei Teams, da die Servicelines des Unternehmens für drei Länder, Deutschland, Italien und Polen, hierher ausgelagert wurden. Die Gebäude der eigentlichen deutschen Hauptzentrale der Global Player Internet AG im Industriestandort Vorstadt Deutsche Großstadt, in denen noch immer die Fortbildungen für das Management der Call Center Outsourcing AG stattfinden, wirken dagegen wie eine Geisterstadt – sie wurden für wesentlich mehr Angestellte konzipiert, die nach und nach entlassen wurden, da Firmen wie die Call Center Outsourcing AG mit Dumpinglöhnen die Mitarbeiterkosten senken und so die Ausgaben eines Unternehmens für den Servicebereich extrem verschlanken. Den Mitarbeiterinnen der Call Center Outsourcing AG wird dabei von Seiten der restlichen Beschäftigten der Global Player Internet AG in der Hauptzentrale bisweilen durchaus mit Aggressionen begegnet, wenn sie aufeinandertreffen – man weiß darum, dass sie ihre Arbeitsplätze durch Billiglohnarbeit aus dem Dienstleistungsprekariat ersetzen. F. L. sitzt heute nicht mit ihren Mitarbeiterinnen im Großraumbüro, sie steht am Kopfende eines Meetingraums vor einem Whiteboard. Hierauf sind in verschiedenen Farben einige Firmeninterna, Managementschlagworte und eine naive, lachende Sonne gesetzt worden. Die Überschrift lautet „Aktion Sonnenaufgang“182. Vor der Abteilungsmanagerin sitzen in Fünferreihen die Mitarbeiter der Deutschlandabteilung des ‚Projekts‘ für die Tochterfirma der Global Player Internet AG. Sie sind im Schnitt jung, fast ausschließlich männlich, haben Augenränder, verschränken die Arme, hängen z. T. auf ihrem Stuhl wie frustrierte Schüler. Am anderen Ende, neben der verglasten Tür des Raums, lehnen mit dem Rücken gegen die Wand der Theaterwissenschaftler und S. T., ein Second Level Manager der Call Center Outsourcing AG, der ihm Zugang zu diesem Meeting verschafft hat. Die letzte halbe Stunde hat F. L. eine Präsentation geliefert, deren Inhalt man auch als Arbeitsanweisung in eine E-Mail hätte setzen können: Die Mitarbeiterinnen ihrer Abteilung nehmen, so konnte man beobachten, im Arbeitsalltag Inbound-Anrufe entgegen wie am Fließband – man ist im Kundengespräch, und sobald die Taste zur Beendigung des Anrufs gedrückt wird, ist zu Stoßzeiten bereits die nächste Kundin am Apparat.
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Sie bedienen dabei vier verschiedene Servicenummern: für Privatkunden, für Betrugsfälle, für Finanzen und für Geschäftskunden. Nun sollen sie zudem einen an Geschäftskunden gerichteten Outbound-Auftrag übernehmen, der bisher noch in der Hauptzentrale der Tochterfirma der Global Player Internet AG bedient wurde. Reell heißt dies, dass weitere Mitarbeiterinnen am Industriestandort Vorstadt Deutsche Großstadt, hier firmenintern auch aufgrund der traumhaften Arbeitsbedingungen sarkastisch das „Global-Player-Internet-AG-Wunderland“ genannt, entlassen wurden, um noch mehr Serviceleistung zur Call Center Outsourcing AG auslagern zu können. Ganz der Firmenpolitik entsprechend werden dabei aber keine weiteren Mitarbeiterinnen bei der Call Center Outsourcing AG eingestellt: Dieselben, ohnehin überlasteten Mitarbeiterinnen des ‚Projekts‘ von F. L. werden einfach mehr arbeiten müssen, ohne dabei mehr zu verdienen. Um für diesen Umstand zu werben und die Begeisterung im Team für neue Herausforderungen zu wecken, hat sich – so erscheint es dem Theaterwissenschaftler – F. L. provisorisch die Umsetzung eines Change-Management-Prozesses selbst aus einer YouTube-Anleitung gebastelt. Hier, wo die Arbeitsbedingungen und Bezahlung katastrophal, die technische Ausstattung schlecht, die Atmosphäre des Arbeitens auf dem Nullpunkt ist, wird auch am Management an Qualität gespart. Behelfsmäßig wurde sich der lächerliche und arbiträre Name des Prozesses, ‚Aktion Sonnenaufgang‘, der in seiner Nähe zur Natur wohl positive Assoziationen wecken soll, aber dabei in der Rahmung dieses armseligen Unternehmens wie beißender Hohn wirkt, aus den Rippen geschnitten. Das Sonnenlogo dazu, das wie eine Kinderzeichnung wirkt, macht betroffen. Im Verlauf der hölzernen Präsentation wurde – hauptsächlich in Euphemismen von Vertrauen und Verantwortung eingebettet – erklärt, welche Serviceleistung demnächst übernommen wird und was den Geschäftskunden nun im Outbound verkauft werden soll. Dies führt zu minimalem Widerstand und Rumoren in der Gruppe der Mitarbeiter – nicht aufgrund der Mehrarbeit. Denn wer hier arbeitet, ist Kummer gewohnt. Es geht vielmehr darum, dass diese Call-Center-Agenten Inbound-Agenten sind, die angerufen werden. So steht es in ihren Verträgen und nur unter diesen Konditionen haben sie ihrer Arbeit zugestimmt, denn innerhalb des Berufsfelds Call-Center-Agent gibt es eine Art sozialer Hierarchie: Der Inbound-Agent scheint dabei mehr Würde als der Outbound-Agent zu haben, denn der erste nimmt Anrufe von Kunden entgegen, die Probleme haben, um sie zu lösen. Der Zweite belästigt Leute am Telefon. F. L. kommt zum Abschluss, für den sie ein Gruppenritual vorgesehen hat, das auf den Theaterwissenschaftler wie die erbärmliche Parodie der abgründigen Sportpalastrede wirkt:
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„Wollt ihr, dass wir das hier alle gemeinsam umsetzen?“ Das Publikum weiß, dass das „Jaaa!“ erwünscht ist, auch wenn der Prozess hier nur zu seinem massiven Nachteil gereicht und diese Bestätigung am Ende wie eine bittere scheindemokratische Legitimation wirkt: der mündliche Eintritt in einen Vertrag, sich selbst ins Knie zu schießen. Die Mitarbeiter performen das erwartete „Jaaa!“ unter vereinzeltem Klatschen gerade so lang, dass F. L. ihre Hand, die sie gestisch hinter das Ohr gelegt hat, wieder senkt. S. T., der ausgebrannte, desillusionierte Second Level Manager der Call Center Outsourcing AG, beugt sich seitlich zum Theaterwissenschaftler, formt seine Hände zu einem Trichter und flüstert ihm ins Ohr: „Da könnte man auch die Schweine fragen, ob sie zu Mettwurst verarbeitet werden wollen!“ Selbstbilder Erving Goffman macht in seiner richtungweisenden soziologischen Studie Presentation of Self in Everyday Life einen Begriff von Theater als Metapher für Inszenierungsstrategien des Selbst in sozialen Interaktionen fruchtbar. Gilt seine Studie auf der einen Seite in der Theaterwissenschaft als ein Standardwerk, wenn es um die Beobachtung der Durchmischung des Alltagslebens mit theatralen Formen von Selbstinszenierung geht,183 so ist es doch auf der anderen Seite bemerkenswert, dass Goffman selbst durchaus sehr deutlich formuliert, dass sein Theaterbezug letzten Endes nur eine metaphorische Hilfskonstruktion für die Hervorhebung und Ausstellung von Auftreten und Gesten in sozialer Interaktion ist und Theater und Alltag vollkommen trennscharf voneinander zu unterscheidende Sphären seien.184 So will Goffman in einer Studie, die als eine Säule des theaterwissenschaftlich-anthropologischen Begriffs von Theatralität zu bezeichnen ist,185 nicht in letzter Konsequenz vom Theater sprechen.186 Scharniere zwischen Theater und Theatralität scheinen in Goffmans Denken nur in Sprachbildern zu existieren, was nicht zuletzt auch mit seinem sehr engen Verständnis vom wortwörtlichen Theater in Abgrenzung zu seiner Theatermetaphorik in Verbindung steht.187 Das Theater ist ihm dann doch lediglich der Raum des schönen Scheins: Deutlich weist er ihm, offenbar klassische westliche Shakespeare-Inszenierungen in der Guckkastenbühne im Hinterkopf habend, Begriffe wie „künstliche Illusion“188 zu und geht strikt davon aus, dass man von ihm das Alltagsleben, dem er die Begriffe „das Reale“ und „das Wirkliche“189 zuordnet, klar scheiden könne. Goffmans Postulat, dass diese Trennung von Theater und Alltagsleben so einfach zu vollziehen sei,190 ist letztendlich jedoch eine Annahme, die zum einen auf einem intakten Theatervertrag, zum anderen auf der axiomatischen Annahme eines
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common sense, eines gesunden Menschenverstands fußt, der jederzeit in der Lage wäre, Spiel von Nicht-Spiel zu unterscheiden. Jedoch selbst in dieser scheinbar so konsequent durchgeführten Trennung der Sphären von Theater und Alltag gerät Goffman dann schließlich bei der Trennung von Spiel und Nicht-Spiel kurzfristig ins Relativieren, wenn er beobachtet, dass den Charakteren auf der Bühne durch eine gespielte Handlung nichts passieren könnte, obgleich diese Handlungen natürlich für das Ansehen der Schauspieler, die sie vollführen, in ihrer Qualität durchaus konsequenzhaft für die Bewertung ihrer Leistung als Akteure und damit für ihre Arbeit seien.191 So zieht Goffman, wenn er vom Theater in Abgrenzung zu seiner Theatermetapher und von Schauspielern in Abgrenzung zum Rollenspiel und zur Selbstinszenierung im Alltag spricht, keine Theaterästhetiken mit in Betracht, die sich vom Theater als werktreue Umsetzung eines dramatischen Textes lösen. Verschiedenste Formen des zur Zeit seines Schreibens durchaus schon relevanten Avantgardetheaters oder des politischen Theaters haben in seinen Überlegungen dabei keinen Raum. Dies verwundert umso mehr, da ihm eine explizit Theater zu nennende kulturelle Praxis, die den reinen Metaphernstatus seines Theaterbegriffs zu überwinden helfen würde, alles in allem wenigstens eine knappe, halbseitige Passage wert ist: Goffman verweist mehr beiläufig und ohne tiefergehende Beschäftigung auf das Aufkommen des Psychodramas als Methode der Psychotherapie.192 Somit kann man an dieser Stelle durchaus nachzeichnen, dass er eine der Ausgangsformen des Applied Theatre zumindest zur Kenntnis genommen haben muss – ein Theater wohlgemerkt, das die von ihm postulierte Trennschärfe zwischen ,tatsächlichem Theater‘ und seiner Theatermetapher im Hinblick auf die Auswirkungen auf das von ihm sogenannte Reale, das Wirkliche sowie das Alltagsleben aufhebt. Man mag spekulieren, dass andere Formen des politischen oder Avantgardetheaters wahrscheinlich entweder von ihm ignoriert oder aber als Sonderfälle einer abgehobenen, modernen und in ihrer Relevanz zu vernachlässigenden Kunstsphäre in Abgrenzung zu einer stets konstant bleibenden Grundkonstellation des ‚tatsächlichen‘ Theaters mit Konventionen des 18. und 19. Jahrhunderts in Europa betrachtet wurden. Rollenspiele in Assessment Centern der freien Wirtschaft wiederum stellten zur Zeit des Entstehens seiner Studie um das Jahr 1956 noch ein Novum dar, das zum ersten Mal Mitte der 1950er Jahre im Rahmen der begrenzten MPS-Studie bei dem US-amerikanischen Telekommunikationsunternehmen AT&T eingesetzt wurde.193 Goffman hatte somit keine Chance, dieses für ihn wahrscheinlich hochrelevante Phänomen der Formung von Selbstdarstellung im Alltag mit Mitteln des Theaters wahrzunehmen.
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Sehr wohl aber zieht er in seiner Studie bei den Beobachtungen der Strategien der Inszenierungen des Selbst im Alltag an vielen Stellen Beispiele aus der Arbeitswelt heran. Diese Phänomene der Durchmengung der Sphären Arbeit und Spiel, der Rolle auf der Arbeit wie der Formung des Selbst durch die Rolle auf der Arbeit sollen im Folgenden einer genaueren Relektüre unterzogen werden, da sie zwar nicht zur konkreten Aufführung des Theaters des Assessment Centers gehören, wohl aber das Potential haben, das Netzwerk der Mesodispositivanordnung zu umreißen, in dessen heterogenem Ensemble sich die mikrodispositiven Aufführungen der erweiterten Personalauswahl- und -schulungsverfahren situieren. Im Kapitel Darstellung schreibt Goffman vom „Glauben an die eigene Rolle“194 und untermauert dabei seine Argumentationen mit Beispielen aus dem Bereich der Dienstleistungen. Er bringt bei der Betrachtung des Glaubens an die eigene Rolle zunächst die auch vorangehend für diese Studie entscheidenden Begriffe ‚Ernst‘ und ‚Spiel‘ in einer eigenen Konstellation zueinander, wenn er schreibt: Wenn der Einzelne eine Rolle spielt, fordert er damit seine Zuschauer auf, den Eindruck, den er bei ihnen hervorruft ernst zu nehmen. Sie sind aufgerufen zu glauben, die Gestalt, die sie sehen, besitze wirklich die Eigenschaften, die sie zu besitzen scheint, die Handlungen, die sie vollführt, hätten wirklich die implizit geforderten Konsequenzen, und es verhalte sich überhaupt alles so, wie es scheint.195 Goffman spricht an dieser Stelle von Rollenmustern und Inszenierung der Persönlichkeit im Alltag ohne metakommunikativ verabredete Spielrahmung. Selbstverständlich wäre es ansonsten möglich, auf zahlreiche Formen des Spielens einer Rolle hinzuweisen, die das Spielen ausstellen, einen selbstreferentiellen Bruch markieren und sich selbst als Spiel und konsequenzvermindertes Als-ob kennzeichnen. Unweigerlich erinnert die Umschreibung der Intention des Spielenden dabei auch an die Testsituationen der theatralen erweiterten Personalauswahl- und -schulungsverfahren. Allein, in diesen speziellen Theatersitua tionen haben sich die Machtachsen durch eine Spielrahmung zu Ungunsten des Darstellers des Alltags verschoben und vor allem unterliegt er in der Assessment-Center-Situation nicht mehr länger einer Unschuldsvermutung. Auch er fordert durch das Spiel auf, den Eindruck, den er bei den Umstehenden hervorruft ernst zu nehmen, auch er ruft die Prüfungskommission dazu auf zu glauben, die Gestalt, die sie sieht, besitze wirklich die Eigenschaften, die sie zu besitzen scheine, die Handlungen, die sie vollführt, hätten zumindest insofern die implizit geforderten Konsequenzen,
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als dass die performative Qualität daran abgelesen und auch für Alltagssituationen gelten kann, und es verhalte sich – wie Goffman es fasst – überhaupt alles so, wie es scheine.196 Allein hier kommt das Theater als zugleich antitheatrales Analyseinstrument auf den Plan. Der Persönlichkeitsdarsteller der Theatralität des Alltags wird zur genaueren Beobachtung auf eine ekkyklematische Bühne der Hervorhebung und Konsequenzminderung des Handelns gehoben. Seine Zuschauerinnen sind dabei ein schwierigeres Publikum als dasjenige aus dem Beispiel Goffmans, da sie die Spielleiter darstellen, somit den Fortgang des Spiels und seine Regeln kontrollieren und darüber hinaus professionalisierte Zuschauerinnen sind: Sie reduzieren den Handlungsspielraum des Selbstdarstellers auf einen stark verengten und mit Leistungen anderer, geprüfter Selbstdarsteller vergleichbaren Ausschnitt, drosseln somit die theatrale Kontingenz durch strenge Rahmensetzung, provozieren aber gleichzeitig durch ihre Spielkonzeption die Stresssituation und damit den möglichen Bruchmoment als Emergenz, um zu sehen, ob die Rolle des Selbst im Arbeitsalltag wirklich so fest sitzt, wie es ihren Anforderungen nach sein sollte. Doch zurück zu dem Beispiel des Selbstdarstellers im Alltag jenseits der theatralen Testsituation: Goffman will mit seiner Beobachtung auf den Umstand verweisen, dass Phänomene der Selbstinszenierung im Alltag implizit immer aus der Perspektive des Eindrucks auf andere, auf die Zuschauerinnen hin analysiert und gedacht werden. Selten aber werde die Haltung des ‚Rollenspielers‘ gegenüber seinem eigenen Spiel befragt.197 So führt er im Folgenden aus, dass man bei den Inszenierungen der eigenen Rolle im Alltag vornehmlich davon ausgehe, dass der Spieler seine Rolle eben für seine Zuschauer möglichst authentisch gestalte, und schließt daran mit der Fragestellung an, „wieweit der Einzelne selbst an den Anschein der Wirklichkeit glaubt, den er bei seiner Umgebung hervorzurufen trachtet“.198 Goffmann eröffnet damit zu seiner Zeit eine bahnbrechende Perspektive auf diejenigen Persönlichkeitsstrukturen, auf die seine Analyse der Selbstdarstellung im Alltag zutrifft: Sie ähneln bezeichnend der Selbstabständigkeit des professionellen Bühnendarstellers bei der Arbeit, der den Blick stets nach außen wie auch auf sich selbst richten muss. Nicht unerheblich erscheint nun bei der Relektüre Goffmanns unter den Vorzeichen des Gegenstands der hier vorliegenden Studie, dass die Angebote der Anbieter theatraler Assessment- und Development-Center-Module eben gerade auch Techniken einüben, die wie etwa das Spiegeltheater die erwünschte Form der Selbstreflexion über Außenwirkung im Alltag einüben und forcieren. Die Mitarbeiterin lernt so wie eine geübte Schauspielerin den Blick in allen Situationen der sozialen Interaktion auf der Arbeit
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stets auf die Umstehenden wie auch auf ihre Außenwirkungen auf sie zu richten. Hier avanciert ein Persönlichkeitsmerkmal mittels Schulung und Professionalisierung durch eine Kreativbranche zur Selbsttechnologie. Goffman fährt fort zu erläutern, dass es einen Typus von Darsteller (des Alltags) gebe, dessen Publikum von dem „Eindruck der Realität, den er inszeniert“199 gleichermaßen überzeugt sei wie er selbst. Er erläutert, dass dieser „inszenierte Eindruck von Realität“200 bei den Umstehenden als „,wirkliche Realität‘“201 wahrgenommen werde. Nur noch der Soziologe oder der sozial Desillusionierte, so Goffman, würden hier noch Zweifel an der ‚Realität‘ des Dargestellten hegen.202 Angewandt auf Assessment-Center-Verfahren, ließe dies zumindest die Beobachtung zu, dass offenbar einige Bereiche der Unternehmenskultur durchaus (und nicht zuletzt von Goffman selbst203) ‚sozial desillusioniert‘ zu sein scheinen. Denn ein Rollenspielmodul eines erweiterten Personalauswahlverfahrens wird – zugespitzt formuliert – auch aus dem Misstrauen gegenüber der Selbstdarstellung des Alltags und dem normalen Bewerbungsgesprächs heraus initiiert, bei dem man sich eben mehr auf Selbstaussagen und hinterlassenen Eindruck der Bewerberin sowie das Bauchgefühl der Personalchefin verlassen muss. Das Theater der Assessment Center wird veranstaltet, da man durchaus an die Authentizität der Rolle glaubt, wenn die Bewerberin in einem einfachen Bewerbungsgespräch oder einem E-Assessment schlecht abschneiden würde. Es ist aber gerade die Authentizität einer scheinbar geeigneten Kandidatin, die hier auf den zugleich theatralen wie auch antitheatralen Prüfstand gestellt werden soll. Doch es fällt schwer, Goffmans Trennung von inszeniertem Eindruck von Realität und „wirklicher Realität“204 kritiklos auf diese Bereiche anzuwenden. Seine Aufteilung impliziert, dass irgendwo am Ende der Signifikantenketten eine selbstidentische Essenz auf den Soziologen warten würde.205 Gerade die Theatralitätsforschung der Theaterwissenschaft aber hat gezeigt, dass soziale Realität vielmehr immer von Inszenierungsstrategien durchwoben ist.206 Das, was Goffman in Bezug auf soziale Rollen als ‚wirkliche Realität‘ in Abgrenzung zum inszenierten Eindruck von Realität scheiden möchte, würde, aus aktueller Perspektive der Theatralitätsforschung gefasst, doch eher durch folgende Dichotomie eines Realitätskonzepts ersetzt werden: auf der einen Seite eine stabile, von Deutungshoheit und übereinstimmender, geteilter Wahrnehmung aller Beteiligten gestützte Inszenierung von Realität; auf der anderen Seite eine instabile, inkonsistente und nicht von allen Beteiligten gleich wahrgenommene und mit unterschiedlich gelagerter Deutungshoheit versehene Inszenierung von Realität. Assessment und Development Center wären in diesem Fall keine Prüfung der Essenz eines Wesenskerns der Persönlichkeit, sondern eine
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Probe dahingehend, ob die soziale Rolle angemessen ist, in den Kontext passt, fest im Repertoire sitzt und Potential hat oder aber ob sie nur kurzfristig stabil bleibt und durch Induktion von Stress kollabiert. Goffman führt weiter aus, dass es bei den Darstellern des Alltags nun durchaus auch solche gebe, die keinesfalls an die Rolle glaubten, die sie nach außen inszenieren. Er teilt im Folgenden den Selbstdarsteller des Alltags zunächst modellhaft in zwei Typen auf, die er mit den durchaus wertenden Umschreibungen „aufrichtiger Darsteller“ und „zynischer Darsteller“ versieht: Der aufrichtige glaube selbst an seine Inszenierung, den zynischen Darsteller überzeuge seine eigene Darstellung dagegen überhaupt nicht.207 Goffman erläutert weiterhin, dass es zwar durchaus zynische Darsteller geben möge, die ein manipulatives, eigennütziges Interesse hegen – Beispiele vom Renommisten, Opportunisten bis hin zum Betrüger schwingen hier mit. Interessanterweise gibt er aber zu bedenken, dass keineswegs „alle zynischen Darsteller aus Eigennutz oder zum Zweck persönlichen Gewinns daran interessiert [seien], ihr Publikum zu täuschen“208. Bezeichnenderweise zieht Goffman an dieser Stelle den Dienstleistungssektor heran, aktuell ein brisanter Sektor der Arbeit, der zwischen privilegierter und prekärer Teilhabe an der Gesellschaft steht, um diese Beobachtung zu untermauern. Hier attestiert Goffman den Darstellern des Alltags, dass ihre Kunden geradezu ein Bedürfnis nach Täuschung mitbrächten.209 Seine Beispiele sind der Arzt, der ein Placebo verschreibt, ein Tankwart, der mit redundanten, unnötigen Reifendruckprüfungen eine Kundin beruhigt, und ein Schuhverkäufer, der Käuferinnen mit einer Notlüge über ihre Schuhgröße schmeichelt. Diese inzwischen fünfzig Jahre alten (und mit mehr als nur einer leichten Spur patriarchalem Chauvinismus gewürzten) Beispiele wirken inzwischen z. T. etwas antiquiert. Dennoch bleibt der zynische Darsteller des Service- und Dienstleistungssektors eine Denkfigur mit Anbindung zur aktuellen Arbeitswelt. Mehr noch: Die oben genannten Beispielen aus den 1950er Jahren scheinen alle bis zu einem gewissen Grad noch selbst entwickelte, provisorische Taktiken im intersozialen Umgang mit Menschen auf der Arbeit darzustellen oder aber zumindest Verhalten, das als Tipp von Kollege zu Kollege weitergegeben wurde, bis es sich zu einer Art Konvention oder Habitus des Berufsstands entwickelt hat. Allein das Beispiel des Placebos und Goffmans Beschreibungen zur „Parteilinie“210 im Ensemblespiel von Kleingruppen auf der Arbeit haben einen anderen und bereits deutlicher professionalisierten, strategischen Charakter. Rezentere Beispiele aus dem Dienstleistungssektor, wie man sie etwa in Hochschilds Studie The Managed Heart anhand von Fluggesellschaften beschrieben findet,211 würden aber verdeutlichen, dass solche Taktiken längst in groß angelegte Strategien auf der Unternehmensebene übergegan-
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gen sind. Was bei Goffman noch maximal im Beispiel des Schuhverkäufers als halbprofessionalisierte Masche einer guten Verkaufsstrategie erscheint, hat massive Verbreitung und vor allem Professionalisierung erfahren und ist Gegenstand von Corporate Identity, Firmenphilosophie, Quality Management, theatralen Schulungsmaßnahmen, Unternehmensberatung, ja ganze Branchen beschäftigen den zynischen Darsteller des Dienstleistungssektors. Was Goffman noch der schmeichelnde Schuhverkäufer, der patriarchal gönnerhafte Tankwart mit seiner Lüge über den kontrollierten Reifendruck gegenüber der ‚hysterischen Kundin‘ oder der Arzt und sein Spiel mit dem Placebo waren, wären heutzutage etwa der ausgebrannte Call-Center-Agent einer Kundenhotline, die vom eigentlichen Mutterkonzern an einen Dumpinglohn-Drittanbieter outgesourced wurde: Der Angestellte in diesem Sektor des neuen Dienstleistungsprekariats bearbeitet, kaum etwas verdienend, Anrufe am Fließband, während er in Crashkurs-Trainingsmodulen geschult wird zu klingen wie ein „gut gelaunter Surferboy“212, der zu hundert Prozent vom Produkt und der Philosophie seiner Firma überzeugt ist. Einer Firma wohlgemerkt, die ihn in Wirklichkeit gar nicht anstellt, sondern aus Kostengründen die Serviceleistung an ein anderes Unternehmen delegiert hat und für die er in Schulungen gelernt hat, auf Beschwerden mit einem vorformulierten wording – wie etwa „Es gibt keine Probleme, nur Herausforderungen!“213 – zu reagieren. Ähnliche Settings ließen sich für das Dienstleistungsprekariat von Fastfood-Restaurantketten, Billig-Airlines, Technikmärkten und in allen Bereichen beobachten, wo Massenabfertigung von Kunden auf wenigen Schultern lastet, zugleich aber Minimalstandards einer Corporate Identity in der sozialen Interaktion abverlangt werden. Auch hier bringen die Kunden, wie Goffman es ausdrückt, den Wunsch nach Täuschung geradezu mit sich. Sind Goffmans Beispiele aber durchaus noch aus dem Bereich des falschen Spiels mit faktischen, materiellen Sachverhalten gewählt – der Arzt täuscht über die vermutete stoffliche Wirksamkeit des Medikaments, der Tankwart über die aus seiner Sicht unnötige, mehrfache Prüfung des Reifendrucks, der Schuhverkäufer schmeichelt der Größe des Fußes mit einer durchschaubaren Lüge –, so wären in den rezenten Beispielen die Täuschungen auf mehreren Ebenen angesiedelt. Zum einen existieren durchaus auch die faktischen Täuschungen, die versuchen, Frustration nicht mit dem eigenen Unternehmen oder Label in Verbindung zu bringen, etwa die Anweisung im Call-Center, bei einer Serviceproblematik die firmeneigene Verantwortung für den Fehler gegenüber der verärgerten Kundin zu relativieren und Antworten zu liefern, die sie beschwichtigen.214 Auch spielt die Call-Center-Agentin letztendlich bereits kreativ mit den Fakten, wenn sie der Kundin gegenüber den Schein aufrecht erhält,
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sie wäre eine Angestellte der Firma, deren Hotline angerufen wurde. Im Bereich des Outsourcings wird die Arbeitsanweisung vom Management erteilt, keinesfalls zu erwähnen, dass man für eine externe Firma arbeite, weil dies automatisch mangelnde Kompetenz und billige Abfertigung suggerieren werde und für den Kunden negativ belegt sei. Nicht zuletzt werden in einem Akt von strukturellem Rassismus in diesen Arbeitskontexten auch Migrationshintergründe kaschiert: Bei der Praxis, sich am Telefon unter einem Pseudonym zu melden, werden Mitarbeiterinnen mit Namen türkischer Provenienz deutsche Decknamen zugeteilt, um den reibungslosen Gesprächsablauf zu gewähren – will heißen, um dem potentiellen, unterschwelligen Ressentiments oder offenen Rassismus der Anrufer im vorauseilenden Gehorsam entgegenzukommen.215 Der größere Bereich der vom Unternehmen wie vom Kunden erwünschten Täuschung betrifft aber doch, so kann man es bei Hochschild lesen216 und so wurde es auch in der Feldforschung in der hier vorliegenden Studie beobachtet, die emotionale Verfasstheit der Servicemitarbeiterinnen im Dienstleistungssektor, die eben anders als die Arbeiterin in der Fahrzeugmontage gute Laune haben müssen, egal, ob sie im Niedriglohnsektor und damit im Prekariat dieser Gesellschaft verortet sind, egal, ob sie Kopfschmerzen davon haben, dass sie wie am Fließband Anrufe beantworten, oder ob sie privat Probleme haben, krank sind, Depressionen haben oder unter Mobbing leiden. Die gute Laune, das Kriterium der Kundenfreundlichkeit, ist ein theatral geschultes und von der Maschine kontrolliertes Phantasma, das von den Kunden zugleich eingefordert wie überwacht wird: Denn, wenn alle Billigangebote – sagen wir – für eine Internetflatrate eines Telekommunikationsanbieters in puncto Preis und Zuverlässigkeit der Technik sich auf gleichem Niveau einpendeln, so bleibt das letzte Schlachtfeld, auf dem man die Konkurrenz schlagen könnte, die Zuverlässigkeit und Kundenfreundlichkeit des Service, Erreichbarkeit der Hotline, Kompetenz und sympathisches Auftreten der Call-Center-Agenten. Nicht ohne Grund wird man als Anruferin in der Service-Hotline solcher Anbieter vor dem Kundengespräch gefragt, ob das Telefonat aufgezeichnet werden darf. Dies hat nicht immer nur mit Fragen von Vertragsabschlüssen zu tun, sondern dient auch der Qualitätssicherung und Schulung neuer Mitarbeiterinnen. Besitzt eine solche Service-Hotline die Internetadresse des Kunden, so erhält dieser mit etwas zeitlichem Abstand nach dem Gespräch nicht selten eine E-Mail mit einem Link zur Kundenbefragung, bei der als Sternchen oder Emoticons dargestellte Noten über die Kompetenz und die Freundlichkeit der Sachbearbeiterin abgegeben werden können. Diese Bewertungen können durchaus direkt in Lohn umgesetzt werden.
