Spieltrieb. Was bringt die Klassik auf die Bühne? Schillers Ästhetik heute

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Arnold Aronson . Suzanne Barnard . Claudia Blümle . Anne Bogart . Gabriele Brandstetter . Marcus Coelen . Simon Critchley . Felix Ensslin . Dorothea von Hantelmann . Günther Heeg . Hans-Christian von Herrmann . Hans-Thies Lehmann . Christoph Menke . Nikolaus Müller-Schöll . Barbara Piatti . Jacques Rancière . Juliane Rebentisch . Howard Rouse . Joseph Vogl . Alenka Zupan_i_

cher aktueller Ansätze und Perspektiven aus den Theater-, Kunst- und Kulturwissenschaften, der Philosophie wie der Germanistik. Die Auseinandersetzung mit zeitgenössischer künstlerischer, theatralischer und kritischer Praxis bildet einen weiteren Schwerpunkt.

ISBN 3-934344-66-6

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Der Band dokumentiert die gleichnamige Konferenz am Deutschen Nationaltheater Weimar im November 2005. Die versammelten Vorträge kreisen um das Verhältnis von Politik und Ästhetik. Schillers „ästhetische Erziehung des Menschen“, sein „Spieltrieb“-Begriff dienen als Ausgangs- und Bezugspunkt unterschiedli-

Spieltrieb. Was bringt die Klassik auf die Bühne?

Theater der Zeit

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Felix Ensslin (Hg.)

Schillers Ästhetik heute

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Abbildungsverzeichnis S. 117: © Heiko W. Rupp S. 160: © Barbara Piatti, Tells Theater, Verlag Schwabe Basel S. 175: © Schiller-Nationalmuseum Marbach, Brief an Körner 23. Februar 1793 S. 186, 193, 194: © Lions Gate Entertainment Inc., Santa Monica S. 213: © National Gallery of Scotland, Edinburgh S. 217: © aus: Lacan, Jacques: Die vier Grundbegriffe der Psychoanalyse. Seminar XI, Weinheim/Berlin 1996, S. 112, © Quadriga Verlag in der Ullstein Buchverlage GmbH, Berlin S. 219: aus: Lacan, Jacques: Die Objektbeziehung. Seminar IV, Wien 2003, © Verlag Turia + Kant S. 220, 222: aus: Caillois, Roger: Méduse et Cie, Paris 1960, © Natural History Museum London S. 285: © A.C.T. San Francsico/Ken Friedman S. 289: © Shakespeare Theatre, Washington D.C./Carol Rosegg Wir haben uns bemüht, alle Rechteinhaber zu ermitteln und zu kontaktieren. Weitere berechtigte Ansprüche bitten wir an den Verlag zu richten.

Spieltrieb. Was bringt die Klassik auf die Bühne? Schillers Ästhetik heute Herausgegeben von Felix Ensslin Recherchen 34 © 2006 by Autorinnen und Autoren Texte und Abbildungen sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung, die nicht ausdrücklich im Urheberrechts-Gesetz zugelassen ist, bedarf der vorherigen Zustimmung des Verlages. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Bearbeitungen, Übersetzungen, Mikroverfilmung und die Einspeisung und Verarbeitung in elektronischen Medien. www.theaterderzeit.de Redaktion: Anna Häusler, Antonia Marten Gestaltung: Sibyll Wahrig Umschlagabbildung: unter Verwendung des Logos der Spieltrieb-Konferenz am Deutschen Nationaltheater Weimar von Azim Akcivan Bildbearbeitung: Druckhaus Galrev, Berlin – Margret Kowalke-Paz Druck und Bindung: Tastomat Druck Eggersdorf Printed in Germany ISBN 978-3-95749-555-6 (E-PDF)

gefördert durch die


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Herausgegeben von Felix Ensslin

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Inhalt

KAPITEL 0: AUFTAKT Felix Ensslin Spieltrieb – Eine kurze Einführung

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Felix Ensslin im Gespräch mit Jacques Rancière

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Marcus Coelen Verstreute Bemerkungen zum Begriff des Ästhetischen

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Jacques Rancière Was bringt die Klassik auf die Bühne?

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Jacques Rancière Schiller und das ästhetische Versprechen

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KAPITEL I: POLITIK LE PARTAGE DU SENSIBLE: DIE MACHT DER ÄSTHETIK Christoph Menke Vom Schicksal ästhetischer Erziehung Rancière, Posa und die Polizei Juliane Rebentisch Demokratie und Theater Hans-Thies Lehmann Politik des Enthusiasmus – Enthusiasmus der Macht Versuch über Schiller

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71 82

Joseph Vogl Ästhetik und Polizey

101

Dorothea von Hantelmann Grenzen der Kritik: Jeff Koons und die Aufteilung des Sinnlichen

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KAPITEL II: POETIK POETIK UND WISSEN: DER KAMPF UMS SYMBOLISCHE Howard Rouse Das Durchqueren des Fantasmas der Moderne: Von Schiller und Goethe bis Brecht

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Simon Critchley Theater ist Narzissmus – Über Jean-Jacques Rousseaus Narziss

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Inhalt

Barbara Piatti Schillers Schauplätze und die Topographie des Wilhelm Tell Gabriele Brandstetter Schillers Spielbein: Bewegung und Tanz Zu einer Ästhetik im Zeichen von movere

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KAPITEL III: PSYCHOANALYSE SPIEL: EINE BEGEGNUNG MIT DEM REALEN? Suzanne Barnard ›The Play’s the Thing‹: En-corps und die Jouissance des Anderen

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Alenka Zupanc̀´ ic̀´ Real-Spiel

200

Claudia Blümle Maske und Schirm Zur Blickfunktion des Vorhanges in Tizians Gemälde Diana und Aktaion

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Hans-Christian von Herrmann Freud liest Sophokles Zur Theatralität der Psychoanalyse

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KAPITEL IV: PRAXIS DIE BÜHNE DER KLASSIK: PERSPEKTIVEN AUF DIE PRAXIS Günther Heeg Schillers Tragik aufgeführt Nikolaus Müller-Schöll Entstaltung der moralischen Anstalt Zur Ausstellung der Sprachbildung im Trailer von Einer Schleefs Inszenierung Wessis in Weimar

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Anne Bogart Kunst, Theater und Kontext heute

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Arnold Aronson Über das Inszenieren klassischer Dramen in den Vereinigten Staaten

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ANHANG Autorinnen und Autoren

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SPIELTRIEB – EINE KURZE EINFÜHRUNG

Als sich im November des Schillerjahres 2005 am Deutschen Nationaltheater 17 Referenten und 100 Teilnehmer aus vielen Ländern Europas und den USA zusammenfanden, um über die Frage „Spieltrieb. Was bringt die Klassik auf die Bühne?“ zu diskutieren, war allen bewusst, dass zwar viel Spiel, aber doch auch viel Anstrengung auf sie zukommen würde. Die heterogene Zusammensetzung des Programms forderte von den Referenten neben der Darlegung eigener Perspektiven im je eigenen Feld, sich in die verschiedensten Diskurse, Positionen und Disziplinen hineinzudenken. Das Ziel der Konferenz war es dabei, anhand der Aktualität der Beschäftigung mit Friedrich Schillers Ästhetik – ob direkt oder indirekt – ein Feld zu beschreiben, vor dessen Hintergrund eine heutige Beschäftigung mit klassischen Theatertexten stattfinden kann – und meiner Meinung nach muss. Dies ist niemals eine Frage nach einer Theorie, die dann in der Theaterpraxis umzusetzen wäre. Es kann dabei nur – und dieses nur ist nicht wirklich eine Einschränkung – darum gehen, durch eine neue und zeitgenössische Lektüre scheinbar Bekanntes wieder fremd zu machen und so neu darauf zu verweisen, what is at stake. Der Band folgt weitestgehend dem Prozedere der Konferenz, das ich im Folgenden kurz nachzeichnen werde. Zuvor allerdings möchte ich kurz darauf eingehen, warum und wie Jacques Rancière mit seinem Rekurs auf Friedrich Schiller in gewisser Weise den Anstoß zu dieser Konferenz gegeben hat – auch wenn er natürlich keineswegs für ihre Zusammensetzung und den Verlauf verantwortlich zu machen ist. Bei seiner Intervention gegen bestimmte postmoderne theoretische Entwicklungen bezieht sich Jacques Rancière – für einige vielleicht überraschend – auf Friedrich Schiller und die Ästhetische Erziehung des Menschen. In Rancières analytischer Dreiteilung der Geschichte der Ästhetik,– also die Aufteilung in ethisches, poetisch-repräsentatives und ästhetisches Regime der Kunst – ist Schiller weit mehr als nur Stichwortgeber für diese letztgenannte Form, für das ästhetische Regime. Vielleicht könnte man anstatt »Regime« auch »Ordnung« sagen. Eine solche Wortwahl könnte auf Hegel zurückgeführt werden, der mit dem Begriff der Herrschaftsform eine jeweils bestimmte Begriffs- und Wirklichkeitsordnung bezeichnet, die nicht auf die politische Ordnung

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in einem engen Sinne beschränkt ist. Die drei genannten Regime – ethisches, mimetisches und ästhetisches – sind Manifestationen dessen, was Rancière die Aufteilung des Sinnlichen nennt: jene unhintergehbare, quasi-transzendentale Anordnung, die darüber entscheidet, was, wann, wie überhaupt Gegenstand einer sinnlichen und intellektuellen Erfahrung sein kann – und vor allem auch für wen. Und darum geht es bei Jacques Rancière: Nach – und neben – derjenigen Kunst, von der man wiederum nach Hegel vielleicht sagen könnte, dass sie selbst untrennbarer Teil einer »ethischen Substanz« oder einer Staatskunst im platonischen Sinne ist; sowie nach – und neben – der mimetisch nachbildenden Form, die sich mit Spiegelung und Repräsentation der politischen, der moralisch-sozialen Wirklichkeit beschäftigt, entsteht u. a., mit und durch Schiller eine »ästhetische Ordnung« der Kunst. Dabei ist für die Frage, die der vorliegende Band aufwirft, wichtig zu verstehen, dass der Gegensatz zwischen den Anciens und den Modernes, wie auch der Gegensatz zwischen klassisch und zeitgenössisch nicht mit dem Begriff des ästhetischen Regimes zu fassen sind. Jacques Rancière besteht darauf, dass »diese Gegensätze insgesamt zum mimetischen Regime der Kunst« gehören. Im »ästhetischen Regime« dagegen, so schreibt er, ist es die »Zukunft der Kunst, ihr Abstoßen von der Gegenwart der Nicht-Kunst, die ununterbrochen die Vergangenheit neu inszeniert.« An dieser Stelle verbinden sich seine Überlegungen mit einer eigenen Lektüre Schillers und vor allem mit dessen Begriffs des Spiels. Denn das »Abstoßen von der Gegenwart der Nicht-Kunst« ist denkbar im Modus des Spiels. Einem Modus, der weit entfernt davon, die Abwesenheit von Ordnung überhaupt zu bedeuten, viel eher einen Zustand der Neutralität, eine Zwischenzone oder vielleicht sogar eine Aufhebung von Form und Stoff, von Vernunft und Sinnlichkeit, vom Einen und Vielen bezeichnet. Es ist dies ein komplexer Begriff, dem man sich nur nähern kann, wenn man einerseits die »Zweckfreiheit« des Spiels zugrunde legt, andererseits aber auch nicht vergisst, dass es um eine je andauernde, und daher in seiner Zeitlichkeit bereits zutiefst politische Ordnung des Ästhetischen geht. Auf Jacques Rancière folgen einige Beiträge, die sich im weiteren Sinne mit dem politischen Feld und seiner Nähe oder Differenz zum Ästhetischen beschäftigen. Einige, wie Juliane Rebentisch oder Christoph Menke, führen dabei einen direkten – auch kritischen – Dialog mit Jacques Rancière über dessen Auslegung und Aktualisierung der Schillerschen »Ästhetischen Erziehung der Menschheit.« Während Rebentisch »mit Rancière« dessen Kritik einer unmittelbaren Verbin-

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dung von Ethik und Politik teilt, will sie »gegen Rancière« zeigen, dass dieser Kritik eine Kritik der »Ethisierung der Ästhetik entsprechen« müsste. Christoph Menke vertritt in seinem Text die These, dass »die Revolution durch ästhetische Erziehung, die nach Rancière auf eine andere ›Aufteilung des Sinnlichen‹, eine Aufteilung der Gleichheit zielt« die »souveräne Herrschaft fortschreibt, gegen die sie sich richtet.« Hans-Thies Lehmann rekonstruiert das Theater Schillers als einen Ort zur »systematischen Erzeugung« von Enthusiasmus, um »so der Anlage zur Moralität, mithin der Sinnhaftigkeit der Mühen um Aufklärung und Humanität, Gerechtigkeit und Moral wieder und wieder Gelegenheit zum Erscheinen zu bieten«. Joseph Vogl sucht den Nachweis zu erbringen, dass die ästhetische Erziehung der Erzeugung eines Dispositivs, dient, das einen »polizeylichen« Zustand erzeugt, während von Schiller die »Polizey« gleichzeitig in einer ästhetischen Hinsicht gedacht wird, und beide zusammen »jene disziplinäre Macht« verkörpern, »die allein einen ›geselligen Charakter‹ produziert.« Am Ende des Kapitels, welches sich mit der Aufteilung des Sinnlichen beschäftigt, steht der Versuch von Dorothea von Hantelmann, in der Praxis Jeff Koons eben eine »Rekonfiguration« dieser Aufteilung in dem durch Jacques Rancière nach Schiller entworfenen Sinne zu diagnostizieren. In einem zweiten Diskussionsblock werden im weiteren Sinne Gegenstände der Poetologie verhandelt. Barbara Piatti versucht aufzuzeigen, dass die Spezifizität der Schauplätze in WILHELM TELL die genreuntypische Möglichkeit eröffnet, von einer »Dramentopographie« zu sprechen. Gabriele Brandstetter verfolgt die historische und poetologische Relevanz der Entwicklung und Metaphorik des Tanzes als »Schillers Spielbein«. Über Jean-Jacques Rousseaus NARZISS schreibt Simon Critchley anhand einer Analyse des Textes und der Reflexion über eine Produktion des Dramas, an der er selbst mitgewirkt hat. Howard Rouse schließlich folgt anhand des Begriffs des Epischen dem »Phantasma der Moderne« von Schiller und Goethe bis Brecht. Ist das »Spiel« als eine Begegnung mit dem Realen zu verstehen? Dieser Frage gehen Alenka Zupanc̀´ic̀´ und Suzanne Barnard nach. Während Barnard vor dem vorausgesetzten Hintergrund der »Ästhetischen Erziehung« eine dokumentarische Arbeit Werner Herzogs darauf hin untersucht, ob die »Jouissance des Anderen« als Genießen des Spiels gelesen werden kann, fragt Zupanc̀´ic̀´ danach, ob der Chor in Schillers fragmentarischer Chortheorie dazu dient, die Dimension des Realen zu eröffnen. Anhand der Malerei untersucht Claudia Blümle die »Blickfunktion des Vorhangs« und verweist damit indirekt auf eine Strukturierung der Erfahrung, auch des Theaters. Hans-Christian von

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Spieltrieb – Eine kurze Einführung

Hermann liest dagegen Freud, der Sophokles liest, um so die immer schon in diese eingeschriebene Theatralität der Psychoanalyse zu untersuchen. Abschließend öffnen sich Perspektiven auf die Praxis: Günther Heeg zieht dabei »Schiller gegen Schiller« heran, die »idealistische Intention gegen ihr Double«. Er sieht Schiller in der Dialektik von Aufklärung und Tragödie gleichermaßen verstrickt, wie die Möglichkeit, dieser Verstrickung durch die Aufführungspraxis mit Schiller entgegen zu arbeiten. Er versucht diese Möglichkeit anhand der DON KARLOS-Inszenierung von Laurent Chétouane zu belegen, in der »der Sprach/Körper der Akteure, die erschütterte Skulptur der Würde, zum tragischen Statthalter des Widerstands gegen die bestehende Ordnung« wird. Anhand der Inszenierung von Rolf Hochhuts WESSIS IN WEIMAR durch Einar Schleef diskutiert Nikolaus Müller-Schöll die Möglichkeit eines »anderen Theaters«, eines »Theaters der Potentialität«, das »mit und gegen die seit dem 18. Jahrhundert dominante Theaterpraxis der moralischen Anstalt« arbeitet. Zwei Gäste aus den USA schließlich eröffnen einen in gewissem Sinne »anderen Blick«: Während der Theaterwissenschaftler Arnold Aronson eine empirische Untersuchung anstellt, die darlegt, dass »Klassiker« – mit Ausnahme Shakespeares – in der amerikanischen Theaterpraxis so gut wie keine Rolle spielen, versucht er anhand einiger Beispiele zu zeigen, wie eine solche Beschäftigung mit Schiller und anderen Autoren in den Vereinigten Staaten und ihrer spezifischen ahistorischen Situation aussehen kann. Anne Bogart dagegen beschreibt anhand ihrer eigenen Praxis als Regisseurin, welche Bedingungen erfüllt werden müssen, um eine »lebendige« Aufführungspraxis auch klassischer Texte zu ermöglichen. Die Konferenz »Spieltrieb. Was bringt die Klassik auf die Bühne?« wurde von der Bundeskulturstiftung gefördert, ohne deren Unterstützung weder die Konferenz selbst, noch dieses Buch hätten verwirklicht werden können. Dafür und für die großartige moralische Unterstützung durch ihre künstlerische Direktorin Hortensia Völckers und ihre Mitarbeiter, allen voran Antonia Lahmé, möchte ich meinen tiefen und bleibenden Dank ausdrücken. Ebenso dem Deutschen Nationaltheater Weimar, besonders seinem Generalintendanten Stephan Märki, der die Konferenz nicht nur mit offenen Armen begrüßt und beherbergt hat, sondern mit der Premiere seiner Inszenierung von MARIA STUART auch einen großen künstlerischen Beitrag geleistet hat. Dunja Funke und dem Rest des Teams aus dem DNT sei auch mit ganzem Herzen für ihre unermüdliche Arbeit vor, während und nach der Konferenz gedankt. Die Bauhaus Universität Weimar, ihr Rektor Herr Prof. Dr. Zimmer-

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Felix Ensslin

mann und Prof. Dr. Jens Geelhaar haben die Konferenz im schönen Oberlichtsaal des van de Velde Hauses der Universität begrüßt und neben der fruchtbaren geistigen Atmosphäre auch für leibliches Wohl mit gesorgt – dafür ein herzliches Danke. Marcus Coelen, der mit mir die Moderation der Konferenz teilte und mir weit darüber hinaus mit Rat und Tat zur Seite stand, meinen Dank in Freundschaft; Antonia Marten will ich besonders danken, für ihre hervorragende kuratorische und redaktionelle Mitarbeit. Meinen Dank auch, an Harald Müller und seine Mitarbeiter beim Verlag Theater der Zeit, insbesondere Anna Häusler, die es ermöglicht haben, dass dieser Band so schnell erscheinen kann, kaum dass das letzte Wort der Konferenz in den Hallen der Bauhaus-Universität gesprochen wurde.

Felix Ensslin, Weimar im Januar 2006

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FELIX ENSSLIN IM GESPRÄCH MIT JACQUES RANCIÈRE

Felix Ensslin: In letzter Zeit sind Sie, für einige vielleicht überraschenderweise, auf Friedrich Schiller und seine »ästhetische Erziehung des Menschen« zurückgekommen, als Beispiel oder als eine Quelle dafür, innerhalb des ästhetischen Regimes eine Möglichkeit der Spannung zwischen Gesetz und Sinnlichkeit zu denken. Es geht dabei um die Möglichkeit, durch das Spiel einen Raum zu finden oder einen Raum neu aufzuteilen, so dass das Subjekt weder dem – wie Schiller es nennen würde – »Formtrieb«, noch dem »Stofftrieb« unterworfen ist. Während der Konferenz haben wir darüber aus vielen Perspektiven gesprochen, und eine Sache ist mir hier aufgefallen: Es scheint einen Unterschied zu geben in der Rezeption innerhalb eines französischen Kontextes einerseits, und andererseits bei einigen Ihrer deutschen Leser, die Schiller in ablehnender Weise sofort mit einem Gesamtkonzept deutscher Geschichte in Verbindung bringen. Was also war Ihr Beweggrund, auf Schiller zurückzukommen und was denken Sie über die Unterschiede in der Rezeption in Frankreich und Deutschland? Jacques Rancière: Zu aller erst würde ich nicht unbedingt sagen, dass ich bewusst zu Schiller zurückgekehrt bin, denn eher zufällig fand ich eines Tages im Buchladen eine Übersetzung der ÄSTHETISCHEN ERZIEHUNG DES MENSCHEN, die gerade im Angebot war. Und zu dieser Zeit, vor ungefähr zwanzig, dreißig Jahren, beschäftigte ich mich gerade mit der Arbeiterbewegung und mit der ästhetischen Dimension dieser Emanzipationsbewegung. Dies war ebenso die Zeit, in der Bourdieu seine Kritik an der Ästhetik formulierte, an Kant und Schiller, an der »reinen Ästhetik« – all dies sei eine Art von Illusion, die sich über die Basis der Klassenkämpfe etc. legte. Aber ich würde sagen, dies war nicht mein wichtigster Beweggrund. Vielmehr war es so, dass ich dachte, genau an dieser Stelle etwas zu sehen, das mit dem, was ich in der Arbeiterbewegung beobachten konnte, einher ging: Die Art der Veränderung in der Beziehung zwischen Verstand und Sinnlichkeit, die von Schiller gedacht wurde, korrespondiert mit der Veränderung, die in der Emanzipation der Arbeiter potentiell angelegt war. Dies war also mein erster Grund. Es war keine Rückkehr, sondern eher Zufall. Die zweite Phase stand im Kontext der politischen und ästhetischen Diskussion in Frankreich. Und im Besonderen war es vielleicht ein Verweis auf die Bedeutung des Begriffs des Erhabenen.