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Ist die Servicemitarbeiterin im Schnitt der umgerechneten Smileys mit der Schulnote 2 oder besser bewertet, so erhält sie einen ‚Bonus‘217, der aber einen notwendigen Anteil an ihrem Gehalt darstellen kann.218 Dies ist letztendlich crowdsourcing des auf die emotionale Außenwirkung abzielenden Quality Managements dieser Unternehmen, in denen eine Totalüberwachung der Service-Arbeit an die Maschine und den Kunden selbst delegiert wurde. Im Aspekt der Vergabe von Wertungsnoten für das Auftreten korrespondiert diese Praxis dabei durchaus mit dem Quality Management des Development Centers für Automobilverkäufer aus dem ersten Kapitel dieser Studie. Allein, hier scheidet sich privilegierte von prekärer Teilhabe in individueller, ludischer Fortbildung in Abgrenzung zu einem System, das den Habitus von Mitarbeiterinnen in Massenabfertigung formen und kontrollieren kann. Diese Formen von Täuschungen, eben Spielanweisungen, sind dabei aus der Führungsebene angeordnete Strategien der Unternehmen. Sie bilden Teil des Auswahlkriteriums bei der Einstellung. Sie werden danach in Schulungen weiter forciert, kurz nach der Schulung durch Anrufe, in denen sich eine Führungskraft als Kunde ausgibt, kontrolliert, und schließlich durch das gelegentliche Abhören eines Stichprobengesprächs durch eine Teamleiterin und vor allem durch die Kundenbewertungen und die Verknüpfung mit dem Gehalt reguliert.219 Die Bestrafung von Fehlverhalten in diesen Kontexten kann dabei durchaus auch theatrale Züge annehmen: So berichtete ein Mitarbeiter aus dem mittleren Management der Call Center Outsourcing AG von folgender Praxis am Beispiel einer Call-Center-Agentin, die aufgrund logistischer ‚Herausforderungen‘ als alleinerziehende Mutter durch wiederholte Verspätungen auffiel und eine Abmahnung erhalten musste. Für solche Gespräche war der von den Mitarbeitern sogenannte Glaskasten vorgesehen: Ein Büroplatz, der von allen Stellen des offenen, nicht durch die Waben einzelner Cubicles strukturierten Großraumbüros einsehbar war, der jedoch als einziges die Möglichkeit bot, ein Gespräch zu führen, dessen Inhalt nicht von den anderen Kolleginnen mitgehört werden konnte. An den Reaktionen der Mitarbeiter – von Desinteresse über Mitleid bis hin zu Gehässigkeit – wurde offensichtlich, dass diese Anordnung eine Foucault’sche Komponente hatte. Der arbeitsrechtliche Datenschutz über den Inhalt des Gesprächs war gewährleistet, jedoch, dass hier eine mündliche Abmahnung und ein Gespräch über Fehlverhalten stattfand, war den Umsitzenden aus Erfahrung bewusst und wurde für alle sichtbar als mahnendes Beispiel am Schau- und Richtplatz des Glaskastens vollzogen. Selbst der Gesichtsausdruck, den die Bestrafte hatte, war für alle einsehbar, so dass eine finstere Mine, hektische, rote Flecken oder gar Tränen
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angesichts einer wiederholten Abmahnung und dem damit einhergehenden Damoklesschwerts des Jobverlusts für jeden zum Kommentar, zum Evozieren von Furcht und Mitleid oder Schadenfreude bereitgestellt wurde. Jeder Mitarbeiterin musste durch die stetige Wiederholung der Praxis zudem bewusst werden, wie die anderen Kolleginnen des Großraumbüros diese Veranstaltungen in der Regel kommentierten und dies im Normalfall mit Scham oder Angst darüber belegen, was passieren würde, sollte man selbst einmal an dieser Stelle des Dienstleistungsprekariatspanopticons sitzen. Diese apparative Anordnung war eine hocheffektive Verschränkung aus Gesetz im Sinne der Arbeitsregeln, Architektur im Sinne der Innenarchitektur des Großraumbüros, Sprache und Deutungshoheit der Vorgesetzten und Mitarbeiterinnen sowie der allgemein in der Gesellschaft umgehenden Angst vor Jobverlust und Hartz-4-Ersatzleistungen mit ihren stigmatisierenden Konsequenzen und nicht zuletzt der Blickachsen, die als Ganzes betrachtet ein Geflecht konstituierten, in dessen In-Beziehung-Setzen der einzelnen Komponenten sich Macht entfaltete, die nicht nur auf das bestrafte Individuum, sondern auch auf alle anderen Mitarbeiterinnen des Großraumbüros einwirkte, um mit der Hervorhebung der Abmahnung zum Spektakel Subjekte zu formen. Derlei dispositive Anordnungen unterschiedlicher Art gäbe es nun viele in Unternehmen aufzuzählen, doch die oben angeführte Methode des Glaskastens im Call Center hat keine Spiel-, lediglich eine theatrale Spektakelkomponente, initiiert und implementiert von denjenigen, die sich durch die Persönlichkeitsdarstellung im Spiel im mittleren Management positionieren konnten. Und so reguliert das Spektakel des Glaskastens in diesem Beispiel, wie eingangs erläutert, auch nicht die privilegierte, sondern die prekäre Teilhabe an einem Unternehmen in einer westlichen Industrienation innerhalb der neoliberalen Wirtschaftsordnung, in der auch weiterhin Disziplinardispositive – vom Vorarbeiter in einem Sweatshop zum reformierten System der deutschen Arbeitslosen- und Sozialhilfe – zur Menschenformung eingesetzt werden. Das Glaskastenspektakel wäre ein Beispiel für ein Mikrodispositiv der Disziplinierung, das die konkret durch Fehlverhalten aufgefallene Mitarbeiterin durch Strafe und auch alle anderen Mitarbeiterinnen präventiv durch die theatrale Androhung von Strafe mittels Ausstellung zur Ordnung ruft. Die in den vorangehenden Kapiteln fokussierten ästhetischen Dispositive dagegen kommen aus den gleichen Sektoren der Arbeit, sind aber tendenziell eher in den Bereichen privilegierter Teilhabe, auf der Ebene von Management und verantwortungsvollem Verkauf, zu finden, nicht im Bereich des Prekariats-Limbus der Beschwerde- und Beratungs-Hotline. Sein Pendant in der privilegierten Teilhabe aber findet der Glaskasten etwa in
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den architektonischen Entwürfen totaler Transparenz von Unternehmenssitzen, wie Carmen Losmann sie in ihrem Dokumentarfilm Work Hard – Play Hard am Beispiel des Neuentwurfs der Firmenzentrale von Unilever zeigt. Auch bessergestellte Mitarbeiterinnen des mittleren Managements arbeiten hier in stets durch die Kolleginnen einsehbaren Glaskästen ohne personalisierten Arbeitsplatz mit persönlichen Gegenständen. Jeder hat jeden im Blick, jeder gelangt stetig zur Aufführung der Kompetenz in der Theatralität des Arbeitsalltags in einer Variante dessen, was Ulrich Bröckling anhand der Quality-Management-Methode des 360-Grad-Feedbacks an anderer Stelle „demokratisiertes Panopticon“220 genannt hat. Interessant erscheint an allen vorangehenden Beispielen, dass die einzelnen Mikrodispositivanordnungen, die auf die Mitarbeiterinnen einwirken sollen, sich im konkreten Anwendungsfall nur bedingt als wirksam beschreiben lassen. Eine einmalige Anwendung des Glaskastens würde seinen Subjekteffekt ebenso verpuffen lassen wie ein einziges Emoticon der Feedback-E-Mail eines Kunden. Die müde und sarkastische Resonanz auf die einleitend beschriebene Change-Management-Präsentation zeigt, dass die Zurichtungen auch auf inneren Widerstand stoßen. In ihrer Dauer und parallelen Anwendung im Mesodispositiv der Theatralität des Arbeitsalltags allerdings entfalten diese mannigfaltigen mikrodispositiven Anordnungen ihre Macht, wenn das wording in den Sprachduktus übergeht, wenn alle Mitarbeiter am Glaskastenritual und den Bestrafungsriten des im zweiten Kapitel beschriebenen business is black teilhaben. Hier wird eine dispositive Wirkmacht beschrieben, die aufführungsübergreifend auf der Inszenierungsebene angesiedelt ist und sich korrelierend zu den Beschreibungen von bleed in Abgrenzung zu Katharsis des zweiten Kapitels verhält. Die vorangehenden Beschreibungen der dispositiven Zurichtungen in der prekären Teilhabe nun haben starke Ähnlichkeit zu den Dispositiven der Disziplinargesellschaften. Im Folgenden soll mithilfe einer bemerkenswerten Passage bei Goffman der Versuch unternommen werden, sich dieser Menschenformung in der Dauer des Mesodispositivs auch für die privilegierte Teilhabe anzunähern. Goffman verweist darauf, dass die beiden von ihm beschriebenen Typen von Darstellern – der Aufrichtige, der an seinen Auftritt selbst glaubt, und der zynische Selbstdarsteller, der entfremdet von seinem Empfinden oder seiner Überzeugung spielt – lediglich als die extremen Pole des Phänomens von Darstellungen der Persona im Alltag angesehen werden sollten, zwischen denen es tatsächlich viele Zwischenpositionen gebe.221 Entscheidender aber noch – und hier scheint das subjektivierende Wirken der Dispositive zwischen seinen Zeilen auf – sei, dass der Glaube an die
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eigene Rolle tatsächlich auch als ein Prozess zu beschreiben sei, in dem sich durchaus ein zynischer Darsteller zum aufrichtigen Darsteller modellieren könne.222 Auch hier zieht Goffman ein Beispiel aus der Arbeitswelt und speziell dem Dienstleistungssektor heran, wenn er zur Untermauerung seiner Argumentation ein Ehepaar von den Shetland Islands anführt, das ein Touristenhotel betreibt. Goffman beschreibt, wie dieses Ehepaar seine Kongruenz zwischen selbstidentisch wahrgenommenem Habitus und Authentizitätseffekt nach außen, ihre „eigene Vorstellung von richtiger Lebensführung hintanstellt“223, wie er es nennt, um in ihrem Hotel „den vollen Spielraum mittelständischen Komforts und mittelständischer Dienstleistungen anzubieten“224, während er sie selbst nach eigener Beobachtung nicht zu ebendieser sozialen Schichtung zählte. Diese Passage mag dabei durchaus etwas generalisierend wirken, da sie letztendlich axiomatisch einen differenzierbaren Habitus ganzer sozialer Schichtungen (wie überhaupt die Annahme von weitestgehend homogenen Schichten) voraussetzt, die der Soziologe einordnen und durchschauen kann, sobald sie authentisch oder aufgesetzt seien. Auffällig erscheint aus der Perspektive der hier vorgeschlagenen theaterwissenschaftlichen Dispositivanalyse, die den Analysierenden mit im Prozess zu verorten sucht, wie Goffman „Vorderbühnen“225 des inszenierten sozialen Handelns von nicht inszenierten „Hinterbühnen“226 zu trennen vermag, ohne zu thematisieren, ob nicht jede Hinterbühne zur Vorderbühne wurde, sobald er selbst sie betrat. Um diese Zuspitzung etwas zu entschärfen, könnte man also zumindest herunterbrechen, dass das Ehepaar von Goffman dabei ertappt wurde, sich einen Habitus anzueignen, der eventuell elaborierter oder auf höfliche Weise korrekter war, als ihr Umgang miteinander im Alltag es vermuten ließ. Goffman beschreibt nun, wie sich das Verhältnis zu ihrer Rolle, die sie für ihre Gäste inszenierten, über die Jahre wandelt, da das Ehepaar selbst durch das Betreiben des Hotels in die Mittelschicht nivellierte und somit dem „Theater, das sie so spielen, weniger zynisch gegenüberstehen“227, also die Lücke zwischen Eigenwahrnehmung der Persönlichkeit und inszenierter Außenwirkung langsam durch eine stets aktualisierte und über Jahre andauernde Reinszenierung einer Reihe von Aufführungen des Sozialen, nicht zuletzt aber auch in Kombination mit der konkreten Veränderung der materiellen Verhältnisse schließen können. Hier stellt sich durchaus die Frage der Rahmenbedingungen dieses soziologischen Langzeitexperiments: Hat Goffman nun tatsächlich mit dem Ehepaar vereinbart, sie über fünf Jahre intensiv unter idealen Bedingungen in der natürlichen Interaktion in ihrem Alltagsleben jenseits des Hotels und im Hotel zu beobachten und regelmäßig über ihre eigene Haltung zu ihrer Rolle im Alltag zu interviewen? Wie stark interveniert dabei die Be-
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obachtung und Fragestellung des Soziologen in die Selbstabständigkeit des Ehepaars, die zugleich Gegenstand der Studie ist? Der unterkomplexen Idee von homogenen, sozialen Schichtungen und dem Paradigma des Auf- oder Abstiegs durch Nivellierung soll hier nicht weiter Raum gegeben werden, interessant aber erscheint die Beobachtung eines Selbstoptimierungsprozesses durch Sprache und Habitus unter dem Blick der Kunden und mit dem Versprechen materiellen Mehrwerts, in dem zunächst eine Rolle des Ideal-Ichs im Arbeitskontext entworfen wird, der sich in einer Reihe von sich stets aktualisierenden Aufführungen angenähert wird, bis sie in der Fremd- als auch Eigenwahrnehmung als selbst identisch performt wird. Dies scheint dem Mesodispositivmodell jenseits der Disziplinierungen in der prekären Teilhabe zu entsprechen. Mit dem nächsten Beispiel vergleicht Goffman dann explizit diese Beobachtung von Inszenierungen und Formierung des Selbst aus dem Bereich des Dienstleistungssektors mit einem Feld, das nach Foucault in den Bereich des Dispositivs der Disziplin fällt, und schlägt die Brücke zwischen der Subjektivation durch dispositive Anordnungen und Modellierung der Selbstinszenierung durch wiederholte Aufführungen des Sozialen im Kontext der Arbeitswelt: Ein anderes Beispiel bietet der frisch eingezogene Rekrut, der sich am Anfang an die Etikette der Armee hält, um physischen Strafen zu entgehen, und schließlich dahin gelangt, daß er die Regeln einhält, um keine Schande über seine Kompanie zu bringen und den Respekt seiner Offiziere und Kameraden zu gewinnen.228 Die Kaserne, in Foucaults229 wie auch Deleuze’230 Denken Beispiel für Disziplinardispositive und genannt in einer Reihe mit dem Gefängnis, der Schule, aber auch dem Arbeitskontext der Werkstatt, wirkt auf das Subjekt in einer Verschränkung aus Gesetz, Architektur, Regeln, Tradition, Sprache, Blick und Strafe. Das Ehepaar im Selbstoptimierungsprozess hat dagegen keinen Aufseher, keinen Wächter, keinen Offizier, nicht einmal einen Chef, durch den die Macht und die Regel sich an einer spezifischen Stelle manifestierten würden. Hier wird ihr Verhalten vom Markt, vom ‚Blick‘ des Kunden mit seiner spezifischen Erwartungshaltung an den Service und dem damit verbundenen Habitus des Dienstleisters sowie von der hierarchisch auf gleicher Ebene situierten Selbstbeobachtung im Sinne eines durch sie eingeleiteten Selbstoptimierungsprozesses reguliert. An die Stelle der Bestrafung bei nicht eingehaltener Regel in den Disziplinargesellschaften setzt sich in diesem Dispositiv das Ausbleiben von Einnahmen, die Drohung des Scheiterns der selbstständigen Existenz bei einem für die
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Kunden störenden Habitus des Dienstleisters und der damit verbundene Abstieg in Arbeitslosigkeit oder nicht erwünschte Arbeitsformen. Die körperlosen Blicke zur Subjektivation aus diesem Wärterturm wirft offenbar das Kapital. Goffman tangiert am Beispiel dieses Hotelier-Ehepaars in einer hier vorgeschlagenen Lesart die Grundkonditionen neoliberaler Subjektivität, wie sie Bröckling formuliert: Jeder sei zur privilegierten Teilhabe „Unternehmer seiner Selbst“231 in der Verschränkung damit, jeder sei bereit zur kreativen Selbsttransformation.232 Beiden Beispielen der Transformation des zynischen Darstellers, der Kaserne der Disziplinargesellschaften, wie dem Hotelier-Ehepaar gemein ist dabei der zeitlich prozessuale Charakter der Dispositivanordnung: Sie ist eben nicht nur ein heterogenes Ensemble von Elementen verschiedenster Ausprägung, in dem sich Macht manifestiert, die auf Subjekte einwirkt – im klassischen Beispiel des Panoptismus ist auch ein zeitlicher Faktor wiederholter Aufführungen vor dem subjektivierenden Blick impliziert, bis das Innere des Delinquenten sich schließlich dem Äußeren angenähert und es inkorporiert hat. Der Panoptismus hatte von jeher einen theatralen Charakter, wenn zunächst vor einem machtvollen Blick eine Rolle eingeübt werden musste, bis sie in der Dauer des Prozesses selbstidentisch wird. Jedoch beruht das Konzept der Wirkung dieses Theaters nicht auf der einzelnen Aufführung, sondern einer wiederholten Reihe von sich stetig aktualisierenden Aufführungen, in denen der zynische Darsteller Goffmans sich nach und nach über Tage, Monate oder gar Jahre in den aufrechten Darsteller transformiert. Somit muss sich der Blick auf die einzelne Aufführung mit der komplexen Analyse der Inszenierung verschränken, um das System vollends zu begreifen: Die einzelne Aufführung liefert hier insofern interessante Ergebnisse, als dass sie auf die Inszenierung sowie andere Aufführungen zurückgebunden werden muss. Neben Glaskasten, Kaserne und Ferienpension sind auch die Applied-Theatre-Angebote des Theaters in Unternehmen strategisch machtvolle Katalysatoren für die oben beschriebenen Prozesse der Modellierung von Selbstinszenierung im Arbeitsalltag. Es lohnt sich, diese Depotenzierung der einzelnen Aufführung des Sozialen zugunsten der Wirkmacht der Dauer des Dispositivs mit der Analyse der Wirkungsversprechen von Applied-Theatre-Projekten durch die Forschungsgruppe The Aesthetics of Applied Theatre zu vergleichen: Anders als manchmal unterstellt wird, hegen die Praktikerinnen und Praktiker dieses Theaters kaum den idealistischen Glauben, schon das einmalige Anschauen einer Aufführung könnte das Leben tief greifend verändern. Ihre Hoffnungen gelten vielmehr dem aktiven Mitwirken
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und Mitspielen, idealiter über längere Zeiträume. Als Mitwirkender einer Theaterproduktion, so die Annahme, muss man sich mit anderen austauschen, gerät in affektive Relationen, trifft Entscheidungen, erhält Anlass zur Reflexion – und wird in jedem Fall intensive Erfahrungen machen. Solche aktiven Erfahrungen – im Sinne von ‚in der Aktion zu gewinnende Erfahrungen‘ – können Veränderungen initiieren. Die meisten Anbieter oder Anleiter von applied theatre meinen nicht im engeren Sinne Aufführungserlebnisse, wenn sie von den Möglichkeiten ihres Theaters berichten. Sie denken an längerfristige Lernprozesse, die die Akteure durchlaufen sollen. Wenn etwa Kinder oder Jugendliche in den Probenprozessen zu einer Theateraufführung Stimm- und Sprechtechniken, mimetische Kompetenzen und Improvisation erlernen, können sie von diesen Fähigkeiten, so die Hoffnung, anschließend auch in anderen Lebensbereichen profitieren.233 Auch die Persönlichkeitspsychologen Laux und Renner erläutern das Theater als wirkmächtiges Instrument zur „Persönlichkeitsveränderung“234 in der Therapie wie in der Personalentwicklung, verweisen aber nicht auf die Aufführung und Katharsis, sondern auf die Inszenierungsebene.235 Die Prozeduren von Personalauswahl- und Potentialanalyseverfahren – die Assessment und Development Center – sind, so wurde im bisherigen Verlauf dieser Studie dargelegt, nicht nur selektionierende und didaktische Messinstrumente für Kompetenzen und Persönlichkeitsmerkmale, die aufgrund der Komplexität des zu messenden Gegenstandes das Spiel und die Simulation einsetzen. Sie sind zugleich in ihrem Vorlauf und ihrem Nachgang auch als Mechanismen zu beschreiben, in denen heterogene Anordnungen von Wissensgenerierung und Machtstrukturen Menschen formen. Man denke an Ratgeberliteratur, Vorbereitungskurse, das Spiel der Blickstrukturen, Feedbackgespräche und Datenaufnahme. Diese dispositiven Anordnungen heben ein Subjekt unter Fremd- und Eigenbeobachtung, als Verschränkung von Herrschaftstechniken und Technologien des Selbst, auf eine Bühne, um das Wissen So bist du mit der Aufforderung So musst du sein, wenn du teilhaben möchtest zu verknüpfen. Die mikrodispositive Anordnung der Assessment- und Development-Center-Prozesse erscheint dabei als die Manifestation der Erkenntnisse aus Soziologie, den Kulturwissenschaften und der Persönlichkeitspsychologie, dass der Persönlichkeitsdarsteller des Alltags formbar ist. Sie wird somit zum einen als Selektionsverfahren, aber auch als ekkyklematischer Katalysator eingesetzt, um Prozesse, wie Goffman sie an dem Hotelier-Ehepaar, aber auch am Rekruten beobachtet, zu forcieren und zugleich die Bewerberinnen oder Arbeitnehmerinnen effizienter zu identifizieren, die entweder unge-
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eignet erscheinen oder aber die graduell dem Typus des zynischen Darstellers entsprechen. Eingebettet sind diese Praktiken aber in ein Mesodispositiv der Theatralität auf der Unternehmensebene, in dem die Darstellung der Kompetenz – die performativ hervorgebrachte Arbeitspersönlichkeit stetig Formungs- und Selektionsprozessen unterzogen wird.
5 Spuren des Makrodispositivs Was die hier vorliegende Analyse, die den Versuch darstellt, den Dispositivbegriff mit theaterwissenschaftlicher Feldforschung und Aufführungsanalyse zu amalgamieren, nicht wird leisten können, ist en detail das Makrodispositiv zu zergliedern, in dem sich in wechselseitiger Immanenz das Mesodispositiv der Theatralität und die Mikrodispositive der Ernsten Spiele der Assessment Center situieren. So hat sich diese Analyse bis hierhin vornehmlich dem Wechselverhältnis von Aufführung und Inszenierung, von Auftreten zu Theatralität und damit im Vergleich zu Foucaults Dispositivbegriff vom konkreten Ereignis in der Gefängniszelle zur Pan opticonanordnung beschäftigt. Was hier also vorangehend als Immanenz von Mikro- und Mesodispositiv beschrieben wurde, gilt in den grundlegenden Schriften Foucaults und Deleuze’ zum Dispositiv allein nur als das Mikrodispositiv, das im Wechselverhältnis zu einer ‚abstrakten Maschine‘, zu einem ‚Diagramm‘ – eben zu einem gesamtgesellschaftlichen Makrodispositiv – steht. Wie vorangehend erläutert, gab es zwei Gründe dafür, hier noch einmal den Terminus des Mesodispositivs einzuführen: Zum einen erschien es, auch unter dem Eindruck der bisherigen Verwendung des Dispositivbegriffs in der Theaterwissenschaft, hinreichend, die ereignishafte Ebene der Aufführung selbst als komplexe Dispositivanordnung zu beschreiben und in den theaterwissenschaftlichen Dispositivanalysen des ersten und zweiten Kapitels zu untersuchen. Denn nicht zuletzt generiert die Aufführung in ihrem heterogenen Ensemble ihrer je eigenen ästhetischen Ansätze, je nach Schauspielmethode, Raum, gewähltem Arrangement und Zuschauer-, Schauspieler- oder Mitspielerverhältnis jeweils sehr eigene, spezifische Subjekteffekte bei allen Partizipierenden. Die Unterschiede der Aufführung einer Lessing-Inszenierung im Guckkastenarrangement des Kunsttheaterbetriebs im Vergleich zum Unsichtbaren Theater Boals in der U-Bahn wurden hier also nicht nur als die konkrete Materialisierung eines Dispositivs ‚Theater‘236 gefasst, sondern als jeweils eigene Mikrodispositivanordnungen, die von einem Mesodispositiv nächsthöherer Ordnung erwählt und in sein heterogenes Ensemble aufgenommen werden können.
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Zum anderen wurde die Mesoebene eingezogen, da es nicht hinreichend erschien, vom konkreten Ereignis der Handlungsebene der Aufführung ohne vermittelnde Ebene der Institutionen, Organisationen, kulturellen Einrichtungen oder Großgruppen direkt Wechselbeziehungen zur Makroebene zu behaupten, die auf Teile ganzer Gesellschaften einwirken kann. So wurde das, was im klassischen Foucault’schen Diskurs normalerweise als Mikrodispositiv bezeichnet wurde, die Ebene des Gefängnisses, hier noch einmal, inspiriert durch die Wirtschaftssoziologie, in Mikro- und Mesoebene getrennt. Die Wirkungsebene des Makrodispositivs nun als die gesellschaftliche Ebene zu definieren, kann dabei auch nicht ohne den Verweis erfolgen, dass einen Gesellschaftsbegriff zu bedienen an sich im gegenwärtigen Stadium des Neoliberalismus bereits keine leichtfertig zu setzende Vorannahme darstellt. Fällt er zwar auf der einen Seite überproportional oft im populären Diskurs in Fragestellungen wie ‚In welcher Gesellschaft möchten wir leben?‘ oder in der rechtspopulistischen These von sogenannten Parallelgesellschaften, so ist doch die Annahme eines Ganzen in der Menge von Individuen, die mit dem Gesellschaftsbegriff adressiert werden, ein Hilfskonstrukt oder gar ein politisches Phantasma, das bisweilen nicht einmal einfachster Prüfung standhält: Fällt heute der Gesellschaftsbegriff leichtfertig, so ist mitunter überhaupt nicht deutlich, ob er an den Grenzen einer Nation oder eines Staatengefüges wie Europa, an sogenannten Wertegemeinschaften oder an der Jurisdiktion einer Verfassung ansetzt, und verkompliziert sich ungemein, wenn man ihn soziologisch präzise setzen möchte. Die hier vorliegende Arbeit, in der ein wahrscheinlich naiver Gesellschaftsbegriff ebenfalls überproportional fällt, kann es weder leisten, den Terminus umfassend aufzuarbeiten, noch einen komplexen, eigenen Begriff entwickeln. Jedoch, über der Ebene der Institutionen und Großgruppen wird hier heuristisch auch nicht lediglich nur Chaos angenommen. Gesellschaft wird in der hier vorliegenden Dispositivanalyse am ehesten an den Normierungsprozessen der Dispositive höherer Ordnung sichtbar. Denn selbst in postnationalen, diversen und von Pluralität geprägten Gesellschaften normieren Makrodispositive und vergleichen dabei Ist- mit Sollzustand.237 Die Frage bleibt im Raum, was das Makrodispositiv der hier beschriebenen Phänomene darstellt? Was nimmt die Stelle ein, die in Überwachen und Strafen die Disziplin oder in Der Wille zum Wissen das „Dispositiv der Sexualität“238 inne hat? Es ist der Immanenz und Überdeterminierung von Dispositiven, wie dem Fokus, den man richten möchte, geschuldet, dass in den einschlägigen Schriften zur Kondition des Subjekts im System des
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Neoliberalismus verschiedene Antworten auf diese Frage gegeben wurden: ein neoliberales Dispositiv der „Kontrollgesellschaften“239, das Dispositiv der „Kultur des Projekts“240, das „Kreativitätsdispositiv“241, das „Kraftfeld des unternehmerischen Selbst“242 oder die säkulare Vorhölle243. Das Individuum, so fasst es Agamben, kann eben „Ort mannigfaltiger Subjektivierungsprozesse“244 sein. Und so sind all diese Konzepte valide und sich nicht ausschließende Antworten, die sich mit der Subjektivation im Neoliberalismus auseinandersetzen und dabei miteinander korrespondieren. Performende Gussstücke Es ist zunächst Gilles Deleuze, der darauf verweist, dass die Disziplinargesellschaften, für die in Foucaults Schreiben das Panopticon des Gefängnisses paradigmatisches Beispiel der dispositiven Anordnung ist, dem 18. und 19. Jahrhundert zugeordnet werden und ihren Höhepunkt am Beginn des 20. Jahrhunderts erreichten:245 Er erläutert weiter, wie die geschlossenen Systeme der Disziplinargesellschaften, Schule, Kaserne, Klinik, Familie, Gefängnis und Fabrik, in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts allesamt Gegenstände eines Krisendiskurses geworden seien und stetigen Reformen durch die Politik unterworfen würden, während sie eigentlich im Niedergang begriffen seien:246 Aber jeder weiß, daß diese Institutionen über kurz oder lang am Ende sind. Es handelt sich nur noch darum, ihre Agonie zu verwalten und die Leute zu beschäftigen, bis die neuen Kräfte, die schon an die Türe klopfen, ihren Platz eingenommen haben. Die Kontrollgesellschaften sind dabei, die Disziplinargesellschaften abzulösen.247 Deleuze fährt fort zu erklären, dass in den westlichen Industriegesellschaften, die ihre Produktion dominant in die sogenannte zweite oder dritte Welt auslagern, nicht länger die Fabrik, sondern das Unternehmen des Dienstleistungssektors die Sphäre der Arbeit prägt. Das Unternehmen, so erläutert er, wird dabei zum Modell für alle anderen, sich in der Krise befindlichen Institutionen der abgelösten Disziplinargesellschaften.248 Analog dazu verändert sich das Subjektivierungsmodell: Die normalisierenden Zurichtungen der Subjekte der Disziplinargesellschaften bezeichnet er dabei als „Gußformen“249. Diese wurden offenbar, so Deleuze, in den Kontrollgesellschaften, die das Unternehmen zum Modell erklären, durch das Konzept der Modulation, einer „sich selbst verformenden Gußform“250, abgelöst. Dem mikrodispositiven Katalysator dieser Modulationen ist die hier vorliegende Studie gewidmet. Allerdings, der Denkfigur der Gussform geht dabei der aktive Anteil der Selbsttechnologien des Subjekts an sei-
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ner Zurichtung im Dispositiv verloren, denn der ‚sich selbst verformenden Gussform‘ sind in dieser Studie, Goffman mit Foucault gegenlesend, die sich selbst performenden Gussstücke zur Seite gestellt worden. Der Umbruchprozess der makrodispositiven Strukturen, den Deleuze anhand des Bilds der sich selbst verformenden Gussformen und des neuen Paradigmas des Unternehmens nachzeichnet, vollzieht sich somit, so zeigt diese Studie, im ausklingenden 20. und beginnenden 21. Jahrhundert weiter und erwählt Meso- und Mikrodispositive, die im Stande sind, auf seine spezifische urgence zu antworten. Fokussiert Deleuze den Übergang der Disziplinargesellschaften zu den Kontrollgesellschaften ab der Mitte des 20. Jahrhunderts, so kann man für den Beginn des 21. Jahrhundert noch einmal von einer zumindest qualitativen Intensivierung der von Deleuze geschilderten Mechanismen sprechen, die man auf wirtschaftssoziologischer Ebene, Ulrich Bröckling, Susanne Krasmann und Thomas Lemke folgend, in Westeuropa als den Übergang von einem Ordoliberalismus sozialer Marktwirtschaft zu einem Wirtschaftsliberalismus Chicagoer Schule, einhergehend mit zunehmender Deregulierung, Privatisierung und Rückzugstendenzen des Staatsinterventionismus, bezeichnen kann.251 Diese Differenzierung wird notwendig, da Neoliberalismus hier nicht als trivialer Kampfbegriff missverstanden werden sollte. Wird in populistischer Kapitalismuskritik der Begriff Neoliberalismus oft oberflächlich als Synonym für eine Oligarchie oder Plutokratie der Konzerne gesetzt, ignoriert dieser Gebrauch des Terminus etwa, dass auch der Ordoliberalismus sozialer Marktwirtschaft in der BRD nach dem Zweiten Weltkrieg dem Neoliberalismus zugerechnet wird.252 Die Tendenzen, die hier aufgezeigt werden, entstehen also vielmehr aus einer zunehmenden Umstrukturierung des einen neoliberalen Modells in das andere. Wird im Folgenden von Chicagoer Schule gesprochen, so meint dies also ein neoliberales Modell, das den Staatsinterventionismus gegenüber der Wirtschaft zurückzufahren, zu deregulieren und Teile seiner Aufgaben an den privaten Sektor zu delegieren sucht. Es ist Bröckling, der explizit anschließend an Deleuze’ Beobachtung, dass das Konzept ‚Unternehmen‘ zu einem strukturierenden Paradigma in den Kontrollgesellschaften wird, umfassend im Foucault’schen Diskurs die Subjektivierungsprozesse unter diesen Bedingungen des neoliberalen Kapitalismus in den westlichen Industrienationen als „Das unternehmerische Selbst“ erfasst: In der Figur des unternehmerischen Selbst verdichten sich sowohl normatives Menschenbild wie eine Vielzahl gegenwärtiger Selbst- und Sozialtechnologien, deren gemeinsamen Fluchtpunkt die Ausrichtung der
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gesamten Lebensführung am Verhaltensmodell der Entrepreneurship bildet.253 In seinen Analysen der Tools des „Total Quality Management“254, dem „360°-Feedback-Modell“255, zieht er dabei in Bezug zu den im Unternehmen zur Anwendung kommenden Mikrodispositiven explizit den Vergleich zum Panopticon.256 An Bröcklings soziologischer Studie zum Selbst- und Weltverhältnis neoliberaler Subjektivität und der „Hegemonie managerialen Denkens“257 lässt sich dabei auch die in der hier vorliegenden Studie vorgeschlagene Immanenz der drei Dispositivebenen ablesen: Denn Unternehmen, in denen sich die hier fokussierte mesodispositive Struktur der Theatralität des Arbeitsalltags oberhalb der Aufführungen des Unternehmenstheaters manifestiert, sollen sich eben in der neoliberalen Marktstruktur, gleichsam wie das Leitbild des unternehmerischen Selbst auf der Handlungsebene des Individuums, stetig neu erfinden, selbst optimieren, Transgressionen wagen, verkrustete Strukturen befragen. Sind diese Verheißungen aus dem Übergang vom Ordoliberalismus der sozialen Marktwirtschaft zu einem Wirtschaftsliberalismus Chicagoer Schule258 dabei im neoliberalen Diskurs zunächst wie eine Befreiung vom Totalitarismus formuliert, der in Form des maßvollen Staatsinterventionismus der sozialen Marktwirtschaft offenbar in der westeuropäischen Wirtschaft bis in die 1980er Jahre geherrscht haben muss, sollte sich das Augenmerk darauf richten, was mit einem Vokabular der Avantgarde und im Rausch des Neuen befragt und zerschlagen wird, wenn die neoliberale Idee in Punkten von Arbeits- und Sozialgesetzgebung durch einen Krisendiskurs in ihre Extreme getrieben wird. Verkrustete Strukturen auzuflockern, mag aktuell zunächst als Phrase grundsätzlich positiv besetzt sein, assoziativ verknüpft mit dem Abschütteln konservativer, repressiver Ordnungen und einem politischen Freiheitsgedanken, der Erinnerungen daran wachruft, wie etwa eine 68er-Generation die Aufmerksamkeit auf mangelnde Entnazifizierung und konservative Elitenbildung an den Universitäten und in der Politik richtete. In einer Wirtschaftssphäre, in der sich Unternehmen und mit ihnen staatliche Institutionen allerdings Semantik und Diskurs von Künstlern und Avantgarde angeeignet haben,259 können mit solchen verkrusteten Strukturen auch einfach sozialversicherungspflichtige Festanstellung, Existenz von Betriebsräten, Tarifbindung, Streikrecht, Anspruch auf Urlaub ohne Arbeitsaufträge oder geregelte Arbeitszeiten gemeint sein.260 Theaterwissenschaftlich interessant wird diese neuralgische Stelle des wirtschaftsliberalen Systems, wenn man hinzuzieht, dass der Staat im Umbauprozess zum Neoliberalismus Chicagoer Ausprägung Teile seiner sozialpolitischen Aufgaben, Claire Bishop und Nicolas Bourriaud folgend,261
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an die Kunst und somit auch an die Ernsten Spiele des Applied Theatre delegiert. So werden Anteile der privilegierten wie die Agonie der prekären Teilhabe durch Theater verwaltet. In ihrem Entwurf wurden in den rahmenden Schriften der Verfasser der Schauspieltheorien, die massiv Anwendung im Applied Theatre finden – maßgeblich bei Brecht, Boal und mit ihm die Pädagogik Paolo Freires – die politische Intention als ein liberaler, basisdemokratischer bis sozialistischer, die unterjochten Klassen befreiender Gestus mit ihrem ästhetischen Dispositiv zusammengedacht. Doch wenn etwa Boal äußert, „theatre is the passionate combat of two human beings on a platform“262, so lautet die Antwort des Unternehmens darauf: Das trifft sich gut, denn wir suchen leidenschaftliche Mitarbeiter mit authentischer Außenwirkung, die sich durchsetzen. Der Gewinner dieses Zweikampfs wird eingestellt, Herr Boal! Das im ersten Kapitel dargelegte Unbehagen und die Antipathie der Applied-Theatre-Praktikerinnen und auch der Theaterwissenschaftlerinnen, das Theater in Unternehmen in den Korpus des Applied Theatre zu integrieren, die dargelegte Sicht auf das Unternehmenstheater als ‚schwarzes Schaf‘, das sich der wirtschaftsliberalen Marktordnung angepasst hat, anstatt sich der guten Sache – wenn auch nicht der ursprünglich sozialistischen Idee, so doch zumindest dem sozialdemokratischen Gestus des Ordoliberalismus – zu verschreiben, basiert nicht zuletzt auf einem Kollektivphantasma, dass performative Genres implizit grundsätzlich dafür einstehen müssen, verkrustete Strukturen aufzubrechen, den Raum für die Innovation, für das Neue, für politische und soziale Veränderung zu schaffen und die bestehende Ordnung progressiv und damit eben liberal zu befragen. Zum einen muss aber in Betracht gezogen werden, dass, John McKenzies Butler-Lektüre folgend, auch das dominierende und mitunter repressive Normaldispositiv performativ hervorgebracht wird: What Butler creates in the time and space of numerous articles and a handful of books is a theory that poses performativity not only as marginal, transgressive or resistant, but also as a dominant and punitive form of power, one which both generates and constraints human subjects. In short, she theorizes both the transgressivity and the normativity of performative genres. If Turner’s centrality lies in the theory of performative liminality, Butler’s subversiveness lies in her theory of performative normativity.263 Zum anderen dringt Applied Theatre politisch eben nicht intentionslos oder lediglich unter der Flagge der guten Absicht in andere Kontexte ein und befragt durch die Rahmung der vorherrschenden Regeln durch Spiel
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die bestehende Ordnung, in die interveniert werden soll. Kontexte z. B., in denen Workshops des sogenannten theatre for development patriarchale Strukturen in Vorderasien befragen oder Gewaltprävention in Konfliktzonen im Nahen Osten suchen, sensibilisieren sich zwar sehr wohl für lokale Strukturen.264 Jedoch allein der normative Maßstab, dass etwas in der kulturellen, gesellschaftlichen wie politischen Praxis einer Region der Intervention bedarf, die mit Geld gefördert werden sollte, ist nicht zuletzt die Wissensproduktion eines westlichen Normaldispositivs des Neoliberalismus, von dem das Wissen und die involvierten Subjekte in ihrem Weltund Selbstverhältnis nicht einfach abgelöst betrachtet werden können.265 Darin mag der einzelne Theateranleiter gar Kapitalismuskritiker sein, dennoch wird er zum Manager eines Entwicklungsfelds für die Stabilität des Systems. Gerade der Neoliberalismus schafft es dabei, die Kritik und Opposition seiner selbst zu integrieren und bisweilen sogar kapitalisierbar zu machen.266 Deswegen kann Che Guevaras Gesicht auch auf ein T-Shirt gedruckt werden, das in einem südostasiatischen Sweatshop genäht wurde. Kein System ist widerstandsfähiger als dasjenige, das in undurchschaubaren Strukturen die Differenzen zwischen selbst und Opposition zu verwischen vermag. Den Hanswurst, wie in den Disziplinargesellschaften, von der Bühne zu verbannen, weil er subversiv ist, ist für die Stabilität strategisch wesentlich weniger wirksam, als ihn dafür zu bezahlen, die Kritik zu äußern. Die Drohne als Goldstandard Dass das Makrodispositiv im vorangehend beschriebenen Immanenzverhältnis zwischen den Dispositiven Theatralität und Theater das Mikrodispositiv ‚erwählt‘, ist aus den Beschreibungen Deleuze’ entnommen267 und scheint in diesem Kontext doch trügerisch einem impliziten Strategen zu insinuieren. Vielmehr findet das sich ausbildende Makrodispositiv bestimmte Gegenstände, Diskurse und Praktiken vor – Wissen, Apparaturen, Verfahren, Institutionen wie subjektive Dispositionen und dockt in einer wesentlich weniger proaktiven Figur der Aufladung und Durchdringung an diejenigen unter ihnen an, die Antworten auf die gesellschaftliche „urgence“268 bereitzustellen im Stande sind, während es andere Dinge beiseite lässt. Die freien globalen Märkte, der Wandel zur Dienstleistungsgesellschaft und dann zur New Economy des Netzes, das Angebot in den westlichen Industrienationen, das stets die Nachfrage bei Weitem übersteigt, der Rückzug des Staats, die Deregulierung des Wirtschaftsliberalismus und der internationale Konkurrenzkampf von Konzernen, kurz der „dritte Geist des Kapitalismus“, wie Ève Chiapello und Luc Boltanski den gegenwärtigen Zustand des neoliberalen Kapitalismus seit den 1980er Jahren fas-
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sen,269 potenzierte den Diskurs der „permanenten Selbstoptimierung“270, den „Kreativitätsapell“271 und exhumierte dabei in seinen Extremen zu den selbst postulierten Krisenzeiten offenbar geradezu sozialdarwinistische Diskurse272 im Gewand von Individualismus, freier Marktwirtschaft und Demokratie: Das oder der Bessere setze sich in der Gesellschaft, in der Wirtschaft oder auf dem Markt wie in der Evolution durch: Was nicht lebensfähig ist, muss zwangsläufig untergehen; wer sich nicht anpasst, ist nicht lebensfähig; anpassen kann sich nur, wer sich stets transformiert. U lrich Bröckling spricht in diesem Zusammenhang in Bezug auf den Kampf der Unternehmen um den Kunden vom „gnadenlosen survival of the fittest“273. Dieser neoliberale Diskurs durchdringt die Sicht auf die Unternehmen als Ganzes wie die Produkte, die diese fertigen. Wo diese Produkte das performativ durch das Spiel hervorgebrachte Selbst sind sowie die Affekte, die dieses Spiel generiert – im Kommunikations-, Verkaufs-, Service- oder Dienstleistungssektor wie auch im Management –, sind es die ‚Human Resources‘, das Humankapital, die diesen stetigen Transformationsprozessen unterliegen. Das neoliberale Subjekt ist dabei, so legt Bröckling dar, ganz im Sinne der Immanenz der Dispositive angehalten, sich selbst als Entrepreneur zu organisieren wie ein Unternehmen.274 Daraus erwüchsen, so referiert Bröckling in diesem Kontext den Soziologen Hermann Kocyba weiter, für die im Unternehmen arbeitenden Subjekte „radikal veränderte Selbstdarstellungsnormen“275. Dem Instrument zur Menschenformung dieser Selbstdarstellungsnormen ist die hier vorliegende Studie gewidmet. Und so nimmt der Diskurs bisweilen in seinen Extremen unheimliche Züge an, in dem man, wie im zweiten Kapitel erläutert, etwa in Manager-Coaching-Seminaren im Spiel auch gleichsam spielen muss, dass einem das Spiel gefällt, um nicht selektioniert zu werden oder in Carmen Losmanns Dokumentarfilm über Change-Management-Prozesse bei Unilever und der Deutschen Post eine Trainerin für ludische Fortbildungsseminare äußert, ihre Vision sei, diesen, von ihr vermittelten ‚kulturellen Wandel‘ nachhaltig in die „DNA jedes einzelnen Mitarbeiters […] zu verpflanzen“276. Kulminationspunkt wie auch Kuriosum dieser neoliberalen Subjektivation mag dabei das Konzept der „Selbstselektion“277 sein: Der Mitarbeiter, der durch transparente Vorabinformationen im Vorfeld des Assessment-Center-Verfahrens zur Selbsterkenntnis gelangt, dass er ungeeignet für die Position ist und sich so für die Effizienz und Verschlankung des Prozesses vorab selbst selektiert – ein Konzept, das wohlgemerkt nicht aus der kritischen Soziologie über neoliberale Arbeitsstrukturen, sondern aus den dargelegten Goldstandards für Assessment-Center-Prozesse stammt278 und an die faszinierende Effizienz und Empathielosigkeit der Schwarmintelligenz eines Insektenstaats erinnert.