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Felix Ensslin im Gespräch mit Jacques Rancière

FE: Lyotard … JR: Lyotard. Da war also dieses neue Beharren auf der Bedeutung des Erhabenen. Und Kant insgesamt, wie der ästhetische Bruch im Besonderen, wurden als Frucht des Begriffs des Erhabenen gelesen. Das Erhabene wurde mehr und mehr mit einer Art des Gesetzes des Anderen identifiziert, mit Mangel und … FE: … mit diesem radikalen Anderssein, welches irgendwie niemals erreicht und verstanden wird … JR: … genau. Also würde ich sagen, dass meine zweite Verbindung zu Schiller keine zufällige war, sondern sehr bewusst geschah. Ich wollte versuchen, genau das zu denken, was ich ›Dissens‹ nenne – was für mich bedeutet, dass die ästhetischen Sinne, die ästhetische Erfahrung eine Art der Dissoziation mit der Ordnung, mit dem Ordnungssinn – der bestehenden Konfiguration des Sinnlichen – hervorruft. Dies wollte ich denken, ohne in die Kategorien des Erhabenen zurückzufallen. FE: Und würden Sie dann sagen, dass Sie in einem gewissen Sinne ganz bewusst zu Schiller zurückgekehrt sind, um den Begriff des Schönen gegen die Vorherrschaft des Erhabenen im zeitgenössischen Diskurs einzusetzen, als sie diesen zweiten Impuls zu ihrer Schillerlektüre aufnahmen? JR: Ja, so kann man das sagen. Es ging nicht um eine ›Rückkehr zu Schiller‹. Es gab einen Streit, ein Problem und ich würde sagen, dass vor allem Kants Ästhetik im Zentrum dieses Streits steht. Und so gebe ich meine eigene Interpretation, indem ich Schillers Lesart der von Lyotard entgegenstelle. Weil ich denke, das Interessante daran ist, dass Lyotards Lesart in gewissem Sinne eine Art Umkehrung von Schillers Kantinterpretation ist, die auch aus einer Art Umkehrung einer emanzipatorischen Tradition besteht, hin zu einer Tradition der Verzweiflung, verbunden mit Begriffen der Macht des Anderen. Aber Sie hatten noch eine Frage zur Rezeption in Frankreich und Deutschland? FE: Ja, ich habe in den Diskussionen über Ihren Vortrag und über Vorträge, die sich auf Ihre Arbeit bezogen, bemerkt, dass manche sehr affirmativ waren. Sie betrachteten Ihre Arbeit und bezogen daraus eine Art Befreiung von der Fixierung auf die Bestimmung durch den Anderen. Sie akzeptierten ihre Interpretation der Rekonfiguration der Aufteilung des Sinnlichen durch das Spiel, durch den Begriff des Spiels, als eine Art emanzipatorische Möglichkeit. Aus der Zukunft zurückkommend teilt diese Rekonfiguration die Unterscheidung zwischen Kunst und NichtKunst neu und befreit das Sinnliche. Auf der anderen Seite gab es jene, die fast unmittelbar so zu reagieren schienen, als ob man mit dieser Interpretation Schillers wie in einem verschlossenen Schrank, in einer

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Felix Ensslin im Gespräch mit Jacques Rancière

Schachtel, andere Bedeutungen mittransportiert, die Schiller zu eigen seien. Dies scheint mir ein Ausweichen vor Ihrer gesamten Argumentation zu sein. Begegnen Sie dieser Reaktion auch in der Diskussion mit französischen Kollegen oder in einem französischen oder amerikanischen Kontext, oder ist das etwas Spezifisches hier in Deutschland? JR: Oh, ich denke, das ist spezifisch hier in Deutschland. Weil Schiller natürlich zum einen eine Art nationale Ikone ist. Dann gibt es den historischen Blick auf Schiller als Repräsentant des alten Idealismus des 18. Jahrhunderts. Und drittens ist da die Idee, dass Schiller zu einer bestimmten nationalen Geschichte gehört, einer nationalen kulturellen Geschichte und man sich seiner nicht einfach aus unserem Jahrhundert bemächtigen kann, weil damit so viele Bedeutungen mittransportiert werden und daraus so viel folgt. Nun, ich glaube, das ist dieselbe Art der Reaktion, die deutsche Philosophen an den Tag legen, wenn französische Philosophen auf Heidegger zurückgreifen. FE: Zu den dramatischen Stücken: In Ihrem Vortrag bezogen Sie sich auf DIE RÄUBER. Schiller ist für mich, wenn ich seine Stücke lese, weit davon entfernt, lediglich dieser moralistische Idealist zu sein, der versucht, durch das Erhabene ein Beispiel für die Erziehung des Willens der Menschheit oder für die Erziehung des bourgeoisen Subjekts zu geben. Sondern vielmehr beginnt er mit etwas anderem: einer Art Diagnose eines Zusammenbruchs der Ordnung, die eine Rekonfiguration der Aufteilung des Sinnlichen notwendig macht. So ist er für mich viel mehr durch eine gleichbleibende Suche motiviert, die er auf unterschiedliche Weisen zu verschiedenen Zeiten durchführt. Die »Ästhetische Erziehung« ist eine davon, die klassische Form im Drama ist eine andere. Es ging darum, auf unterschiedlichen Wegen so etwas wie intellektuelle oder begriffliche Werkzeuge zu finden, für diese Rekonfiguration der Aufteilung des Sinnlichen. Ich glaube, in den dramatischen Stücken wird diese Kontinuität der Suche ebenfalls sichtbar. Wenn man beispielsweise die Figuren betrachtet, wie Sie es taten, Karl und Franz Moor. JR: Ja, vielleicht wird in den RÄUBERN alles im Kleinen gesagt, dass nämlich die »Bande mit der Natur zerbrochen« sind. Und es ist sehr wichtig, dass die Gesetze der Natur zerbrochen sind, bzw. unsere Verbindung mit ihnen. Es geht nicht nur darum, dass der böse Sohn, Franz Moor, nicht die Notwendigkeit anerkennt, seinen Vater und seinen Bruder zu lieben. Der Punkt ist Schillers Diagnose, dass wir unseren Platz nicht mithilfe der alten Idee des Kosmos, der Kontinuität zwischen Natur und menschlichem Handeln denken und konstruieren können. Und so, denke ich, erteilen die RÄUBER die Lektion, dass, wenn man nach der Natur handeln will, man zum Monster wird, dass es da einen

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Felix Ensslin im Gespräch mit Jacques Rancière

Bruch gibt. Und ich denke, das, was Schiller mit seinen Stücken auf die Bühne bringt, ist eben dieser Bruch. Nun ist das ein philosophisches, ein politisches und natürlich ebenso ein künstlerisches Problem, weil Schiller von der Idee des Theaters als »moralischer Anstalt« besessen ist. Aber was bedeutet moralische Anstalt? Indem Leute repräsentiert werden, die in dieser oder jener Weise auf der Bühne handeln, sollen die Menschen durch deren Verhalten lernen, was sie zu tun haben und was nicht. Aber eben diese Kontinuität ist abgerissen. Es gibt keine Konsequenz mehr aus dem, was auf der Bühne passiert und was an ein Publikum übermittelt werden sollte. Und ich denke, dass gerade die Idee der »Ästhetischen Erziehung« ein Weg ist, um sich diesem Kampf zu stellen, sich damit auseinander zu setzen. FE: Da die Mimesis, die Möglichkeit der Nachahmung durchbrochen ist, versucht die ästhetische Erziehung ein neues, man könnte beinahe sagen, ein neues ›Werkzeug‹ einzusetzen; Schiller versucht für sich selbst, auch als Dramenschreiber, ein Werkzeug zu erstellen. JR: Es gab einerseits die alte Mimesis mit dem Verständnis vom Theater als »moralischer Anstalt«, und wir können andererseits eine Verbindungslinie ziehen von dieser Übereinstimmung von Repräsentation und Moral zur Idee des freien Spiels. Denn, was ist die Grundidee? Die Grundidee ist die einer Erziehung, die auf einem Aussetzen jedes moralischen Urteils beruht. Die Statue, die Statue der Juno steht mir gegenüber, und Juno tut überhaupt nichts, will überhaupt nichts. Und so gibt sie also keine Lehre, kein Beispiel ab. Hier findet eine Erziehung zu einer neuen Art der Freiheit statt, die nicht gleichzusetzen ist, mit der Imitation freier Menschen oder Völker, wie man sie bei Plutarch findet. Nun wird Freiheit damit vertraut gemacht, etwas aushalten zu müssen, mit der Aufhebung der normalen Kategorien der Erfahrung. FE: Und so kommt er über die Aussage Karl Moors »die Freiheit brütet Kolosse und Extremitäten aus« hinaus zu einer Möglichkeit der Aufhebung, einer Neutralität, die tatsächlich eine Form der sozialen Welt meint. Das ästhetische Regime impliziert eine soziale Welt. JR: Ja. Was Schiller in seinen Briefen sagt, ist, dass, wenn wir wirklich verstehen, was »Spieltrieb«, was »Spiel« bedeutet, können wir nicht nur das Gefüge der Kunst neu errichten, sondern auch die Kunst des Lebens selbst. Dieses neue Verhältnis der Neutralität birgt das Versprechen eines neuen Lebens. Ein neues Leben, in dem die alten Verhältnisse von Macht und Sinnlichkeit, Form und Materie, Aktivität und Passivität sich nicht mehr durchsetzen werden, was ebenso eine Welt ohne Hierarchien bedeutet, ohne diesen Gegensatz zwischen Zivilisation – die tatsächlich Barbarei ist – und Natur, die tatsächlich Wildnis ist.

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Felix Ensslin im Gespräch mit Jacques Rancière

FE: Sicherlich löst Schiller mit diesem Versuch gewissermaßen auch einen Teil des kantianischen Problems in der DRITTEN KRITIK, indem er das ästhetische Urteil im Sinne einer Hierarchisierung wegnimmt und diese in eine Neutralität, in eine Ko-Präsenz der Triebe oder Kräfte überführt. JR: Ja, ich denke, dies ist ohnehin mit dem Begriff des Gemeinsinns verbunden, dem »sensus communis« bei Kant, und es gibt diesen kurzen, sehr interessanten und faszinierenden Abschnitt in Kants KRITIK DER URTEILSKRAFT, worin er auf die französische Revolution anspielt, aber in einer sehr verschlungenen und verdrehten Weise. Er sagt, dass in einer Zeit, in der die Menschen mit einem neuen Freiheitssinn konfrontiert sind, und mit dem neuen Problem, wie Menschen unter einem Gesetz zusammenzufassen sind, das keine Art von Zwang ist, dass in dieser Situation – in der wir offensichtlich die Französische Revolution erkennen – vielleicht der »sensus communis« sich ereignet, der eine neue Welt eröffnen kann. Und ich glaube, es ist nur dieser kleine Einschub, der die Spannung erzeugt. Und er gibt … FE: … ihm eine Form. Keine Form, er eröffnet das Spiel. JR: Ja, genau. FE: Noch eine Frage, die mich interessieren würde: Welche war die letzte Schiller-Produktion, die Sie gesehen haben? Oder haben Sie jemals eine französische Schiller-Produktion gesehen? JR: Nein, ich habe niemals eine französische Schiller-Produktion gesehen. Sie müssen wissen, Schiller wird in Frankreich nicht gespielt. Ich denke, DIE RÄUBER wurde vielleicht vor dreißig Jahren einmal aufgeführt, kurz nach 68. Das war die Stimmung der Zeit. Aber ich erinnere mich an keine Schiller-Produktion in Frankreich in jüngerer Zeit. FE: Das ist tatsächlich wahr, ich weiß von einer RÄUBER-Inszenierung, ich glaube in Lyon, die bei Theaterleuten bekannt war, ich war kaum geboren damals, so dass ich sie nicht sehen konnte. Aber interessant ist natürlich, dass genau diese Inszenierungen der RÄUBER in den sechziger und siebziger Jahren in Deutschland, aber auch in anderen Ländern, hauptsächlich Beispiele des Bezugs auf das Erhabene waren. Und so müssen wir in unserer Zeit vielleicht nach anderen suchen. Ich danke Ihnen für das Gespräch. JR: Danke.

Aus dem Englischen von Antonia Marten. Aufgezeichnet im Rahmen eines Beitrags für das arte-Kulturmagazin »Metropolis«, 26.1.2006.

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Marcus Coelen

VERSTREUTE BEMERKUNGEN ZUM BEGRIFF DES ÄSTHETISCHEN »Gekritzel eines Messers auf Glas«1

Was die Klassik auf die Bühne bringt – was sie vielleicht zwingt, sich auf der Bühne unentwegt zu wiederholen – ist nicht sosehr die ungelöste Frage danach, was genau das Ästhetische sei, das sich mit der Umdeutung, Fehlinterpretation oder dem »namenlos groß[en]«2 symbolischen Raub, mittels derer Kants KRITIK DER URTEILSKRAFT unter Schillers und anderer Hände zu einer Ästhetik und Moralistik der Kunst wurde, einen begrifflichen Namen und mit der »Schaubühne«3 einen ausgezeichneten politischen Ort gefunden hat, sondern vielmehr eine fast nicht zu stellende Frage – und weil sie so schwer zu stellen ist, drängt sie, so kann man vermuten, innerhalb des Klassik-Komplexes umso mehr unterhalb seiner Formulierungen. Die Frage lautet, ob und um welchen Preis irgendetwas überhaupt das Ästhetische heißen kann. Diese Frage, ob überhaupt irgend Eines, etwas, das sich der Vereinheitlichung des Singulars und der Bestimmung durch einen Artikel und einen Begriff beugen muss, so geheißen werden kann, ist keine nominalistische oder sprachpragmatische; sie ist vielmehr die am direktesten scheinende – und somit vielleicht trügerischste – Manifestation der Fragwürdigkeit »des Sinnlichen selbst«. Die fast unmerkliche, unscheinbare und auch banale – deshalb nach gewissem Wortsinne gemeine – Setzung von Einheit, die in sprachlichen Wendungen von dem Ästhetischen oder dem Sinnlichen liegt, versiegelt unzählbare Instanzen in der Verworrenheit von Erscheinung und Wortgabe, die anderenorts drängen, sich in nicht kalkulierbaren Effekten in Szene zu setzen. Seit der KRITIK DER REINEN VERNUNFT ist die Dimension des Ästhetischen mit der Aufgabe der Einheitsstiftung von Erfahrung verbunden. Diese Verbundenheit ist allerdings selbst die eigentümliche Ausprägung des zugleich eindeutigen und unsicheren Status von Verbindung – oder Synthesis – innerhalb der Transzendentalphilosophie insgesamt. Denn einerseits sind die reinen Formen der Sinnlichkeit, die in der transzendentalen Ästhetik dargestellt werden, also »Zeit und Raum […] zwei Erkenntnisquellen, aus denen a priori verschiedene synthetische Erkenntnisse geschöpft werden können«,4 und Kant macht

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deutlich, dass erst Sinnlichkeit – d. h. das von »Ästhetik« Umschriebene – zu synthetischen Urteilen führt, da »aus bloßen Begriffen gar keine synthetische Erkenntnis, sondern nur analytische erlangt werden kann« (KrV 87, A 47 / B 64f.). Raum und Zeit als reine Formen der Anschauung verbinden noch nicht zu Einem – das als solches, als ein Gegenstand von Erfahrung benannt werden könnte –, aber sie leisten die Vorarbeit einer begrifflich zurückhaltenden Ordnung – so dass durch Zeit und Raum »das Mannigfaltige nach gewissen Verhältnissen geordnet werden kann« (KrV 64, A 20 / B 34) – und erfahren an sich selbst den Namen des Einen: so ist der Raum »wesentlich einig« (KrV 68, A 25 / B 39) und die Zeit »hat nur Eine Dimension« (KrV 74, A 31 / B 47). Andererseits – genauer gesagt: an anderen Stellen – hängt Einheit gerade nicht von Sinnlichkeit, sondern ausschließlich vom Verstand und dessen »ursprüngliche[m] Vermögen, das Mannigfaltige der Anschauung zu verbinden« (KrV 168b, B 153) ab, also davon, den Akt des ›Ich denke‹ zu vollziehen und die Apperzeption zu bilden. »Das mannigfaltig in einer sinnlichen Anschauung Gegebene gehört notwendig unter die ursprüngliche synthetische Einheit der Apperzeption, weil durch diese die Einheit der Anschauung allein möglich ist.« (KrV 155b, B 143) Die Apperzeption des ›Ich denke‹ wie auch die Kategorien des Verstandes sind hierin eine eigenartige Vorschrift: Diese führt zum einen dazu, dass der Gegebenheit der Sinnlichkeit etwas anderes noch vorhergeht, dessen Bestimmung Unbestimmtheit ist, nämlich, »dass die Einheit derselben [scil. der Sinnlichkeit] keine andere sei, als welche die Kategorie […] dem Mannigfaltigen einer gegebenen Anschauung überhaupt vorschreibt« (KrV 157bf., B 144); zum anderen schreibt sie sich aus in eigenartigen Syntagmen, wie demjenigen, das von der Vereinheitlichung des schon Vereinigten – und dies anderweitig – spricht: wie dem Satz von der Aufgabe, die »Synthesis des Mannigfaltigen, welches ihm [scil. dem Verstandes] anderweitig in der Anschauung gegeben worden, zur Einheit der Apperzeption zu bringen« (KrV 158b, B 145). Die Einheit zur Einheit bringen: An diesen Stellen nimmt das Sinnliche das es selbst seiende Eine vorweg, das ihm nachträglich erst gegeben wird. Das Ästhetische belegt hier somit einen strukturellen Bereich, in dem Einheit sowohl schattenhaft verdoppelt als auch damit von sich entzweit wird. Mit der Sinnlichkeit exponiert sich das begrenzte Eine – und ein jedes, dessen Sinne begrenzt sind – einer Zerstreuung, die Einheit selbst betrifft und die manche Sätze Kants wörtlicher nimmt als die vielen, die sie umgeben: Das »empirische Bewusstsein, welches verschiedene Vorstellungen begleitet, ist an sich zerstreut« (KrV 142b, B 133), und diese ›Zerstreuung an sich‹ wuchert auch in dem Sprung, mit

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dem Kant die Dichotomie von Sinnlichkeit und Verstand und deren Bereich verlässt und, indem er die Einheitsstiftung der Apperzeption als Bildung, Handlung oder Verrichtung bezeichnet, um in denjenigen unbedingten der Akte zu wechseln. Das Ästhetische als immanentes unendliches Differential der Transzendentalphilosophie und als der notwendig vereinheitlichende Name über der Zerstreuung der Sinnlichkeit an sich, führt aber auch an diejenigen Punkte innerhalb des Kantschen Texts, an die ›Schillers Ästhetik‹ sich vornehmlich heften sollte, nämlich an die Elemente des ›Lust-Komplexes‹, wie er sich in der KRITIK DER URTEILSKRAFT ausgebildet hat. Die ›dritte Kritik‹ setzt sich einerseits die Aufgabe, sowohl die Kraft des Urteilens als auch das Gefühl der Lust philosophisch zu bestimmen und andererseits das »ganz[e] kritisch[e] Geschäft« zu »endig[en]«5 und, damit verbunden, die Idee eines philosophischen Systems zu vervollkommnen. Es ist diese Verbindung einer lokalen, immanenten Aufgabe der ›Lust-Bestimmung‹ mit dem gesamten Projekt der Transzendentalphilosophie, an der die innere Zerstreuung des Ästhetischen als Zerwürfnis mit der eigenen Einheit erneut hervorbricht. Auch hier unternimmt Kant zunächst große Anstrengungen, das Element der Ästhetik, das die »Analytik der ästhetischen Urteilskraft« (KU 521-693, A 2-230) leitet, nämlich das Gefühl der Lust, vom Begriff der Einheit fernzuhalten. In der ersten, nicht veröffentlichten »Einleitung«6 ist Kants Sprache von einer nicht so häufig bei ihm auftretenden Emphase geprägt, als es darum geht, das Gefühl der Lust gerade nicht über den Begriff der »Vollkommenheit« zu bestimmen. Und »Vollkommenheit« meint Einheit: sie ist die »Zusammenstimmung des Mannigfaltigen zu einem« (EE 448) oder »bloße Vollständigkeit des Vielen, so fern es zusammen Eines ausmacht« (EE 450). Das Urteil über Vollkommenheit, als bloße Einheit des Mannigfaltigen, findet aber nicht auf der Ebene statt, auf der, beispielsweise, das Urteil »Ich genieße das Mannigfaltige« läge. Es handelt sich vielmehr um ein Erkenntnisurteil, mithin um eines des Verstandes und nicht eines der Sinnlichkeit: »Sinnliche Vorstellung der Vollkommenheit ist ein ausdrücklicher Widerspruch« (EE 448). Deshalb »hat der Begriff der Vollkommenheit […] mit dem Gefühl der Lust und diese mit jenem gar nichts zu tun« (EE 451) – und, um noch einmal, leicht anders, dasselbe zu sagen: »nicht das Mindeste« einige Zeilen zuvor (EE 450). Die multiple Emphase in dieser ›Einleitung‹, ist vielleicht nicht verwunderlich, wenn man sich vor Augen führt, dass die Argumentation, die sie begleitet, sich auf einen bezieht, dessen Selbsterhaltung – als Erhaltung eines in verschieden Aussagen zerstreutem, differenziertem und differentialem Selbst – in diesen Stel-

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Verstreute Bemerkungen zum Begriff des Ästhetischen

len mit auf dem Spiel steht, auf Kant selbst nämlich. Denn der hatte in seinen VORLESUNGEN ÜBER LOGIK auch von dem gehandelt, was »ästhetisch vollkommen«7 ist – eben ein »ausdrücklicher Widerspruch« nach dem Spätwerk –, und eine Anmerkung zu Baumgartens PSYCHOLOGICA EMPIRICA von 1757 vereinte vollends die Lust mit den Einen: »Der Zustand der Seele, der sich einstellt bei der Anschauung von Vollkommenheit ist das Vergnügen (voluptas [contemplacentia]).«8 Was heißt also Lust? Sie soll, mehr als dass sie eine Definition erfährt, eine Dynamik und einen aufgedehnten Ort haben und im geschlossenen Bogen jeder Intention liegen: »Die Erreichung jeder Absicht ist mit dem Gefühl der Lust verbunden« (KU 506, A XIV).9 Damit nicht genug, das Sinnlichste alles Ästhetischen produziert die absoluteste aller Metaphern der Ästhetik, nämlich das Erhabene. Denn die Dissonanzen in den Übereinstimmung zwischen Einheit und Absicht der Transzendentalphilosophie treten an derjenigen eigentümlichen Form von Genuss hervor, der in der »negativen Lust« (KU 599, A 105) liegt, die mit keiner erreichten Absicht einhergeht, sondern mit dem rettenden Sprung der »reinen Vernunft« und seiner »Freiheit«. Schiller hat dem mehr Worte gegeben, als die Ästhetik verträgt. Im Begriff der Freiheit liegt ihm die »bedenklich[e] Anarchie«, und für diese und das »[g]esetzlose Chaos von Erscheinungen«10 findet er nicht nur ebendiese Begriffe voller Pathos, sondern auch Worte, die, jenseits von Sinn und Verstand, anders wiederholt sein wollen: Gerade dieser gänzliche Mangel einer Zweckverbindung unter diesem Gedränge von Erscheinungen, wodurch sie für den Verstand, der sich an diese Verbindungsform halten muss, übersteigend und unbrauchbar werden, macht sie zu einem desto treffenderen Sinnbild für die reine Vernunft, die in eben dieser wilden Ungebundenheit der Natur ihr eigene Unabhängigkeit von Naturbedingungen dargestellt findet. Denn wenn man einer Reihe von Dingen alle Verbindung unter sich nimmt, so hat man den Begriff der Independenz, der mit dem reinen Vernunftbegriff der Freiheit überraschend zusammenstimmt.11 Denn wenn man einer Reihe von Dingen alle Verbindung unter sich nimmt, dann hat man eine Reihe von Dingen, denen alle Verbindung unter sich genommen ist. Die Behauptung der Überstimmung zwischen dieser reinen Mannigfaltigkeit – bloßer Assonanz – und der reinen Vernunft ist entweder eine überrasche, ästhetische Setzung, die von der figuralen Willkür des Topos vom Erhabenen abhängig ist – oder eine

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überraschende, historisch independente Erscheinung, die jedes Bild von Geschichte zerreißt, Sätze von Reihen von Dingen ohne alle Verbindung an dessen Stelle setzt und besonders die »Geschichte der Klassik« auf die Zukunft einer unerhörten Parole hin fortreißt, nämlich derjenigen von der ›reinen Vernunft‹ als ›Zerstreuung an sich‹, für die die »gewissen Verhältnisse« der Ordnung des Ästhetischen nicht mehr auszumachen sind.

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Schiller, Friedrich: »Vorrede (zur ersten Auflage) von Die Räuber« (1781), in: ders.: Sämtliche Werke, Bd. 1, hrsg. v. Albert Meier, München 2004, S. 484 – 488, hier S. 487. 2 Schiller, Friedrich. Die Verschwörung des Fiesko zu Genua, in: Sämtliche Werke, Bd. 1, S. 639 – 754, hier S. 698 (III/2). 3 Schiller, Friedrich: »Was kann eine gute stehende Schaubühne eigentlich wirken« / »Die Schaubühne als moralischer Anstalt betrachtet« (1784 / 1802), in: ders: Sämtliche Werke, Bd. 5, hrsg. v. Wolfgang Riedel, S. 818 – 832, passim. 4 Kant, Immanuel: Kritik der reinen Vernunft (1781 /1787), hrsg. v. Raymund Schmidt, Hamburg 1993, S. 81 [A 39f. / B 55] (im Folgenden angegeben mit Sigle KrV plus Seitenzahl der Ausgabe Schmidt, plus Seitenzahlen nach den Ausgaben A / B von 1781 bzw. 1787). 5 Kant, Immanuel: Kritik der Urteilskraft (1790 / 1793 / 1799), in: ders.: Schriften zur Ästhetik und Naturphilosophie, Bd.2, hrsg. v. Manfred Frank u. Véronique Zanetti, Frankfurt/Main 2001, S. 479 – 880, hier S. 485 [A X] (im Folgenden angegeben mit der Sigle KU plus Seitenzahl der Ausgabe Frank/Zanetti, plus Seitenzahl der zweiten Auflage A von 1793). 6 Vgl. Kant, Immanuel: »Erste Einleitung in die Kritik der Urteilskraft«, in: ders.: Schriften zur Ästhetik und Naturphilosophie, S. 415 – 478 (im Folgenden angegeben mit der Sigle EE plus Seitenzahl der Ausgabe Frank/Zanetti). 7 Kant, Immanuel: »›Über ästhetische und logische Vollkommenheit‹«, in: ders.: Schriften zur Ästhetik und Naturphilosophie, S. 139 – 170, hier S. 139. 8 Kant, Immanuel: Reflexionen zur Ästhetik, in: Schriften zur Ästhetik und Naturphilosophie, S. 9 – 138. hier S. 83 (›Aus der Sectio XV: Lust und Unlust (Voluptas et taedium)‹). 9 Vgl. zu diesem Satz und Weiterem die in jeder Hinsicht bemerkenswerte Arbeit von Fenves, Peter: Late Kant.Towards Another Law of the Earth, New York / London 2003, S. 8 – 31. 10 Schiller, Friedrich: »Über das Erhabene«, in: ders.: Sämtliche Werke, Bd. 5, S. 792 – 810, hier S. 802. 11 Ebd., S. 803.