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Die Disposition der Kreativität Die Pole, zwischen denen die hier gemachten Beobachtungen stetig changierten, sind Fremd- und Eigenbestimmung. Will also die Rede vom Theater der Selektion nun von Determinierung oder Selbstermächtigung sprechen? Foucault schreibt zu den Selbsttechnologien: Man muss die Wechselwirkung zwischen diesen beiden Technikformen – Herrschaftstechniken und Selbsttechniken – untersuchen. Man muss die Punkte analysieren, an denen die Techniken der Herrschaft über Individuen sich der Prozesse bedienen, in denen das Individuum auf sich selbst einwirkt. Und umgekehrt muss man jene Punkte betrachten, in denen die Selbsttechnologien in Zwangs- und Herrschaftsstrukturen integriert werden. Der Kontrapunkt, an dem die Form der Lenkung der Individuen durch andere mit der Weise ihrer Selbstführung verknüpft ist, kann nach meiner Auffassung Regierung genannt werden.279 Nach dieser Methodik Foucaults verfuhr auch die hier vorliegende Studie über theatrale Personalauswahl- und Schulungsprozesse, wenn sie das Theater der Assessment und Development Center als Mikrodispositiv und das selbstabständige Schauspiel darin als Selbsttechnologie bezeichnet. Klangen die vorangehenden Annäherungen an ein Makrodispositiv, als handele es sich um große Maschinen mit den Deleuze’schen ‚Gußformen‘ zur Zurichtung von Menschen, so muss auch berücksichtigt werden, dass das Makrodispositiv auf Dispositionen des Individuums trifft, die es durchaus mit freiem Willen partizipieren lassen. Dies kann man negativ ausgelegt als suggerierte Handlungsmacht fassen: Ist der Käfig groß genug und gefällt er einem, wird man nur gelegentlich an seine Ränder stoßen. Neutral formuliert aber muss man sich die Frage stellen, an welchen Stellen denn das Individuum ohne rahmende Struktur überhaupt überlebensfähig wäre, ohne in der Subjektivität zu zerfasern. Für die Beobachtung, mit welchen Dispositionen des Individuums Bröcklings beobachtetes „Leitbild“280 des unternehmerischen Selbst in Wechselwirkung stehen mag, die aus theaterwissenschaftlicher Perspektive relevant werden, soll eine kurze Betrachtung aus der Feldforschung mit Reckwitz’ Konzept des gesellschaftlichen „Kreativitätsdispositivs“281 enggeführt werden: So strukturiert bisweilen neoliberale Logik Chicagoer Schule auch den Blick auf die Theaterlandschaft in Deutschland neu, dessen staatliche Subventionierung zunehmend nicht mehr als Kulturlandschaft, die sich eine wohlhabende, moderne Gesellschaft leisten können müsse, diskursiviert
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wird, sondern als etwas, das sich einhergehend mit Dekadenz- und Elitenvorwurf endlich nach britischem Vorbild den Regeln des deregulierenden Wirtschaftsliberalismus anpassen und sich selbst tragen solle. Unter dem Eindruck dieses Diskurses und in Wechselwirkung mit den Marktkrisen der ersten zwei Dekaden des 21. Jahrhunderts lässt sich so auch ein massiver Stellenabbau bzw. eine Unterfinanzierung von Projekten im Kultursektor verzeichnen. Applied Theatre lässt sich somit nicht zuletzt auch als ein Rückzugsort für Künstler beschreiben, die nach der wirtschaftsliberalen Marktlogik nun von sich aussagen können, der Gesellschaft konkret dienlich zu sein, indem sie eine Kunstform, die mitunter als brotlos oder schlimmer noch: dekadent elitär gelte, endlich der Deutungshoheit eines Zwecks – der Heilung, der Konfliktlösung, der Resozialisierung oder auch der Steigerung der Effizienz des Marktes – zugeführt haben. Hier ergibt sich ein synergetischer Effekt, den man ökonomisch auch als Win-Win- Situation bezeichnen könnte, denn der schlanke Staat, der diesen Bedarf schafft, in dem er auf der einen Seite Räume für Künstler nicht länger nur um ihrer Kunst willen fördert und ihnen gleichzeitig bei einer erfolglosen Phase auch keine bedingungslose Sozialhilfe zukommen lässt, zieht sich auf der anderen Seite auch aus anderen Feldern des sozialen Sektors zurück, dereguliert Arbeitsrecht und delegiert so Anteile seiner Aufgaben an die Kunst, an private soziale Initiativen und damit unter anderem auch an das Applied Theatre.282 In der Feldforschung ließ sich dies nicht zuletzt in den Interviews mit Seminarschauspielerinnen aus dem Bereich des Theaters in Unternehmen abbilden. In beinahe allen Gesprächen wurde explizit erwähnt, dass die Lage der Schauspielerin in den Finanzkrisen der letzten Dekade extrem prekär geworden sei und man zeitweilig nicht wusste, wovon die nächste Rechnung bezahlt werden sollte. Einkommen setzte sich gestückelt aus gelegentlichen, schlecht bezahlten Theater- und Fernsehauftritten, aus Statistenrollen und Synchronisierungen für Fernsehen und Computerspiele, aber auch aus fachfremden Gelegenheitsjobs, aus dem Call Center (!) und nicht bedingungslos gewährtem Arbeitslosengeld II zusammen, da das privilegiertere Arbeitslosengeld I aufgrund der Art der selbstständigen Beschäftigung nie bezogen werden kann. Das Los der Schauspielerin spiegelt hier auf unheimliche Weise das Los vieler anderer Kreativer und Geistesarbeiter, von der Filmkritikerin über die Comiczeichnerin, von der Musikerin bis hin zur Wissenschaftlerin jenseits der MINT-Fächer. Mit der Zusatzausbildung zur Seminarschauspielerin konnten die Befragten dann schlagartig ihre prekäre wirtschaftliche Situation extrem verbessern und gleichzeitig von sich selbst behaupten, ihr Ziel, als Schauspielerin zu leben und zu arbeiten, nicht aufgegeben zu haben.
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An dieser Stelle greift Bröcklings Dispositiv des unternehmerischen Selbst in das Kreativitätsdispositivmodell von Reckwitz wie ein Zahnrad ins andere. Denn diese Aussagen wieder auf einen breiteren Kontext applizierend, lässt sich die Beobachtung machen, dass jenes neoliberale Makrodispositiv, das Reckwitz in Die Erfindung der Kreativität als Kreativitätsdispositiv identifiziert, offenbar auch Dispositionen des Individualismus in seinem heterogenen Ensemble integriert hat, die es durchdringen und aktivieren kann, um sein zu formendes und in stetiger Formung begriffenes Subjekt anzuspornen, die erforderlichen Selbsttechnologien für den Konkurrenzkampf der Selbstoptimierung willentlich anzunehmen:283 Erziehung, Kultur und Popkultur des Individualismus284 legen diesem Subjekt quasi in die Wiege, dass jeder etwas Besonderes sei, alles erreichen könnte und das wichtigste Ziel im Leben, das Streben nach Glück, in der maximalen Individualisierung, im authentischen Selbstausdruck der Seele im Werk, im Selbstverständnis des Ichs als Künstler liege.285 Zur Phrase ist dabei, als ein Beispiel, geronnen, dass Berufsanfänger etwas mit Medien machen wollen, also beruflich ohne konkrete Vorstellung an die Kreativwirtschaft anzudocken versuchen, da man hier Heilsversprechen der Kreativität vermutet, die Handwerk, Verwaltung oder Facharbeit nicht verheißen können. Dies ist, Reckwitz folgend, das zum Rollenmodell avancierte Narrativ des Künstlergenies, stetige Transformationsprozesse zu durchlaufen und aus sich selbst heraus schöpferisch – kreativ – zu sein: Wenn es einen Wunsch gibt, der innerhalb der Gegenwartskultur die Grenzen des Verstehbaren sprengt, dann wäre es der, nicht kreativ sein zu wollen. Dies gilt für Individuen ebenso wie für Institutionen286, schreibt Reckwitz in der Einleitung seiner Analyse des gegenwärtigen Kreativitätsdiskurses in der ökonomischen Sphäre. Weiter bemerkt er: [N]icht kreativ sein zu wollen, kreative Potenziale bewusst ungenutzt zu lassen, gar nicht erst schöpferisch Neues aus sich hervorbringen oder zulassen zu wollen, erscheint als ein absurder Wunsch, so wie es zu anderen Zeiten die Absicht gewesen sein mag, nicht moralisch, nicht normal oder nicht autonom zu sein.287 Im heterogenen Ensemble des neoliberalen Makrodispositivs der Kreativität, in dem Individuen wie auch Unternehmen stetige Transformationsund kreative Optimierungsprozesse durchlaufen müssen und Aspekte der Künstleridentität zum neuen Leitbild erwählt wurden, kann somit bei den hervorgebrachten Subjekten auch eine Disposition beschrieben
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werden, die den Motivationsaspekt neoliberaler Subjektivierung zu erläutern hilft. „Nicht kreativ sein zu können ist eine problematische, aber eventuell zu heilende und mit geduldigem Training zu überwindende Schwäche“288, analysiert Reckwitz das Selbst- und Weltverhältnis in der Gegenwartskultur weiter und tangiert damit gleichsam den Gegenstand dieser Studie, die die Frage stellt, welchen Anteil das Theater an der Hervorbringung der neoliberalen Subjektivität leistet. Denn Heilung und Überwindung dieser Schwächen verspricht auch wiederum das Applied Theatre – sowohl in Form des Theaters in Unternehmen wie im Coaching, in der Therapie, in der Erwachsenenbildung, in der Schule. Privilegierte und prekäre Teilhabe: die neuen Dispositive Die von Foucault fokussierten Dispositive der Disziplin des Panoptismus in Gefängnis, Kaserne, Hospital oder Werkstatt hatten und haben – so wurde vorangehend dargelegt – Vergleichsmomente zum Theater der Selektion im Auswahlprozess für Offiziere, Managerinnen, angehende Ärztinnen oder Bewerberinnen im Unternehmen. Beide Typen involvieren, dass das Subjekt unter einem machtvollen Blick in Erscheinung tritt. Beide Dispositivarten formen, indem sie einen Ist- mit einem Soll-Zustand ins Verhältnis setzen, eine Gemeinschaft. Im Blickregime beider wird zunächst angenommen, das Subjekt auf der Bühne spiele lediglich eine Rolle vor, an die es nicht glaubt. Erst wenn die Rolle von der Macht als selbstidentisch akzeptiert wurde, ist der Delinquent rehabilitiert oder die Mitarbeiterin eingestellt. Die Beispiele des Panoptismus sind zunächst Ausdruck der Gouvernementalität der Disziplinargesellschaften und der Regierungstechnologien der westeuropäischen Staaten des 18., 19. und beginnenden 20. Jahrhunderts in Wechselbeziehung zu ihrer Justiz, ihrem Gesundheitswesen, ihrer Ökonomie, ihres Militärs etc. – eine Beschreibung des Übergangs von den Souveränitätsgesellschaften zu den Disziplinargesellschaften.289 Deleuze nun zeichnet nach, wie die Disziplinargesellschaften von den Kontrollgesellschaften abgelöst und das Modell des Unternehmens darin zum Paradigma ihrer dispositiven Struktur wird.290 Und so lässt sich ein wesentlicher Unterschied zwischen den Dispositiven der Disziplin und den neoliberalen Dispositiven privilegierter Teilhabe der Kontrollgesellschaften identifizieren: Denn mit den Mesodispositiven der Institutionen der Disziplinargesellschaften ging, so Deleuze, auch einher, dass sie ihre Subjekte nicht mehr losließen, sondern lediglich von der Wiege bis zur Bahre weiterreichten.291 In den historischen Beispielen verbleibt man bis zur Resozialisierung oder Heilung im Gefängnis oder im Hospital. Auch der Kaserne kann man nicht ohne Strafe entkommen. Der
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Werdegang, das Leben, die Vita eines Menschen lässt sich als Durchlaufen der verschiedenen, formenden Institutionen beschreiben – aus der Familie, in die Schule, in die Kaserne, in die Fabrik etwa.292 Liegt die Keimzelle des hier zum Gegenstand gewordenen Mikrodis positivs des Assessment Centers, wie der historische Abriss zu den heerespsychologischen Auswahlverfahren im ersten Kapitel gezeigt hat, zwar noch in einer Disziplinargesellschaft der Monarchie des Deutschen Kaiserreichs, so doch innerhalb eines Kriegs, der als Materialschlacht seiner Prägung nach gerade ein Krieg der Warenproduktion und der Effizienz der Unternehmen dahinter war. Dass Offiziere, ihrem Verschleiß folgend, hier nicht mehr länger nach Stand, sondern nach Kompetenz erwählt werden mussten, ist dabei Symptom einer urgence des Umbruchs in einen neuen Machttypus. Gänzlich zur Ausprägung und Verbreitung kommt das System der theatralen Eignungsprüfungen und Auswahlverfahren aber erst parallel zum Diskurs des Neoliberalismus der Chicagoer Schule nach dem Zweiten Weltkrieg. Situiert im historisch relativ jungen Staatenbund USA, der seiner ganzen Ausprägung nach nie einen mit der Gesellschaft und der Macht verflochtenen Adelsstand hatte, den es zu überwinden galt. Als einen wesentlichen Unterschied zu den Dispositiven der Disziplinargesellschaften mag man bei den hier fokussierten, sich im Neoliberalismus ausgebildeten Dispositiven beobachten, dass sie – nicht zum Guten – ihre Adressaten eben auch nicht zwangsläufig weiter einzuspannen suchen. Damit geht einher, dass der Staat im Zuge der Deregulierung auch nicht in derselben Weise Anteil an den machtvollen Teilelementen ihrer heterogenen Ensembles hat. Sie bewerten, formen und selektieren ihre Gemeinschaft unablässig – allerdings, wer nicht erwählt wird oder aber ausgesondert wurde, von dem wird, anders als in den Disziplinargesellschaften, abgelassen. Darin besteht die neue Qualität dieses Machttypus – die Dispositive wählen sich ihre Gesellschaft quasi selbst und rücken so auf bedenkliche Weise den Gesellschaftsbegriff wieder in die Nähe des homogeneren und damit implizit auch exkludierenden Gemeinschaftsbegriffs. Sie selektieren zur Selbstoptimierung des Systems die scheinbar Geeignetsten zur privilegierten Teilhabe und übergeben die anderen zurück an die immer noch installierten Dispositive der Disziplin des Staats, wo er noch regulieren soll, zurück an die Kontrollmaschinerien der Arbeitslosen- und Sozialhilfe oder in die Bereiche prekärer Arbeit, die ebenfalls eher von den Dispositiven vom Machtypus der Disziplin strukturiert werden. Im schlimmsten Fall, der Obdachlosigkeit in den USA etwa, werden Subjekte gar unsichtbar für diese Art von Maschinen. Zum Machtgeflecht der Mikrodispositive der Assessment und Development Center gehört somit auch, dass der Einzelne zur Teilhabe in die
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Gemeinschaft erwählt werden will und mit diesem Wunsch auch gänzlich scheitern kann. Verheißung und Drohung verschränken zu können, so erläutert Bröckling, darauf beruhe die Attraktivität dieser Dispositive.293 Innerhalb der privilegierten Teilhabe wiederum droht als korrespondierendes Damoklesschwert die Aussonderung. Ein exemplarisches mikrodispositives Modell der Macht aus dem Bereich des „Total Quality Management“294, das „360°-Feedback“295, beschreibt Bröckling dabei explizit als neuen, neoliberalen Machttypus, als „demokratisiertes Panopticon“296. Hier haben sich die Selbsttechnologien innerhalb der Unternehmen derart ausgeprägt, dass jeder zugleich als Wärter im Turm und als Delinquent fungiert. Ein „nicht-hierarchisches Modell reziproker Sichtbarkeit“297, zugleich ein sich selbst perpetuierender Prozess stetiger Kontrolle und Optimierung mit niemals endenden Aufführungen und Bewertungen der eigenen wie der ‚Performance‘ des anderen.298 Dies korrespondiert mit den Beobachtungen der Künstlerin Marianne Flotron, die im Rahmen der Tagung Unfreiwillige Spiele des Forschungsprojekts The Aesthetics of Applied Theatre im Sommer 2015 im Publikumsgespräch aussagte, dass sie in einem Projekt, das mit Boal’schen Mitteln versuchte, verdeckte repressive Machtstrukturen im Unternehmen aufzudecken, durchaus überrascht feststellte, dass hier offenbar eine Struktur vorherrschte, in der jeder sich selbst unterdrückte und damit zugleich – wie ein passiv-aggressives Verhaltensmodell – Druck auf andere ausübte, während gleichsam alle sich gegenseitig im Blick hatten und zu kontrollieren schienen.299 Nach Aussage der Künstlerin war es extrem schwer, die repressiven Machtstrukturen überhaupt noch zu thematisieren und zu bearbeiten, da sie keine externen Faktoren, sondern als vollkommen internalisierte, psychische Verfasstheiten der Persönlichkeitsstrukturen in Erscheinung traten – ein Szenario einer dystopischen Gemeinschaft wie aus einem Science-Fiction-Setting, zugleich auch das Bild, das Losmanns Film Work Hard – Play Hard von diesen Arbeitsumgebungen zeichnet:300 Die architektonische Entsprechung des ‚demokratisierten Panopticons‘ findet sich in Losmanns Film an den Stellen wieder, in denen von den Architekten und dem Management der neuen Unilever-Zentrale das Konzept der vollkommenen Transparenz erläutert wird: Es gibt keine Individualisierung an den Arbeitsplätzen mehr, Türen wie Wände bestehen aus Glas, jeder hat jederzeit Einblick auf den Habitus des anderen – der Glaskasten der privilegierten Teilhabe als konditionierende Skinnerbox –, jeder ist Zuschauer, jeder ist Akteur, alle arbeiten mit unterschiedlich machtvoller Involvierung am gemeinsamen Phantasma von Corporate Identity wie die Mitspieler im immersiven Theater. Die dominanten neoliberalen Dispositive der Kreativität, des Projekts wie des unternehmerischen Selbst scheinen dabei die paradoxe Figur einer Uniformierung der
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Individualisierung hervorzubringen.301 Eva Horn setzt dies prägnant mit dem theatralen Setting in Beziehung, wenn sie schreibt: Das Rollenspiel soll lehren, jede Position einzunehmen, jede Strategie verfolgen und jede Situation meistern zu können – und es soll zugleich eine hochdynamische, kommunikative und kooperative Normalpersönlichkeit einschreiben. […] Geht es dem Test in seiner Differenzierung der Aspekte um die Konstruktion eines Individuums als unverwechselbare Kombination von Eigenschaften, so geht es dem Theater um den Ausweis der unendlichen Wandelbarkeit des arbeitenden Subjekts und seines für die Zukunft offenen Potentials.302 Eine Entsprechung des Subjektivationsmodells des demokratisierten Pan opticons findet sich bezeichnenderweise in der existentialistischen Hölle aus Jean-Paul Sartres Geschlossene Gesellschaft: Die Bestrafung im Jenseits besteht nicht mehr länger aus Pfählen und Ledertrichtern, sondern aus stetiger gegenseitiger Beobachtung und Bewertung. Sartre zielte selbstredend nie auf ein Jenseitsmodell ab, es war ihm lediglich Metapher für die profanen Höllen des Diesseits.303 Das Fegefeuer Boltanskis Es ist Luc Boltanski, der treffend das strukturierende Makrodispositiv beschreibt, wenn er den gegenwärtigen Zustand der westlichen Gesellschaften im Übergang vom Neoliberalismus einer sozialen Marktwirtschaft ordoliberaler Ausrichtung zum entfesselten, globalen Marktliberalismus Chicagoer Prägung als den Limbus, als die Vorhölle des Wartens charakterisiert. Das ständige Einspannen des Selbst in die Mühlen der Selbstoptimierung geht immer mit der Drohung der Selektion einher, mit den bereits Schlange stehenden, ebenso kompetenten Mitbewerbern auf dieselbe Position oder auch nur bezahlbare Wohnung, mit den Schauergeschichten von vierhundert eingehenden Bewerbungen auf eine schlecht vergütete, befristete Stelle im Kulturmanagement, die aber zumindest in dem Bereich angesiedelt ist, in dem man sich vorgestellt hatte zu arbeiten, mit den existentiellen Zwängen und kafkaesken Mühlen der Arbeitslosen- und Sozialhilfegesetzgebung, die den Einzelnen in den Limbus des Wartens, in den Zustand zwischen zwei Projekten, in den Standby- Modus zurückverbannen. Die Bewohner dieser Vorhölle warten sehnlich darauf, dass der Blick der Macht sie endlich in ihrer wahren Gestalt, in ihren Kompetenzen erkennt und errettet: „Die meisten von ihnen“, so Boltanski, „glauben, dass die Selektion, sofern sie für sie günstig ausfällt, ihnen einen besseren Status verschafft und ihnen den Weg zu einer glück-
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licheren Existenz ebnet.“304 Bröckling erläutert den Richterspruch hinter dieser profanen Vorhölle: Wenn jeder erreichen kann, was er will, haben es jene, die auf der Strecke bleiben, nicht besser gewollt (und folglich ihr Schicksal verdient). – Um Hegel zu variieren: Der Weltmarkt ist das Weltgericht.305 Offenbar, so suggeriert es die ganze, sich an dieser Agonie nährende Branche der Persönlichkeits-Coaches, der Schauspieltrainer für den Auftritt in der Wirklichkeit und die daran anknüpfende Ratgeberliteratur, fehlt den vom neoliberalen Kapitalismus Verlassenen lediglich der authentische Ausdruck ihrer inneren Fähigkeiten, die richtige Performanz ihrer Kompetenzen, um selektioniert zu werden. Der Theaterwissenschaftler Michael Lorber denkt diese säkulare Hölle Boltanskis elegant mit der Notwendigkeit des permanenten freiwilligen oder unfreiwilligen, existentialistischen Spielens, mit der Performanz vor dem Blick der Macht zusammen.306 In der hier vorliegenden Studie wurde aufgezeigt, dass nicht zuletzt ein explizit Theater zu nennendes Arrangement zu einem zentralen Instrument dieser Selektion der Menschen nach der – so Lorber – „neoliberalen Logik von brauchbar und überflüssig“307 avanciert ist. Boltanskis makrodispositive Vorhölle ist selbst ein Theater – eben das titelgebende Theater der Selektion. So formt sich das hoffende Individuum in den Selbsttechnologien zum neoliberalen Rollenmodell des Schauspielers mit den in der jeweiligen Branche gewünschten Zusatzqualifikationen, um vom Theater der Selektion erwählt zu werden. „Als künstlich inszeniertes Leistungs- und Bewertungsszenario“, so schreiben die Persönlichkeitspsychologen Lothar Laux, Karl-Heinz Renner und Astrid Schütz im Rahmen ihrer interdisziplinären Theatralitätsforschung, könne das Assessment Center als Paradebeispiel für unsere Kultur der Inszenierung gelten.308 Und so avanciert das Mikrodispositiv Assessment Center in der Immanenz mit dem Mesodispositiv der Theatralität im Unternehmensalltag zu einer Konstellation mit weit größerer Tragweite als einer bloßen, in sich geschlossenen, einzelnen Aufführung als mikrodispositivem Analyseinstrument: Sein Geist und Gestus wirken über das institutionelle Mesodispositiv ins Makrodispositiv zurück und avancieren – Bröckling folgend – zu einer theatral hervorgebrachten conditio humana: Dem inneren Wir-Gefühl entspricht eine kohärente Präsentation nach außen. Für den Unternehmer seiner selbst hat es nichts Anrüchiges, „sich gut zu verkaufen“, im Gegenteil: Genau daraus bezieht er sein
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Selbstwertgefühl. Er führt sein Leben als permanentes Assessment Center und weiß, dass es nicht reicht, Kompetenzen vorzuweisen, sondern vor allem darauf ankommt, diese zugleich als authentischen Ausdruck der eigenen Persönlichkeit erscheinen zu lassen. Als bloßes Rollenspiel würde das Selbstmarketing seine Wirkung verfehlen; der Einzelne muss sein, was er darstellen will.309 Applied Theatre ist eben nicht einfach eine Gattung von Theater, die statt der Kunst das Soziale zum Ziel hat, Assessment-Center-Prozesse nicht bloß manageriale Tools zur Personalauswahl, Theatralität nicht nur die Spur des Theaterhaften in performativ hervorgebrachter Kultur. Den vorangehenden Analysen folgend bilden sie in Immanenz eine makrodispositive Struktur aus. Mit der titelgebenden Theaterform war nicht lediglich die Aufführung einer spezifischen Form von Rollenspiel gemeint: Das Theater der Selektion ist ein neoliberaler Machttypus der Gegenwart.
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5 Spuren des Makrodispositivs 1 Vgl. Fischer-Lichte: Ästhetik des Performativen, S. 47. 2 Von „privilegierter Teilhabe“ soll hier gesprochen werden, da es natürlich weitverbreitet Einstellungsverfahren ohne Assessment-Center-Prozess gibt – relevant werden diese Mechanismen vermehrt (aber auch nicht ausschließlich) in gehobenen Positionen. Dem gegenüber mag die „prekäre Teilhabe“ stehen, was aber nicht zu einem verkürzten, rein dualistischen Modell hochstilisiert werden kann – es gäbe hier noch immer viele Zwischenpositionen zu benennen, sowohl Führungskräfte, die ohne Assessment Center auf ihre Position gelangen, als auch Mitarbeiterinnen in der prekären Teilhabe des Dienstleistungsprekariats, die theatral in Development Centern geschult werden. 3 Vgl. Goffman. 4 Vgl. Fischer-Lichte: Ästhetik des Performativen, S. 42. 5 Vgl. ebd., S. 49. 6 Vgl. ebd., S. 53. 7 Vgl. ebd., S. 332f. 8 Ebd. 9 Lehmann, Hans-Thies: Postdramatisches Theater, Frankfurt a. M. 2005, S. 13f. (im Folgenden zitiert als: Lehmann). 10 Vgl. Fischer-Lichte: „Aufführung“, S. 22ff. 11 Vgl. Fischer-Lichte: Ästhetik des Performativen, S. 42. 12 Vgl. Fischer-Lichte: „Performativität/performativ“, S. 241. 13 Vgl. Warstat u. a.: Theater als Intervention, S. 7f. Diese Beobachtung wird auch den hier verwendeten Dispositivbegriff von dem des DFG-Projekts Theater als Dispositiv abgrenzen, der parallel zu dieser Studie entwickelt und in dem Sammelband Theater als Dispositiv aus dem Jahr 2017 konkretisiert wurde. Sehr deutlich wird hier die Fokussierung des Projekts auf das Kunsttheater und die Auffassung der Theaterwissenschaft als Kunstwissenschaft dargelegt, vgl. Aggermann: S. 7 u. 10. 14 Lemke, Krasmann, Bröckling: S. 8. 15 Vgl. Warstat u. a.: Theater als Intervention, S. 140f. 16 Vgl. ebd., S. 20f. 17 Ohne an dieser Stelle behaupten zu wollen, es gäbe Standardverfahren. Aufführungsanalytische Methoden sind sehr heterogen und werden oft auch interdisziplinär auf ihren Gegenstand hin justiert. 18 Vgl. Warstat u. a.: „Einleitung“, S. 14f. 19 Ebd., S. 14. 20 Vgl. ebd., S. 14f. 21 Es ist Foucault, der mit dem „heterogenen Ensemble“ das Netz der Systemstruktur der Teilelemente des Dispositivs beschreibt, zwischen denen sich Macht entfaltet, die auf Subjekte einwirkt, vgl. Foucault: Dispositive der Macht, S. 119. 22 Dass eine noch zu entwickelnde Form der theaterwissenschaftlichen Dispositivanalyse der Komplexität eines Applied-Theatre-Projekts eher gerecht werden mag, als andere methodologische Ansätze von Aufführungsanalysen, hielt das Projekt The Aesthetics of Applied Theatre nicht zuletzt unter dem Eindruck der Erstellung der hier vorliegenden Studie bereits in seiner ersten Kollektivpublikation fest. Vgl. Warstat u. a.: Theater als Intervention, S. 154. Aktuell muss zudem darauf verwiesen werden, dass das DFG-Forschungsprojekt Theater als Dispositiv offenbar zu ganz ähnlichen Ergebnissen in Bezug auf das Kunsttheater gekommen ist, so dass Lorenz Aggermann ebenfalls die zentrale Stellung der Aufführung in der Analyse von Theater mittels des Dispositivbegriffs kritisch befragt, vgl. Aggermann: S. 10f. 23 Neben der Tatsache, dass Foucault selbst in Überwachen und Strafen eine Theatermetapher bedient, wenn er die Funktionsweise des Panopticons beschreibt, fällt der Begriff durchaus bisweilen als Randnotiz in der Theatertheorie. Konkreter verflechten die Arbeiten André Eiermanns, Birgit Wiens und vor allem diejenigen des DFG-Forschungsprojekts Theater als Dispositiv die Theaterwissenschaft mit dem Foucault’schen Konzept, vgl. Aggermann, Döcker, Siegmund; Eiermann, André: „Aspekte des Scheins im Dispositiv der Aufführung“, in: Aggermann, Döcker, Siegmund, S. 179–196 (im Folgenden zitiert als: Eiermann) sowie Wiens, Birgit: „Vom Bild- zum Raumdiskurs – Szenographie als Dispositiv“, Unterkapitel in: dies.: Intermediale Szenographie. Raum-Ästhetiken des Theaters am Beginn des 21. Jahrhunderts, München 2014, S. 74–86.
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Theatrale Dispositive 24 Vgl. Foucault: Überwachen und Strafen, S. 257. 25 Vgl. Deleuze: Foucault, S. 60f. 26 Vgl. ebd. 27 www.wirtschaftslexikon.co/d/mesoebene/mesoebene.htm (zuletzt aufgerufen am 23. September 2017) 28 Vgl. ebd. 29 Deleuze: Foucault, S. 58. 30 Vgl. Stauff: S. 145. 31 Ebd., S. 156. 32 Ebd., S. 138. 33 Vgl. Aggermann: S. 11 und die Definition aus dem PONS-Sprachlexikon Deutsch-Französisch: de.pons.com/%C3%BCbersetzung?q=dispositif&l=defr&in=ac_fr&lf=de (zuletzt aufgerufen am 6. August 2017). 34 Vgl. Foucault, Michel: „Das Dispositiv“, Unterkapitel in: ders.: Dispositive der Macht, S. 119–125 sowie Agamben: S. 9 u. 23f. 35 Vgl. ebd. 36 Deleuze: Lust und Begehren, S. 18. 37 Vgl. Foucault: Dispositive der Macht, S. 132. 38 Vgl. ebd., S. 119f. 39 Deleuze: Foucault, S. 52. 40 Ebd., S. 59. 41 Vgl. ebd., S. 52, 55f. u. 59f. 42 Baudry: „Ideological Effects of the Basic Cinematographic Apparatus“. 43 Stauff: S. 161. 44 Vgl. ebd., S. 156 sowie Rosen, Philip: „Part Three: Apparatus. Introduction“, in: ders. (Hg.): Narrative, Apparatus, Ideology. A Film Theorie Reader, New York 1986, S. 279–285, hier S. 284 (im Folgenden zitiert als: Rosen). 45 Vgl. Stauff: S. 156. 46 Vgl. ebd., S. 151ff. Nicht zuletzt kann hier Stauffs Arbeit selbst als ausführliche Abhandlung genannt werden, die fruchtbar Dispositiv- und Apparatusbegriff innerhalb von Medien- und Filmwissenschaft in Beziehung setzt. 47 Vgl. Foucault: Dispositive der Macht, S. 121f. 48 Ebd., S. 122. 49 Vgl. Ebd., S. 120 und Reckwitz: S. 50. 50 Foucault: Dispositive der Macht, S. 132. 51 Lemke, Krasmann, Bröckling: S. 23. 52 Vgl. Foucault: Dispositive der Macht, S. 120. 53 Ebd., S. 132f. 54 Vgl. Foucault: Überwachen und Strafen, S. 257. 55 Vgl. ebd., S. 256ff. 56 Vgl. ebd., S. 265ff. 57 Für eine umfassendere Aufstellung der Verwendung des Wissenschaftsbegriffs wie der Analysemethodik vgl. Bührmann, Schneider: S. 9–15. 58 Vgl. Foucault: Überwachen und Strafen, S. 256ff. und Butler: Psyche der Macht, S. 81f. 59 Foucault: Überwachen und Strafen, S. 257. 60 Vgl. hierzu auch Horn S. 123 und Ulrich Bröcklings Bild des „demokratisierten Panopticons“ in Bezug auf das 360-Grad-Feedback des Quality Managements, Bröckling: Das unternehmerische Selbst, S. 236. 61 Vgl. Rosen: S. 281. 62 Vgl. Foucault: Überwachen und Strafen, S. 265ff. und Deleuze: Lust und Begehren, S. 15f. 63 Deleuze: Foucault, S. 52.
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5 Spuren des Makrodispositivs 64 Ebd., S. 61. 65 Ebd., S. 59f. 66 Deleuze: Lust und Begehren, S. 17ff. 67 Vgl. Stauff: S. 144. 68 Deleuze: Lust und Begehren, S. 17f. 69 Ebd., S. 18. 70 Vgl. Foucault: Überwachen und Strafen, S. 269ff. 71 Vgl. Deleuze: Foucault, S. 59f. 72 Ebd., S. 60f. 73 Ebd., S. 61. 74 Deleuze: Lust und Begehren, S. 18. 75 Ebd., S. 16. 76 Ebd., S. 28. 77 Der Begriff ist ein hier verwendeter Neologismus, der sich aus dem Dispositivbegriff und dem Begriff der „Mesoebene“ aus der Wirtschaftssoziologie zusammensetzt. Vgl. www.wirtschaftslexikon.co/d/mesoebene/mesoebene.htm (zuletzt aufgerufen am 23. September 2017). 78 Deleuze: Lust und Begehren, S. 15. 79 Vgl. Fischer-Lichte: Semiotik des Theaters, S. 7f. und Warstat: „Theatralität“, S. 361f. 80 Foucault: Überwachen und Strafen, S. 257. 81 Vgl. Eiermann: S. 185f. 82 Aggermann: S. 12. 83 Rosen: S. 281f. 84 Vgl. für den Einfluss der Dispositivanalyse auf die Filmwissenschaft etwa die Grundlagentexte der Apparatustheorie, in der wiederum der englische Terminus apparatus mit dispositif in eins gesetzt werden muss: Baudry, Jean-Louis: „The Apparatus: Metapsychological Approaches to the Impression of Reality in Cinema“, in: Rosen, Philip (Hg.): Narrative, Apparatus, Ideology. A Film Theorie Reader, New York 1986, S. 299–318, hier S. 317, Endnote 2 und Rosen: S. 284. 85 Stauff: S. 145. 86 Ebd., S. 135. 87 Vgl. ebd., S. 144. 88 Vgl. Baudry: „Ideological Effects of the Basic Cinematographic Apparatus“, S. 286ff. 89 Vgl. ebd., S. 286. 90 Vgl. Rosen: S. 281f. 91 Vgl. Stauff: S. 157. 92 Vgl. Rosen: S. 282f. und Stauff: S. 161. 93 Vgl. Baudry: „Ideological Effects of the Basic Cinematographic Apparatus“, S. 286. 94 „Insofern das Soziale selbst maschinell oder technisch operiert, kann auch der Apparat Kino sich an andere gesellschaftliche Prozesse ankoppeln und in der (bzw. für die) Gesellschaft systematisch und strategisch produktiv werden.“ Stauff: S. 158. 95 Vgl. de Lauretis, Teresa: „Through the Looking-Glass“, in: Rosen, Philip (Hg.): Narrative, Apparatus, Ideology. A Film Theorie Reader, New York 1986, S. 360–373, hier S. 360f. 96 Althusser, Louis: Ideologie und ideologische Staatsapparate, Hamburg 2010, S. 88 (im Folgenden zitiert als: Althusser). 97 Vgl. Stauff: S. 156. 98 Althusser: S. 53ff. 99 Vgl. ebd., S. 54. 100 Vgl. ebd., S. 82. 101 Vgl. ebd., S. 84ff. 102 Vgl. Butler: Psyche der Macht, S. 7 und Bröckling: Das unternehmerische Selbst, S. 20f. 103 Agamben: S. 24.
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Theatrale Dispositive 104 Ebd., S. 27. 105 Althusser: S. 88. 106 Vgl. Butler: Psyche der Macht, S. 8. 107 Vgl. Rosen: S. 284. 108 Vgl. zur Verschränkung von Dispositivkonzept und Psychoanalyse in der Filmwissenschaft das Unterkapitel „Der traumproduzierende Apparat“ in: Kappelhoff, Hermann: Matrix der Gefühle. Das Kino das Melodrama und das Theater der Empfindsamkeit, Berlin 2004, S. 280–284. 109 Vgl. Kappelhoff, Hermann: Realismus: Das Kino und die Politik des Ästhetischen, Berlin 2008, S. 13ff. Auch die Kognitivisten unter den Filmtheoretikern um David Bordwell lehnen die Idee der passiven Zuschauerin ab, anders als Rancière allerdings bewegen sie sich auch nicht im poststrukturalistischen Diskurs, der Antworten auf die Apparatus-Debatte geben will. 110 Vgl. Rothe: S. 70. 111 Vgl. Agamben: S. 36. 112 Vgl. Lemke, Krasmann, Bröckling: S. 29. 113 Foucault: Dispositive der Macht, S. 119. 114 Vgl. Agamben: S. 23f. 115 Butler: Psyche der Macht, S. 8. 116 Vgl. ebd. 117 Ulrich Bröckling erläutert diese Konstellation bezogen auf das Foucault’sche Subjektivierungsmodell im Unterkapitel „Paradoxien des Selbst“, vgl. Bröckling: Das unternehmerische Selbst, S. 19ff. 118 Vgl. Foucault: Dispositive der Macht, S 121. 119 Vgl. ebd., S. 132ff. 120 Vgl. Foucault: Überwachen und Strafen, S. 268. 121 Vgl. Stauff: S. 144. 122 Vgl. Reckwitz: S. 20. 123 Vgl. Deleuze Foucault, S. 60f. und Deleuze: Lust und Begehren, S. 17f. 124 Vgl. Deleuze: Lust und Begehren, S. 15. 125 Vgl. Deleuze: Foucault, S. 61. 126 Vgl. Warstat u. a.: „Einleitung“, S. 14ff. Inwiefern diese Sicht auf ästhetische Dispositive sich mit Rancières Konzept der Aufteilung des Sinnlichen deckt, kann in dieser Studie aus Gründen der Begrenzung nicht mehr ausgeführt werden. 127 Vgl. Foucault: Dispositive der Macht, S. 120. 128 Vgl. Foucault: Überwachen und Strafen, S. 258 und Butler: Psyche der Macht, S. 81. 129 Vgl. Zoller, Maxa: „The Cinematic Body. Das Britische Expanded Cinema damals … und heute (?)“, in: Haberer, Lilian/Urban, Anette (Hg.): Bildprojektionen. Filmisch-fotografische Dispositive in Kunst und Architektur, Bielefeld 2016, S. 209–224, hier S. 209f. (im Folgenden zitiert als: Zoller). 130 McCall, Anthony: Line Describing a Cone, 1973, 31 Minuten. In einer Kopie der Freunde der Deutschen Kinemathek e. V. aufgeführt am 13. Dezember 2005 im Institut für Theaterwissenschaft an der Freien Universität Berlin. 131 Vgl. Zoller: S. 209f. 132 Vgl. Lorber: S. 40f. 133 Vgl. ebd., S. 41. 134 Warstat: „Theatralität“, S. 363f. 135 Warstat: Krise und Heilung, S. 25. 136 Ebd., S. 62. 137 Wehrpsychologe Kurt Hesse 1939, zitiert nach Rothe: S. 64. 138 Vgl. Warstat u. a.: „Einleitung“, S. 17. 139 Zu einem ähnlichen Effekt des immersiven Theaters vgl. Harvie: S. 60. 140 Vgl. Harvie: S. 60.
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5 Spuren des Makrodispositivs 141 Czirak: Partizipation der Blicke, S. 197. 142 Ebd. 143 Ebd. 144 Vgl. ebd., S. 61. 145 Vgl. ebd., S. 197. 146 Vgl. Aggermann: S. 7 u. 10. 147 Vgl. ebd., S. 8f. 148 Vgl. ebd., S. 10. 149 Gesellschaft und Körper können als System beschrieben werden – beschreibt der Soziologe aber Körper in seinen Ausführungen zur sozialen Interaktion von Individuen nicht als System, so bedeutet dies nicht, dass sie keine Systeme darstellen können, sondern dass der Fokus des Forschers nicht darauf liegt, da ihn andere Verhältnisse interessieren. 150 Aggermann: S. 22f. 151 Ebd., S. 18f. 152 Siegmund: „Theater als ästhetisches Dispositiv“. 153 Ebd. 154 Lemke, Krasmann, Bröckling: S. 8. 155 Warstat u. a.: „Einleitung“, S. 15. 156 Vgl. Aggermann: S. 10. 157 Lehmann: S. 361. 158 Laux, Renner, Schütz: „Theatralität, Körpersprache und Persönlichkeit“, S. 242f. 159 Bröckling: Das unternehmerische Selbst, S. 46. 160 Vgl. Reckwitz: S. 321. 161 Vgl. Fischer-Lichte: „Verkörperung/Embodiment, S. 11. 162 Vgl. Warstat, Matthias: Soziale Theatralität. Die theatrale Konstitution der Gesellschaft, München 2018, S. 140 (im Folgenden zitiert als: Warstat: Soziale Theatralität). 163 Vgl. dazu die Ausführungen des Wechselspiels von Dramaturgie und Kontingenz im Applied Theatre: Warstat u. a.: Theater als Intervention, S. 29. 164 Deleuze: Foucault, S. 60. 165 Vgl. Warstat u. a.: Theater als Intervention, S. 11 und Warstat u. a.: „Einleitung“, S. 16f. 166 Vgl. Foucault: Dispositive der Macht, S. 121. 167 Vgl. Aggermann: S. 10. 168 Fischer-Lichte: „Theatralität als Kulturelles Modell“, S. 8. 169 Hochschild: S. 66. 170 Hochschild attestiert Goffmans Beobachtungen der Selbstdarstellung explizit das Fehlen einer tragenden Struktur der institutionellen Ebene, vgl. ebd., S. 171. 171 Ebd., S. 66. 172 Vgl. Warstat: „Theatralität“, S. 359. Theatralität als Mesodispositiv zu fassen scheint dabei durchaus eine Verwandtschaft mit Rudolf Münz’ Konzept von sogenannten Theatralitätsgefügen aufzuweisen, vgl. ebd., S. 361f. Eine Engführung dieses Konzepts von Münz und dem Dispositivbegriff für gesamtgesellschaftliche Zusammenhänge explizit nachzuzeichnen, muss jedoch in notwendiger Begrenzung an anderer Stelle geschehen. Hier soll es vornehmlich um die Sphäre der Wirtschaft gehen und während Münz’ theaterhistorische Studie zur Theatralität im Mittelalter keine Analysen selbst begleiteter Beispiele beinhalten kann, privilegieren Goffmans auf Feldforschung fußende Beobachtungen die Selbstdarstellung auf der Arbeit. 173 Rothe: S. 70. 174 Vgl. Laux, Renner, Schütz: „Theatralität, Körpersprache und Persönlichkeit“, S. 241. 175 Vgl. Hüttler: S. 107. 176 Vgl. Goffman: S. 218–220. 177 Vgl. Bröckling: Das unternehmerische Selbst, S. 42–44. 178 Ebd., S. 44. 179 Vgl. Laux, Renner, Schütz: „Theatralität, Körpersprache und Persönlichkeit“, S. 241.
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Theatrale Dispositive 180 Goffman: S. 20. 181 Aus arbeits- und datenschutzrechtlichen Gründen geändert. 182 Auch dieser Punkt musste aus datenschutzrechtlichen Gründen abgeändert werden, allein, der Autor versichert, dass der Originaltitel ebenso unverbunden zum Thema, naturnah sowie unfreiwillig komisch und zugleich naiv klang. 183 Vgl. Warstat: „Theatralität“, S. 359. 184 Vgl. Goffman: S. 232. 185 Vgl. Warstat: „Theatralität“, S. 359. 186 Vgl. Warstat: Soziale Theatralität, S. 132f. 187 Vgl. ebd. 188 Goffman: S. 232. 189 Ebd. 190 Vgl. ebd. 191 Vgl. ebd. 192 Vgl. ebd., S. 67. 193 Vgl. Byham: „Application of the Assessment Center Method“, S. 32f. 194 Goffman: S. 19. 195 Ebd. 196 Vgl. ebd. 197 Vgl. ebd. 198 Ebd. 199 Ebd. 200 Ebd. 201 Ebd. 202 Vgl. ebd. 203 Goffmans Theorie findet eben explizit Anwendung in den Bereichen des Unternehmenstheaters, vgl. Hüttler: S. 107. 204 Goffman: S. 19. 205 Vgl. Warstat: Soziale Theatralität, S. 139f. 206 Vgl. ebd, S. 42. 207 Vgl. Goffman: S. 20. 208 Ebd. 209 Vgl. ebd. 210 Ebd., S. 80ff. 211 Vgl. Hochschild: S. 29f. 212 Wendung geht zurück auf: S. T., Nachwuchsführungskraft, Second Level Manager, Call Center Outsourcing AG, im Interview mit dem Autor am 12. April 2015. 213 Ebd. 214 Ebd. 215 Ebd. Auch Jen Harvie berichtet von Call-Center-Agentinnen, die ihre indische Identität für britische Anrufer ihrer Service-Nummer verschleiern müssen, vgl. Harvie: S. 48. 216 Vgl. Hochschild: S. 99ff. 217 Die Beobachtung fand dabei statt, bevor das entscheidende, regulierende politische Steuerungselement des Mindestlohns in Deutschland in Kraft trat. 218 S. T., Nachwuchsführungskraft, Second Level Manager, Call Center Outsourcing AG, im Interview mit dem Autor am 12. April 2015. 219 Ebd. 220 Bröckling: Das unternehmerische Selbst, S. 236. 221 Vgl. Goffman: S. 20f. 222 Vgl. ebd., S. 21. 223 Ebd.