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WAS BRINGT DIE KLASSIK AUF DIE BÜHNE?

Was bringt die Klassik auf die Bühne? Vordergründig bedeutet diese Frage: Warum inszenieren wir immer wieder Theaterstücke, von denen wir ansonsten behaupten, dass sie einer vergangenen Kunst angehören? Welches Verhältnis zwischen Vergangenheit und Gegenwart der theatralischen Formen wird in dieser Herangehensweise sichtbar? Wie könnte man das Verhältnis zwischen der Bühne und den anderen Orten, mit denen sie kommuniziert, und vor allem der so genannten politischen Bühne, definieren? Es geht hier also nicht darum, Vergangenheit und Gegenwart des Theaters zu vergleichen. Es geht vielmehr darum, herauszufinden, was es bedeutet, wenn eine historisierende Kategorie wie ›die Klassiker‹ oder ›die Klassik‹ ins Zentrum der Reflexion über die theatralische Form rückt. Was bedeutet dieser Begriff, wenn man ihn zeitlich versteht? Wie und warum wurde das Theater von ihm auf so grundlegende Weise beeinflusst? Ich möchte zunächst an einen zentralen Punkt erinnern: Die Kategorie der Klassik ist eine moderne Kategorie, eine Begriffsschöpfung der Romantik. Und sie ist eine polemische Kategorie. Das echte Gegenteil der Klassik ist nämlich nicht die Moderne. Nicht Gegenwart und Vergangenheit sind einander entgegengesetzt, sondern zwei unterschiedliche Arten, sie aufeinander zu beziehen: Die jüngere Unterscheidung Klassik/Moderne setzt sich bereits ab von der zuvor dominierenden Unterscheidung zwischen Anciens und Modernes. Die große, auf das französische Theater zielende, deutsche Polemik zur Zeit Lessings und Schillers richtete sich vor allem gegen das auf der französischen Bühne des ›großen Jahrhunderts‹ vorherrschende Verhältnis zu den Anciens. In diesem Verhältnis waren zwei Dinge miteinander verknüpft: die Treue zu den antiken Vorbildern, die als unübertrefflich galten, und die Anpassung eben dieser Anciens an den Fortschritt von Zivilisation und Geschmack. Einerseits galt es, dem von Sophokles und Euripides geschaffenen Vorbild erhabener Einfachheit nachzueifern. Andererseits aber war es zwingend geboten, den Handlungsverlauf der Dramen dem verfeinerten Publikumsgeschmack anzupassen. Unter diesen Vorzeichen schufen Corneille und Voltaire, weil sie den Stoff für fehlerhaft befanden, die Verwicklungen von KÖNIG ÖDIPUS um und fügten neue

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Figuren und Liebesverwicklungen hinzu, um auf diese Weise zugleich mehrere Triebfedern der Handlung und mehrere Verdächtige für den Mord an Laios zu erhalten. Das heißt, es war in jedem Fall undenkbar, die antiken Dramen – ungeachtet ihrer Vorbildlichkeit – im Theater aufzuführen. Eben diese Duplizität wurde ab dem Ende des 17. Jahrhunderts, und zwar in Frankreich selbst, von der Polemik der Modernes ins Visier genommen. Die romantische Erfindung der Kategorie der ›Klassik‹ verschiebt den Streit. Sie besiegelt das Erscheinen einer anderen ›Moderne‹, in der das Verhältnis von Altem und Neuem völlig neu sortiert wird: Die Klassik ist nun das, was nicht länger imitiert wird, sondern unmittelbar in die Gegenwart versetzt werden kann, sich wieder abspielen, sich unendlich wiederholen kann und im Stande ist, eine unendliche Vielzahl von Verwandlungen zu erzeugen, die letzten Endes das Neue und das Alte ununterscheidbar machen. Daraus ließe sich schlicht folgern, dass diese neue Kategorie ein unendliches Feld der Möglichkeiten eröffnet hat. Tatsächlich hat gerade ihre unbegrenzte Verwandlungsfähigkeit dazu geführt, dass im 20. Jahrhundert die Regiekunst zur modernen Kunst schlechthin wurde. Indem man sich von dieser unendlichen Offenheit faszinieren lässt, vergisst man jedoch leicht die Bedingungen, die sie erst ermöglichen. So übersieht man schnell den Widerspruch, den jene ins Zentrum dieser Offenheit pflanzen. Vorwegnehmend kann der Widerspruch so formuliert werden: Dasjenige, wodurch das Theater von der eindimensionalen Geschichtlichkeit der Imitation befreit wird, und zwar zu Gunsten der Vielschichtigkeit der Wiederholung, ist zugleich das, was die Logik unterbricht, innerhalb derer die Bühnenhandlung mit den anderen Schauplätzen der Handlung kommunizierte. Diesen Bruch will ich, ebenfalls vorwegnehmend und zusammenfassend, skizzieren, bevor ich meinen Gedanken ausführe. Das Verhältnis zu den Anciens definierte den Bezug der Bühnenhandlung auf das Leben draußen als kontinuierlichen oder ethischen Zusammenhang. Das Verhältnis zur Klassik definiert diesen Bezug als diskontinuierlichen oder ästhetischen Zusammenhang. Die Erfindung der Klassik geht einher mit der Erfindung der Ästhetik. Diese Erfindung bedeutet aber das Zerbrechen der ›natürlichen‹ Logik des Theaters, der Logik, innerhalb derer die Bühnenhandlung sich auf das Handeln in der Welt bezieht und vorgibt, dort zu wirken. Die Frage »Was bringt die Klassik auf die Bühne?« bedeutet also folgendes: Wie konnte sich die Kategorie der Klassik im Zentrum der Frage des Theaters, im Zentrum des Paradigmas von der Wirksamkeit des Theaters, ansiedeln?

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Was bringt die Klassik auf die Bühne?

Ich werde mich, um diesen Punkt zu klären, naheliegenderweise auf Schiller beziehen. Ich will dazu von einer Stelle ausgehen, die ich schon einmal kommentiert habe und die mir für die Definition dessen, was ich unter dem Begriff des ästhetischen Regimes1 der Kunst fassen würde, zentral erscheint. Es handelt sich um den 15. Brief aus der ÄSTHETISCHEN ERZIEHUNG DES MENSCHEN. Darin resümiert Schiller, was unter dem ästhetischen Zustand zu verstehen ist, nämlich eine Aufhebung des gewöhnlichen Verhältnisses von Verstand und Sinnlichkeit, Aktivität und Passivität, Formtrieb und sinnlichem Trieb. Dieses Aussetzen der Herrschaftsbeziehungen nun bezeichnet er als Spieltrieb. Der ästhetische Affekt wird von Schiller gewissermaßen inszeniert, indem er uns den Spieltrieb vor seinem Objekt zeigt, der freien Erscheinung nämlich, die hier durch eine Statue, den Kopf der JUNO LUDOVISI, verkörpert wird. Letztere ist exemplarisch für die ›klassische‹ Statue. Dabei ist es wichtig, sich klarzumachen, was diese klassische Exemplarität ausmacht. Zuerst einmal ist die ›klassische‹ Idealität, die hier umrissen wird, nicht länger ein Vorbild, das es zu imitieren gälte. Sie ist bloßer Gegenstand einer Anschauung. Diese Anschauung ist durch eine bestimmte dramatische Struktur gekennzeichnet: eine Anziehungs- und eine Abstoßungskraft von gleicher Stärke. Wir sind sowohl von der Anmut der Göttin angezogen, als auch von ihrer Würde abgestoßen. Vor allem aber sind die Gesichtszüge, die sie bestimmen, negativ: Die Statue drückt nichts aus. Das Wesen der Gottheit, die sie darstellt, ist es, weder Ziele noch Pflichten noch Sorgen zu haben, oder, kurz gesagt, nichts zu wollen. Das ist der Grund, weshalb die hier umrissene ästhetische Erfahrung etwas anderes ist, als das, was man häufig darunter versteht, nämlich die Ausbildung eines moralischen Charakters durch die Erfahrung des Schönen, der eine wirklich freie Menschheit vorbereitet, und den befreienden Ansprüchen revolutionären Handelns polar entgegengesetzt ist. Was jene aber anbietet, ist auf sehr viel radikalere Weise die Verknüpfung sinnlich erfahrener Gleichheit mit der Abwesenheit von Willen, der Abwesenheit jeglichen Handelns. Ich sagte bereits, dass die Beschreibung der ästhetischen Erfahrung einer dramatischen Szene gleicht. Es bleibt noch hinzuzufügen, dass diese dramatische Szene auch eine anti-theatralische Szene ist, eine Szene, durch die das bisher vorherrschende Paradigma von der Wirksamkeit der Kunst, das ethische Paradigma der Bühnenhandlung, außer Kraft gesetzt wird. Das ethische Paradigma macht aus der theatralischen Darstellung ein Mittel, das der Welt einen Spiegel vorhält, in welchem diese das Spiel ihrer Leidenschaften sehen kann, und davon berührt wird. Etliche Texte Schillers über das Theater behandeln dieses Para-

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digma, allen voran der berühmte Text DIE SCHAUBÜHNE ALS MORALISCHE ANSTALT BETRACHTET. Was den besonderen Stellenwert dieses Textes ausmacht, ist, dass mindestens zwei frühere Texte Schillers diesen Gedanken bereits verworfen hatten. Zunächst denke ich an den Text ÜBER DAS GEGENWÄRTIGE TEUTSCHE THEATER. Darin wurden bereits zwei wesentliche, zum ethischen Paradigma des Theaters gehörige Elemente in Frage gestellt. Zum einen, dass die Körper der Schauspieler Leidenschaften anders als mittels der im Beruf erlernten Geschicklichkeit darstellen könnten, das heißt, mittels ihrer Fertigkeit, festgeschriebene Ausdruckscodes optimal einzusetzen. Zum anderen, dass die Bühne imstande sei, Charaktere oder soziale Gegebenheiten zu verändern, indem sie sie imitiert. Gegen den Beruf und seine Codes setzte Schiller kurzzeitig das, was ein Jahrhundert später Maeterlinck und Gordon Craig fordern sollten: die Marionette. Gegen das Ideal eines Theaters, das die Verbesserung der Sitten ermöglichen sollte, setzte er das bescheidenere Ziel einer sinnlichen Veränderung: ein Herz, das ein wenig schneller schlägt, eine vergessene Saite der menschlichen Seele, die berührt wird. Man könnte behaupten, dass dieser Text nur eine Kritik am damals bestehenden deutschen Theater sei, und dass er kritisch seine Erneuerung fordere. Aber meiner Meinung nach wird hier vielmehr genau das Problem aufgezeigt, das eine solche Erneuerung mit sich bringt. Denn die doppelte Unfähigkeit, auf die Schiller hier den Finger legt, bezieht sich auf mehr als die Routine des Theaterbetriebs. Sie stellt das in Frage, was das eigentliche Prinzip der ethischen Wirksamkeit der theatralischen Darstellung begründet, nämlich die Zugehörigkeit dieser Darstellung zur natürlichen Ordnung. Voraussetzung für eine wirksame Bühnenhandlung ist die Kontinuität zwischen physikalischer und moralischer Natur. Damit der theatralische Ausdruck der Leidenschaften eine Verbesserung der Sitten bewirken kann, müssen die Zeichen, die von den Körpern dargestellt werden, in Kontinuität mit den von den Phänomenen ausgedrückten Naturgesetzen stehen. Um das zu gewährleisten muss erstens der Ausdruck der Körper naturgetreu sein, und zweitens müssen die Gesetze der Physik einem moralischen Ziel zustreben. Das Problem ist, dass die Naturgesetze kein solches Ziel erkennen lassen. Die Natur der modernen Wissenschaft ist kein Kosmos mehr. Sie gehorcht keinem Harmonieideal und strebt auch keinem moralischen Ziel zu. Diese Entdeckung steht im Mittelpunkt des zweiten Textes, den ich erwähnt habe, nämlich den RÄUBERN. »Die Bande der Natur sind zerrissen.« Die Kenntnis von diesem Geheimnis der neuen Natur rechtfer-

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tigt das Verhalten des heuchlerischen Franz Moor. Ein Theater zu entwerfen, das uns lehren soll, einen Heuchler zu verkennen, d. h. jemanden, der Gefühle vorspielt, die er nicht empfindet, ist natürlich äußerst widersprüchlich. Doch in der Person Karl Moors wird deutlich, dass das Zerreißen der Bande zwischen der moralischen und der physischen Natur auch das Erhabene einer Auflehnung, die die Ordnung der Welt wieder einrichten will, verunmöglicht. Es lässt das Erhabene zur schlichten Ungeheuerlichkeit des Verbrechens werden. Moralisch handeln – gemäß der physikalischen Natur – heißt von nun an als Ungeheuer handeln. Die Fabel der RÄUBER treibt die ethische Figur von der theatralischen Wirksamkeit bis zu dem Punkt, wo diese zerreißt. Sie dissoziiert eben jene drei Elemente, deren Abstimmung aufeinander diese Wirksamkeit in die Ordnung der Natur hätte einschreiben sollen: die aristotelische Regel vom Zusammenfügen der Handlungen, die Moral der Beispiele nach Plutarch und die modernen Regeln vom Ausdruck der Gedanken und Gefühle durch die Körper. Kritisiert man die französische Haltung der Modernes zu den Anciens, zerstört man das Projekt eines Theaters mit ethischer Bestimmung bis in seine Grundfesten hinein. Das Gegenteil der ethischen Wirksamkeit ist die ästhetische Wirksamkeit. Ethisch wirksam war das Theater dadurch, dass exemplarische Handlungen und Charaktere gezeigt wurden, denen nachzueifern war – oder eben gerade nicht. Die ästhetische Wirksamkeit hingegen ist die Herstellung eines neutralen Zustandes zwischen Aktivität und Passivität. Diese Neutralität ist im Grunde die Antwort auf ein altes Problem: das von der Bedeutung des Begriffs katharsis. Das Modell dieser Neutralität jedoch ist nicht dramatisch, es ist plastisch. Bleibt zu klären, was mit ›plastisch‹ gemeint ist. Dass das klassische Modell von der griechischen Statue herrührt, liegt nicht an irgendeinem Proportionsideal. Grund ist vielmehr, dass die Statue genau die der Bühnenhandlung entgegengesetzten Eigenschaften besitzt. Das Drama zeigt uns Figuren, die zweckorientiert handeln und damit ringen, dass sich diese Zwecke gegen sie kehren. Die Perfektion der Statue hingegen besteht darin, nichts zu tun und keinerlei Willensäußerung darzustellen. Außer dem körperlosen Kopf der JUNO LUDOVISI bleibt noch der kopflose Körper, der Körper ohne Arme und Beine, der TORSO VON BELVEDERE zu erwähnen, der von Winckelmann als die ›klassische‹ Perfektion der griechischen Bildhauerkunst gefeiert wurde. Die ›klassische‹ Perfektion dieser Statue ist in der Tat einmalig. Bar aller Beigaben, die das repräsentative Regime künstlerischen Ausdrucks charakterisierten, ist die Statue ohne Antlitz, das eine Gefühlsregung ausdrücken, ohne Mund, der eine Bot-

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schaft aussprechen könnte, ohne Glieder, die eine Handlung befehligen oder ausführen könnten. Winckelmann spitzte das Paradox noch zu, indem er aus diesem Torso eine Herkulesstatue machte. Einerseits war die ganze spirituelle Identität des Helden der zwölf Arbeiten in dem Teil des Körpers konzentriert, der weder ein Gefühl ausdrückt noch eine Handlung vollführt, nämlich einzig und allein in der Anlage der Rücken- und Bauchmuskeln. Andererseits musste dieser Herkules ein müßiggängerischer Herkules sein, ein Herkules, den die Götter in ihren Kreis aufnahmen, nachdem er seine Arbeiten ausgeführt hatte. Die ›klassische‹ Schönheit des Torsos war also die Schönheit einer unmittelbaren Einheit der Gegensätze. Sie war die Schönheit einer Tätigkeit, die zugleich Ruhe war; die Schönheit eines Ausdrucks des Lebens, die zugleich der Abwesenheit jeglichen Ausdrucks entsprach. Die Tatsache, dass diese verlorene klassische Schönheit auch der Ausdruck einer verlorenen Freiheit war, der Freiheit des griechischen Volkes, vollendete das Paradox. Jene Freiheit aber war für Winckelmann und alle, die sich von ihm inspirieren ließen, vor allem eine bestimmte Seinsweise: die Seinsweise eines unverstümmelten Lebens, eines Lebens, das nicht durch Arbeitsteilung und die ausdifferenzierten Funktionen der sozialen Hierarchie aufgeteilt war. Was die unvergleichliche Stärke der griechischen Statue ausmacht, ist nicht, dass sie ein wohlproportionierter Körper ist, sondern dass sie der Ausdruck eines Lebens ist, in dem Politik nicht von Kunst getrennt ist, künstlerische Kontemplation nicht vom gesellschaftlichen Kultus. Man kann das auch anders formulieren: Sie ist der Ausdruck einer Kultur, die sich nicht von der Natur abtrennt. Insofern liefert der verstümmelte Torso eine Antwort auf die Ungeheuerlichkeit der Gebrüder Moor. Die Natur der modernen Physiker und Physiologen verbietet bereits die Nachahmung Plutarchs, sei es auf der Bühne des Theaters oder auf der Weltbühne. Der antike Marmor jedoch bewahrt die Erinnerung an die Arbeiten des Helden, Erinnerung, die in den Zustand der Ruhe übergegangen ist. In der Starre des Steines bewahrt er den Bund von Natur und Kultur, der im Theater längst ebenso aufgelöst ist wie in der Gesellschaft. Bekanntlich haben die Archäologen Winckelmanns Zuschreibungen und Datierungen kritisiert. Sie haben Herkules in Philoktet verwandelt und die emblematische Statue der athenischen Freiheit in eine späthellenistische Skulptur. Aber alle Ungenauigkeiten der Winckelmannschen Zuschreibungen haben nicht verhindern können, dass das von ihm konstruierte Paradigma weiterlebt, d. h. das romantische Paradigma von der Klassik, das vor allem dasjenige eines Griechenlands der Bildhauerkunst ist. Die Ungenauigkeit fällt nicht ins Gewicht neben der Lösung,

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die er als Reaktion auf die Trennung von Natur und moralischer Vorbildlichkeit vorgeschlagen hat. Hinter der Frage nach den ›Klassikern‹ auf dem Theater müssen wir also die Frage nach dem ursprünglichen Gegensatz zwischen dem ethischen Modell, dem Theatermodell von der Wirksamkeit der Kunst und dem ästhetischen Modell, dem Skulptur gewordenen Modell dieser Wirksamkeit erkennen. Die ästhetische und skulpturale Definition der Klassik entsteht am Ende des 18. Jahrhunderts als Antwort auf die Zersplitterung der Natur, die ursprünglich für die ethische Wirksamkeit der Bühnenhandlung gebürgt hatte. Die Verbindung zwischen Kunst und Politik wird von nun an nicht mehr durch die Botschaft, die die Worte und Handlungen der dargestellten Körper übermitteln, geknüpft. Die Darstellung der niederträchtigen Handlungen des Franz Moor, der unheilvollen Taten der Räuberbande oder auch die Entfaltung der freiheitlichen Ideen des Marquis de Posa sind nicht gerade dazu geeignet, die Heuchelei zu demaskieren, die Liebe zur Freiheit zu befördern oder vor dem Abgleiten der Handlung in schiere Ungerechtigkeit zu bewahren. Denn das in den Stücken dargestellte Zerreißen der »Bande der Natur« ist eben das Ende jener Natur, die für die ethische Wirksamkeit des repräsentativen Theaters gebürgt hatte. Was zerbrochen ist, ist die Kontinuität zwischen dem Denken und seinen Körperzeichen, zwischen der Aktion der lebendigen Körper und ihrer Wirkung auf andere lebendige Körper. Die ästhetische Szenerie vom Verhältnis des freien Spiels zum freien Schein entspricht der Besetzung der dramatischen Bühne durch die Passivität der gliederlosen Statue. Die Beziehung des Werkes zu denen, die es darstellt und zu denen, an die es sich wendet, findet von nun an auf dem Umweg über den Stein statt, also nicht über den Tod, sondern über die Indifferenz. Die Verbindung zwischen Kunst und Politik verläuft von nun an über ein Verfahren der Neutralisierung. Der verstümmelte Torso und der Kopf der müßigen Göttin besitzen keinerlei ethische Vorbildhaftigkeit. Dennoch schaffen sie einen neuen Typus sinnlicher Erfahrung. Die Statue drückt nichts anderes aus als Abwesenheit von Willen, von Denken, das von einem aktiven Denken einem passiven Körper eingeprägt worden wäre. Ihre Art sich auszudrücken zeigt die Neutralisierung der Kategorien, durch welche die Aktivität der Kunst in der repräsentativen Logik gedacht worden war. Sie definiert ein gänzlich neues sinnliches Empfinden, in dem die Herrschaftsbeziehungen des Verstandes über die Sinnlichkeit, der Form über die Materie und der Aktivität über die Sinnlichkeit ausgesetzt sind. Dadurch aber löst sie den Knoten, durch den die Formen der Kunst an eine bestimmte Ordnung der Welt gefesselt waren, an eine bestimmte Hierarchie des Sinnlichen, eine bestimm-

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te Verteilung der intellektuellen und sinnlichen Vermögen. Sie ist also die positive Zerstörung einer bestimmten sozialen Natur. Die soziale Hierarchie ist in der Tat zuallererst eine Hierarchie, die in die Naturgegebenheit der sinnlichen Formen eingeschrieben ist. »Ein Mensch mit Geschmack«, sagte schon Voltaire, »hat andere Augen, andere Ohren, anderen Takt als ein grober Mensch«. Der Unterschied zwischen den Menschen der Muße und den Menschen der Arbeit, d. h. zwischen denen, die sich der Gedankenfreiheit verschrieben haben, und denen, die sich der Arbeit und der Reproduktion widmen, zwischen denen, die das Schicksal dazu ausersehen hat zu herrschen und denen, die beherrscht werden, wurde ursprünglich als Unterschied in der Ausstattung mit Sinnesorganen gefasst. Dieser Unterschied ist es auch, der in den organisierenden Kategorien von der Herrschaft des repräsentativen Regimes der Kunst ausgedrückt wurde: Form und Materie, herstellende Aktivität und rezeptive Passivität. Das freie Spiel, die nicht-hierarchische Beziehung zwischen Verstand und Sinnlichkeit angesichts des körper- und willenlosen Kopfes der JUNO oder des auf einen Torso reduzierten Heroen bedeutet den Zerfall dieser sozialen Natur. Die Hierarchie, die diese Natur regiert, löst sich in der Gegenwart der ästhetischen Erfahrung auf und verspricht, sich im langen Prozess ästhetischer Erziehung aufzuheben. Die ästhetische Erfahrung schlägt also einen Umsturz der Natur vor, der demjenigen, wie er in den RÄUBERN inszeniert wurde, entgegengesetzt ist. In diesem Sinne antwortet das Programm der ästhetischen Erziehung auf die Französische Revolution wie der TORSO aus dem Belvedere auf die Enthauptung des französischen Königs. Anders als häufig behauptet, beschränkt es sich nicht darauf, dem Modell kollektiver Gewalt, das die von Plutarch begeisterten Revolutionäre in mörderische Räuber verwandelte, ein Ideal der moralischen Wandlung der Menschen entgegenzusetzen. Die ästhetische Erfahrung setzt auf eine tiefer greifende Revolution, eine Revolution, der es nicht mehr darum geht, die Gesetze und Formen des Staates zu verändern, sondern die Formen der sinnlichen Erfahrung selbst. Es kommt nicht darauf an, die Politik einer Ethik zu unterwerfen, die sich an der Kontemplation ewiger Schönheit labt. Es kommt vielmehr darauf an, die Ethik selber einem radikalen Umsturz zu unterziehen. Weder das Gesetz noch Beispiele tragen zur Bildung einer neuen Menschheit bei, sondern das Erlebnis einer neuen Empfindungsfähigkeit, mit deren Hilfe man die Kraft dessen erspürt, der nichts tut, nichts will und nichts nachahmt. Die ästhetische Erziehung setzt der kollektiven politischen Aktion keine individuelle moralische Bildung entgegen. Der einen wie der anderen setzt sie vielmehr die Kraft einer gänzlich

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neuen Art von Erfahrung entgegen: einer neuen Beziehung, die zwischen dem Handeln und dem Erleiden, zwischen Sehen, Tun und Sein entsteht. Dieses Auseinanderfallen wird vielleicht am anschaulichsten von einem Text illustriert, der mitten in der Revolution von 1848 in einem Pariser Arbeiterjournal veröffentlicht wurde. Ein Arbeiter, der mit Schreinerarbeiten betraut war, beschreibt dort, wie die Arbeit seiner Arme, die dazu gezwungen sind, bei einem Eigentümer Parkett zu verlegen, abgetrennt existiert vom befreiten Blick, der sich den Raum aneignet als Raum der reinen Kontemplation. Die neue Revolution vollzieht sich hier, in dem Auseinanderfallen und der Neuzusammensetzung eines Körpers, der zur Dienstbarkeit gemacht ist. Worum es in der ästhetischen Revolution geht, ist nicht der Widerspruch zwischen Politik und Moral. Es geht um den tieferen Widerspruch einer Art von Erfahrung, in der Macht mit Ohnmacht, eine Veränderung des Lebens mit einer radikalen Indifferenz verknüpft ist. Diesen Widerspruch der »ästhetischen Politik« hat niemand besser gefasst als ein Dichter – der sich im Übrigen sehr wenig um Politik und Revolution bekümmert hat. Ich denke an das Gedicht, das Rilke einer anderen kopflosen Statue gewidmet hat, dem ARCHAISCHEN TORSO APOLLOS, und das mit den folgenden beiden Versen endet: »denn da ist keine Stelle, die dich nicht sieht. Du mußt dein Leben ändern.« Einerseits wird dem Voyeur die Sehkraft genommen, und zwar von der Statue, die an seiner statt sieht, und die umso besser sieht, als es ihr am Sehorgan gebricht. Was die Statue unmittelbar vorstellt, ist ein anderer Körper, deaktiviert und enthierarchisiert zugleich. Andererseits vermag sie durch ihre vollkommene Machtlosigkeit von einem Leben zu künden, das radikal geändert werden muss. Diese beiden Verse, die sich auf eine berühmte Stelle aus Hegels VORLESUNGEN ÜBER DIE ÄSTHETIK beziehen, erfassen treffsicher das Paradox der ästhetischen Politik. Weil die ästhetische Empfindungsfähigkeit vollkommen von den gewöhnlichen Bedingungen des Lebens abgelöst ist, weil sich in ihr zwei »Passivitäten« aufeinander beziehen, verspricht sie ein verändertes Leben, ein Leben, das nicht mehr von der Kunst getrennt sein wird, eine Kunst, die nicht mehr vom Leben getrennt sein wird. Ich habe an anderer Stelle versucht, die unendliche Spannung zu zeigen, die von diesem Moment ausgehend zwischen den beiden großen ästhetischen Politiken entstanden ist: So findet sich auf der einen Seite eine Politik, die hic et nunc die verlangte Änderung durchsetzen will, d. h. die Abtrennung der Kunst überwinden will, um die von freiem Spiel und freiem Schein versprochene neue Einheit zwischen Leben und Kunst herzustellen. Ihr entgegengesetzt ist eine Politik, die den Blick der gesichtslosen Statue vor

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jeglicher Neigung und vor jeglicher Vermischung mit dem Leben schützen will, d. h. die die ästhetische Trennung, oder Außergewöhnlichkeit will, die ein Leben verspricht, das es zu ändern gälte. Die Politik der Kunst im ästhetischen Regime ist in dieser grundsätzlich bipolaren Vorstellung von der ästhetischen Revolution gefangen. Ich will diese Dialektik hier nur unter zwei Gesichtspunkten untersuchen: Erstens, welche Rolle spielt in dieser Neuverteilung die Kategorie der Klassik? Zweitens, inwiefern ist insbesondere die darstellende Kunst von ihr betroffen? Nach dieser Logik fungiert die Klassik nicht länger als Vorbild. Aber sie ist auch nicht länger die Kunst nach alten Regeln, von denen die Moderne sich glücklicherweise befreit hätte. Die ästhetische Revolution hebt die Zeitlichkeit auf, die gebot, die Alten zu imitieren, und verbot, ihre Werke aufzuführen. Der Begriff der ›Klassik‹ führt zu einer Vielschichtigkeit der Zeiten, die auch eine Vielschichtigkeit der Kunst ist, die jede einfache Beziehung zwischen Kunst und Leben vermischt. Das klassische Werk ist ein Werk, das von nun an wie jedes andere auf die Bühne gebracht werden kann. Man kann ANTIGONE oder KÖNIG ÖDIPUS ebenso leicht auf den Spielplan setzen wie jeden anderen zeitgenössischen Autor. Doch das klassische Werk ist auch Zeuge einer anderen Kunst und einer verlorenen Beziehung zwischen Kunst und Leben. Die Klassik ist Zeuge einer anderen Kunst: einer, die Kunst war, eben weil sie keine war. So ist sie das Zeugnis einer Kunst, die hic et nunc wieder entsteht. Aber sie zeugt auch von einer lebendigen Welt, die es nicht mehr gibt, einer Beziehung zwischen Kunst und Leben, die untergegangen ist. Wie die Statue ist sie sowohl in sich selbst verschlossen, als auch unvollständig und verstümmelt. Daraus folgt zweierlei. Erstens, die Klassik ist nicht länger Gegenstand der Nachahmung, sondern Gegenstand der Wiederholung. Aber diese Wiederholung ist keine gleichförmige Wiederholung. Das ›Leben‹ des klassischen Kunstwerks gibt es nicht mehr. Die Klassik ist klassisch nur insofern sie romantisiert werden kann, um einen Ausdruck von Friedrich Schlegel zu gebrauchen. Sie ist klassisch, insofern sie in eine andere Zeit versetzt werden kann und muss, insofern ihr Textmaterial, das ihr verlorenes Leben enthält, sich der Prüfung durch einen neuen raumzeitlichen Zusammenhang, einem neuen Regime der sinnlichen Darstellung, unterzieht. Weit entfernt davon, in Ewigkeit erstarrte Schönheit zu sein, ist die Klassik das, was nach einer unendlichen Zahl von Verwandlungen verlangt. Die Romantisierung ist nicht die Modernisierung, die die alten erstarrten Meisterwerke entstaubt oder verjüngt. Sie ist der Zusammenprall von zwei Regimen der Sinnlichkeit. Daran knüpft sich die zweite Folge: Die Klassik ist der Bewegung von ständiger Neu- oder Umverteilung dessen,

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was Kunst und was Nicht-Kunst ist, unterworfen, denn diese macht das ästhetische Regime der Kunst aus. Die Klassik ist das, was vom Leben nicht getrennte Kunst gewesen ist. Sie ist auch Kunst, die aus dem Kunstleben herausgetreten ist, und auf andere Weise wieder dahin zurückkehrt. Die Logik, nach der sie sowohl ihrer als auch unserer Zeit angehört, korreliert mit der Logik, nach der jegliches Ding des gewöhnlichen Lebens poetisiert werden, und in den Raum des freien Spiels der ästhetischen Erfahrung eintreten kann. Die Vielschichtigkeit der Zeiten und die Übertretung von Grenzen gehören zu ein und derselben konstitutiven Logik, die das ästhetische Regime der Kunst definiert. Inwieweit betrifft diese Logik das Theater? Sie macht aus der Bühne den Ort schlechthin, an dem der Bruch zum Ausdruck kommen kann. Die Worte und die Taten der ›lebendigen Menschen‹ des Aristoteles werden dort direkt von der tatenlosen Gegenwart der gliederlosen, ausdruckslosen Statuen affiziert. Das Theater wird zu dem Ort schlechthin, an dem verschiedene Modi von Anwesenheit variiert werden, Zeiten und Regime der Sinnlichkeiten aufeinanderprallen. Aber auch als Ort, an dem die handelnden, lebendigen Körper sich an die versammelten lebendigen Körper wenden, ist das Theater mehr als jede andere Kunst von den Spannungen der gegensätzlichen ästhetischen Politiken geprägt. Es war par excellence der Ort der repräsentativen Wirksamkeit der Kunst. Als solches wurde es vom Zerreißen der natürlichen Ordnung, die die Kontinuität zwischen den unterschiedlichen Modi des Sagens, des Tuns, des Sehens und des Seins garantiert hatte, schwer getroffen. Das ästhetische Paradigma zerstört das repräsentative Modell der Wirksamkeit der Kunst. Von nun an bestimmen Spannung und Auseinanderfallen die Wirksamkeit der Kunst. Die Indifferenz der Statue birgt das Versprechen eines neuen Lebens. Während die Größe der Statue darin besteht, dass sie das Produkt einer Kunst ist, die nicht vom kollektiven Leben getrennt war, dass sie das Versprechen von einer Kunst birgt, die erneut mit dem sinnlichen Leben der Gemeinschaft identisch wäre, so kehrt sich nun die Perspektive um: Die Kunst der handelnden lebendigen Körper im Angesicht anderer lebendiger Körper wird wiederum zur exemplarischen Kunst; zur Kunst, die die Kunst in das gemeinschaftliche Leben hineinträgt, welches ihr Ziel ist. Das Ende des repräsentativen ethischen Paradigmas öffnet sich nun auf das, was man ein ur-ethisches Modell nennen könnte. Das Modell davon liefert Rousseaus BRIEF ÜBER DIE SCHAUSPIELER. Aus den so genannten moralischen Lektionen Molières lässt sich nichts lernen. Die Darstellung der Sitten wird nie die Sitten verbessern. Das einzige Schauspiel, das die Energien und Tugenden eines freien Volkes entwickeln kann, ist die

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Selbstdarstellung: ist das zivile Fest der jungen Spartaner, wie es Plutarch beschreibt. Das Ende eines Theaters, auf dem moralische Lektionen erteilt werden, eröffnet die Möglichkeit eines Theaters, das keines mehr ist, sondern die Selbstdarstellung der lebendigen Gemeinschaft. Die griechische Statue erneuert also die Idee von einem Theater, das als Institution der Zivilgesellschaft fungiert, zwischen Tempel und ecclesia. Das Problem ist nicht, ob aus der Blendung des Ödipus, aus der Treue Antigones oder der Hartnäckigkeit Kreons etwas Moralisches zu lernen sei. Die Erzählung von ihrem Unglück ist von nun an wertvoll, weil sie der Gemeinschaft eine Gelegenheit zum Bezug auf sich selbst bietet. Das ist es, was der Ausdruck vom ur-ethischen Modell meint. Die ethische Verbindung zwischen den handelnden Körpern auf der Bühne und den ihnen gegenübersitzenden versammelten Körpern vollzieht sich nicht mehr gemäß der mimetischen Ökonomie von Leidenschaften, die dargestellt, und Leidenschaften, die von der Darstellung aufgewühlt werden. Sie verläuft über die Stofflichkeit von Ort und Handlung selbst. Sie verläuft über die Art und Weise, wie durch die Anwesenheit der Körper auf der Bühne die versammelten Körper ihrer latenten Kraft gewärtig werden. Tatsächlich lässt sich dieses ur-ethische Paradigma in zweierlei Hinsicht deuten. Man kann es apollinisch interpretieren: Das Theater ist eine Versammlung des Volkes. Sein Ursprung ist die Zeremonie der Polis, in der das Athen von logos und Demokratie in der Form des Dialoges mit den Geschichten der Tyrannen abrechnet, die Opfer ihrer Unmäßigkeit wurden. Man kann es auf dionysische Weise interpretieren: Dann ist das Theater der Ort des Kultes: Die Bühnenhandlung ist eine religiöse Zeremonie, in der die Polis des demokratischen Wortes an ihre Ursprünge eines frühen pathos zurückgeführt wird. Sie wird an die dunklen und unbeherrschbaren Ursprünge der Macht des Wortes und der Regeln der Gemeinschaft zurückgeführt. Der Gegensatz zwischen dem dunklen Gesang eines ursprünglichen Leides im Lichte einer plastischen und sprachbegabten Form hat seit Nietzsche nicht aufgehört, seinen Schatten auf das Theater und das Denken der Gemeinschaft zu werfen. Vielleicht aber verbirgt sich hier ein tieferer Widerspruch. Denn Apollo und Dionysos sind selber Doppelgestalten. Dionysos ist der gliederlose Gott der verlorenen ersten Natur. Außerdem ist er Gestalter der Feste, in denen die Polis ihre Einheit zelebriert, wo der Bürger Sophokles, Sophokles der schöne Ephebe, Sophokles der Kämpfer, der Bühnenautor Sophokles und der Schauspieler Sophokles ein und dieselbe Figur sind, lebendiges Emblem der Polis. Apollo ist der Gott der schönen Formen und er ist der Gott der dunklen Weissagungen. Der Gegensatz

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Apollo – Dionysos verdeckt die größere Spannung, die zwischen dem Paradigma der ästhetischen Aufschiebung und dem Paradigma der urethischen Versammlung herrscht. Der Widerspruch zwischen diesen beiden Modellen kann in der Interpretation des archaischen Torsos, der ein zu veränderndes Leben ankündigt, vollkommen gefasst werden. Der Körper, der uns mit allen Punkten seiner Oberfläche ansieht, ist in der Tat ein Körper, der zwischen Ohnmacht und Übermacht oszilliert, einem Weniger und einem Mehr an organischer, kollektiver Macht. Und dieses Oszillieren verfolgt das Theater seitdem es begonnen hat, sich als autonome Kunstform zu konstituieren, die sich von der einfachen Darstellung des ›dramatischen Gedichts‹ unterscheidet. Der Torso kann als Fragment des vollständig hingegebenen Körpers des jungen Spartaners von Plutarch und Rousseau interpretiert werden, der die Polis sich selbst vorführt. Und er kann als der zerstückelte Körper interpretiert werden, als der zerfallene Körper einer ganz bestimmten Natur. Dieser Körper muss die Zuschauer zuerst mit seiner Distanz und seiner Hilflosigkeit berühren, um in ihren Körpern eine neue Kraft des Auseinandertretens freizusetzen. Die Bühnenkunst ist keine religiöse oder zivile Zeremonie. Sie ist die Produktion einer außergewöhnlichen sinnlichen Form, die mit der herkömmlichen Art und Weise, in der die Dinge angeschaut und Taten interpretiert werden, gebrochen hat. Die Produktion dieser Form setzt also voraus, dass der Körper des Schauspielers gewissermaßen opak wird, also als Körper, der Bedeutungen und Emotionen überträgt, verschwindet, um sich der Indifferenz der steinernen Statue ohne Organe anzugleichen. Bereits Schiller erwähnte den Schlafwandler und die Marionette als Gegenmodell zu den institutionalisierten expressiven Codes. Es ist bekannt, wie sehr die Vorzüge der Marionette kurze Zeit darauf von Kleist systematisiert werden sollten, und zwar mit Worten, die unmittelbar Winckelmanns Vision des TORSO entlehnt zu sein scheinen: Die Seele Daphnes sitzt in den Wirbeln des Kreuzes der Tänzerin und Paris’ Seele im Ellenbogen des Tänzers. Diese zwei Figuren, nämlich das Gespenst und die Marionette, sind es, die sich im Zentrum der Erfindung der Inszenierung wieder finden werden. Edward Gordon Craig liefert die radikalste Formulierung: Das neue Theater muss von der Ungeschicklichkeit des Schauspielerkörpers, der sich noch damit abmüht, Emotionen und Bedeutungen zu transportieren, befreit werden. Nur unbelebte Wesen sind imstande, die Perfektion der theatralischen Bewegung zu erreichen. Vorbild dieser Perfektion sind die auf edle Weise künstlichen Bewegungen der Göttin des Tempel-Theaters im ägyptischen Theben, deren Beschreibung er einem imaginären grie-

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chischen Reisenden aus dem 7. Jahrhundert vor Christus zuschreibt. Auch die Inszenierungen Appias sind von dem bildhauerischen Vorbild inspiriert: Das gebündelte Licht soll den Körper des Schauspielers oder des Sängers in einem Raum, der von jeder naturalistischen Imitation befreit ist, modellieren, und zwar zugunsten der Geometrie des Bühnenbildes. Maeterlinck schwebt als angemessene Stofflichkeit des neuen Dramas ein Theater der Androiden vor, und die plastische Indifferenz der Marionette ist eine der wichtigsten Inspirationsquellen Meyerholds, von seinen symbolistischen Inszenierungen, über das ›Rokokotheater‹, bis hin zu seinen biomechanischen Etüden. Der Gegensatz zwischen dem spartanischen Epheben und der Marionette oder dem Schatten ist nicht der Gegensatz zwischen einem politisierten Theater und einem Theater für Ästheten. Die Politik des Ästhetischen ist selbst zwischen diesen Gegensätzen ausgespannt. Sie reicht vom ästhetischen Paradigma der plastischen Distanz, in der die gewöhnlichen Verbindungen zur Lebenswelt gekappt sind, bis zum urethischen Paradigma des kollektiven Handelns mit dem die Kunst über sich hinausgeht, indem sie eine Form des Lebens wird. Der Theaterkörper ist ein Körper, der von dieser Spannung durchdrungen ist. Indem die Klassiker modernisiert werden, werden sie dieser Spannung zwischen ästhetischer Trennung und ur-ethischer Fusion unterworfen. Die Inszenierung von ORPHEUS UND EURYDIKE von Appia und Jaques-Dalcroze 1913 in Hellerau illustriert recht gut die Spannung zwischen der überformten Distanz des Schauspielers und der chorartigen Präsenz der Gemeinschaft. Derselbe Appia, der die dramatische Handlung als Skulptur gestalten will, entgegen der mimetischen Tradition vom Ausdruck der Emotionen, will zugleich aus dem von der Musik belebten Körper den Akteur einer kollektiven Handlung machen, die über jede Darstellung hinausgeht. Er will die Mimik des Schauspielers auf ein bildnerisches Schema reduzieren, um die Skulptur in Bewegung zu versetzen: um sie in einen Körper zu verwandeln, der seinem eigenen wesentlichen Rhythmus gemäß handelt, in einen Körper also, der selber ein Kunstwerk ist. Die dramatische Kunst soll also ein »sozialer Akt werden, zu dem jeder seinen Beitrag leistet«. Und das Haus wird zur Kathedrale der Zukunft, in der alle Äußerungen des sozialen und künstlerischen Lebens willkommen sind, in der die dramatische Kunst blühen wird »mit oder ohne Zuschauer«. Der große Traum von der rhythmischen Gymnastik, der in ORPHEUS UND EURYDIKE inszeniert wird, gehört selbstverständlich zur Utopie des neuen Griechenlands, die vom Ersten Weltkrieg hinweggefegt wurde. Doch gerade diejenigen, die diese Utopie ablehnen, stoßen

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erneut auf dieselbe Spannung zwischen der ästhetischen Neutralisierung und dem ur-ethischen Aktivismus. Dass Meyerhold Ostrowskis Figuren zu immer mehr gymnastischen Übungen anhält, dient nicht dazu, letztere schmackhaft zu machen, sondern ist eine Art und Weise, das Potential des klassischen Werkes in die Gegenwart zu entfalten und die Künstlichkeit der Fiktion mit der Ausübung einer vitalen Kraft gleichzusetzen. Doch auch die Demonstration dieser vitalen Kraft vollzieht sich im Medium mechanisierter Gesten. Die Biomechanik ist die erträumte Versöhnung zwischen der Indifferenz der Marionette und der Kraft eines neuen Lebens der Gemeinschaft, die mit dem Epos der Maschine gleichgesetzt wird. Auch reicht es noch nicht, sich von der ur-ethischen Identifizierung der theatralischen Gestik und der Mobilisierung der Körper im neuen Leben zu distanzieren, um das Problem zu lösen. Denn dann stößt man erneut auf die Spannung zwischen der ethischen Tradition eines erziehenden Theaters und der ästhetischen Tradition, die durch Distanzierung und Aufschiebung eine neue Empfindsamkeit ausbildet. Brechts Verfremdung löst nicht die Frage nach der Wirksamkeit des Theaters, sondern benennt diese Spannung der Gegensätze. Sie schreibt sich in die Kontinuität der theatralischen Revolution ein, die auf der Verwerfung des ausdrucksvollen Körpers basiert. Aber sie macht auch aus der Aufgabe der politischen Erziehung, die dem Theater anvertraut ist, ein Zusammentreffen der Gegensätze. Die normalen Verhaltensweisen müssen verfremdet werden, indem sie dem Spiel, das auf expressiver Wirksamkeit und mimetischem Wiedererkennenseffekt beruht, entzogen werden. Die gewohnten Verknüpfungen zwischen Sinn und Sinnlichem müssen demnach unterbrochen werden. Postulieren aber muss man, dass in der Wirkung diese Unterbrechung des sinnlichen Kontinuums mit der kognitiven Logik eines Verstehens des Unverständlichen gleichgesetzt werden kann. Schließlich muss die Wirkung der ästhetischen Distanz dem Modell der Verbesserung der Verhaltensweisen durch ihre Darstellung gleichgesetzt werden. Aber die schöne Logik der Anpassung von Mitteln und Zwecken ist für immer durch den ästhetischen Schnitt entzweit. Das Zusammentreffen von ästhetischer Wirkung, kognitiver Wirkung und politischer Mobilisierung wird im Endeffekt nur durch die ur-ethische Vision vom Theater gewährleistet, in dem die schauende Beziehung umgekehrt wird und die Verwandlung des einzelnen passiven Zuschauers ins Mitglied eines kollektiven Subjekts stattfindet. Die Klassiker wieder zu inszenieren, das bedeutet für das Theater, erneut die Spannung zu spielen, die im Zentrum der neuen Macht, die

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ihm vom ästhetischen Regime der Kunst übertragen wurde, angesiedelt ist. Einerseits bedeutet der ästhetische Rückzug das Aufbrechen der sozialen Rollen, das Aufbrechen der Formen der Körperlichkeit selbst, die eine soziale Ordnung charakterisieren. Aber dieses Aufbrechen erzeugt eine einzigartige Wirksamkeit, eine Wirksamkeit, die von jeder Effekthascherei weit entfernt ist. Die Emanzipation des Blicks, die Aneignung eines anderen Sprechens, das Auseinandertreten des sinnlichen Apparats, der einen Körper an seinen Platz bannte, entstammen dem Unentscheidbaren der einzelnen Linien, die durch die verschiedenartige Präsenz der Körper und der Bilder in Bewegung versetzt werden. Die unkalkulierbare Wirkung führt dazu, dass das Theater ständig ausgleichend tätig werden und seine Vergangenheit sowie seine Zukunft inszenieren muss. Immer wieder muss es eine verlorene Macht der Körper spielen und eine zukünftige Kommunion vorwegnehmen. Das Insistieren auf dem Körper, das auf so obsessive Weise das zeitgenössische Theater prägt, legt davon auf beredte Weise Zeugnis ab. Denn dieser Körper, der immer wieder beschworen wird, hört nicht auf, die Kombination mehrerer Körper zu variieren: zerfallener und durch kleinste Bewegungen, die einen bedeutungsfreien Raum erfinden, wieder zusammengesetzter Körper; Körper, der Wunden und Narben der Geschichte ausstellt; blutiger Körper eines Orgien- oder Mysterientheaters; Körper, der der Feierlichkeit des Mysteriums, der Mechanik der Marionette, der Mineralität des organischen Lebens überantwortet ist; Körper, der vollständig im Handeln aufgeht, zu einer neuen Mobilisierung aufruft und die Trennung zwischen Plätzen für die Schauspieler und Plätzen für die Zuschauer überwindet. Das Theater wird nicht müde, die Klassiker, und mit ihnen die Dialektik von ästhetischer Spannung und ethischer Kommunion auf die Bühne zu bringen.