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5 Spuren des Makrodispositivs 224 Ebd. 225 Ebd., S. 100. 226 Ebd., S. 104. 227 Ebd., S. 21. 228 Ebd. 229 Vgl. Foucault: Überwachen und Strafen, S. 292. 230 Vgl. Deleuze: Foucault, S. 51. 231 Bröckling: Das unternehmerische Selbst, S. 67. 232 Vgl. ebd., S. 283. 233 Warstat, u. a.: Theater als Intervention, S. 8. 234 Laux, Renner: „Theater als Modell für die Persönlichkeitspsychologie“, S. 99. 235 Vgl. ebd., S. 99f. 236 Vgl. Aggermann: S. 10. 237 Beleuchten mag diese makrodispositive Normierung etwa Reckwitz’ Erläuterung des Antagonismus von „Kulturalisierungsmodell I“, das vom Kreativitätsdispositiv geprägt ist, und „Kulturalisierungsmodell II“, das man als reaktionär in Bezug auf das „Kulturalisierungsmodell I“ beschreiben könnte und dabei dieselbe „spätmoderne Gesellschaft“ durchlaufen kann. Vgl. Reckwitz, Andreas: „Zwischen Hyperkultur und Kulturessentialismus“ in: Soziopolis, 24. Dezember 2016. https://soziopolis.de/beobachten/ kultur/artikel/zwischen-hyperkultur-und-kulturessenzialismus (zuletzt aufgerufen am 18. November 2017) (im Folgenden zitiert als: Reckwitz: „Zwischen Hyperkultur und Kulturessentialismus“). 238 Foucault, Michel: Der Wille zum Wissen. Sexualität und Wahrheit 1, Frankfurt a. M. 2012, S. 77. 239 Deleuze: „Postskriptum über die Kontrollgesellschaften“, S. 254. 240 Boltanski, Luc: „Leben als Projekt. Prekarität in der schönen neuen Netzwerkwelt“, in: Siller, Peter/Keller, Bertram (Hg.): Polar, 2: Ökonomisierung, www.polar-zeitschrift.de/ polar_02.php?id=69 (zuletzt aufgerufen am 18. November 2017). 241 Reckwitz: Die Erfindung der Kreativität, S. 20. 242 Bröckling benutzt das Wort ‚Kraftfeld‘ weitestgehend synonym für Dispositiv, vgl. Bröckling: Das unternehmerische Selbst, S. 10f. 243 Vgl. Boltanski: Die Vorhölle, S. 60. 244 Agamben: S. 27. 245 Vgl. Deleuze: „Postskriptum über die Kontrollgesellschaften“, S. 254. 246 Vgl. ebd., S. 255. 247 Ebd. 248 Vgl. ebd., S. 256f. 249 Ebd., S. 256. 250 Ebd. 251 Lemke, Krasmann, Bröckling: S. 15f. 252 Ebd. 253 Bröckling: Das unternehmerische Selbst, S. 47. 254 Ebd., S. 217. 255 Ebd., S. 236. 256 Vgl. ebd. 257 Bröckling: „Totale Mobilmachung“, S. 131. 258 Vgl. Lemke, Krasmann, Bröckling: S. 15f. 259 Vgl. Reckwitz: Die Erfindung der Kreativität, S. 140f. und Matzke: S. 73ff. 260 Vgl. Chiapello: S. 50. 261 Vgl. Bourriaud: S. 8f. und Bishop: S. 13ff. 262 Boal, Augusto: The Rainbow of Desire: The Boal Method of Theatre and Therapy, London, New York 1995, S. 16. 263 McKenzie: S. 166.
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Theatrale Dispositive 264 Vgl. Breed: „Environmental aesthetics, social engagement and aesthetic experiences in Central Asia“, S. 97f. 265 Wie normierende Dispositive innerhalb pluraler und offener Gesellschaften ein Außen definieren und problematisieren, mag man in der Reaktion des „Kulturalisierungsmodells I“ auf das „Kulturalisierungsmodell II“ in Reckwitz’: „Zwischen Hyperkultur und Kulturessentialismus“ herauslesen, vgl. Reckwitz: „Zwischen Hyperkultur und Kulturessentialismus“. 266 Vgl. Boltanski, Chiapello: S. 29 und Chiapello: S. 38ff. 267 Vgl. Deleuze: Foucault, S. 60. 268 Foucault: Dispositive der Macht, S. 120. 269 Vgl. Boltanski, Chiapello: S. 22. 270 Bröckling: Das unternehmerische Selbst, S. 17. 271 Ebd., S. 154. 272 Vgl. etwa Wolfgang Fachs Analyse der Darwinisierung des Innenlebens von Unternehmen: Fach: S. 117ff. sowie Lemke: S. 240 u. 256. Dass auch der historische Sozialdarwinismus und die Eugenik im gedanklichen Austausch mit der Lehre von Menschenökonomie, Humankapitaltheorie und damit einer Theoriebildung um modernes Human Resource Management standen, zeigt Ulrich Bröckling in seinem Beitrag „Menschenökonomie, Humankapital“, vgl. Bröckling: „Menschenökonomie, Humankapital. Eine Kritik der biopolitischen Ökonomie“, S. 280ff. 273 Bröckling: „Totale Mobilmachung“, S. 138. 274 Vgl. Bröckling: Das unternehmerische Selbst, S. 66. 275 Kocyba, Hermann: „Das aktivierte Subjekt. Mit post-tayloristischen Formen der Arbeit ändert sich auch die moderne Berufsidee“, in: Frankfurter Rundschau, 28. September 1999, zitiert nach: Bröckling: „Totale Mobilmachung“, S. 142. 276 Losmann, Carmen: Work Hard – Play Hard, Deutschland 2012, 01:04:36–01:04:54. 277 Arbeitskreis Assessment Center e. V.: AC-Standards, S. 8. 278 Vgl. ebd. 279 Michel Foucault zitiert nach: Lemke, Krasmann, Bröckling: S. 29. 280 Bröckling: Das unternehmerische Selbst, S. 7. 281 Reckwitz: Die Erfindung der Kreativität, S. 319–322. 282 James Thompson führt z. B. die Verbreitung und Ausweitung des gesamten AppliedTheatre-Sektors nicht zuletzt auf eine neue soziale Härte der ökonomischen Sphäre der 1980er und -90er Jahre zurück, innerhalb derer sich nicht zuletzt auch Theaterschaffende neu positionieren mussten, vgl. Thompson: Applied Theatre, S. xiii. Vgl. dazu auch Bourriaud: S. 8f. und Bishop: S. 13ff. 283 Reckwitz betont explizit auch diesen Aspekt des Dispositivkonzepts seiner Analyse, wenn er die Motivation des Subjekts als Leerstelle in Foucaults Dispositivmodell ausweist, vgl. Reckwitz: Die Erfindung der Kreativität, S. 50f. 284 Vgl. Bröcklings Ausführungen zur „Individualitätsnorm“. Bröckling: Das unternehmerische Selbst, S. 68. 285 Vgl. Reckwitz: Die Erfindung der Kreativität, S. 239ff. 286 Ebd., S. 9. 287 Ebd. 288 Ebd. 289 Vgl. Deleuze: „Postskriptum über die Kontrollgesellschaften“, S. 254. 290 Vgl. ebd., S. 256. 291 Vgl. ebd., S. 257. 292 Vgl. ebd. 293 Vgl. Bröckling: Das unternehmerische Selbst, S. 240. 294 Ebd., S. 217. 295 Ebd., S. 236. 296 Ebd. 297 Ebd., S. 238.
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5 Spuren des Makrodispositivs 298 Vgl. ebd., S. 236. 299 Flotron, Marianne: Publikumsgespräch auf der Konferenz Unfreiwillige Spiele – Zur Formung von Subjektivität in einer theatralen Gesellschaft, Institut für Theaterwissenschaft, Freie Universität Berlin, 4. Juli 2015. Bilder dieser Projekte finden sich in: Flotron, Marianne: „FIRED – PSYCHODRAMA – WORK“, in: Warstat u. a.: Theater als Intervention, S. 125–135. 300 Vgl. Evers: „Willkommen in Dystopia“. 301 Bröckling spricht im Zusammenhang mit dem „Kreativitätsimperativ“ in der Wirtschaft auch von „serieller Einzigartigkeit“ und von „Differenz von der Stange“, vgl. Bröckling, Ulrich: „Über Kreativität. Ein Brainstorming“, in: Menke, Christoph/Rebentisch, Juliane (Hg): Kreation und Depression. Freiheit im gegenwärtigen Kapitalismus, Berlin 2012, S. 89–97, hier S. 94. 302 Vgl. Horn: S. 125. 303 Vgl. Evers, Lempa: S. 238. 304 Boltanski: Die Vorhölle, S. 60. 305 Bröckling: „Totale Mobilmachung“, S. 162. 306 Vgl. Lorber: S. 52. 307 Ebd. 308 Laux, Renner, Schütz: „Theatralität, Körpersprache und Persönlichkeit“, S. 244. 309 Bröckling: „Totale Mobilmachung“, S. 160.
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RESÜMEE
1 Ausblick Das unternehmerische Selbst geht einkaufen Am 24. Mai 2017 wurde in Berlin und Wittenberg der 36. Deutsche Evangelische Kirchentag unter dem Motto Du siehst mich begangen. In der 20-Uhr-Ausgabe der Tagesschau vom selben Tag erklärte Christina Aus der Au, die Präsidentin des Kirchentags, was es mit diesem Motto auf sich habe: In der heutigen Gesellschaft, wo jeder gesehen werden will – mit Selfies, auf Facebook, auf Instagram, auf Snapchat … aber, man muss was dafür tun, um gesehen zu werden. Man muss sich zeigen. Und da kommt Gott und sagt: „Hey, … ok, chill down, ich seh’ dich!“1 Das bemüht wirkende Andocken an Jugendsprache und die Aufzählung der absoluten Spitze des Eisberges an sozialen Medien, von denen die Kirchentagspräsidentin offenbar vermutet, dass sie die ‚Digital Natives‘ ‚dort abholt, wo sie sind‘, wie es in der Sprache der Werbebranche und Kampagnenmanager heißt, wirkt dabei auf den Autor zunächst eher, als hätte Gott eine Marktstudie durchführen lassen und festgestellt, dass er in der Peer group der 14- bis 25-Jährigen Marktanteile der Aufmerksamkeitsökonomie an das Smartphone verliert. Gerade hatte man sich daran gewöhnt, dass die Kirche auch twittern kann und ihre Häuser auf Facebook öffnen muss – aber Snapchat und Instagramm sind kaum noch mit Kommunikationsstrategien organisierter Religion vereinbar. Offenbar ringt ein seit geraumer Zeit durch eine Säkularisierung westlicher Gesellschaften an Einfluss verlierendes, religiöses Makrodispositiv darum, dass es keine fruchtbare Immanenz mit den relevanten Mikrodispositiven der Gegenwart mehr generieren kann. Das holprige, leicht gestelzte Statement der Kirchentagspräsidentin wäre nun kaum eine Anekdote wert, wären nicht die Dreifaltigkeit Gottes und das Mobiltelefon auch jene Gegenstände, an denen der bisher in dieser Analyse ganz bewusst nur marginal tangierte Ansatz Giorgio Agambens zu den relevanten Dispositiven der Kontrollgesellschaften – Che cos’ è un
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dispositivo? (Was ist ein Dispositiv?) – die Subjektivationsprozesse im neoliberalen Kapitalismus zu erläutern und zu kritisieren sucht. Dass Agambens Dispositivkonzept im Verlauf der hier vorliegenden Studie bisher weitestgehend außer Acht gelassen wurde, ist dem Umstand geschuldet, dass er sich einem vollkommen anderen Bereich der Subjektivierung und Subjektivation widmet als dem für die Assessment Center relevanten Sektor der Arbeit: Wo Ulrich Bröcklings Fokus im Konzept des unternehmerischen Selbst auf der Wechselwirkung von Subjektivation und der Arbeit im oder ‚als‘ Unternehmen liegt, denkt Agamben die Dispositive des neoliberalen Kapitalismus von der Konsumentenseite – Dispositive der Arbeitssphäre erscheinen bei ihm nicht vorhanden bzw. dysfunktional und abgewählt.2 Und so attestiert Agamben der Politik seiner Zeit, dass sie kein echtes Subjekt wie die Arbeiterklasse oder die Bourgeoisie finde, da die Gesellschaften als träge Körper von gigantischen Prozessen der Desubjektivierung durchlaufen würden.3 Diesen Effekt der Desubjektivierung lastet er Disseminationseffekten von Dispositiven der Konsumgesellschaft an.4 Zur Zeit seines Schreibens allerdings bildet sich bereits ein neues Subjekt der Arbeit heraus, das am Beginn des 21. Jahrhunderts gerade in der Entstehung begriffen ist und in Deutschland erst in der zweiten Dekade dieses Jahrhunderts von einer überrascht wirkenden Sozialdemokratie wiederentdeckt wurde, obgleich man es selbst zwanzig Jahre zuvor geschaffen hatte: Das heterogene Prekariat des Unternehmens- und Dienstleistungssektors, das sich als prekäres vom privilegierten Angestelltenverhältnis geschieden hat. Nun ist das Individuum, so fasst es Agamben, selbst stetig und überdeterminiert Ort mannigfaltiger Subjektivierungsprozesse.5 Es kann als eingespannt in die unterschiedlichsten Dispositivanordnungen unterschiedlichster Ebenen gelten. Seine Perspektive auf neoliberale Subjektivität liest sich vorwiegend als die des Konsumenten zahlreicher Mikrodispositive, maßgeblich des Nutzers neuer Medien,6 Reckwitz’ und Bröcklings dagegen als der des schöpferischen Künstlers bzw. kreativen Entrepreneurs. Fügt man diese drei Konzepte zusammen, so mag man ein umfassendes Bild neoliberaler Subjektivität in der privilegierten Teilhabe am System zeichnen. Jeder wird geformt und formt sich unablässig selbst nach den Mustern des unternehmerischen Selbst und des Konsumenten: ein Reigen stetiger Auswahlprozesse – wie muss ich sein, wie muss mein Produkt sein? Bin ich durch den Selektionsprozess gekommen, so ist meine Belohnung, durch Entlohnung Auswahlprozesse für Produkte zu treffen, die mich definieren. In neuester Tendenz, so merkt es Jen Harvie an, gestalte ich mein Produkt als prosumer im Idealfall sogar selbst mit, damit es mich definiert:7 Der Internethandel eröffnet die Möglichkeiten, bei gewissen Lu-
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Resümee
xusartikeln und kostspieligeren Varianten alltäglicher Waren, die eigentlich in Massenfertigung produziert werden, doch wieder Nuancierungen zu setzen, die Individualität suggerieren: Baukastensysteme im Netz helfen dabei, meine eigenen Turnschuhe, mein eigenes Müsli, meinen auf den Bedarf zugeschnittenen PC, meine Schokoladensorte anfertigen oder einfach nur meinen Namen auf eine Limonadenflasche drucken zu lassen, die mir zugeschickt wird. Das Produkt definiert mich dann als Naschkatze mit Vorliebe für Einhörner und Cranberry-Vanille-Geschmack, als auf Nachhaltigkeit achtenden Lakto-Vegetarier, als Progamerin mit Sinn für das Industriedesign ihres Custom-PC-Case etc. Im Management, Serviceund Dienstleistungsbereich, so wurde es im zweiten Kapitel dieser Studie dargelegt, ist man dazu angehalten, sich selbst zugleich als diese flexible Ware zu begreifen.8 Diese Konsumentenhaltung privilegierter Teilhabe formt ebenfalls Lebensstile des genormten Individualismus und in seinem Kulminationspunkt einen urbanen Habitus der Persönlichkeitsdarstellung. So vervollständigen sich Agambens mannigfaltige Subjektivierungen des Konsumenten und Bröcklings unternehmerisches Selbst im Zusammenspiel zu einer noch umfassenderen Konturierung neoliberaler Subjektivität. Agamben nun zeichnet am Beginn seiner Ausführungen eine bisher unerwähnte Wortbedeutung des Dispositivbegriffs nach, wenn er darauf verweist, dass die lateinischen Kirchenväter das Wort oikonomia aus den altgriechischen Kirchenschriften mit dem lateinischen Wort dispositio übersetzten.9 Oikonomia, die Verwaltung des Hauses – das Management – verweist in seinen theologischen Kontexten dabei auf die Dreifaltigkeit Gottes.10 Gottes Haushaltführung besagt, dass er zwar in der Bibel zuweilen wie ein Individuum oder ein Subjekt auftritt und spricht, innerhalb des Individuums paradoxerweise aber noch einmal drei verschiedene Abteilungen für Unteraufgaben geschaffen wurden, von denen mindestens zwei wiederum wie eigene Individuen in Erscheinung treten: Vater und Sohn, sowie eben der in Text und Abbildung etwas diffuser gehaltene Heilige Geist. Diese Figur der Einheit und Spaltung verfolgt Agamben im weiteren Verlauf seiner Argumentation über die Dispositive. Er attestiert den Dispositiven durch ein „maßloses Anwachsen“11 einen damit einhergehenden Streuungseffekt ihrer Subjektivierungsprozesse.12 Agambens Augenmerk richtet sich dabei auf die bereits zur Zeit seines Schreibens gegenwärtige, extreme Vermehrung der Angebote an technischen Mikrodispositiven. Ganz profan heruntergebrochen liest sich der Subtext von Was ist ein Dispositiv? zunächst, als würde sich Agamben aus der Perspektive der frühen 2000er Jahre heraus über die Verbreitung des Mobiltelefons und den daraus resultierenden neuen Habitus seiner Mitmenschen derart ärgern, dass er eine ganze, komplexe Theorie um diesen
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1 Ausblick
Umstand herum aufbaut. Er spricht gar von Hass gegenüber dem Mikrodis positiv des Telefons.13 Man kann spekulieren, dass er die neue, stetige Erreichbarkeit, das Unterbrechen eines Gesprächs durch Telefonanrufe, die simple, sich selbst zu wichtig nehmende Pose des Handynutzers in der Öffentlichkeit oder auch das zu dieser Zeit in Mode kommende Konversationsthema um Tarife und Telefonmodelle insgesamt als dominanten Subjektivationsprozess eines Mikrodispositivs wahrnimmt. Aus der Perspektive der ausklingenden 2010er Jahre möchte man sagen: Wie recht du hattest! Doch: Glücklicher Agamben, du kanntest damals noch kein Smartphone, keinen Kühlschrank, der dir Milch nachbestellt, deine Kalorien zählt und an deine Jogging-App auf der Smartwatch weiterleitet, keine sogenannten Filterblasen der Verschwörungstheoretiker und Populisten, keinen Präsidenten Trump auf Twitter, keine mit likes versehenen Köpfungsvideos von Da’esh, keine Pegida-Fangruppen auf Facebook. Was Agamben als maßloses Anwachsen der Dispositive, das mit maßlosen Subjektivierungsprozessen einhergehe,14 anmahnt, ist aber nicht zuletzt das Anwachsen der Dinge an sich unter der Bedingung kapitalistischer Warenzirkulation, da Agamben wirklich alles als Dispositiv identifizieren will: […] der Federhalter, die Schrift, die Literatur, die Philosophie, die Landwirtschaft, die Zigarette, die Schifffahrt, die Computer, die Mobiltelefone und – warum nicht – die Sprache selbst, die das vielleicht älteste Dispositiv ist […]15. Er läuft damit bisweilen Gefahr, den Terminus einer gewissen Beliebigkeit preiszugeben, obgleich er nicht Unrecht hat. Das Mobiltelefon und mit ihm viele andere Produkte des Konsumkapitalismus gerade der Netzökonomie können auch als Dispositive im Sinne des Mikrodispositivs beschrieben werden. Im Smartphone selbst mögen viele einzelne Apps für sich noch einmal unterschiedliche Mikrodispositive darstellen. Der paradoxe Gedanke der Einheit und Dreifaltigkeit der dispositio Gottes wird dabei von Agamben mit der profanen Disseminierung der Subjektivation durch die neuen Technologien und Produkte ins Verhältnis gesetzt.16 Agamben erklärt darauf aufbauend das ausufernde Anwachsen der (Mikro-)Dispositive zu einem metaphorisch, pejorativen Theatralitätsmodell von Identität: Deshalb entspricht dem maßlosen Anwachsen der Dispositive in unserer Zeit eine ebenso maßlose Vermehrung der Subjektivierungsprozesse. Das könnte den Eindruck erwecken, daß die Kategorie der Subjektivität zunehmend ins Wanken gerät und ihre Konsistenz verliert; doch es handelt sich, um genau zu sein, nicht um eine Tilgung oder
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Resümee
Überwindung, sondern um eine Disseminierung, die den Aspekt der Maskerade, der jeder personalen Identität schon immer anhaftete, zum Äußersten treibt.17 Auf der Ebene des Makrodispositivs zeichnet er als Konsequenz dieser Maskerade ein düsteres Bild: die politischen Subjekte allesamt freiwillig zersetzt und ausgetauscht durch „träge Körper, die von gigantischen Prozessen der Desubjektivierung durchlaufen werden“18. Agamben nun möchte eine Gegenwehr gegenüber diesen politischen Prozessen formulieren und spricht in diesem Zusammenhang von „Gegendispositiven“19. Als Beispiel zieht er die Profanisierung als Umkehrung des Heiligen heran,20 lässt in seiner Schrift aber offen, welches Gegendispositiv gegen die Desubjektivierungsprozesse der neoliberalen Maschine als wirksam erklärt werden sollte. Jenseits dieser Konsumentenseite der Subjektivierungsprozesse wurde in der hier vorliegenden Studie allerdings auch ein sehr anderes Bild der relevanten Dispositive des Neoliberalismus gezeichnet: Agambens Beobachtung der Subjektivierungsprozesse als Katalysator der desubjektivierenden ‚Maskerade‘ steht Bröckling in seiner eleganten Analyse der Verflechtung von Makro- und Mikrodispositiv entgegen, wenn er zum Assessment Center als conditio humana der neoliberalen Subjektivität schreibt: Es macht deshalb wenig Sinn, hier in kritischer Absicht Charaktermasken entlarven zu wollen und das Selbstmanagement als Selbstentfremdung zu perhorrizieren. Es gibt nichts, was hinter den vermeintlichen Masken verborgen wäre, und fremd wäre sich nur ein ‚unglückliches Bewusstsein‘, das äußeren Schein und inneres Sein, objektives Sollen und subjektives Wollen überhaupt zu unterscheiden vermag.21 Fremd wäre sich also, Bröckling folgend, nur der zynische Darsteller Goffmans, den die hier in den vorangehenden Kapiteln beschriebenen Dispositive zu ihrem zu bearbeitenden Material erwählt haben. Doch was hat dies alles noch, von neoliberalen Theatralitätsmodellen und Metaphern zurücktretend, mit dem konkreten Theater zu tun? Anschließend an Was ist ein Dispositiv? sieht Gerald Sigmund in Agambens Konzept der neoliberalen Subjektivität die urgence, den Notstand, auf den das (Kunst-)Theater als ‚Gegendispositiv‘ zu antworten vermag, wenn er zu seinem Konzept des Theaters als Dispositiv schreibt: Für Giorgio Agamben, der Foucaults Dispositivbegriff aufgreift, dient das Beispiel des Mobiltelefons, das die Beziehungen der Menschen un-
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1 Ausblick
tereinander noch abstrakter gemacht habe, als Ausweis der Destruktion von Subjektivität, wie sie sich seit dem 18. Jahrhundert herausgebildet hat. Durch ein neues Dispositiv und damit durch neue Technologien des Selbst im doppelten Sinne von Selbstpraktiken und technischen Geräten wie Handys wird das Subjekt desintegriert und zu einer gespenstischen Hülle. Vor diesem Hintergrund erscheint Theater als Antwort auf die ‚Pest der Phantasmen‘ (Slavoj Žižek) unserer neo-liberalen digitalisierten Mediengesellschaft.22 Diesem Postulat der Funktion des Theaters als Antwort auf den Notstand des neoliberalen Subjekts kann ich mich aus dem hier beobachteten und dargelegten Phänomen des Theaters der Selektion z. T. anschließen – allein, ob denn der Befund so positiv ausfällt, sei dahingestellt. Vorangehend wurde zwar aufgezeigt, dass die relevanten, gesellschaftlichen Dis positive des Neoliberalismus aus dem Sektor der Arbeit keinesfalls die Desintegration durch Aufspaltung des Subjekts nach dem Modell Agambens forcieren, nicht lediglich jener ‚Pest der Phantasmen‘ folgend oberflächliche Imagos zu produzieren suchen, dass sie nicht allein flüchtige, mikrodispositive Subjekteffekte generieren und Desubjektivierung zur Folge hätten. Für ein Konsumentenmodell, wie es Agamben zeichnet, mag dies zutreffen, jedoch für das Theater der Selektion zumindest aus Sicht der privilegierten Teilhabe lassen sich vielmehr Dispositive in Immanenz beschreiben, die das Subjekt in ihrem Prozess stetig aufspalten und auf nächsthöherer Ordnung wieder zu schließen suchen, um ein optimiertes und kohärentes Individuum zu formen. Daran beteiligt sind Theater, Schauspieler, Schauspieltechnik. Und somit, ja, ist das Dispositiv Theater, Siegmund folgend, ein Gegendispositiv zu den Prozessen, die Agamben beschreibt. Es hat zwei neue politische Subjekte, den privilegierten und den prekären Angestellten hervorgebracht. Das Urteil über den Anteil des Theaters am Widerstand gegenüber den Pathologien des Neoliberalismus allerdings fällt in der hier vorliegenden Beobachtung deshalb noch lange nicht enthusiastisch aus. Judith Ackroyd warnte vor rein positiven Projektionen gegenüber dem Theater in ihren Beiträgen zur Ethik des Applied Theatre eindringlich: I am suggesting that a discourse is being created that enshrines applied theatre as, ironically, pure. There’s no mention of gospel street theatre or work with the police (very valuably undertaken by Griffith University staff), nor of drama for business thoroughly developed in Tasmania, because these would mitigate against the politics of the discourse being constructed. These are not ideologically suitable.23
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Resümee
So sehr die Liebe zum Gegenstand der eigenen Disziplin dazu tendiert, Theater phantasmatisch allein mit heilendem und widerständigem Potential aufladen zu wollen, es ist als Dispositiv ein politisch interesseloser Gegenstand mit starkem Machteffekt, der von einem Dispositiv nächsthöherer Ordnung erwählt werden muss, um politisch aufgeladen zu werden. An der einen Stelle mag es das Potential zum ‚Gegendispositiv‘ haben, an anderer konstituiert es neoliberale Subjektivität.24 Feuer, so merkt Ackroyd im Bezug auf Applied Theatre an, kann für oder gegen einen arbeiten.25 Diese Studie hat Boals Theater im Widerstand gegen autokratische Unrechtssysteme gesehen. Sie hat aber auch Boals Theater zur Effizienzsteigerung der Abteilungskommunikation in multinationalen Konzernen gesehen, die gute Handelsbeziehungen zu autokratischen Systemen pflegen.
2 Ergebnisse Ausgangspunkt dieser Studie war es, erweiterte Personalauswahlverfahren dem Korpus des Unternehmenstheaters und damit dem Applied Theatre zuzurechnen. Assessment Center, die maßgeblich Gegenstand wirtschaftswissenschaftlicher wie arbeits-, betriebs- und organisationspsychologischer Forschung sind, konnten weitestgehend als terra incognita der Theaterwissenschaft angesehen werden. Das Assessment Center sollte in der hier vorliegenden Studie nicht unter dem Fokus auf Effizienz, Nutzen, Aufbau und Nachhaltigkeit analysiert werden, sondern auf das Geflecht aus Ethik, Ästhetik und Politik hin, in dem es sich situiert. Im ersten Kapitel wurden daher zunächst diejenigen Aspekte solcher erweiterten Personalauswahlverfahren vorgestellt, die relevant für eine theaterwissenschaftliche Perspektivierung erschienen. Anschließend daran wurde anhand eines historischen Abrisses zur Geschichte dieser Verfahren das Wechselverhältnis von Personalauswahl, Rollenspiel, Theater und Unternehmenstheaterformen dargelegt. Daraufhin wurde das ambivalente Verhältnis des Applied-Theatre-Diskurses zum Unternehmenstheater nachgezeichnet. Die Integration des Assessment Centers in den Korpus des Applied Theatre brachte es mit sich, über die ethischen Ambivalenzen des gesamten Felds dieser Theaterform in Rückbindung auf die oft ignorierten Praktiken des Unternehmenstheaters zur Menschenformung und Unterteilung zu reflektieren. Es folgte der Vorschlag einer Mikrodispositivanalyse als Aufführungsanalyse. Am Ende des ersten Kapitels wurde unter dem Eindruck der Analyse bewusst der Theater- und nicht der Performance-Begriff herangezogen, um das Spiel im Assessment Center zu beschreiben. Klärt der
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weit gefasste Performance-Begriff wie selbstverständlich zu viel zu schnell in der Denkfigur der cultural performance, so war es die Ausgangsthese dieser Studie, dass das Assessment Center ein gesellschaftlich wirksames Scharnier zwischen Theater und Theatralität darstellt. Dieser Zugang zur privilegierten Teilhabe am Gesellschaftssystem des Neoliberalismus ist das titelgebende Theater der Selektion. War das erste Kapitel der Darlegung des Gegenstands der erweiterten Personalauswahlverfahren, der Integration in den Korpus von Unternehmenstheater und Applied Theatre und dem damit einhergehenden ethischen Diskurs dieses Feldes gewidmet, so sollte das zweite Kapitel eine gemeinsame Ästhetik dieser heterogenen Formen konturieren. Abseits eines Kunstparadigmas wurde der Begriff des Ernsten Spiels herangezogen, um die Ästhetik des Applied Theatre zu fassen und auch Assessment Center als einen Gegenstand von Ästhetik auszuweisen. Spielbegriffe aus Grundlagentexten der Ludologie wurden herangezogen, um aufzuzeigen, was der Diskurs um Spiel den Beobachtungen der Rollenspiele in Personalauswahlverfahren hinzuzufügen vermag. Die Kategorien der metakommunikativen Rahmen nach Bateson, des Agonalen und der ‚Korruption der Spiele‘ nach Caillois sowie das wirkungsästhetische Konzept von bleed aus dem Diskurs um Live action role-playing games halfen, die Verunklarung des Theatervertrags, die brüchigen Rahmen des Spiels, die Intervention in die Bereiche des Sozialen zu erklären. Die Beobachtung Gunter Gebauers, dass Spiel und Arbeit ein aufeinander bezogenes und historisch wandelbares Begriffspaar bilden, führte dazu, Kapital-, Arbeits-, Performance- und Spielbegriffe aufeinander zu beziehen und eine Leerstelle in den Grundlagentexten der Ludologie auszuweisen, die in der Annahme besteht, Spiel sei nicht produktiv. Hier dockte wiederum der Diskurs der Theaterwissenschaft um Performativität an die Ludologie an und half, dem Spiel einen geschaffenen Mehrwert beizuordnen. Applied Theatre und gerade Unternehmenstheater, so wurde aufgezeigt, werden eingesetzt, da Spiel diverse Kapitalarten generiert, wie Pierre Bourdieu sie definiert – Kapitalsorten, die in einer Wirtschaftssphäre, die ihre Produktion ausgelagert hat und deren Kerngeschäft Kommunikation, Vertrieb und Dienstleistung ist, direkt mit Finanz- und Sachkapital gekoppelt sind. Den Abschluss des Kapitels bildete eine weitere Mikrodispositivanalyse als Aufführungsanalyse, die sich auf den Spielaspekt des mehrfach verschachtelten Rahmens konzentrierte. Das zweite, der Ästhetik des Assessment Centers gewidmete Kapitel lieferte somit Antwort auf die Frage, weshalb in einer so reglementierten Sphäre wie der der Wirtschaft in Unternehmen gespielt wird.
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Resümee
Das dritte Kapitel dieser Studie war dem methodischen Ansatz zur Analyse wie den Politiken des Theaters der Selektion gewidmet. In den ersten beiden Kapiteln wurde bereits angedeutet, dass eine theaterwissenschaftliche Betrachtung der Aufführungen des Unternehmenstheaters stets machtdynamische Rahmungen mitbedenken muss, die über Phänomene der einzelnen Aufführung hinausgehen und nach einer neuen Methodologie verlangen. Der Komplexität der Fragestellung nach der interdependenten Ethik, Ästhetik und Politik des Theaters der Selektion entsprechend wurde in dieser Studie die Aufführungsanalyse als Dispositivanalyse entwickelt. Dabei erfolgten die Mikrodispositivanalysen als Aufführungsanalysen jeweils im Ausklang der ersten beiden Kapitel. Diese bildeten jedoch nur einen Teilaspekt der Dispositivanalyse: Das dritte Kapitel nun widmete sich zunächst der tiefergehenden Herleitung und Definition des Terminus und klärte dabei sowohl die Verwandtschaft des Foucault’schen Dispositivbegriffs zu theatralen Settings, um dann am Dispositivmodell von Gilles Deleuze die Immanenz der Dispositive zu erläutern. Das Mikrodispositiv wurde dabei heuristisch von meso- und makrodispositiver Ebene geschieden. Anhand des film- und medienwissenschaftlichen Gebrauchs dieses Konzepts bei Markus Stauff und Jean-Louis Baudry wurde in diesem Zusammenhang die Funktionsweise eines ästhetischen Dispositivs erläutert. Danach wurde die explizite Anwendung des Dispositivbegriffs in der Theaterwissenschaft auf die Aufführung, die Inszenierung wie auf das Theater nachgezeichnet. Beispiele für dispositive, theatrale Settings privilegierter wie prekärer Teilhabe am Unternehmen aus der Feldforschung wurden mit einer Relektüre von Goffman ins Verhältnis gesetzt, um Einblick in die Funktionsweisen des Theaters der Selektion auf der Mesoebene der Theatralität im Unternehmensalltag zu erläutern. Theatralität wurde als ein wirkmächtiges Mesodispositiv beschrieben, in dessen heterogenem Ensemble sich die mikrodispositiven Anordnungen der erweiterten, theatralen Personalauswahlverfahren zur Selektion und Menschenformung situieren. Den Abschluss der Studie bildete ein Versuch, die relevanten Makrodispositive zu umreißen, die sich in Immanenz zu den bisher dargelegten Phänomenen befinden. Spuren der Logik des Assessment Centers wurden dabei bis in makrodispositive Strukturen nachgewiesen: So spricht die Persönlichkeitspsychologie, Laux, Renner und Schütz folgend, von der Persönlichkeitsdarstellung nicht im Sinne einer vorsätzlichen Manipulation der Außenwirkung, sondern von Inszenierungsstrategien bei der Vermittlung unserer als selbstidentisch erlebten Persönlichkeit. Daraus erwächst ihre Schlussfolgerung vom Assessment Center als „Paradebeispiel für unsere Kultur der Inszenierung“26. Eine kritische Soziologie, so wurde im Fortgang anhand von Ulrich Bröcklings Arbeit dargelegt, erklärt die neo-
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liberale Subjektivität zum „Leben als permanentes Assessment Center“27. Luc Boltanski beschreibt dieses Leben als Assessment Center im profanisierten Limbus prekärer Teilhabe zu den selbstdefinierten Krisenzeiten des Neoliberalismus als das Warten darauf, erwählt zu werden. Bis in Psyche, Kultur, Leben, kurz: conditio humana also wurde ein weitgefasster Begriff von Assessment Center und damit auch von Theater zurückverfolgt. Das titelgebende Theater der Selektion selbst also ist ein ästhetisches Dispositiv, das sich in Immanenz über die drei Ebenen erstreckt: Von der Selbsttechnologie zur Theateraufführung, vom Theater als Scharnier zwischen prekärer und privilegierter Teilhabe an einer von Theatralität strukturierten Arbeitswelt des neoliberalen Systems.
3 Maschinensturm? Im Verlauf dieser Arbeit wurde ein eher düsteres Bild vom Theater gezeichnet. Sind Applied-Theatre-Formen, dieser Logik folgend, lediglich Maschinen zur Zurichtung von Menschen mit einer freundlichen Oberfläche?28 Was ist das Fazit, wenn aus der ästhetischen Analyse derartige politische und ethische Ambivalenzen hervorgehen, wie die Dispositivanalyse des Theaters der Selektion sie vorangehend dargelegt hat? Plädiere ich nun für Maschinensturm, für Sabotage, für das gelegentliche, systemstabilisierende Öffnen von Ventilen an der abstrakten Maschine oder für Feinjustierung? Es muss dabei betont werden, dass in dieser Studie Gewicht auf die Ambivalenzen gelegt wurde, gerade weil der Diskurs um das Theater in sozialen Kontexten dazu neigt, Gewicht auf die Affirmation zu legen. Insbesondere allerdings in Beispielen des Theaters in Unternehmen scheint das Ernste Spiel des angewandten Theaters mitunter auffällig invasiv und tendiert oftmals zur neoliberalen Idee in ihren Extremen. Versucht man dabei eine globale Perspektive auf die Interventionen des Applied Theatre in der privilegierten und prekären Teilhabe am neoliberalen System einzunehmen, so könnte das Bild bisweilen auch extrem zynisch ausgedeutet werden: In den vom Neoliberalismus verheerten Regionen der Welt verwaltete das Applied Theatre das Elend mit der freundlichen Maske der Hinwendung. Innerhalb der privilegierten Teilhabe in den westlichen Industrienationen dagegen würde es sehr effektiv zur Steigerung der Effizienz desselben verheerenden Marktes eingesetzt. Es sei ein weiter Weg, so Ulrich Bröckling, vom Empowerment-Gedanken der Pädagogik der Unterdrückten Paolo Freires zu jenen Trainingsprogrammen, mit denen Personaltrainer Manager darauf trimmten, das Beste aus ihren Mitarbeitern herauszuholen.29 Als Bindeglied zwischen
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Resümee
diesen beiden Selbstermächtigungskonzepten allerdings hat sich nicht zuletzt das Theater Augusto Boals, einem Schüler Freires, erwiesen. Plötzlich erscheint der Weg doch nicht so weit, der Name steht ja beinahe auf demselben Klingelschild. Und somit konnte gerade durch den radikal anders ausgelegten Freiheits- und Selbstermächtigungsgedanken ein wirtschaftsliberales Makrodispositiv im Wissen um das Mesodispositiv der Theatralität und Performativität des intersozialen Handelns in Unternehmen die ästhetischen Mikrodispositive des linken politischen Theaters zur Menschenformung erwählen. Um dem Vorwurf der Schwarzweißmalerei in meiner durchaus zugespitzt dargelegten Analyse der Ambivalenzen des Applied Theatre vorzubeugen, möchte ich mich als Autor auf den letzten Seiten dieser Studie expliziter politisch gegenüber meinem Gegenstand positionieren. Zunächst einmal ist es notwendig, den Neoliberalismus, wie vorangehend dargelegt, nicht als oberflächlichen Kampfbegriff ins Feld zu führen und zu postulieren, ich würde ein Außen kennen oder affirmativ begrüßen. Ein naiv eingesetzter, pejorativer Neoliberalismusbegriff will vom entfesselten, globalen Kapitalismus als Verschwörung sprechen. Er ignoriert etwa, dass auch die soziale Marktwirtschaft des Ordoliberalismus in der BRD nach dem Zweiten Weltkrieg ein neoliberales System darstellt. Er verkürzt, dass es ein widerständiges Außen gäbe, das nicht bereits Anteil an diesem System hat. Er setzt in einem unterkomplexen Politikverständnis voraus, dass es ein System des Bösen sei anstatt ein undurchschaubares Geflecht mit Raum für Position und Gegenposition, Ethik wie Amoralismus, in dem Überblick und Deutungshoheit ein Phantasma darstellen muss und dessen Symptome man an konkreten Fokuspunkten dennoch zu diagnostizieren suchen kann. Die vorliegende Arbeit ist somit bei weitem nicht als kapitalismuskritische Kampfschrift unter theaterwissenschaftlichen Vorzeichen geplant. Was hier beobachtet wurde, waren also vielmehr Tendenzen des Neoliberalismus, der sich in einer Umstrukturierung vom Ordoliberalismus zum Neoliberalismus Chicagoer Schule befand und weiter befindet. Dieser Übergang ist offenbar die urgence, auf die das Theater der Selektion antwortet. Die Kritik setzt somit vielmehr an den Extremen des Systems zu Krisenzeiten an, am Abbau sozialer Einrichtungen und der Deregulierung von Arbeitsrecht, am Spiel um Existentielles bis zur Erschöpfung. Unter dem Eindruck der Kritik an meiner Sicht auf das Applied Theatre in Unternehmen wurde hier erläutert, dass alle Formen des Applied Theatre dem System dienlich sind und das gerade die Integration des Theaters in Unternehmen in den Korpus des Applied Theatre hilft, seine Ambivalenzen, bisweilen sein Sendungsbewusstsein, seine gut gemeinten, aber
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deshalb dennoch hegemonialen Absichten zu erläutern. Wenn in einem Theater zur Konfliktprävention in Vorderasien in der Antragslyrik für die US-amerikanischen Geldgeber von Terrorismusprävention die Rede ist, so liegt dieser Formulierung auch die berüchtigte foreign-fighter-Definition eines Terroristen des Pentagons zu Grunde, die den erfolgreichen Versuch eines westlichen Systems dargestellt hat, die Genfer Konventionen auszuhöhlen. Wenn in Westafrika ein Straßentheater von der Europäischen Union finanziert wird, das vor den tödlichen Praktiken der Schlepper warnen soll, die Flüchtende über das Mittelmeer nach Europa bringen, so geht es um das Retten von Menschenleben, aber zugleich um das Senken von Flüchtlingszahlen. Theater hat dabei in diesem Kontext ein so viel freundlicheres Gesicht als ein Zaun. Auch jenes Applied Theatre, das sich explizit den Menschen in einem Gestus der Fürsorge zuwendet, kennt also die ethisch paradoxen Win-Win-Situationen des neoliberalen Systems. Dennoch soll auch nicht ignoriert werden, dass dieses Theater durchaus das Potential für Selbstermächtigung birgt, was im Denken um Dispositive zumindest bedeuten kann, seinen eigenen Handlungsspielraum zu erweitern. Umgekehrt kann weiterhin eine kritische Betrachtung des Mesodispositivs einer Theatralität des Arbeitsalltags auf institutioneller Ebene hier keinesfalls zur Fundamentalkritik an theatraler Schulung für den Beruf entgleisen. Wenn etwa, wie in der Einführung zu dieser Studie geschildert, angehende Ärzte ihren intersozialen Umgang mit Patienten einüben können, so findet der Gestus dieses Beispiels schwerlich Platz unter einem verkürzten kapitalismuskritischen Rundumschlag gegen theatrale Schulung des Habitus und Fortbildung durch Theaterworkshops. Auch ich weiß es zu schätzen, wenn mein Hausarzt bei einer schlechten Diagnose empathisch auftritt. Und auch im Unternehmen können Awareness-Training gegen Mobbing, Sexismus oder Rassismus am Arbeitsplatz in Form von Applied Theatre stattfinden. Das sollte wiederum auch nicht als altruistischer Gestus gewertet werden, vielmehr gehen hier der Marktbedarf und Menschlichkeit Hand in Hand. Und so folgt mein Fazit eher einer politischen Melancholie, wenn ich auch auf die Gefahr hin, desillusioniert zu klingen, folgendes als best case scenario für Opposition, künstlerische sowie letzten Endes auch wissenschaftliche Kritik an einem System äußere, das kein Außen mehr kennt und sich politisch wie ein schizophrenes Subjekt verhält: Der Neoliberalismus etabliert Diktatoren, um totalitäre Regime zu beenden. Er okkupiert, um zu befreien. Seine eine Hand produziert Waffen, seine andere finanziert Theaterworkshops zur Friedensarbeit. Er macht in Produktionsbedingungen und Arbeitsverhältnissen krank und doch liegt Heilung auch im Interesse des Marktes. Er setzt Freiheit in goldenen Käfigen durch.
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Er begeht fatale Fehler, erkennt, korrigiert sie, entschuldigt sich gar für sie und begeht sie dann erneut und ist in dieser Inkonsequenz politischen Handelns wahrscheinlich das stabilste System überhaupt, da er in unüberschaubaren Strukturen kaum Angriffsflächen bietet und stetig die Kritik an sich selbst zu integrieren sucht. Er bezahlt eben gar Künstlerinnen und Wissenschaftlerinnen, sich selbst kritisieren zu lassen, integriert damit die Kritik in sein System und stärkt so seine Widerstandskraft. Dieses neoliberale System, und das ist mein best case scenario, kann wie eine Raubkatze bisweilen gezähmt und zu Showtricks des Humanismus dressiert werden. Es muss dabei von der Win-Win-Situation überzeugt werden, dass etwa in den Schwellenländern gute Arbeitsbedingungen, Absicherung und relativer Wohlstand der Arbeiterinnen mit den Marktinteressen von Wachstum Hand in Hand gehen, dass dort Konsumenten auf den Eintritt in den großen Reigen warten wie dass in den Unternehmen der Wohlstandsgesellschaften zufriedene Kunden und effiziente Mitarbeiterinnen mit Diversität, Antidiskriminierung oder Arbeitsrecht einhergehen. Als ebensolche Dompteure der Raubkatze sehe ich auch diejenigen Applied-Theatre-Praktikerinnen, die versuchen, sich Menschen zuzuwenden, um mit dem Geld des Systems innerhalb des Systems deren Lebensqualität zu verbessern – ein situativ ethisches Handeln, wie es auch der Applied-Theatre-Praktiker James Thompson von diesem Theater fordert.30 Wer hier also ein Plädoyer für die Revolution erwartet hat, den muss ich um Entschuldigung bitten. Die politische Phantasietätigkeit des Autors geht offenbar nicht über Drosselung und Korrektur hinaus und hängt lediglich der Idee eines Europas nach, in dem die Sozialdemokratie, ein gutes Beispiel für ein ehemals wirkmächtiges Gegendispositiv gegen die hier dargelegten Tendenzen der Makroebene, sich nicht auch weitestgehend der Entfesselung des Marktes verschrieben hätte. Nicht zuletzt muss auch angemahnt werden, dass diese Studie nicht als Fundamentalkritik am Konzept des Performativen gelesen werden sollte. Dies ist keine antitheatrale Kampfschrift gegen einen Neoliberalismus als zynisches Maskenspiel. Denn nicht nur linke Kapitalismuskritik, auch die sogenannten Alt-Right-Bewegungen tragen den Kampf gegen einen naiven Begriff von Neoliberalismus auf ihren Bannern – hier allerdings hat man einem nationalen Abschottungsprinzip folgend zwar auch den Wirtschafts liberalismus im Fadenkreuz, mehr noch aber die von der linken Kritik leicht vergessenen Aspekte eines individuellen und nicht wirtschaftsbezogenen Liberalismus, die eben auch weiterhin im neoliberalen Prinzip vertreten sind und eine seiner positiven politischen Tendenzen markieren. Für die Theaterwissenschaft hoch brisant hat die neorechte, politische Ausrichtung dem kulturwissenschaftlichen Konzept des Performativen selbst den
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Kampf angesagt. Die performativen Aspekte von Geschlechts- wie von nationaler Identität sind die roten Tücher, an denen sich die Alt-Right-Bewegungen in ihren Kernprogrammen abarbeiten. Keinesfalls also darf in der Kritik am Theater der Selektion Folgendes vergessen werden: So sehr die marktliberale Logik von du bist, was du gut performen kannst, solange du gut performst in Bezug auf Arbeit in ihren Extremen zur Spaltung in der Teilhabe an der Gesellschaft, zur ‚Volkskrankheit Depression‘ oder dem Burn-out-Phänomen beitragen mag – es sollte auch nicht unterschlagen werden, dass sein inneres Konzept anderen politischen Systemen mit weitaus fataleren Paradigmen von Subjektivität entgegenstand und -steht: Du bist, was deine Gene sagen, was du bist; du bist, in welche Klasse du hineingeboren bist oder du bist, was dein Vater dir erlaubt zu sein. Die Ausweisung des Theatralen als neoliberalem Machttypus hier also derart zu verstehen, damit gleichsam eine fundamentale Kritik und Kampfansage an die Theatralität zu verbinden, wäre eine falsche Interpretation des Standpunkts dieser Studie. Neoliberalismus wurde nicht als Kampfbegriff ins Feld geführt – seine zu Leidensdruck führenden Symptome werden hier vielmehr als ambivalent und reformbedürftig als in ihren pathologischen Extremen dringend zu drosseln beschrieben. Folglich soll hier also weder dazu aufgerufen werden, die abstrakte Maschine zu zerschlagen, noch legt die Studie nahe, daran zu verzweifeln, dass ein Außerhalb dieses Systems nicht möglich ist. Die aufgezeigten Ambivalenzen können somit auch nicht den Schluss zur Folge haben, vom Applied Theatre abzuraten und sich Menschen in prekären Situation nicht mehr zuzuwenden. So kann der Gestus einer normierenden Intervention eben auch nicht einer Fundamentalkritik unterliegen, die zur Folge hätte, sich in politischer Apathie von allem zurückzuziehen. Wenn ein ambivalentes, undurchschaubares System, das schützt, aber auch tötet, das das Streben nach Glück, aber auch Ausbeutung ermöglicht, Feinjustierungen zur Verbesserung zulässt, dann erscheint es als das kleinste Übel, die Verhältnisse für die Hilfsbedürftigen und Übergangenen zu verbessern, obgleich damit das System beibehalten und gar stabilisiert wird: Die Antwort des Applied Theatre auf die hier aufgeworfenen ethischen Dilemmata kann also nur ein situatives ethisches Handeln in einem System des ethischen Relativismus sein.