Aus dem Französischen von Susanne Marten.

1

Rancière unterscheidet an anderer Stelle zwischen drei Ordnungen oder Regimen der Kunst, dem »ethischen Regime der Bilder«, dem »repräsentativen Regime der Künste« und schließlich dem »ästhetischen Regime der Kunst« (siehe z. B. Die Aufteilung des Sinnlichen). Obwohl der Ausdruck »Regime« in der Regel im Deutschen negativ konnotiert ist (Zwangssystem), optieren wir bei der Übersetzung des im Französischen wertneutralen »régime esthétique« für das deutsche »Regime« im selteneren Sinne einer neutral bewerteten Ordnung oder Form, nicht zuletzt, um Rancières Terminus »régime« vom philosophisch besetzten »ordre«, der Ordnung, abzugrenzen (Anm. d. Übs.).

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SCHILLER UND DAS ÄSTHETISCHE VERSPRECHEN

Am Ende des fünfzehnten Briefes ÜBER DIE ÄSTHETISCHE ERZIEHUNG DES MENSCHEN formuliert Schiller ein Paradox und gibt ein Verspre-

chen. Er schreibt, »der Mensch ist nur da ganz Mensch, wo er spielt«. Und denjenigen, die meinen könnten, er scherze, verkündet er, dieses Paradox sei imstande »das ganze Gebäude der ästhetischen Kunst und der noch schwierigeren Lebenskunst [zu] tragen«.1 Er behauptet also, dass es eine besondere Form der sinnlichen Erfahrung gebe, die Erfahrung des ästhetischen Spiels, und dass diese Erfahrung, wo sie richtig verstanden werde, das Versprechen einer neuen Welt der Kunst und einer neuen Lebenswelt in sich trage. Die Einzigartigkeit dieser Aussage besteht selbstverständlich in der Verknüpfung, die hier hergestellt wird. Denjenigen, die sehen, dass die neue Welt der Kunst der mimetischen Knechtschaft eine autonome, wenn nicht gar eine selbstreferentielle Kunst entgegensetzt, hält Schillers Aussage die Verbindung der beiden scheinbaren Gegensätze entgegen. Dasselbe ›Spiel‹ begründet etwas, das der Kunst eigen ist und eine neue Lebensform. Um das Paradox und das Versprechen zu verstehen, muss man sich zuerst klarmachen, was mit Spiel gemeint ist. Das Spiel ist die Aktivität schlechthin, die keinen anderen Zweck hat als sich selbst, die sich nicht vornimmt, wirkliche Macht über die Dinge oder Personen auszuüben. Schiller erwähnt diese allgemeine Eigenschaft des Spiels allerdings in einem Zusammenhang, in dem sie durch Kants Analyse der ästhetischen Erfahrung noch genauer bestimmt wird. Für Kant ist die ästhetische Erfahrung durch »das freie Spiel der Erkenntniskräfte« charakterisiert, das heißt durch eine doppelte Aufschiebung: Aufschiebung des kognitiven Vermögens des Verstandes, der die sinnlichen Gegebenheiten durch Kategorien bestimmt, und Aufschiebung der Macht der Sinnlichkeit, die die Objekte ihres Begehrens durchsetzt. Diese doppelte Entfernung, dieses weder … noch, schiebt sowohl eine Aktivität als auch eine Passivität auf, und zwar zugunsten eines neutralen Zustands, nämlich des freien Spiels, in dem das normalerweise aktive Vermögen – der Verstand – und das normalerweise passive Vermögen – die Sinnlichkeit – sich ohne Begriff aufeinander beziehen.

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In eben dieser aufschiebenden Kraft des Spiels, in der Besonderheit eines ästhetischen Zustands, wird von Schiller die virtuelle Gegebenheit einer neuen Welt der Kunst und einer neuen Lebensform verortet. Dies geschieht um den Preis einer Reihe von Umgestaltungen, von denen die erste paradoxerweise zu sein scheint, dass Neutralität zur Inaktivität wird, dass aus dem frei Spielenden ein Betrachter wird, und zwar ein Betrachter, der, unfähig zu handeln, einer Inaktivität beiwohnt. In der Tat stellt uns Schiller am Ende desselben Briefes im Geiste vor eine griechische Statue, die JUNO LUDOVISI. Diese Statue, sagt er, ruht in sich selbst, sie ist eine völlig geschlossene Schöpfung. Sie drückt den grundsätzlichen Charakter der Gottheit aus: ihren Müßiggang, ihre Sorglosigkeit und das Fehlen jeglichen Willens.2 Der Zuschauer steht also untätig vor dieser Gottheit, deren Souveränität darin besteht, nichts zu tun. Auch das Werk des Bildhauers scheint in diesen Zirkel von Inaktivität hineingeraten zu sein, die dem Menschen ein erfülltes Menschsein nach dem Bilde der Gottheit verspricht. Das also ist der erste Aspekt des Paradoxes: Das gesamte Gebäude der schönen Kunst ruht von nun an auf dieser Aufschiebung von Aktivität, dieser Aufschiebung des Willens, die dem ästhetischen Spiel eignet. Eben diese Ausnahmesituation ist nach Schiller imstande, eine neue Lebenskunst zu begründen. Darunter ist nicht nur das Leben der Individuen zu verstehen, sondern auch die Kunst in einer Gemeinschaft zu leben, also das, was man im Allgemeinen als Politik bezeichnet. Schillers Text, der 1795 verfasst wurde, ist durch und durch von den Ereignissen der Französischen Revolution geprägt. So meint Schiller, das freie ästhetische Spiel sei dasjenige Prinzip, das ermöglichen müsse, was der Revolution nicht gelungen ist: eine Gemeinschaft freier Menschen zu befördern. Bei aller politischen Dringlichkeit verbindet er also auch über sie hinaus mit Entschiedenheit das, was einige nicht aufhören wollen als Gegensatz zu fassen: die Autonomie der ästhetischen Erfahrung und die Umgestaltung dieser Erfahrung in das Prinzip einer neuen Gemeinschaft. In den herkömmlichen Debatten über Kunst und Politik geht es um das Problem der Beziehung von zwei voneinander getrennten Sphären. Da wird die Frage aufgeworfen, ob die Kunst Politik machen solle, oder ob sie damit nicht ihr eigenes Wesen verrate. Oder man versucht uns da im Gegenteil zu erklären, dass die sogenannte Autonomie der Kunst nur eine Maske sei, hinter der sie sich den staatlichen Institutionen, dem Gesetz des Marktes und den Machtspielen um kulturelle Auszeichnung unterordne. Beide Positionen setzen voraus, dass die Existenz beider Begriffe, die auf diese Weise miteinander verknüpft werden, sich von

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Schiller und das ästhetische Versprechen

selbst versteht; dass es Politik gibt, weil es Macht gibt, und dass es Kunst gibt, weil es Maler, Musiker oder Dichter gibt. Schillers Formel hingegen erinnert uns daran, dass keine der beiden Annahmen evident ist. Es kann – und das war fast immer der Fall – Musiker, Maler und Dichter geben, ohne dass ihre Tätigkeit unter den Begriff der Kunst als ursprüngliche Tätigkeit subsumiert würde. Damit es Kunst gibt, müssen ihr Können bzw. ihre Leistung in einem gemeinsamen Seinsmodus begriffen werden, der wiederum einem eigenen Modus der Sichtbarkeit und einer spezifischen Form des Intelligiblen entspringt. Gleichermaßen bedeutet allein die Tatsache, dass nahezu überall auf der Welt Menschen ihren Chefs gehorchen, nicht, dass man deswegen von der Existenz einer politischen Sphäre ausgehen kann, denn die Identifikation spezifischer gemeinsamer Objekte rührt von der von allen geteilten Fähigkeit her, diese zu identifizieren, sie dem gesellschaftlichen Diskurs zu unterwerfen und in die Praxis umzusetzen. Damit es Kunst und Politik gibt, muss es bestimmte, abgegrenzte Sphären der Erfahrung geben, sowie eine bestimmte Beziehung zwischen den Tätigkeiten und den sichtbaren Formen einerseits und der Intelligibilität dieser Tätigkeiten andererseits. Eine bestimmte Aufteilung der sinnlichen Welt muss sein: eine Verteilung von Räumen und Zeiten, Funktionen und Fähigkeiten, des Sichtbaren, des Unsichtbaren und des Sagbaren. Kunst als solche identifizieren zu können, setzt eine bestimmte Aufteilung des Sinnlichen voraus, d. h. eine bestimmte Verteilung dessen, was machbar, spürbar und denkbar ist, die auch die Vorstellung von der Politik als Teilhabe an einem Gemeinsamen beinhaltet. Die ästhetische Kunst, von der Schiller hier spricht, bezeichnet also eine bestimmte Daseinsweise der Kunstgegenstände und der Subjekte, die diese schätzen. Die JUNO LUDOVISI ist – d. h. Schillers Text macht aus ihr – eine »freie Erscheinung«, eine Erscheinung, die von keiner Realität normiert ist: weder der Realität des Kultobjekts, noch derjenigen eines zu imitierenden Modells. Die Statue wird nicht als Abbild einer Gottheit empfunden, denn dieses müsste man daraufhin befragen, ob die Dargestellte tatsächlich eine Gottheit ist, ob es legitim ist, eine Gottheit darzustellen, und auch, ob sie so wohl richtig dargestellt sei. Die Statue wird auch nicht als Ergebnis der Kunstfertigkeit eines Bildhauers wahrgenommen, der vermocht hatte, dem Stein Leben einzuhauchen und dem es gelungen war, die Monumentalität, wie sie dem Abbild einer Gottheit geziemt, mit ganz individuellen Charakterzügen, die er ihr verlieh, indem er ihr menschliche Gefühle unterstellte, zu versöhnen. Die JUNO LUDOVISI ist weder die herrschsüchtige Göttin noch die eifersüchtige Gattin, von der die Dichter singen. Sie ist eine müßige

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Figur, also durch das reine Merkmal der Abgrenzung definiert. Auf diese Weise wird die Skulptur dem darstellenden Universum entzogen, in welchem sie als gelungene oder verpatzte Entsprechung einer handwerklichen Fertigkeit und der Darstellung einer Idee beurteilt wurde. ›Ästhetik‹ bedeutet ebendies: Ein Kunstgegenstand definiert sich von nun an durch seine Teilhabe an einem speziellen Seinsmodus (einem müßigen Seinsmodus, d. h. abgetrennt von den Sorgen der Erkenntnis und des Willens), und nicht länger durch seine gelungene Ausführung. Das freie Spiel der Vermögen, das diese freie Erscheinung zu schätzen weiß, schafft seinerseits die Hierarchie ab: Die Göttin, die überlegen ist, weil sie willenlos und nicht gebieterisch ist, setzt der darstellenden Hierarchie, in der die Form einem Stoff aufgezwungen wird, und damit der Opposition zwischen einer Intelligenz, die bestimmt, und einer Stofflichkeit, die entweder gehorcht oder widerstrebt, ein Ende. Der Seinsmodus der willenlosen Gottheit ist zum Emblem einer neuen Identifikation der Kunst geworden – zum ersten Mal wird diese im Singular ausbuchstabiert – und so entsteht mit dieser der Gattungsbegriff eines eigenen Erfahrungsbereichs. Unter den schönen Künsten wurde nur innerhalb der Vielfalt der technischen Fertigkeiten eine besondere Klasse der Künste hervorgehoben, deren Position in der Hierarchie, deren Bedingungen, unter welchen sie dazugehörten und deren ausgesprochene oder unausgesprochene Regeln analog zur Hierarchie einer ständischen Gesellschaft gebildet waren. Der neue Seinsmodus der Kunst löst die Analogie zwischen der Ordnung der Künste und der Ordnung der Herrschaftsbeziehungen auf. Selbstverständlich geschieht das nicht zu irgendeinem beliebigen Zeitpunkt. Es ist die Stärke von Schillers Text, dass er die allgemeinen und unmittelbaren politischen Implikationen herausstellt, die der neue Status dem Schönen verleiht, Status, den es der KRITIK DER URTEILSKRAFT verdankt, und zwar als Korrelat des freien Spiels, des ›begriffslosen‹ Spiels der Vermögen. Die Revolution, die dieses freie Spiel impliziert, ist wesentlich mehr als nur die Aufhebung der codierten Normen des Schönen, die dem darstellenden Universum eigen sind, sie bedeutet das Ende des wesentlichen Prinzips dieser Ordnung: der Herrschaft der aktiven Form über die passive Materie. Dass dieses Ende einen entscheidenden Einschnitt bedeutete, nicht nur für die »ästhetische Kunst«, sondern für die »noch schwierigere« Lebenskunst, darauf verwies bereits einige Monate nach dem Sturm auf die Bastille Paragraph 60 der KRITIK DER URTEILSKRAFT. Der ästhetische sensus communis versprach eine Antwort auf das Problem einer Welt, in der »der rege Trieb zur gesetzlichen Geselligkeit« mit dem Pro-

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blem konfrontiert war, »die Freiheit (und also auch Gleichheit) mit dem Zwang (mehr der Achtung und Unterwerfung aus Pflicht, als Furcht)« zu vereinen. Die Lösung dieser politischen Frage setzte zunächst eine Form des ästhetischen Allgemeinen, die Bildung eines von allen geteilten Geschmacks voraus, der die »wechselseitige […] Mitteilung der Ideen des ausgebildetsten Teils [des Volkes] mit dem roheren«, und auf diese Art die Mitte zwischen der Verfeinerung der ersteren und der Originalität der letzteren, zwischen der höheren Kultur und der genügsamen Natur ermöglichen sollte.3 Schiller radikalisiert diese Vorannahme, indem er eine doppelte Übertragung der kantischen transzendentalen Szene vornimmt. Das Verhältnis von Verstand und Sinnlichkeit wird zuerst zum anthropologischen Gegensatz, zur Opposition zwischen zwei fundamentalen Trieben: dem Formtrieb, d. h. dem Willen des aktiven Geistes, allem seinen Stempel aufzudrücken – den Stempel seiner Autonomie – und dem sinnlichen Trieb, der Kraft des sinnlichen Stoffes, der, indem er die Anarchie seiner Begierden durchsetzen will, noch grundsätzlicher darauf zielt, der Passivität, d. h. dem Gesetz der Heteronomie, die jene regiert, zum Triumph zu verhelfen. Das freie Spiel der Vermögen wird so zum Theater der Triebe, auf dem die ästhetische Autonomie als rettende Antwort auf die Verstrickungen einer anderen Autonomie erscheint, nämlich derjenigen des Verstandes, der den Gegebenheiten seine Begriffe bzw. Formen aufzwingt, d. h. also derjenigen des rationalen Willens, der sich gegenüber der sinnlichen Stofflichkeit unmittelbar durchsetzen will. Doch diese anthropologische Übertragung ist selbst von genuin politischer Dringlichkeit diktiert. Die Macht der Form über den Stoff, die der dritte Trieb, der Spieltrieb, außer Kraft setzt, lässt sich in der Tat unmittelbar ins Politische übertragen. Sie ist die Macht des staatlichen Universellen über die Anarchie der Individuen und der Massen. Diese Macht wiederum verhilft einer anderen Macht zur Gestalt: der Macht der ›Kultur‹ über die ›Natur‹, das heißt, der Klassen der Muße über die – natürlichen oder wilden – Klassen der Arbeit und der einfachen Reproduktion. Das Scheitern der Französischen Revolution, ihr Umschlag in Terrorismus, hat für Schiller seinen Ursprung darin, dass sie das Reich der Freiheit und der Gleichheit unmittelbar als Reich des Gesetzes durchsetzen will, d. h. als staatliches Universelles. So reproduziert das revolutionäre Reich des Gesetzes die traditionelle Herrschaft einer Klasse des Universellen, die sich gegenüber der Anarchie der Partikularitäten durchsetzt. Es reproduziert noch einmal, was es doch abzuschaffen gälte: die Trennung zweier Menschheiten. Die wahre Revolution wäre es, in der Aufteilung des Sinnlichen, die zwei Mensch-

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heiten trennt, von denen die eine der Autonomie des Handelns, die andere der Heteronomie der passiven Materialität verschrieben ist, eine Wende herbeizuführen. Diese Trennung der Menschheiten eben ist der wesentliche Punkt, der durch den Verfall der Kriterien der schönen Künste und die Enthauptung des Königs zugleich bezeichnet und maskiert wird. Damit der politische Umsturz der ständischen Gesellschaft und der Souveränität nicht zur einfachen Umkehrung der Machtverhältnisse gerät, muss herausgearbeitet werden, was sich hinter der Abschaffung der Macht der ›Form‹ auf deren Grund verbirgt: Es geht nicht einfach um den Zusammenbruch der Hierarchie der Künste, der Sujets und der Genres, die analog zur sozialen Ordnung und zur Herrschaftsordnung gebildet wurde, sondern darum, die Zuteilung der ›Sinnlichkeiten‹, die den Plätzen entspricht, die diese in der Ordnung der ›Beschäftigungen‹ einnehmen, erneut zu bedenken – d. h. eben die Art und Weise, wie die Individuen und die Gruppen ihre Zeit auf dem ihnen jeweils zugedachten Platz verwenden. Wenn das, was die Ordnung der mimesis abschafft, Spiel heißt, und wenn dieses Spiel, fern jeder Nutzlosigkeit, als das Eigene der Gottheit erscheint, also als das Eigene einer neuen Menschheit, so liegt das daran, dass das Spiel herkömmlicherweise eine Ausnahmerolle in der Ordnung der Plätze und der Beschäftigungen spielt – eine Ausnahme, die, wie es sich gehört, die Regel dieser Ordnung bestätigt. Dieses Spiel von Regel und Ausnahme ist in der platonischen Formel von Ernst (spoude) und Spaß (paidia) enthalten. Die platonische Republik soll ernsthaft die Vortrefflichkeit des göttlichen Spiels nachahmen, und zwar in der menschlichen Ordnung. Dieses Spiel nachzuahmen aber bedeutet, gerade nicht zu spaßen. Vielmehr bedeutet es, dass eine Ordnung aufgestellt wird, in der denjenigen das Spiel untersagt ist, die nichts anderes sein könnten als schlechte Spieler, weil sie die Ähnlichkeit des göttlichen Spiels zerstören. Nicht spielen können, unfähig zu spielen sind: die Handwerker, die keine Zeit haben, etwas anderes zu tun, als ihr eigenes Geschäft zu betreiben: die Herstellung nützlicher Gegenstände und die Reproduktion reproduzierenden Lebens. Schlechte Spieler hingegen und Falschspieler sind die nachbildenden Dichter (Mimesis-Dichter), die mit den Erscheinungen spielen wollen, während sie selbst nicht imstande sind zu unterscheiden, was Schein und was Wirklichkeit ist. Nur diejenigen dürfen spielen, die wissen, was Spiel und was Ernst ist. Nur diejenigen dürfen nachahmen, die wissen, was die Wirklichkeit und was ihre Nachahmung ist. Ein und dasselbe Prinzip ermöglicht es, den professionellen Nachahmer auszuschließen und sorgt zugleich dafür, dass der Handwerker an dem ihm zugewiesenen Platz bleibt. Dieses Prinzip lau-

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tet, dass man nicht zwei Dinge gleichzeitig tun kann: arbeiten und regieren, man selbst sein und die Gestalt einer Fiktion. Der Ausschluss des freien Scheins ist einer Aufteilung des Sinnlichen wesensgleich, in der der Unterschied der Funktionen mit dem Unterschied der Naturen gleichgesetzt wird, und in der die Formen der sinnlichen Erfahrung, Raum und Zeit, selber von dieser Identität zeugen. Sie ist der Aufteilung wesensgleich, in der nur diejenigen sich um die Geschäfte der Allgemeinheit kümmern dürfen, die spielen können, d. h. diejenigen, die Zeit haben für das Spiel, weil sie Zeit für Muße haben. Um diese Zuteilung von Spiel und Ernst geht es im Wesentlichen seit der Niederlage der aristotelischen Form. Das freie ästhetische Spiel und der freie ästhetische Schein unterwandern die Ordnung der Plätze, die vom Ausnahmecharakter des Spiels und vom nur wenigen vorbehaltenen Wissen um die Täuschungen garantiert wurde. Sie verwerfen die Aufteilung der sinnlichen Welt, in der Herrschaft eben darauf gründet, dass es zwei getrennte Menschheiten gibt. Sie bringen Freiheit und Gleichheit des Fühlens zum Ausdruck, die einzig und allein in der Lage sind, das in Wirklichkeit zu verwandeln, was die Französische Revolution in die abstrakte Idealität des Gesetzes eingesperrt hatte. Die Herrschaft des Gesetzes ist immer noch die Herrschaft der freien Form über die dienstbare Materie, des universellen Staates über die Anarchie der Individuen und der Massen. Der Müßiggang der Göttin hingegen bringt eine Freiheit ans Licht, die nicht länger einen widerstrebenden Stoff unterdrückt, eine nicht-oppressive Freiheit, eine Freiheit ohne Macht. Auf diese Weise wird sie zur Fackelträgerin des Prinzips einer anderen Revolution, nämlich der ästhetischen Revolution, d. h. der Revolution der sinnlichen Formen, die den vom Staat und der sozialen Hierarchie eingesetzten Formen vorgängig sind und diese vorherbestimmen. Am ›Gemeinsinn‹ hängt nicht länger nur das Versprechen vom Austausch zwischen der kultivierten Kultur und der wilden Natur. Er ist auch nicht länger bloß der Ort einer Vermittlung zwischen oben und unten. An ihm haftet das umfassende Prinzip einer neuen Menschheit, die durch eine neue Empfindungsfähigkeit charakterisiert ist, und es haftet an dieser Außerordentlichkeit selber, die ihn auszeichnet. Der Gemeinsinn ist ein außerordentlicher Gemeinsinn – oder, wenn man so will, ein widerstreitender. Dieser Widerstreit ist im Verhältnis der beiden Kräfte, die hier ins Spiel gebracht wurden, spürbar. Kants »freies Spiel« der Vermögen und die Auflösung der Opposition zwischen formalem Trieb und sinnlichem Trieb im Spieltrieb haben bei Schiller nichts mehr von einer gütlichen Einigung. An ihnen kommt eine Spannung der Gegensätze zum

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Ausdruck, in der beide, das passive Vermögen und die tätige Kraft – aufgeschoben, und dadurch in ein polares Verhältnis geraten – in ihr Gegenteil umschlagen. Die tätige Kraft verhält sich empfangend, das empfangende Vermögen wird aktiv.4 Diese Spannung, die den freien Schein charakterisiert, wird nicht in die ruhige Sicherheit eines Urteils über das Schöne überführt. Sie drückt sich vielmehr in einem außerordentlichen sinnlichen Zustand aus. Das Subjekt erfreut sich nicht heiteren Wohlgefallens an der Form. Es ist vielmehr einem Krieg ausgeliefert, der sich in seinem Inneren abspielt und in dem Autonomie auf Kosten einer anderen Autonomie erlangt wird – auf Kosten der »formalen Autonomie« des Verstandes und des Willens nämlich. Durch seine Begegnung mit dem freien Schein befindet sich das Subjekt in einem widersprüchlichen Zustand, der zugleich höchste Ruhe und höchste Bewegung ist. Keineswegs bedarf es der entfesselten Kraft der »erhabenen« Natur, um das Subjekt in einen widersprüchlichen Zustand der Anziehung und der Abstoßung zu versetzen. Die Göttin, die es durch ihren Charme anzieht, stößt es zugleich durch ihre Selbstgenügsamkeit ab. Gewöhnlich unterteilen unsere Zeitgenossen, vor allem im Gefolge von Lyotards Analysen, Kants Ästhetik in zwei Teile, wobei die Analytik des Schönen einem klassischen Harmoniedenken zugeordnet wird, während die Analytik des Erhabenen, die sie gegenüber der ersteren bevorzugen, als unversöhnliche Spannung zwischen der Vorstellung und der Vernunft, zwischen der Idee und jeglicher Form sinnlicher Darstellung begriffen wird. Für Lyotard wäre also die Ästhetik des Erhabenen das Schaffensprinzip der künstlerischen Avantgarden schlechthin.5 Doch zu dieser Gegensätzlichkeit, die paradoxerweise Kants Ästhetik auf den Punkt konzentriert, der für Kant den Ausgang aus der Ästhetik und den Eintritt ins Universum der moralischen Freiheit markiert, gelangt man nur, indem man Schillers ursprüngliches Vorgehen umkehrt. Auf Schillers Bühne steht nämlich die Versöhnung des Schönen nicht im Gegensatz zur Unversöhnlichkeit des Erhabenen. Die Erfahrung des Schönen, die Erfahrung des weder … noch …, ist bereits die Erfahrung einer Spannung der Gegensätze. Sie ist schon eine Erfahrung von Dissens, dem tatsächlichen Bruch zwischen einer gegebenen Verfasstheit der sinnlichen Welt und ihrem ›Gesetz‹. Das freie ästhetische Spiel ist, im eigentlichen Sinne des Wortes, ein aufschiebender Zustand, ein Zustand, in dem die Logik der Herrschaft aufgeschoben ist und Freiheit sich entfalten kann; eine Freiheit, die deshalb den Keim zu einer neuen Menschheit legt, weil sie Freiheit ohne Gegensatz ist, oder genauer gesagt eine, deren einziger Gegensatz

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in der Aufteilung besteht, nämlich der Trennung von Funktionen und von Menschheiten. Weil die ästhetische Autonomie ihrem Wesen nach widerstreitend ist, bindet sie sich von vornherein an ihr scheinbares Gegenteil, das Versprechen einer neuen Gemeinschaft. Es gibt keinen Gegensatz zwischen autonomer Kunst und einer Kunst, die der politischen Heteronomie unterworfen wäre. Es gibt eine spezifische Verknüpfung von Autonomie und Heteronomie, eine Politik, die der Definition des neuen Kunst›Gebäudes‹ inhärent ist. Diese Zugehörigkeit ist keineswegs eine bloß persönliche Behauptung, die vor zwei Jahrhunderten von einem Denker aufgestellt wurde. Sie hat nicht aufgehört – jenseits der falschen Streitereien über reine oder engagierte Kunst – zwei Jahrhunderte lang die Beziehungen zwischen dem der Kunst Eigenen und dem Prinzip der Gemeinschaft zu prägen. Schiller behauptet, der Spieltrieb werde sowohl das Gebäude der Kunst als auch das Zusammenleben wieder erschaffen. Die militanten Arbeiter der Jahre um 1840 zerschlagen den Kreislauf der Unterdrückung nicht, indem sie populäre oder militante Literatur lesen, sondern indem sie ›große‹ Literatur lesen. Von den bürgerlichen Kritikern wird 1860 Flauberts »l’art pour l’art« als Verkörperung demokratischer Gleichheit angeprangert. Mallarmé will zwar die poetische Sprache von der gewöhnlichen Sprache trennen, aber nur, damit die Poesie »die Feiern der Zukunft vorbereiten« und die offizielle Anerkennung der Gemeinschaft »besiegeln« könne. Adorno verlangt zwar, dass die Kunst vom Leben vollständig geschieden sei, aber nur, damit an ihr die Widersprüchlichkeit einer Gesellschaft deutlicher hervortrete. Die Liste ließe sich unendlich fortsetzen. Immer aber wird man dasselbe Paradox am Werk sehen, das ursprünglich Schiller formulierte: Es ist die »Reinheit« der ästhetischen Erfahrung, die für ihr politisches Versprechen einsteht. Denn die Autonomie, die vom ästhetischen Regime der Kunst inszeniert wird, ist nicht die Autonomie des Werkes, die Autonomie des Produkts eines Herstellungsprozesses. Es geht vielmehr um die Autonomie des Erfahrungsmodus, in dem dieses Produkt erlebt wird. Die Selbstgenügsamkeit der JUNO LUDOVISI hat nichts mit einer »Autotelie« der Kunst zu tun, noch mit einer – im Namen des Genies erfolgenden – Sakralisierung der künstlerischen Schöpfung, die sich selbst als einzige Norm setzt. Ihre Selbstgenügsamkeit ist im Gegenteil »Müßiggang«, Abwesenheit von jeglichem Wollen, von jeglichem Zweck, der etwa zu verfolgen wäre. Die Statue verkörpert paradoxerweise die Eigenschaften von etwas, das nicht geschaffen wurde, von etwas, das weder Objekt

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eines Zweckes, noch Objekt eines dem widerstrebenden Stoffe aufgezwungenen Gedankens wurde. Kurz gesagt, sie verkörpert die Eigenschaften von etwas, das kein Kunstwerk ist (darin steckt übrigens, nebenbei bemerkt, der wahre Kern der endlosen Auslassungen zum Thema »dies ist« und »dies ist keine Kunst«). Die Eigenschaft, ein Kunstgegenstand zu sein, wird von nun an dadurch bestimmt, dass die Eigenschaften dieses Gegenstandes mit denjenigen seines Gegenteils, d. h. den Eigenschaften von dem, was keine Kunst ist, identisch sind. Das hat entscheidende Folgen für die Definition der Autonomie des ästhetischen Subjekts. Angesichts des freien Scheins empfindet das Subjekt eine Autonomie, die gleichermaßen Enteignung, also ein Machtverlust ist. Ihm gegenüber steht der »freie Schein«, unnahbar, seinem Wissen, seinem Begehren und seinen Zwecken nicht verfügbar. Eben dadurch aber trägt er für es ein Versprechen in sich. Dem Subjekt wird als Besitz eine neue Welt der Freiheit und der Gleichheit versprochen, die diese Figur, die es nicht besitzen kann, sinnlich erfahrbar macht. Es selbst und die Göttin sind beide in dieser Empfindungsfähigkeit, in der die Gegensätze von Aktivität und Passivität, von Willen und Widerstand, von Aneignung und Enteignung aufgehoben sind, ergriffen. Die Autonomie der Kunst steht nicht im Gegensatz zur politischen Heteronomie. Das, was zueinander in Gegensatz steht, sind zwei Verknüpfungen von Autonomie und Heteronomie, zwei unterschiedliche Arten, das »Eigene der Kunst« zur sinnlichen Form der Gemeinschaft in Bezug zu setzen und auch, die Identität von Kunst und Nicht-Kunst zu denken. Eben diese zwei Arten, deren Konflikt noch nicht beigelegt ist, stehen bereits in Schillers Text in spannungsvollem Verhältnis. Es gibt in der Tat zwei Möglichkeiten, wie man die ästhetische »Selbstgenügsamkeit« verstehen kann – d. h. zwei Möglichkeiten, wie sich die Beziehung der Gleichheit der Gegensätze, von Aktivität und Passivität, denken lässt. Im fünfzehnten Brief radikalisiert Schiller in seinem Szenario von der ›Ausstellung‹ der JUNO LUDOVISI eine erste Idee von Selbstgenügsamkeit. Selbstgenügsamkeit bedeutet dort zuallererst Heterogenität. Ästhetische Erfahrung ist die Erfahrung einer Sphäre des Sinnlichen, in der die Beziehungen, die normalerweise sinnliche Erfahrung prägen, außer Kraft sind. Die Statue birgt ein Versprechen, weil sie dem betrachtenden Subjekt radikal fremd ist, d. h. insofern sie für dieses weder Objekt positiven Wissens noch erfüllten Begehrens sein kann. Doch diese Selbstgenügsamkeit gewinnt bald eine andere Bedeutung. Der freie Schein ist in Wirklichkeit das Aufscheinen einer bestimmten Freiheit. Die Göttin ist ›frei‹, weil eine bestimmte Freiheit, eine bestimmte Selbstgenügsamkeit oder Autonomie in ihr

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zum Ausdruck gelangt ist. Diese Freiheit ist für Schiller und diejenigen, die ihm darin folgen, die Freiheit eines Volkes: des antiken griechischen Volkes. Es spielt dabei keine Rolle, für wie glaubwürdig wir diese Darstellung des antiken Griechenlands halten. Wesentlich ist es, den Inhalt dieser Autonomie zu erfassen. Das solchermaßen entworfene griechische Leben ist ein freies und autonomes Leben insofern es sich keinen Formen von Autorität unterwirft, die in voneinander abgetrennten Bereichen der Erfahrung herrschen. Es ist das Leben eines Volkes dessen Aktivitäten sich nicht in voneinander abgegrenzten Sphären mit einander ausschließenden Gesetzen abspielen, sondern in dem derselbe Seinsmodus sich sowohl im Privat- als auch im öffentlichen Leben ausdrückt, in den religiösen Überzeugungen, sowie in den Festen und Bauwerken des gesellschaftlichen Lebens. Frei ist das Volk, das keine Unterteilung in Funktionen und Bereiche, keine Trennung von Moral und Politik, von Politik und Religion, von Religion und Kunst usw. kennt. Die Freiheit der griechischen Statue, die zunächst die Existenz einer Sphäre fremder, heterogener Erfahrung zu verkörpern schien, verkörpert, wie sich nun herausstellt, das genaue Gegenteil: ein Leben, in dem es keine Trennung in heterogene Erfahrungsbereiche gibt, in dem es deswegen keine ästhetische Erfahrung gibt, weil das Ästhetische zugleich ethisch, politisch oder religiös ist. Die Autonomie, die die Statue vor uns verkörpert, ist die Darstellung einer Autonomie, einer Ungetrenntheit, die es in der Vergangenheit gegeben hatte. Das Versprechen, das sie birgt, ist das von einer Welt, die erneut ungeteilt wäre, einer Welt, in der die Kunst nicht länger als getrennte Welt existierte, sondern in der die Arbeit der Künstler in eins fiele mit den Formen der aktiven Schaffung einer gemeinsamen Welt. Das würde auch voraussetzen, dass der freie Schein nicht mehr eine einfache Aufschiebung der Gegensätze zwischen Form und Materie, zwischen Aktivität und Passivität wäre. Das ganze Problem konzentriert sich damit auf die Charakterisierung dieses neutralen Zustands, der weder aktiv noch passiv ist. Wie aber soll man etwas denken, das weder aktiv noch passiv ist? Oder anders gesagt, wie es nicht immer als Verschwinden des einen Gegenteils im anderen denken? Entweder ein Passiv-Werden der Aktivität oder ein Aktiv-Werden der Passivität? Auch hier zeugen die BRIEFE von einer unüberwindlichen Spannung zwischen zweierlei Art und Weise, dieselbe Neutralisierung darzustellen. In den ersten beiden Teilen geht es darum, die ästhetische Autonomie vom Aktivismus des »formalen Triebs« abzusondern, – von seinem Willen, jeder Materie die Autonomie, die seinen Bezug zu sich selbst kennzeichnet, aufzuzwingen. Zweifellos muss jeder Trieb vor den

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Grenzverletzungen des anderen geschützt werden. In dieser doppelten Vorsorge wird jedoch ein größerer Akzent auf die Notwendigkeit gelegt, die sinnliche Materialität, die Passivität zu schützen – denn sie ist die erklärte Zielscheibe der Willensanstrengungen, die die Welt verändern wollen, um sie der Vernunft ähnlich zu machen.6 Im dritten Teil jedoch verändert sich, in scheinbarer Kontinuität des Gedankengangs, das Verhältnis: Es findet eine Richtungsänderung statt, die auf eine Umkehrung dieser Priorität zielt. Der freie Schein wird nun immer weniger als ein Zustand aufschiebender Heterogenität dargestellt. Zunehmend gleicht er dem Produkt eines menschlichen Geistes, der die gesamte Ordnung der sinnlichen Erscheinungen in eine neue Empfindungsfähigkeit verwandeln will, in der er, wie in einem Spiegel, seine eigene Aktivität betrachten könnte.7 Die Kontemplation der unnahbaren steinernen Göttin wird durch die Beschreibung des Übergangs vom Naturzustand in den Zustand der Zivilisation ersetzt, der Art und Weise, wie der Wilde lernt, seine Waffen, sein Werkzeug, seinen Schmuck mit neuen Augen zu sehen, wie er lernt, das Vergnügen am Aussehen von der Funktionalität der Gegenstände oder der körperlichen Zeichen zu trennen. Indem das freie ästhetische Spiel die Macht der aktiven Form über die passive Materie aussetzt und eine noch nie gekannte Gleichheit verspricht, überlässt es seinen Platz einem neuen Szenario vom Geist, der die Materie seinem Gesetz unterwirft, einem Szenario der Selbst-Erziehung der Menschheit, die sich von der Stofflichkeit emanzipiert und die Welt nach ihrem Bilde formt. Die ästhetische Erziehung, die doch das Versprechen vom »freien Spiel« einholen soll, ist so von vorneherein in einer grundsätzlichen Polarität gefangen, die dazu führt, dass alle Entwürfe antagonistisch geraten. Das erste Szenario ist das von einer ästhetischen Revolution: von der Revolution der sinnlichen Existenz, die die Aufgabe vollenden soll, die aufgrund der Voreingenommenheit der politischen Revolution notwendigerweise versäumt wurde. Dieses Szenario hat das berühmte ÄLTESTE SYSTEMPROGRAMM DES DEUTSCHEN IDEALISMUS, das von Hegel, Schelling und Hölderlin gemeinsam verfasst wurde, inspiriert. Es löst den politischen Widerstreit in eine einzige Opposition zwischen dem toten Mechanismus des Staates und der lebendigen Kraft einer Gemeinschaft, die in der Macht inkarnierten Denkens gründet, auf. Aufgabe der Poesie bzw. der ästhetischen Erziehung, ist es, die Ideen sinnlich werden zu lassen, sie in Glaubensvielfalt und lebendige Bilder zu verwandeln, ein modernes Äquivalent zur antiken Mythologie zu schaffen: ein sinnliches Gewebe gemeinsamer Erfahrung, geteilt von Elite und Volk.8 Die-

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ser Entwurf ist nicht nur ein vergessener Traum der Jahre um 1800. Was er ausdrückt, ist eine neue Idee von Revolution: die sinnliche Revolution – die menschliche Revolution, wird der junge Marx sagen – in der die Philosophie sich vollenden soll, indem sie sich als abgetrenntes Denken abschafft. Auf dieser Basis sollten sich in den zwanziger Jahren künstlerische Avantgarde und marxistische Avantgarde kurzzeitig begegnen und sich auf ein gemeinsames Programm einigen können: die Schaffung neuer Lebensformen, und zugleich die Aufhebung der jeweiligen Eigenart von Politik und Kunst. Das bedeutete auch die Aufhebung der Logik des freien ästhetischen Scheins durch seine Vollendung. Er war der von jedem Bezug auf Wahrheit befreite Schein. Indem er zum Ausdruck einer Lebensform wird, findet er sich jedoch erneut auf eine Wahrheit bezogen, die für ihn einsteht. Noch einen Schritt weiter, und diese gelebte Wahrheit gerät wiederum in Gegensatz zur Lüge des Scheins. Die Erfüllung des ästhetischen Versprechens wird somit zum Akt eines Subjekts, das all jene Erscheinungen vernichtet, die nur »der Traum von einer Sache« waren, die es in Wirklichkeit »besitzen muss«.9 Es sollten nicht mehr als drei Jahre vergehen, bis Schillers Inszenierung des ästhetischen Zustands vom ÄLTESTEN SYSTEMPROGRAMM ins Szenario der ästhetischen Revolution umgewandelt wurde. Und für zwei seiner Verfasser genügten wiederum drei Jahre, um sie für beendet zu erklären und ein Gegenszenario zur ÄSTHETISCHEN ERZIEHUNG vorzulegen, das nichts anderes ist, als die Ausarbeitung der Ästhetik wie wir sie heute kennen, Ästhetik verstanden als Denken der Kunst, als Erzählung von ihrem Leben und von der Art und Weise, wie ihr Geist Gestalt annahm. Diese Gegenbewegung wird von Schelling im letzten Kapitel des SYSTEMS DES TRANSZENDENTEN IDEALISMUS eingeläutet und Hegel verleiht ihr in den 1820er Jahren ihre endgültige Form in seinen VORLESUNGEN ZUR ÄSTHETIK. Das, was sich der ästhetischen Revolution entgegenstellt, die die ästhetische Fremdheit ins Prinzip eines sich noch ausbildenden autonomen Lebens verwandelt hat, ist das Leben der Formen, man könnte sagen: das Museum – aber nicht als Ort oder als Institution verstanden, in der die toten Meisterwerke der Kultur hinterlegt sind, sondern als Idee und Empfindungsfähigkeit ihres Eigenlebens. Das Gegenszenario vom Leben der Formen verlagert die Eigenschaften des ästhetischen Zustands in die Werke. Das bedeutet, dass es die Übertragung dieser Eigenschaften in eine neue Form kollektiven Lebens verunmöglicht. Die Gleichwertigkeit von Aktivität und Passivität, von Form und Materie, von Kunst und Nicht-Kunst erhält damit einen neuen Sinn. Sie charakterisiert von nun an den Inhalt der Werke selbst. Das ›ästhetische‹

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Werk wird als Identität eines Gewollt-Seins und eines NichtgewolltSeins, eines Gemacht-Seins und eines Nichtgemacht-Seins, eines Bewusstseins und einer Abwesenheit von Bewusstsein, definiert. Das Gelingen des Kunstwerks wird auf diese Weise identisch mit dem sichtbar gewordenen Widerspruch zwischen Form und Inhalt, indem entweder die Perfektion der blicklosen Statue die spirituelle Leere der griechischen Religion ausdrückt, oder indem – umgekehrt – die übersteigerten Formen der gotischen Bildhauerkunst die Unmöglichkeit veranschaulichen, die christliche Innerlichkeit in rohen Stein zu übertragen. Das Werk verspricht also keinerlei neues Leben der Gemeinschaft mehr. Schon ist das Leben einer gesellschaftlichen Gruppe ins Werk hineingeschlüpft. Es ist dort als Diskrepanz zwischen dem, was der Künstler tun wollte und dem, was er getan hat, aufbewahrt. Das ist der neue Sinn der ästhetischen Heterogenität, die Hegels Szenario festhält. Für uns ist das Werk insofern Kunst, als es für den, der es gemacht hat keine Kunst war, sondern Äußerung eines Glaubens oder einer Seinsweise. Es ist Kunst, weil es Leben gewesen ist und nie wieder werden wird. Die einzige Zukunft der Kunst, die einzige Aufhebung der zukünftigen Diskrepanz, besteht also in der radikalen Abschaffung der Kunst als spezifischer Denkweise, also nicht in ihrer Verwandlung in ein Reich von Körpern, die ein gemeinsames Denken beseelt, sondern darin, dass sie banalisiert wird, zum Dekor oder Dogma gerät, wie es der modernen Trennung in verschiedene Sphären der Rationalität entspricht. Aus diesem Gegenszenario erwächst nun nicht nur die trostlose Idee vom Ende der Kunst. Kehrt man Hegels Darstellung um, erwächst aus ihr auch eine Idee von ihrem Überleben, eine Idee von ihrem neuen Leben, die zugleich eine andere Idee ihres Politisch-Seins ist: Das Kunstwerk ist so lange lebendig, wie es die Spannung der Urszene reproduziert, die Spannung, die von der anziehenden und unerreichbaren Göttin verkörpert wird. Es bleibt solange das Versprechen eines zukünftigen kollektiven Lebens, wie es der sichtbare Widerspruch zwischen Form und Inhalt ist, wie es sich unverhüllt als Widerspruch zu erkennen gibt, wie es den Ton einer Dissonanz hörbar macht. Dafür bedarf es nicht wirklich dissonanter Akkorde des Musikers. Adorno liefert uns hierfür ein schönes Beispiel: Die süßeste spätromantische Musik kann als dissonant gedacht werden, dazu genügt es, dass der Musiker – in dem Fall Mahler – in der Einführung ein gewöhnliches Posthorn einsetzt, anstelle seines Bruders, des vornehmen Horns der symphonischen Orchester. Der heisere Ton des plebejischen Instruments, das die einfache kleine Melodie spielt, genügt, um die harmonische Perfektion zu brechen. Er genügt, um erneut dasjenige herauszu-

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stellen, was diese ›moderne‹ Rationalität mit ihrer Trennung der Funktionen unterstützt, das nämlich, was der Kunst ihren Inhalt wegnimmt – oder zumindest behauptet dies zu tun – nämlich die Ur- oder Erbsünde der westlichen Vernunft, die Trennung von Arbeit und Lust, von Odysseus’ Berechnung und dem Gesang der Sirenen. Gemeinsam mit der Singularität des ästhetischen Zustands erinnert der Ton auf diese Weise an das »Versprechen, ohne das keine Sekunde sich atmen ließe«, das Versprechen eines freien, d. h. ungeteilten Lebens.10 Obwohl sie ihm symmetrisch entgegengesetzt ist, kommt der unmenschlichen Perfektion des Zwölftonsystems, indem es noch mechanischer, noch unmenschlicher als die tayloristische Rationalität ist, das Verdienst zu, dass an ihrer Oberfläche das Mal des Verdrängten wieder zum Vorschein kommen kann: So denunziert sie die ästhetisierte Kunst, die sowohl als angenehme Kaufhausmusik als auch zur Ergänzung der Ausbeutung dient. Die Demonstration bedarf, und zwar als einzige, der Reinheit ihres Theaters, d. h. der radikalen Trennung von Kunstwerk und Leben, die für letzteres keinen anderen Platz vorsieht, als am Widerspruch des Werkes aufzuscheinen, die ihm nur erlaubt, sich als verbotenes Leben zu äußern, als Wiederkehr des Verdrängten. In der seichten Argumentation modernistischen und formalistischen Charakters, die es gerne sähe, dass die Fortschritte der Kunst mit denen des Jahrhunderts korrespondierten, wird nur zu gern dieses konstitutive Paradoxon vergessen, und allein im Licht von Schillers Ur-Szene wird sichtbar, inwiefern es von vollendeter Logik ist. Das Werk muss vollkommen vom Leben getrennt sein, damit es sein Versprechen eines neuen Lebens halten kann. Es muss getrennt sein, denn das Versprechen einer Zukunft ist vollständig in seiner Fremdheit, in seiner Heterogenität enthalten. Dieses Potential kann jedoch nur um den Preis erhalten bleiben, dass es für immer Potential bleibe, für immer davor geschützt, sich im Seienden zu kompromittieren, vor jeglichem Risiko, sich zu verlieren, indem es wirklich werde. Äußerstenfalls könnte man sagen, dass die Unmöglichkeit, dass das Versprechen jemals eingelöst werde, allein seine Gültigkeit garantiert. Das heterogene Sinnliche retten, um das ästhetische Versprechen der Autonomie zu retten: Dieses Motto, das wesenhaft zum Szenario vom Leben der Formen gehört, entgeht der Banalisierung vielleicht nur um den Preis, dass letztlich der Sinn dieser Heterogenität verkehrt wird. In einem zweiten Schritt geht es tatsächlich nur noch darum, das heterogene Sinnliche zu retten, um das Heterogene zu retten. Und schließlich bedeutet die Rettung des Heterogenen die Rettung der Heterogenität als solcher. Diese Grenze erreicht beispielhaft Lyotards Ästhetik des

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Erhabenen. Adornos ängstlicher Versuch, das Heterogene zu retten, das Verbot gefälliger Mischformen im Namen des Widerspruchs, der allein von der Entfremdung zeugt, wird bei jenem zur vollständigen Umkehrung der ästhetischen Logik. Die dissonante Reinheit des Werks gerät ihm zum reinen Zug der Heteronomie, zur bloßen Einschreibung eines unauflöslichen Abhängigkeitsverhältnisses gegenüber dem Anderen und eines durch nichts freizukaufenden Schuldgefühls gegenüber dem Vergessen dieser Abhängigkeit. Der genuin ästhetische Dissens, den Schiller inszenierte, wird also zur bloßen Entfernung vom kantischen Erhabenen: zur Kluft zwischen der Idee der Vernunft und der hilflosen Anstrengung der Vorstellungskraft, noch das großartigste sinnliche Schauspiel auf deren Höhe zu erheben. Diese »Rückkehr zu Kant« ist ein bloßer Rückfall der ästhetischen Singularität in ethische »Achtung«. Dieser Rückfall stellt jedoch eine totale Umkehrung der kantischen Logik dar. Denn was bei Kant die Ohnmacht der Vorstellungskraft die Vernunft lehrte, war ihre eigene, unzugerichtete Stärke. Sie führte sie ein in die Welt der Freiheit, der Autonomie der gesetzgebenden Vernunft. Bei Lyotard jedoch lehrt die Macht der Kunst genau das Gegenteil: Anhand der Unvereinbarkeit zwischen Idee und Stofflichkeit lehrt sie das bloße Gesetz der Heteronomie, die Abhängigkeit der Vernunft von einem Anderen, dem gegenüber sie ihre Schuld niemals wird begleichen können.11 So radikal gedacht, könnte dieser Umschlag des kantischen Gesetzes ins mosaische Gesetz tatsächlich noch die Form des an die ästhetische Heterogenität geknüpften Versprechens sein – vollständig umgekehrt zwar, aber ebenso intensiv: als belebe die Kraft, die Schiller der Erklärung der ästhetischen Freiheit zugeschrieben hatte, noch diese Erklärung der Knechtschaft.