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Resümee 1 Statement von Christina Aus der Au, Tagesschau vom 24. Mai 2017, 20-Uhr-Ausgabe, ARD, www.youtube.com/watch?v=KSDiOkARrbU, 00:04:45. 2 Vgl. Agamben: S. 39. 3 Vgl. ebd. 4 Vgl. ebd., S. 27. 5 Vgl. ebd. 6 Vgl. ebd., S. 29f. 7 Vgl. Harvie: S. 50–55. 8 Vgl. Bröckling: Das unternehmerische Selbst, S. 66. 9 Vgl. Agamben: S. 23. 10 Vgl. ebd., S. 19f. 11 Ebd., S. 27. 12 Vgl. ebd., S. 36. 13 Vgl. ebd., S. 29. 14 Vgl. ebd., S. 27. 15 Ebd., S. 26. 16 Vgl. ebd., S. 30 u. S. 39. 17 Ebd., S. 27. 18 Ebd., S. 39. 19 Ebd., S. 34. 20 Vgl. ebd. 21 Bröckling: „Totale Mobilmachung“, S. 160. 22 Siegmund: Theater als ästhetisches Dispositiv. 23 Ackroyd: „Applied Theatre an Exclusionary Discourse?“, S. 7. 24 Vgl. Warstat u. a.: „Einleitung“, S. 17. 25 Vgl. Ackroyd: „Applied Theatre: Problems and Possibilities“, S. 6. 26 Laux, Renner, Schütz: „Theatralität, Körpersprache und Persönlichkeit“, S. 244. 27 Bröckling: „Totale Mobilmachung“, S. 160. 28 Vgl. Siegmund: „Theater als ästhetisches Dispositiv“: „Doch wäre Theater nur ein Einüben von auf Normierung zielendem Verhalten, würden wir wohl kaum hingehen.“ 29 Vgl. Bröckling, Das unternehmerische Selbst, S. 209f. 30 Vgl. Thompson, James: „Für eine Ästhetik der Fürsorge“, Warstat, Matthias u. a. (Hg.): Applied Theatre – Rahmen und Positionen, Berlin 2017, S. 90–108, hier S. 104f.
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ANHANG
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Anhang Verzeichnis öffentlicher Aufführungen Anthony McCall: Line Describing a Cone, 1973, 31 Minuten. In einer Kopie der Freunde der Deutschen Kinemathek e. V. aufgeführt im Institut für Theaterwissenschaft an der Freien Universität Berlin, 13. Dezember 2005 Talking Straight: Entertainment, Maxim Gorki Theater, Berlin, 25. Februar 2016. SIGNA: Club Inferno, Volksbühne am Rosa-Luxemburg-Platz, Berlin, 8. März 2013. SIGNA: Söhne & Söhne, Deutsches Schauspielhaus, Hamburg, 17. Dezember 2015.
Verzeichnis öffentlicher Vorträge Adamowsky, Natascha: „Copy – Gedanken zur ludischen Praxis des Nachahmens“, Vortrag auf der Konferenz Unfreiwillige Spiele – Zur Formung von Subjektivität in einer theatralen Gesellschaft, Institut für Theaterwissenschaft, Freie Universität Berlin, 3. Juli 2015. Flotron, Marianne: Publikumsgespräch auf der Konferenz Unfreiwillige Spiele – Zur Formung von Subjektivität in einer theatralen Gesellschaft, Institut für Theaterwissenschaft, Freie Universität Berlin, 4. Juli 2015. Kolesch, Doris: „Prosumer Portfolio: Towards an Aesthetic of Affective Values“, Vortrag auf der Konferenz Profitable Aesthetics. Performative Strategies of Involvement, Akademie der Künste, Berlin, 21. Oktober 2016. Kopp, Herwig: „Nordic-Larp – Hirnforschung, Bleeding und echte Gefühle“, Vortrag im Panel „Entgrenzte Spiele“ im Rahmen des Gamefest 2016 im Computerspielemuseum Berlin, 24. April 2016. Skeiker, Fadi: Vortrag zum Applied Theatre mit politischen Aktivistinnen und Geflüchteten, Institut für Theaterwissenschaft, Freie Universität Berlin, 9. Juni 2016. Thorau, Henry: Gastvortrag im Rahmen des Workshops Theatre for change today des ERC-Projekts The Aesthetics of Applied Theatre am Institut für Theaterwissenschaft der Freien Universität Berlin, 13. Juni 2014.
Interviews O. L., Personalmanager, Pharma-AG, zuständig für die Neuimplementierung eines Assessment-Center-Verfahrens in einem multinationalen Konzern. Im Interview mit dem Autor am 29. Oktober 2013. S. P., HR Senior Recruitment Consultant, Software-AG, zuständig für die Durchführung von Bewerbertagen bei einem großen deutschen Softwarehersteller. Im Interview mit dem Autor am 2. Dezember 2013. B. O., Unternehmenstheateranbieter. Im Publikumsgespräch mit dem Autor im Rahmen des Workshops „Zwischen Freiheit und Norm!? Theater in Therapie und in Unternehmen“ am 22. Februar 2014. S. E., Theatertherapeutin. Im Publikumsgespräch mit dem Autor im Rahmen des Workshops „Zwischen Freiheit und Norm!? Theater in Therapie und in Unternehmen“ am 22. Februar 2014. P. L., Unternehmenstheateranbieter, Coach, Psychologe. Im Interview mit dem Autor im Rahmen eines Präsentationstags am 9. Mai 2014. S. A., Seminarschauspielerin, Trainer und Coach in Assessment-Center-Prozessen, Potentialanalyseverfahren und im Mitarbeiter-Coaching. Im Interview mit dem Autor im Rahmen eines Präsentationstags 9. Mai 2014. J. S., Automobilverkäufer. Im Interview mit dem Autor im Rahmen von Feldforschung am 2. Juni 2014. P. L., Unternehmenstheateranbieter, Coach, Psychologe. Im Interview mit dem Autor im Rahmen von Feldforschung am 2. Juni 2014. R. A., Seminarschauspieler, Trainer und Coach in Assessment-Center-Prozessen, Potentialanalyseverfahren und im Mitarbeiter-Coaching. Im Interview mit dem Autor im Rahmen von Feldforschung am 2. Juni 2014. S. R., Servicemitarbeiter, Vertragswerkstatt, Automobil AG. Im Interview mit dem Autor im Rahmen von Feldforschung am 2. Juni 2014.
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3 Maschinensturm? S. C., Seminarschauspieler, Freiberufler, Coach und Spielpartner in Assessment-Center- und Potentialanalyseverfahren, Rhetoriktrainer, Synchronsprecher. Im Interview mit dem Autor am 25. Juni 2014. P. L., Unternehmenstheateranbieter, Coach, Psychologe. Im Interview mit dem Autor im Rahmen von Feldforschung am 3. Oktober 2014. W. I., Unternehmenstheateranbieter. Im Interview mit dem Autor im Rahmen eines Präsenta tionstags am 3. Dezember 2014. M. E., ehemaliger Filialleiter, Versicherungs-AG, Führungskraft im Auswahlkomitee von Assessment-Center-Verfahren. Im Interview mit dem Autor am 17. Februar 2015. S. T., Nachwuchsführungskraft, Second Level Manager, Call Center Outsourcing AG. Im Interview mit dem Autor am 12. April 2015. Dr. med. S. H., Facharzt für Allgemeinmedizin, zuständig für Prüfungen im Rahmen der objective structured clinical examination für Studierende der Medizin des zweiten Studienabschnitts der UKSH-Kiel. Im Interview mit dem Autor am 8. Mai 2015. R. F., Unternehmenstheateranbieter, Coach, Rhetoriktrainer, Sachbuchautor. Im Publikumsgespräch mit dem Autor am 7. November 2015 im Rahmen des Workshops „Staging Business – Theater in Unternehmen“. F. L., Bewerberin im Auswahlverfahren, Consulting AG. Im Interview mit dem Autor am 27. Juli 2017.
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Danksagung Vielen Leuten gilt bei der Entstehung dieses Buches mein Dank. Und außerordentlich dankbar bin ich dabei für sehr unterschiedliche Dinge: War die eine Person ein entscheidender Tippgeber für Forschungsliteratur oder eine aufmerksame Korrekturleserin, leistete mir die andere einen Vertrauensvorschuss und ermöglichte mir damit generell das Arbeiten an dieser Studie. Wieder andere waren geduldiges Testpublikum meiner Forschungsthesen, eine emotionale Stütze in einer Zeit, in der die Trauerfälle in meiner Familie nicht abreißen wollten, oder nahmen gleich mehrere dieser Rollen ein. Sie in eine Reihenfolge zu setzen, fällt mir schwer – sie lassen sich nicht leichtfertig von selbst ordnen, weder nach Funktion noch nach dem Grad der Bedeutung für mich. So soll aus dieser Liste keine Hierarchie meines Danks herausgelesen werden. Mein Dank gilt Matthias Warstat, meinem Doktorvater, der mir vertraut hat, dass ich diese Studie im Rahmen seines Forschungsprojekts The Aesthetics of Applied Theatre erfolgreich werde durchführen können, der sich immer Zeit für meine Fragen genommen und in intensiven Gesprächen meinen Blick auf meinen Gegenstand geschärft hat. Des Weiteren spreche ich meinem Tutor Julius Heinicke meinen Dank aus, der ebenfalls immer ein offenes Ohr für Fragen und Probleme hatte und mein Schreiben mit konstruktiver Kritik in die richtigen Bahnen gelenkt hat. Ich danke auch den Kommissionsmitgliedern meiner Disputation, Doris Kolesch, Jan Lazardzig und Adam Czirak für ihr aufrichtiges Interesse und dafür, dass sie sich bereit erklärt haben, mich bei meiner letzten Prüfung zu begleiten. Weiterhin möchte ich meinen Dank gegenüber den Mitarbeiterinnen vom Verlag Theater der Zeit für die kompetente Betreuung meiner Publikation aussprechen – insbesondere genannt seien hier Paul Tischler, Nicole Gronemeyer und Erik Zielke. Der Richard Stury Stiftung danke ich für die großzügige Förderung meiner Schrift.
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Ohne die Unterstützung der zahlreichen Interviewpartnerinnen weiterhin, die aus offensichtlichen Gründen anonym bleiben müssen, wäre diese Arbeit nicht entstanden. Bei meinen Arbeitskolleginnen Gerke Schlickmann, Joy Kristin Kalu, Natascha Siouzouli, Janina Möbius, Lillian Seuberling und Michael Lorber sowie meinem amerikanischen Freund und Kollegen Michael Chemers von der UC Santa Cruz bedanke ich mich für inhaltliche Hinweise, Literaturtipps, Korrekturlesen und generell für das gemeinsame Arbeiten. Auch die unersetzliche Unterstützung des Arbeitsalltags im Institut für Theaterwissenschaft der FU Berlin durch Dorith Budich, Lisanne Wiegand und Jule Gorke soll nicht unerwähnt bleiben. Kristina Sommerfeld danke ich für die Arbeit an der Erstellung einer Grafik für meine Dissertationsschrift. Ausdrücklicher Dank gilt meinem Kollegen und Freund Fabian Lempa, der nicht nur langjähriger Diskussionspartner und Begleiter auf Geschäftsreisen und Konferenzen war, sondern auch zusammen mit Kristin Flade durch persönlichen Einsatz dafür Sorge trug, dass unsere gemeinsame Herausgeberschaft des Sammelbandes Applied Theatre – Rahmen und Positionen erfolgreich abgeschlossen wurde, während ich meinen Vater zu Grabe tragen musste. Meine Freunde Hannah und Josef Wälzholz, Rafael Ugarte Chacón, Michael Martin, Melanie Kießig und Nike Masing waren Stützen in Momenten von Selbstzweifel und Verlust. Insbesondere Simon Vitus Schuknecht und Max Stamm haben berufliche und private Höhen und Tiefen der letzten fünf Jahre begleitet wie Brüder. Meiner Familie, meinen Tanten, meinem Großcousin und seiner Frau, Udo und Gunhild Mednis, meiner Großmutter Marie Luise Evers und allen voran meiner Mutter Manuela Evers danke ich für die Unterstützung, das Interesse und das Vertrauen über all die Jahre. Die meinen Dank nicht mehr lesen können, bleiben in liebevoller Erinnerung – meine Großeltern Willi und Ellen Döhring, mein Großvater Fritz Evers und mein Vater, Michael Evers, der mir jeden Tag fehlt. Besonders zu Dank verpflichtet bin ich meiner guten Freundin und Kollegin Kristin Flade, die Diskussionspartnerin, Beraterin und mein Vorbild für das Arbeiten als Dozent und Autor war. Auch in größter Verzweiflung gab es immer eine Hand, die sich in meine legte und eine Stimme, die mir Mut zusprach, dass dieses Labyrinth gemeinsam durchschritten werden kann: Ohne die unerschöpfliche Geduld, meiner Verausgabung zu begegnen, den scharfsinnigen Sachverstand, wieder und wieder mein Schreiben mit mir zu diskutieren und das mitfühlende Herz, mich durch die Trauer zu begleiten – ohne Sarah Klaue wäre diese Arbeit nicht entstanden.
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Foto © Marta Elias Grifoll
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Der Autor Dr. Florian Evers, Theater- und Filmwissenschaftler, geboren 1981 in Lübeck, arbeitete als Autor, Game Designer und Dozent in Berlin. 2011 erschien seine Studie Vexierbilder des Holocaust zu Darstellungen der Shoah in der Populärkultur. Bei der Ludic Philosophy GmbH schrieb er als Teil des Entwicklerteams in Co-Autorschaft für den transmedialen Online- Thriller Twinkomplex. 2018 promovierte er mit der Benotung summa cum laude im Rahmen des European-Research-Council-Projekts The Aesthetics of Applied Theatre am Institut für Theaterwissenschaft der Freien Universität Berlin.
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RECHERCHEN 137 Jost Hermand . Die aufhaltsame Wirkungslosigkeit eines Klassikers Brecht-Studien 136 Recycling Brecht Materialwert, Nachleben, Überleben 135 Flucht und Szene Perspektiven und Formen eines Theaters der Fliehenden 134 Willkommen Anderswo – sich spielend begegnen Theaterarbeiten mit Einheimischen und Geflüchteten 133 Clemens Risi . Oper in performance Analysen zur Aufführungsdimension von Operninszenierungen 132 Helmar Schramm . Das verschüttete Schweigen Texte für und wider das Theater, die Kunst und die Gesellschaft 131 Vorstellung Europa – Performing Europe Interdisziplinäre Perspektiven auf Europa im Theater der Gegenwart 130 Günther Heeg . Das Transkulturelle Theater 129 Applied Theatre . Rahmen und Positionen 128 Torben Ibs . Umbrüche und Aufbrüche 127 Günter Jeschonnek. Darstellende Künste im öffentlichen Raum 126 Christoph Nix . Theater_Macht_Politik 125 Henning Fülle . Freies Theater 124 Du weißt ja nicht, was die Zukunft bringt . Die Expertengespräche zu „Die Schutzflehenden / Die Schutzbefohlenen“ am Schauspiel Leipzig 123 Hans-Thies Lehmann . Brecht lesen 121 Theater als Intervention . Politiken ästhetischer Praxis 120 Vorwärts zu Goethe? . Faust-Aufführungen im DDR-Theater 119 Infame Perspektiven . Grenzen und Möglichkeiten von Performativität 118 Italienisches Theater . Geschichte und Gattungen von 1480 bis 1890 117 Momentaufnahme Theaterwissenschaft Leipziger Vorlesungen 116 Kathrin Röggla . Die falsche Frage Vorlesungen über Dramatik 115 Auftreten . Wege auf die Bühne 114 FIEBACH . Theater. Wissen. Machen 113 Die Zukunft der Oper zwischen Hermeneutik und Performativität 112 Parallele Leben . Ein Dokumentartheaterprojekt 111 Theatermachen als Beruf Hildesheimer Wege 110 Dokument, Fälschung, Wirklichkeit Dokumentarisches Theater 109 Reenacting History: Theater & Geschichte 108 Horst Hawemann . Leben üben – Improvisationen und Notate 107 Roland Schimmelpfennig . Ja und Nein Vorlesungen über Dramatik
RECHERCHEN 106 Theater in Afrika – Zwischen Kunst und Entwicklungszusammenarbeit 105 Wie? Wofür? Wie weiter? Ausbildung für das Theater von morgen 104 Theater im arabischen Sprachraum 103 Ernst Schumacher . Tagebücher 1992 – 2011 102 Lorenz Aggermann . Der offene Mund 101 Rainer Simon . Labor oder Fließband? 100 Rimini Protokoll . ABCD 99
Dirk Baecker . Wozu Theater?
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Das Melodram . Ein Medienbastard
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Magic Fonds – Berichte über die magische Kraft des Kapitals
96
Heiner Goebbels . Ästhetik der Abwesenheit Texte zum Theater
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Wolfgang Engler . Verspielt Essays und Gespräche
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Die andere Szene . Theaterarbeit und Theaterproben im Dokumentarfilm
87
Macht Ohnmacht Zufall Essays
84
B. K. Tragelehn . Der fröhliche Sisyphos
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Die neue Freiheit . Perspektiven des bulgarischen Theaters Essays
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Working for Paradise . Der Lohndrücker. Heiner Müller Werkbuch
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Die Kunst der Bühne – Positionen des zeitgenössischen Theaters Essays
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Woodstock of Political Thinking . Zwischen Kunst und Wissenschaft Essays
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Falk Richter . TRUST Inszenierungsdokumentation
75
Müller Brecht Theater . Brecht-Tage 2009 Diskussionen
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Frank Raddatz . Der Demetriusplan Essay
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Radikal weiblich? Theaterautorinnen heute Aufsätze
71
per.SPICE! . Wirklichkeit und Relativität des Ästhetischen Essays
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Reality Strikes Back II – Tod der Repräsentation Aufsätze und Diskussionen
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Das Angesicht der Erde . Brechts Ästhetik der Natur Brecht-Tage 2008
65
Sabine Kebir . „Ich wohne fast so hoch wie er“ Steffin und Brecht
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Theater in Japan Aufsätze
63
Vasco Boenisch . Krise der Kritik?
62
Anja Klöck . Heiße West- und kalte Ost-Schauspieler?
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Theaterlandschaften in Mittel-, Ost- und Südosteuropa Essays
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Elisabeth Schweeger . Täuschung ist kein Spiel mehr Aufsätze
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Helene Varopoulou . Passagen . Reflexionen zum zeitgenössischen Theater
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Kleist oder die Ordnung der Welt
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Im Labyrinth . Theodoros Terzopoulos begegnet Heiner Müller Essay und Gespräch
Erhältlich in Ihrer Buchhandlung oder unter www.theaterderzeit.de
RECHERCHEN 55
Martin Maurach . Betrachtungen über den Weltlauf . Kleist 1933 – 1945
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Strahlkräfte . Festschrift für Erika Fischer-Lichte Essays
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Angst vor der Zerstörung Tagungsbericht
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Joachim Fiebach . Inszenierte Wirklichkeit
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Die Zukunft der Nachgeborenen . Brecht-Tage 2007 Vorträge und Diskussion
46
Sabine Schouten . Sinnliches Spüren
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Sire, das war ich – Zu Heiner Müllers Stück Leben Gundlings Friedrich von Preußen Werkbuch
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Friedrich Dieckmann . Bilder aus Bayreuth Essays
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Durchbrochene Linien . Zeitgenössisches Theater in der Slowakei Aufsätze
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Stefanie Carp . Berlin – Zürich – Hamburg Essays
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Das Analoge sträubt sich gegen das Digitale? Tagungsdokumentation
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Politik der Vorstellung . Theater und Theorie
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Theater in Polen . 1990 – 2005 Aufsätze
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Brecht und der Sport . Brecht-Tage 2005 Vorträge und Diskussionen
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VOLKSPALAST . Zwischen Aktivismus und Kunst Aufsätze
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Carl Hegemann . Plädoyer für die unglückliche Liebe Aufsätze
27
Johannes Odenthal . Tanz Körper Politik Aufsätze
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Gabriele Brandstetter . BILD-SPRUNG Aufsätze
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Falk Richter – Das System Materialien Gespräche Textfassungen zu „Unter Eis“
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Die Insel vor Augen . Festschrift für Frank Hörnigk
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Szenarien von Theater (und) Wissenschaft Aufsätze
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Jeans, Rock & Vietnam . Amerikanische Kultur in der DDR
13
Manifeste europäischen Theaters Theatertexte von Grotowski bis Schleef
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Hans-Thies Lehmann . Das Politische Schreiben Essays
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Brechts Glaube . Brecht-Tage 2002 Vorträge und Diskussionen
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Friedrich Dieckmann . Die Freiheit ein Augenblick Aufsätze
9 Gerz . Berliner Ermittlung Inszenierungsbericht 8
Jost Hermand . Brecht-Aufsätze
7
Martin Linzer . „Ich war immer ein Opportunist…“ Gespräche
6
Zersammelt – Die inoffizielle Literaturszene der DDR
Vorträge und Diskussionen
4
Rot gleich Braun . Brecht-Tage 2000 Vorträge und Diskussionen
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Adolf Dresen . Wieviel Freiheit braucht die Kunst? Aufsätze
1 Maßnehmen . Zu Brechts Stück „Die Maßnahme“ Vorträge und Diskussionen
Erhältlich in Ihrer Buchhandlung oder unter www.theaterderzeit.de
Das Assessment Center ist in vielen Unternehmen gängiges Instrument zur Personalauswahl und -entwicklung, mit ihm wird darüber entschieden, wer einen Arbeitsplatz erhält – oder auch behält – und damit Zugang zur privilegierten Teilhabe an unserem gegenwärtigen neoliberalen Gesellschaftsmodell hat. Florian Evers legt in seiner Studie erstmals dar, inwieweit diese Prozesse aus dem Unternehmensalltag Spielformen des Applied Theatre darstellen. Er beschreibt das Assessment Center als ein gesellschaftlich wirksames Scharnier zwischen Theater und Theatralität des Alltags. Selbst- und Weltverhältnis werden hier zum Gegenstand eines ernsten Spiels, das in soziale wie ökonomische Strukturen interveniert.