Aus dem Französischen von Susanne Marten.

Erstveröffentlichung: »Schiller et la promesse esthétique«, in: Europe, Nr. 900, 82. Jhg. April 2004, S. 6 – 21.

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Schiller, Friedrich: Über die ästhetische Erziehung des Menschen in einer Reihe von Briefen, Hg. von Klaus Berghahn, Stuttgart 2000, S. 62f. (Die Rechtschreibung wurde modernisiert, Anm. d. Übs.). Ebd., S. 63. Kant, Immanuel: Kritik der Urteilskraft, Werke in zehn Bänden, Hg. Wilhelm Weischedel, Bd. 8, WBG, Darmstadt 1983, § 60, S. 464 (A 11790, S. 259, B 21793, S. 262f.). Schiller: Über die ästhetische Erziehung, S. 52. Lyotard, Jean-François: »Nach dem Erhabenen. Zustand der Ästhetik«, in: ders.:

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Schiller und das ästhetische Versprechen

Das Inhumane : Plaudereien über die Zeit, Hg. Peter Engelmann, aus dem Frz. von Christine Pries, Wien 1989, S. 231 – 244. 6 Über die Notwendigkeit, die Passivität vor den Übergriffen der aktiven Kraft zu ›schützen‹, siehe besonders den 13. Brief. Zu den politischen Folgen dieses ›Übergriffs‹, d. h. dem Terror des Gesetzes über das Leben, siehe den 3. Brief. 7 Vgl. insbesondere den 27. und letzten Brief: »Was er besitzt, was er hervorbringt, darf nicht mehr bloß die Spuren der Dienstbarkeit, die ängstliche Form seines Zwecks an sich tragen; neben dem Dienst, zu dem es da ist, muss es zugleich den geistreichen Verstand, der es dachte, die liebende Hand, die es ausführte, den heitern und freien Geist, der es wählte und aufstellte, widerscheinen.« Über die ästhetische Erziehung, S. 118. 8 »Das älteste Systemprogramm des deutschen Idealismus«, in: G.W.F. Hegel: Frühe Schriften, Werke Bd. 1, Frankfurt/M. 1990 (1986), S. 234 – 236. 9 Marx, Karl: »Brief an Arnold Ruge, September 1843«, Werke und Schriften bis Anfang 1844, in: Marx-Engels Gesamtausgabe, Erste Abteilg. Bd. 1, Erster Halbband, Glashütten 1970, S. 575. 10 Adorno, Th. W.: Mahler, in: Die musikalischen Monographien, Gesammelte Schriften, Bd. 13, Hg. R. Tiedemann, Frankfurt/M., 1971, S. 186. Die erwähnte Melodie findet sich im dritten Satz, »Scherzando«, von Mahlers Dritter Symphonie. 11 Siehe vor allem »Anima minima«, in: Lyotard, Jean-François: Postmoderne Moralitäten, Hg. von Peter Engelmann, aus dem Frz. von Gabriele Ricke und Ronald Vouillé, Wien 1998, S. 201 – 213.

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KAPITEL I: POLITIK

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LE PARTAGE DU SENSIBLE: DIE MACHT DER ÄSTHETIK

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VOM SCHICKSAL ÄSTHETISCHER ERZIEHUNG Rancière, Posa und die Polizei

Mitten in der angespanntesten dramatischen Aktion; unmittelbar bevor der Marquis Posa, von diesem einbestellt, auf seinen König Philipp trifft, und unmittelbar nachdem er gerade noch das entscheidende Wort – »handeln« – gesprochen hat (»Sein oder nicht – / Gleichviel! In diesem Glauben will ich handeln«), schreibt Schillers Dramentext Posa das folgende Verhalten zu: »Er macht einige Gänge durch das Zimmer und bleibt endlich in ruhiger Betrachtung vor einem Gemälde stehen.« Der Text fährt fort: »Der König erscheint in dem angrenzenden Zimmer, wo er einige Befehle gibt. Alsdann tritt er herein, steht an der Tür still und sieht dem Marquis eine Zeitlang zu, ohne von ihm bemerkt zu werden.«1 Dies ist das einzige Mal in Schillers Stück, das so vielfältig an höfischen Intrigen, politischen Deklamationen und ethischen Reflexionen ist, dass eine ästhetische Haltung, eine Haltung »ruhiger Betrachtung« vorgeführt wird. Was das heißt, oder: dass das was heißt, wird sofort klar, weil es den König dazu bringt, ebenfalls inne zu halten und seinerseits dem das Gemälde betrachtenden Marquis zuzusehen. Es ist dies der Moment, in dem der König, »der erfahrene Kenner, / In Menschenseelen, seinem Stoff, geübt«,2 Posa erkennt – in dem er ihn anerkennt: Er erkennt Posas Rang, den Rang seiner Tugend. Posa selbst beschreibt später, in dem Gespräch mit der Königin, in dem er ihr sein Programm der ästhetischen Erziehung erläutert, das er sich für ihren ehemaligen Verlobten und jetzigen Stiefsohn Carlos ausgedacht hatte (»Ich wollt ihn führen zum Vortrefflichen, / Zur höchsten Schönheit wollt ich ihn erheben«3) – Posa also beschreibt später sein Verständnis der ästhetischen Betrachtung, die er vorher geübt hat, so: »Was geht es König Philipp an, wenn seine / Verklärung in Eskurial den Maler, / Der vor ihr steht, mit Ewigkeit entzündet? / Gehört die süße Harmonie, die in / Dem Saitenspiele schlummert, seinem Käufer, / Der es mit taubem Ohr bewacht? Er hat / Das Recht erkauft, in Trümmern es zu schlagen, / Doch nicht die Kunst, den Silberton zu rufen / Und in des Liedes Wonne zu zerschmelzen. / Die Wahrheit ist vorhanden für den Weisen, / Die Schönheit für ein fühlend Herz.«4 Die Ausbildung eines Herzens und damit einer Tugend, die »fühlend« sind, entgegen der Moral des spanischen Hofes nicht ein

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»Grundsatz«, »dem erhitzten Blut / Durch List und schwere Kämpfe abgerungen«5, sondern ein »Ideal«, »[das] aus der Seele mütterlichem Boden, / In stolzer, schöner Grazie empfangen, / Freiwillig sproßt«;6 die Konzeption ästhetischer Erziehung also, die Marquis Posa hier entwirft, wird sein Autor Schiller ein knappes Jahrzehnt später auf eben diesen Begriff, den der »ästhetischen Erziehung«, bringen. Es ist eine von Jacques Rancières zentralen Thesen, die er in den letzten Jahren gegen die postmoderne Ästhetik und ihr verzerrtes Modernebild gerichtet hat, dass mit diesem Konzept, das ebenso als Verkennung des Ernstes des Politischen belächelt wie als Überschätzung des ästhetischen Spiels abgewiesen worden ist, das theoretische Zentrum des modernen oder, wie Rancière sagt, »ästhetischen« Regimes der Kunst bezeichnet ist; ein theoretisches Zentrum überdies, von dem Rancière meint, dass es gegen die Kritik der Postmoderne in seinen Grundelementen verteidigt werden kann (und soll). Wie sich bereits an DON CARLOS sehen lässt, sind diese Grundelemente zwei. Rancière hat sie am Begriff des Spiels in Schillers Briefen ÜBER DIE ÄSTHETISCHE ERZIEHUNG herausgearbeitet.7 Das erste Element des Spielbegriffs besteht in einer neuen Bestimmung der Kunst. Hatte das über zweitausend Jahre mehr oder weniger gültige aristotelische Modell die Kunst über ihre exemplarisch gültigen Darstellungsleistungen sowie die dafür nötigen Künste, also die, im weitesten Sinn, »poetischen« Techniken bestimmt, so zeigt die Zentralstellung des Begriffs des Spiels an, dass das, was die (nunmehr »schöne«) Kunst ist und kann, durch die Verhaltensweisen bestimmt werden muss, die auf sie bezogen sind. Für das spezifisch moderne »ästhetische« Regime der Kunst, dessen Programm Schillers Spielbegriff formuliert, ist grundlegend, die Kunst über ihr Dasein für mit ihr umgehende Subjekte zu bestimmen. »In diesem Regime verdankt die Statue der Juno [von der Schiller in seinem 15. Brief handelt] ihre Eigenschaft als Kunstwerk nicht der Übereinstimmung der Arbeit des Bildhauers mit einer richtigen Vorstellung von der Gottheit oder den Vorschriften der Darstellung. Sie verdankt sie vielmehr ihrer Zugehörigkeit zu einem spezifischen Sensorium.«8 Und weiter: Sie verdankt die Zugehörigkeit zur Kunst ihrem Dasein als »freier Erscheinung« für eine »bestimmte Form sinnlicher Auffassung« oder für eine »spezifische Erfahrung, die die gewöhnlichen Verbindungen nicht nur zwischen Erscheinung und Wirklichkeit, sondern ebenso zwischen Form und Materie, Aktivität und Passivität, Verstand und Sinnlichkeit suspendiert.«9 Der Begriff des Spiels fasst die Kunst nicht mehr als Repräsentation, sondern als Praxis, und er bestimmt diese ästhetische Praxis, wie Rancière sagt, als eine

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»spezifische«, weil die ästhetische Praxis die im »Gewöhnlichen« hierarchisch angeordneten Dimensionen von Verstand und Sinnlichkeit, Aktivität und Passivität in ein anderes, ein neues, eben: ein »spielerisches« oder »freies« Verhältnis bringt. Das zweite Grundelement von Schillers Spielbegriff, das Rancière hervorhebt, ist die Verbindung von schöner und »Lebenskunst« (wie es bei Schiller10 und dann bei Friedrich Schlegel und Bertolt Brecht heißt). Der Begriff des Spiels dient Schiller nicht nur dazu, das Spezifische des (jetzt so genannten) Ästhetischen zu bestimmen, sondern »eine neue Form des Zusammenlebens«, ja, eine neue Form der »Menschheit«.11 Diese politische Bedeutung, die Schiller dem ästhetischen Spiel zuspricht, reformuliert Rancière so: Die ästhetische Praxis kann »spielerisch« genannt werden, weil sie das Verhältnis der »Herrschaft« auflöst, das in der gewöhnlichen gesellschaftlichen Praxis das Verhältnis zwischen den genannten Polen – Erscheinung und Wirklichkeit, Form und Materie, Aktivität und Passivität, Verstand und Sinnlichkeit – bestimmt; das ästhetische Spiel gehört zu einem »von dem der Herrschaft differenten Sensorium«.12 Genauer: So wie nach Rancière die politischen Herrschaftsverhältnisse in einer bestimmten »Aufteilung der sinnlichen Welt« gründen, so entwirft die ästhetisch-spielerische Praxis eine der Herrschaft entgegengesetzte, andere »Aufteilung der sinnlichen Welt«: eine Aufteilung der »Gleichheit«. Die eigentliche Leistung des Spielbegriffs besteht nach Rancière mithin darin, eine Bestimmung des Ästhetischen in seiner Spezifizität oder Autonomie vorzunehmen, die Autonomie des Ästhetischen jedoch nicht als die »des künstlerischen ›Machens‹ [›faire‹ artistique] zu verstehen, die der Modernismus gefeiert hatte. Es ist die Autonomie einer Form sinnlicher Erfahrung. Und es ist diese Erfahrung, die als der Keim einer neuen Menschheit, einer neuen individuellen und kollektiven Form des Lebens erscheint.«13 Rancières (dreifach wiederholtes) Fazit aus dieser Darstellung lautet: »Es gibt also keinen Konflikt zwischen der Reinheit der Kunst und ihrer Politisierung.«14 Den strategischen Sinn dieses Fazits bezeichnet Rancière gleich mit: Wenn es im modernen Regime keinen Konflikt zwischen ästhetischer Autonomie und politischer Bedeutung der Kunst gibt, dann kann es auch keinen »postmodernen Bruch« mit dem modernen Regime geben.15 Denn die Postmoderne, wie immer man sie versteht, beginnt eben mit der Behauptung, dass die moderne Einheit von Kunst und Politik zerbricht. Diese Behauptung, damit das Recht der postmodernen Kritik überhaupt, will Rancière zurückweisen. Dabei behauptet er nicht ein spannungsloses Gelingen des modernen »Projekts«. Im

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Gegenteil: Auch nach Rancière ist es durch eine Spannung, gar eine »Paradoxie« oder einen »Widerspruch« bestimmt, der die »Dialektik« des modernen Kunstbegriffs ausmacht.16 Aber das ist ein Widerspruch, der nicht den systematischen Zusammenhang von Kunst und Politik, sondern den Ort, genauer die Zeit seiner Realisierung betrifft: Wird die Kunst als Medium einer gemeinschaftlichen Praxis gedacht, die das politische Versprechen des Ästhetischen hier und jetzt, in der (zeitlichen und räumlichen) Gegenwart des Kunstwerks verwirklicht, dann verliert die Kunst eben die Kraft der Negation gegenüber der bestehenden Politik der Herrschaft; das ist (zum Beispiel) Adornos Einwand gegen die klassischen Avantgarden. Wird die Kunst umgekehrt als Instanz einer Negation gedacht, die eine andere Politik eben dadurch verspricht, dass sie sie nicht verwirklicht, dann wird dieses politische Versprechen überhaupt leer; das ist (zum Beispiel) Brechts Einwand gegen eine Kunst reiner Form. In diesem Streit sieht Rancière, mit Recht, die zentrale dialektische Spannung der ästhetischen Moderne.17 Aber beide Parteien in diesem Streit teilen miteinander, und sie teilen mit Rancière oder Rancière teilt mit ihnen, die Überzeugung, dass die ästhetische Praxis, in ihrer Autonomie, deshalb zur Hervorbringung einer anderen, nicht-herrschaftlichen Politik führt (wann und wo und wieweit auch immer diese andere Politik wirklich zu werden vermag), weil die ästhetische Praxis des Spiels das Modell einer anderen Politik bildet – genauer: das Modell einer anderen, eine andere Politik begründenden (»meta-politischen«18) »Aufteilung der sinnlichen Welt«. Postmodern könnte man eine Position nennen, die das bestreitet (allerdings wären dann auch Hegel und Nietzsche Postmoderne gewesen); eine Position, die behauptet, dass Schillers Konzept der ästhetischen Erziehung, das Rancière als das Grundmodell der ästhetischen Moderne rekonstruiert hat, notwendig, also aus begrifflichen Gründen, scheitert. Und zwar sind das zwei Gründe: Die ästhetische Erziehung des Menschen scheitert sowohl an der Autonomie des Ästhetischen wie an der Macht des Politischen. Der erste Einwand gegen das Konzept einer ästhetischen Erziehung lautet, dass sie, wenn sie gelingen, das heißt: politisch etwas ändern können soll, das Ästhetische, durch das – oder in dem – die Erziehung stattfinden soll, um seine Autonomie bringen muss. Um das für Schiller zu sehen, bedarf es freilich einer Ergänzung des bisher gezeichneten Bildes. Das betrifft, wie Schiller den Gegensatz zwischen den beiden Formen der »Aufteilung des Sinnlichen« versteht, die Rancière als die der Herrschaft und die im Ästhetischen beschreibt.19 Denn Schillers Analyse politisch-sozialer Herrschaft besagt, dass ihre logische Struk-

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tur die einer Entzweiung ist, und zwar einer Entzweiung von Elementen, die nur zusammen genommen und miteinander verknüpft dasjenige Vermögen bilden, das Kant und Schiller »Menschheit« nennen, also das Vermögen freier Subjektivität. Die Elemente, die in systematischer Integration, das heißt: durcheinander vermittelt oder miteinander versöhnt, das Vermögen der Subjektivität ausmachen, sind gesellschaftlich auseinander gerissen. Die bestehende Gesellschaft bietet in ihren Strukturen der Herrschaft das Bild einer Schädelstätte der Subjektivität. Die Einheit des Subjekts ist zerfallen; ihre nunmehr unverbundenen, einander fremd gewordenen Teile sind gesellschaftlich auf verschiedene soziale Klassen verteilt. Die Entzweiung des Subjekts bildet die Matrix sozialer Klassenherrschaft; so reformuliert Schiller, in für die gesamte Tradition der kritischen Theorie der bürgerlichen Gesellschaft, vom jungen Hegel über Marx bis Lukács und Adorno, prägender Weise die alte, platonische These von der wechselseitigen Spiegelung der Unordnungen der Seele und der Gesellschaft. Besteht das Vermögen freier Subjektivität darin, Aktivität und Passivität, Spontaneität und Rezeptivität, Verstand bzw. Vernunft und Sinnlichkeit in freier Weise miteinander verbinden zu können, so zeigt sich, ja besteht nach Schiller politisch-soziale Herrschaft – erstens – darin, Individuen hervorzubringen, die jeweils in sich das Verhältnis dieser Elemente als eines der Herrschaft der einen Seite über die andere organisieren: sei es der Herrschaft des Verstandes über die Sinnlichkeit, sei es, umgekehrt, der Herrschaft der Sinnlichkeit über den Verstand. »Der Mensch kann sich […] auf eine doppelte Weise entgegengesetzt sein: entweder als Wilder, wenn seine Gefühle über seine Grundsätze herrschen; oder als Barbar, wenn seine Grundsätze seine Gefühle zerstören. Der Wilde verachtet die Kunst und erkennt die Natur als seinen unumschränkten Gebieter; der Barbar verspottet und entehrt die Natur, aber verächtlicher als der Wilde fährt er häufig genug fort, der Sklave seines Sklaven zu sein.«20 Bilden die Individuen so zwei Klassen, die jeweils durch umgekehrte Herrschaftsverhältnisse zwischen Verstand und Sinnlichkeit bestimmt sind, so besteht politisch-soziale Herrschaft – zweitens – darin, zwischen diesen beiden Klassen sich beherrschender Individuen ein Verhältnis der Herrschaft der einen über die andere herzustellen: Die Klasse der Individuen, deren Verstand über ihre Sinnlichkeit herrscht, herrscht dadurch auch über die andere Klasse der Individuen, deren Sinnlichkeit über ihren Verstand herrscht. Beide Klassen von Individuen sind zugleich gleichermaßen depraviert, weil sie gleichermaßen das Vermögen der Subjektivität oder Menschheit verloren haben, und die eine dieser beiden Klassen – die Klasse derjenigen Individuen, deren Verstand ihre

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Sinnlichkeit beherrscht – beherrscht die andere Klasse der Individuen, deren Sinnlichkeit ihren Verstand beherrscht. Die eine Frage, vor die diese Kritik stellt, betrifft die generelle Tauglichkeit einer subjekttheoretischen Matrix für eine gesellschaftskritische Analyse. So krude Schillers Klassentheorie auch sein mag: Es ist keineswegs abwegig, auch gegenwärtige Gestalten der Klassenherrschaft dadurch zu beschreiben, dass man die Formen der Subjektivierung untersucht, auf denen sie beruhen oder die sie erzwingen. Problematischer erscheint Schillers weitere Annahme, dass diese Subjektivierungsformen nicht nur gleichermaßen, sondern komplementär defizient sind; dass sie also als die zersprengten Teile einer Einheit zu verstehen sind, die sich aus ihnen wieder zusammensetzen lässt. Das betrifft den normativen Bezug von Schillers kritischer Herrschaftsanalyse auf den Begriff der Subjektivität oder »Menschheit«. Eben dieser normative Bezug bestimmt aber nicht nur seine Gesellschaftskritik, sondern auch seine Idee ästhetischer Erziehung. Denn ästhetische Erziehung ist nichts anderes als derjenige Prozess der Veränderung, der aus sich beherrschenden Individuen freie Subjekte macht. Sie umfasst daher, in Posas bereits zitierten Worten, den Prozess, in dem aus einer Tugend, die dem »erhitzten Blut« abgerungen werden muss, die also, um ihrer Grundsätze willen, ihre Sinnlichkeit niederringen muss, eine solche wird, die »aus der Seele mütterlichem Boden […] freiwillig« sprießt.21 Solche Erziehung zu freier Subjektivität soll durch die Teilnahme an ästhetischer Praxis, vor oder mit einem schönen Gegenstand, erfolgen. Das gelingt nach Schiller durchs Spiel, weil im Spiel die beiden zerrissenen und einander bekämpfenden und beherrschenden Bestimmungen des Subjekts dadurch in eine »Wechselwirkung« oder ein »Wechselverhältnis« miteinander geraten, weil sie jeweils anders vollzogen werden: in »eingeschränkter«, statt sich absolut setzender oder in freier, statt zwanghafter Weise.22 So formuliert Schiller seine nach Rancière konfliktfreie Verbindung von ästhetischer Autonomie und politischer Subjektivierung: Die politische (und zugleich vernünftige, aus Vernunft begründete) Forderung: »es soll eine Menschheit existieren« ist identisch mit der ästhetischen Forderung, ja dem ästhetischen »Gesetz«: »es soll eine Schönheit sein«,23 denn dieses ästhetische Gesetz besagt, dass der Mensch spiele. Zu spielen aber heißt nichts anderes, als die beiden Triebe, deren Herrschaftsverhältnisse untereinander Grund und Figur politisch-sozialer Herrschaft sind, so, so anders, wirksam werden zu lassen, dass sie auch in ein anderes Verhältnis untereinander als das der Herrschaft treten können. So gewinnt der Mensch im ästhetischen Spiel sein Vermögen der Subjektivität (zurück).

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Der ästhetische Preis, den Schillers Theorie für diese Engführung von freiem Spiel und freier Subjektivität zu entrichten hat, liegt – und zwar in seinem Text – offen zu Tage: Sie muss das ästhetische Spiel in die Teleologie der Subjektkonstitution eintragen. Sie muss also behaupten, dass im ästhetischen Vollzugsmodus von Sinnlichkeit und Verstand, Aktivität und Passivität, Spontaneität und Rezeptivität – in ihrem ästhetischen Vollzugsmodus, der sich vom gewöhnlichen ihrer Herrschaft übereinander unterscheidet –, nichts anderes und nichts weiteres geschieht als eine solche Veränderung beide Elemente, die sie zu ihrer »Wechselwirkung« tauglich macht. Dass es sich so verhält, ist jedoch eben dies: eine bloße Behauptung. Kant hatte noch seine genau entsprechende Behauptung, der ästhetische Zustand sei einer der »Belebung beider Vermögen (der Einbildungskraft und des Verstandes) zu unbestimmter, aber doch, vermittelst des Anlasses der gegebenen Vorstellung, einhelliger Tätigkeit«,24 dadurch zu begründen versucht, dass sich nur so erklären lasse, dass wir Lust an diesem Zustand empfinden. Lust muss sich, so meinte Kant, auf ein positives Urteil gründen, das der Tauglichkeit des Zustands, in dem sich eine Kraft oder ein Trieb ästhetisch befindet, im Hinblick auf das Vermögen der Subjektivität gilt. Diese (sowieso nicht überzeugende) Prämisse zum Lustbegriff hat Schiller bereits fallen gelassen und seine ästhetische Phänomenologie, gegen seine eigenen Absichten, bis zu dem Punkt getrieben, an dem sich die Lust des Subjekts am ästhetischen Zustand nur mehr als die Lust verstehen lässt, »Null« zu sein: »In dem ästhetischen Zustande ist der Mensch also Null …«25 Der ästhetische Null-Zustand des Subjekts ist der einer Freiheit der »Bestimmungslosigkeit«,26 eines Unbegrenzten und Unendlichen, das nur deshalb »der Grund der Möglichkeit von allem« ist, weil er der Grund von nichts, oder: weil er kein Grund ist – weil das Subjekt in diesem Zustand kein Vollzüge beginnender und verantwortender Akteur mehr ist. Das ist eine ästhetische Freiheit, die in dem elementaren Sinn, in dem Schiller diesen Zusammenhang versteht, nicht politisch (auch nicht: metapolitisch) tauglich ist: weil sie nicht zu der Wechselwirkung beiträgt, in deren Gelingen sich Subjektivität konstituiert und, mit der Selbstbeherrschung der Individuen, sich auch die Herrschaft der einen Klasse über die andere auflöst. Der zweite Einwand gegen das Konzept einer ästhetischen Erziehung lautet, dass sie, wenn sie gelingen, das heißt: politisch etwas ändern können soll, eben die Strukturen der Herrschaft voraussetzen und in Anspruch nehmen muss, gegen die sie sich richtet. Das zeigen weniger Schillers theoretische Schriften über die ästhetische Erziehung als seine Dramen, die das Programm der ästhetischen Erziehung durch-

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führen sollen, es dabei jedoch in seinen Voraussetzungen, damit seiner Begrenztheit reflektieren. Um zu sehen, worin diese Voraussetzung und Begrenztheit besteht, muss man sich an Schillers Ausgangsproblem erinnern. Das ist ein politisches, das Problem der Revolution. Genauer: Es ist das Problem, wie ein politisches Subjekt entstehen kann, das zu einer Selbstregierung fähig ist, die gleichermaßen entfernt ist von der Barbarei einer sinnlichkeitsfeindlichen Vernunft wie der Wildheit einer vernunftfernen Sinnlichkeit. Subjektivität in diesem politischen Sinn, so lautet Fichtes These, an die Schiller anknüpft, kann nicht durch Politik hergestellt, sondern »nur durch Cultur erworben und erhöht werden«.27 Revolutionäre Politik, so die deutsche Antwort auf das – so sieht es auch Schiller – französische Scheitern, muss Kulturpolitik werden. Ästhetische Erziehung ist, nun gegen Fichte, der eher auf die Gelehrten setzt, Schillers Konzept zur Bestimmung solcher revolutionären Kulturpolitik. An Schillers Dramen zeigt sich, warum die erhofften revolutionären Effekte ausbleiben müssen. Dazu zwei knappe Bemerkungen. DON CARLOS, INFANT VON SPANIEN führt in seinem Zentrum einen Kampf zweier Formen der Tugend vor: einer repressiven, herrschenden Tugend und einer schönen oder freien. Repräsentanten der ersten Form sind König Philipp und die Prinzessin von Eboli, die aus verschmähter Liebe zu Carlos zur Geliebten des Königs und Intrigantin gegen die Königin wird, Repräsentanten der zweiten Form der Tugend natürlich Marquis Posa und die Königin selbst. Der Gegenstand und Preis ihres Kampfes ist Carlos. Es ist ein Kampf um dessen Seele, ein Kampf darum, wer ihn und zu was erzieht. Worauf Posas Erziehungsbemühungen zielen, machen seine Vorwürfe an Carlos deutlich, er habe in der obsessiven Liebe zu seiner (jetzigen) Stiefmutter, der Königin, seine einstmalige, wir können sagen: seine ästhetische Freiheit verloren: »Ja, einst, / Einst wars ganz anders. Da warst du so reich, / so warm, so reich! Ein ganzer Weltkreis hatte / In deinem weiten Busen Raum. Das alles / Ist nun dahin, von einer Leidenschaft, / Von einem kleinen Eigennutz verschlungen. / Dein Herz ist ausgestorben. Keine Träne, / Dem ungeheurn Schicksal der Provinzen / Nicht einmal eine Träne mehr.«28 Was Posa Carlos hier vorwirft, ist genau die einseitige Beschränktheit seiner »Triebe«, von der Schillers Briefe ÜBER DIE ÄSTHETISCHE ERZIEHUNG diagnostizieren werden, dass sie der Grund der Herrschaft ist, und von der sie erwarten, dass sie durch die ästhetische Praxis des Spiels gebrochen und überwunden werden kann. Posa will Carlos zu einem ganzen Menschen, also zu einem ganzen Menschen machen. Wie auch immer das vor sich gehen soll, politisch wirksam kann das nur sein, weil

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Carlos, wie der Titel des Dramas herausposaunt, Infant von Spanien ist: Es geht um Fürstenerziehung, um Vermenschlichung, Subjektivierung des Souveräns.29 Das ist der Grund, aus dem Posa die nahe liegende politische Option, sich an die Spitze des Aufruhrs zu stellen, der in Madrid bei Bekanntwerden von Carlos’ Einkerkerung losbricht, nicht ergreift. Denn damit drohte eben die Struktur politischer Herrschaft zerstört zu werden, die intakt vorausgesetzt, die intakt vom Feind übernommen werden muss, damit das Posasche Erziehungsprogramm politische Wirkung zeigen kann. »Ein Federzug von dieser Hand, und neu / Erschaffen wird die Erde. Geben Sie / Gedankenfreiheit«30 – diese in ihrer Verbindung von Kanzleiwesen und Eschatologie ans Parodistische grenzende Forderung, die Posa, »sich ihm zu Füßen werfend«, an König Philipp richtet, umschreibt präzise das Souveränitätskonzept, das der ästhetische Erzieher keineswegs bekämpft, sondern bestätigt, weil nur ein politischer Souverän, der mit einem Federzug die Welt zu erneuern die Macht hätte, seine ästhetische Freiheit zu der aller machen könnte. Die Revolution durch ästhetische Erziehung, die nach Rancière auf eine andere »Aufteilung des Sinnlichen«, eine Aufteilung der Gleichheit zielt, muss die souveräne Herrschaft fortschreiben, gegen die sie sich richtet. In der weiteren modernen Geschichte der ästhetischen Erziehung zeigt sich das an der Doppelbedeutung des Avantgarde-Konzepts, auf die Rancière hingewiesen und die er auf den Gegensatz zweier verschiedener Vorstellungen politischer Subjektivität zurückgeführt hat: »die archi-politische Vorstellung der Partei, das heißt, die Vorstellung einer politischen Intelligenz, die die wesentlichen Bedingungen der Veränderung in sich vereinigt, und die meta-politische Vorstellung einer umfassenden politischen Subjektivität als die der in den erneuernden Formen sinnlicher Erfahrung enthaltene Möglichkeit, die eine kommende Gemeinschaft vorwegnimmt.«31 Entscheidend am Konzept der Avantgarde ist jedoch, dass sich diese beiden Vorstellungen politischer Subjektivität nicht voneinander ablösen lassen: Soll die in der ästhetischen Praxis ermöglichte Subjektivität des Spiels politisch wirksam werden können, muss sie Instrumente politischer Herrschaft übernehmen (den Staat) oder schaffen (die Partei). Lukács’ Problem des unauflösbaren Zusammenhangs und der unschlichtbaren Spannung von Taktik und Ethik wiederholt sich hier als das von Taktik und Ästhetik. Ein noch rascherer Blick auf das kurz nach Vollendung des DON CARLOS entstandene Dramenfragment, eher Dramenprojekt, das den Titel DIE POLIZEY, dann auch DIE KINDER DES HAUSES trägt, kann zeigen, dass dieses politische Problem der ästhetischen Erziehung noch eine weitere Verschärfung erfährt. DIE POLIZEY ist in vielerlei Hinsicht

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komplementär zu DON CARLOS, nicht zuletzt, weil der Entwurf die andere Hälfte des Ödipus-Stoffes aufgreift: Steht in DON CARLOS das Inzestmotiv des Ödipuskomplexes im Vordergrund, so in DIE POLIZEY der ebenso ödipale Zusammenhang von Wahrheitssuche und Schicksal. Das Schicksal tritt in Schillers Fragment dabei in doppelter Fassung, als tragisches wie komisches auf. In beiden Fassungen aber ist es (im Sinne Platons) gerecht: Als Trauerspiel erzählt DIE POLIZEY von der Aufdeckung der Verbrechen der geheuchelten Tugend, als Lustspiel von der Aufdeckung der Unschuld der wahren Tugend. Diese doppelte Aufdeckung geschieht durch die Polizei, indem dieser ›freier Lauf‹ gelassen wird: Schiller beschreibt die Polizei als eine Maschine, die »wie ein Räderwerk in Bewegung« gesetzt wird.32 Dass sich dadurch die »poetische« Gerechtigkeit belohnter Tugend und bestraften Lasters einstellt, liegt aber nicht daran, dass die Polizei diesem Ziel verpflichtet wäre. Die Ansichten, die Schiller Argenson, dem Polizeichef zuschreibt, sprechen nicht dafür, dass er daran Interesse hätte: »Der Mensch wird von dem Polizeichef immer als eine wilde Tiergattung angesehen und ebenso behandelt.«33 Und auf die »bekannte Replik«, mit der der Verbrecher sich herauszureden versucht, »Ich muß aber ja doch leben«, antwortet Argenson: »Das sehe ich nicht ein.«34 Entscheidend ist aber ein anderer Umstand: Die Polizei verfolgt nicht andere Ziele als die der Gerechtigkeit, sie verfolgt im eigentlichen Sinn gar keine Ziele. Zwar heißt es in den Notizen zu Merciers TABLEAU DE PARIS, dessen Lektüre Schillers Projekt angeregt hatte: »Paris ist ein Gefängnis, es ist in der Gewalt des Monarchen, er hat hier eine Million unter seinem Schlüssel.«35 Aber trotz aller traditionellen Attribute der Souveränität, die Schiller dem Polizeichef zuschreibt, Milde etwa und »rettende Vorsicht«,36 ist die »Polizeiverfassung«37 keine politische Ordnung der Souveränität. So wie die Polizei in Schillers Stück, anders als er sie am Anfang vorstellt, gerade nicht allwissend ist und nicht über ein »alles durchdringende[s] Auge« verfügt38 – sowohl in der Trauer- wie der Lustspiel-Fassung geschieht die Auflösung nicht durch polizeiliche Ermittlung, sondern durch Zufall –, so ist der Polizeichef kein Souverän im traditionellen Sinn; das Räderwerk der Polizei kennt weder ein alles integrierendes Zentrum noch eine alles kontrollierende Spitze. Damit ist aber auch der ästhetischen Erziehung der Adressat verloren gegangen: Wenn es keinen Souverän mehr gibt, kommt es auch nicht mehr darauf an, was für eine Art von Mensch er ist, ob seine Tugend unterdrückend oder freiwillig ist. Schiller schildert den Polizeichef so: »Argenson hat die Menschen zu sehr von ihrer schändlichen Seite gesehen, als dass er einen edeln Begriff von der menschlichen Natur haben könnte. Er ist ungläu-

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biger gegen das Gute, und gegen das Schlechte toleranter geworden; aber er hat das Gefühl für das Schöne nicht verloren, und da, wo er es unzweideutig antrifft, wird er desto lebhafter davon gerührt. Er kommt in diesen Fall und huldigt der bewährten Tugend. – Er erscheint im Lauf des Stücks als Privatmann, wo er einen ganz andern und jovialischen, gefälligen Charakter zeigt und sich als feiner Gesellschafter, als Mensch von Herz und Geist Wohlwollen und Achtung erwirbt. Ja er kann trotz seiner strengen Außenseite liebenswürdig sein; er findet wirklich ein Herz, das ihn liebt, und sein schönes Betragen erwirbt ihm eine liebenswürdige Gemahlin.«39 Argenson ist ein Musterschüler der ästhetischen Erziehung: Ausgestattet mit einem Gefühl für das Schöne wird er davon lebhaft gerührt und ist damit befähigt, tugendhaft, gefällig und liebenswürdig zu sein; das erwirbt ihm eine ebenso liebenswürdige Gemahlin. Argenson ist der Inbegriff jener »ästhetischen Kultur«,40 von der Schiller nicht weniger als eine andere Revolution erwartete. Aber Argenson ist Polizeichef, ein höherer Beamter, der seine Pflicht tut. Ästhetisch ist er nicht im »Hause der Polizei«, sondern zuhause, als »Privatmann«.41 Das ist keine Inkonsequenz, sondern reflektiert den Ort der Subjektivität in einer postsouveränen politischen Ordnung. Dieser Ort ist in der Polizeiverfassung das Private. Weiter kann daher auch die ästhetische Erziehung hier nicht reichen. Nachschrift. – Ich habe zwei Hinsichten bezeichnet, in denen die Verknüpfung von Kunst und Politik, die Schillers Idee einer ästhetischen Erziehung exemplarisch für das ästhetische Regime der Moderne vornimmt, scheitern muss: Sie scheitert am Eigensinn des Ästhetischen ebenso wie an der Verfassung des Politischen. Es gibt also einen unauflösbaren Konflikt im Konzept der ästhetischen Erziehung selbst. Bedeutet das, dass die Idee einer ebenso systematischen wie normativ folgenreichen Verknüpfung von Kunst und Politik überhaupt preiszugeben ist? Dass nur die Feier rein ästhetischer Ereignisse und die Resignation vor den Gegebenheiten politischer Unveränderbarkeit übrig bleibt? (Auch das könnte man postmodern nennen.) Keineswegs. Es bedeutet allerdings, dass die analogische Matrix aufgegeben werden muss, die das moderne Denken über das Verhältnis von Kunst und Politik bestimmt. »Analogisch« hatte Kant42 das Verhältnis von Schönem und Sittlichem genannt, um damit zum einen zu sagen, dass zwischen ihnen keine Hierarchie herrscht, und zum zweiten, dass ihr Verhältnis dadurch reguliert wird, dass sie, bei aller Differenz, beide doch nach einer Idee funktionieren. (Für Kant ist das die der Autonomie ebenso der ästhetischen wie ethischen Reflexion.) Damit ist der Versuch in Gang gebracht, das Verhältnis von Kunst und Politik dadurch zu

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bestimmen, dass sie, auf einer wie auch immer abstrakten Ebene, nach demselben Modell oder mit derselben Idee operieren – eben dass sie analog operieren. Das soll hier ihren Austausch garantieren. Die Alternative dazu besteht darin, (mit Bataille zu sprechen) die »beschränkte« Ökonomie eines Tausches von Gleichartigem durch eine »allgemeine« Ökonomie zu ersetzen, in der Ungleichartiges getauscht wird. Weniger metaphorisch: Das Verhältnis von Kunst und Politik müsste so gedacht werden, dass sie nicht, auf der Grundlage ihrer vermeintlichen Analogie oder »Ähnlichkeit« (Kant), einander als Symbol dienen oder Modell stehen, sondern dass sie differente, ja heterogene, einander widerstreitende Momente eines Zusammenhangs sind; eines Zusammenhangs also, in den einzutreten ebenso Kunst wie Politik verändert, der aber selbst weder politisch noch künstlerisch ist. Damit verändert sich gegenüber dem modernen Konzept nicht nur die Struktur der Verknüpfung von Kunst und Politik – von einer analogischen zu einer agonalen Struktur –, es verändert sich auch der Status dieser Verknüpfung. Das analogische Modell geht davon aus, dass es diese Verknüpfung schon gibt: Sie besteht in der Tatsache ihrer Analogie, die allenfalls erkannt und bewusst gemacht werden muss. Wenn dagegen die Verknüpfung von Kunst und Politik darin besteht, ihren Streit auszutragen, dann gibt es diese Verknüpfung nur, wenn und insoweit dies tatsächlich getan wird. Die Kunst ist weder der Politik analog verfasst noch von der Politik ein für allemal abgegrenzt. Sie kann aber mit der Politik in Streit gebracht und damit verknüpft werden.

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Schiller, Friedrich: Don Carlos, Infant von Spanien, in: ders.: Sämtliche Werke, hrsg. v. Gerhard Fricke, Herbert G. Göpfert, München 1981, Bd. 2, III.9. Ebd., v. 2996 – 2997. Ebd., v. 4334 – 4335. Ebd. v. 4352 – 4363. Ebd., v. 2336 – 2338. Ebd., v. 2329 – 2332. Vgl. Rancière, Jacques: »L’esthétique comme politique«, in: ders.: Malaise dans l’esthétique, Paris 2004, S. 31 – 64. Ebd., S. 44. Ebd., S. 45. Schiller, Friedrich: Über die ästhetische Erziehung des Menschen in einer Reihe von Briefen, in: ders.: Sämtliche Werke, hrsg. v. Gerhard Fricke, Herbert G. Göpfert, München 1981, Bd. 5, S. 618. Rancière: »L’esthétique comme politique«, S. 46 und 47. Ebd., S. 46. Ebd., S. 48. Ebd., S. 48, 49, 50. Ebd., S. 53. Vgl. ebd., S. 50 und 60. Vgl. ebd., S. 52 – 63. Ebd., S. 49f. Vgl. auch Rancière, Jacques, »Les antinomies du modernisme«, in: Malaise dans l’esthétique, Paris 2004, S. 130ff.

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Schiller: Über die ästhetische Erziehung des Menschen, S. 579. Schiller: Don Carlos, v. 2330ff. Schiller: Über die ästhetische Erziehung des Menschen, S. 611ff. Ebd., S. 615. Kant, Immanuel: Kritik der Urteilskraft, in: ders.: Werke, hrsg. v. Wilhelm Weischedel, Darmstadt 1983, Bd. V, § 9, B 31. Schiller: Über die ästhetische Erziehung des Menschen, S. 635. Ebd., S. 636. Fichte, Johann Gottlieb: Einige Vorlesungen über die Bestimmung des Gelehrten, in: ders.: Werke, hrsg. v. Immanuel Hermann Fichte, Berlin 1971, Bd. VI, S. 311. Schiller: Don Carlos, v. 2409 – 2419. Schillers politisches Problem ist hier: Der Souverän ist noch kein Subjekt, kein Mensch. Jedoch nicht, weil er schlechthin unmenschlich, lasterhaft und ohne Tugend wäre (wie Monteverdis Nero, der kein Subjekt ist: ihm fehlt das subjektkonstitutive Vermögen des praktischen Selbstbezugs; er regiert nur die anderen, nicht sich selbst), sondern weil er auf falsche Weise tugendhaft ist: sich, daher die anderen unterdrückend. Vgl. Menke, Christoph: »Die Depotenzierung des Souveräns im Gesang. Claudio Monteverdis Die Krönung der Poppea und die Demokratie«, in: Horn, Eva/Menke, Bettine/Menke, Christoph (Hrsg.): Literatur als Philosophie – Philosophie als Literatur, München 2005, S. 281 – 296. Schiller: Don Carlos, v. 3212 – 3214. Rancière, Jacques: Le partage du sensible. Esthétique et politique, Paris 2000, S. 45. Schiller, Friedrich: Die Polizey, in: ders.: Sämtliche Werke, hrsg. v. Gerhard Fricke, Herbert G. Göpfert, München 1981, Bd. 3, S. 207 und 209. Ebd., S. 192. Ebd., S. 192. Ebd., S. 194. Ebd., S. 193. Ebd., S. 193. Ebd., S. 193. Ebd., S. 190 – 191. Schiller: Über die ästhetische Erziehung des Menschen, S. 635. Schiller: Die Polizey, S. 197 und 191. Kant: Kritik der Urteilskraft, § 59, B 255.

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Im zehnten Brief ÜBER DIE ÄSTHETISCHE ERZIEHUNG DES MENSCHEN zitiert Schiller die verbreitete Auffassung, derzufolge ein entwickelter Sinn für Schönheit auch die Sitten zu verfeinern hilft. Allerdings zitiert Schiller diese Auffassung nur, um seine Überlegungen zum Thema möglichst deutlich von ihr abzusetzen. Zwar beriefen sich deren Vertreter, so Schiller, »auf das Beyspiel der gesittetsten aller Nationen des Alterthums, bey welcher das Schönheitsgefühl zugleich seine höchste Entwicklung erreichte, und auf das entgegen gesetzte Beyspiel jener theils wilden, theils barbarischen Völker, die ihre Unempfindlichkeit für das Schöne mit einem rohen oder doch austeren Charakter büßen. Nichtsdestoweniger«, fährt Schiller aber fort, »fällt es zuweilen denkenden Köpfen ein, entweder [dieses] Factum zu läugnen, oder doch die Rechtmäßigkeit der daraus gezogenen Schlüsse zu bezweifeln. Sie denken nicht ganz so schlimm von jener Wildheit, die man den ungebildeten Völkern zum Vorwurf macht, und nicht ganz so vortheilhaft von dieser Verfeinerung, die man an den gebildeten preist. […] Es giebt«, so Schiller weiter, »achtungswürdige Stimmen [wie die von Platon oder Rousseau] die sich gegen die Wirkungen der Schönheit erklären, und aus der Erfahrung mit furchtbaren Gründen dagegen gerüstet sind.«1 In der Tat müsse es ja »zum Nachdenken erregen, daß man beynahe in jeder Epoche der Geschichte, wo die Künste blühen und der Geschmack regiert, die Menschheit gesunken findet, und auch nicht ein einziges Beyspiel aufweisen kann, daß ein hoher Grad und eine große Allgemeinheit ästhetischer Kultur bey einem Volke mit politischer Freyheit, und bürgerlicher Tugend, daß schöne Sitten mit guten Sitten, und Politur des Betragens mit Wahrheit desselben Hand in Hand gegangen wäre«.2 Der Ausweg, den Schiller angesichts dieser kulturpessimistischen Diagnose anbietet, ist bekannt. Für eine ästhetische Erziehung des Menschen lässt sich unter diesen Umständen nur plädieren, wenn man Schönheit ganz anders versteht als die zitierten Schönheitskritiker: indem man sie nämlich zu einem transzendentalen Begriff macht, wodurch Schönheit als die notwendige Bedingung einer voll verwirklichten Humanität erscheint. Ein in diesem Sinne volles Subjekt zeichnet sich nach Schiller vor allem dadurch aus, dass es zwischen den Trie-

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ben der Selbstbestimmung und des Bestimmtwerdens, zwischen Vernunft und Sinnlichkeit vermittelt – und zwar ohne das eine gegenüber dem anderen zu verselbständigen. Denn die Verselbständigung der Vernunft gegenüber der Sinnlichkeit resultiert in einer nur mehr instrumentellen Vernunft, deren Vorherrschaft Schiller als das eigentliche Problem seiner Zeit benennt. Eine gelingende Vermittlung zwischen Bestimmen und Bestimmenlassen, Vernunft und Sinnlichkeit aber vermag das Subjekt einzig, qua Spieltrieb, am Schönen zu lernen. Durch die idealistische Tieferlegung der Schönheit im Sinne einer transzendentalen Bedingung für die Ausbildung einer vollen, einer zur Freiheit emanzipierten Humanität wird daher das Ästhetische bei Schiller von einem Problem für das Gemeinwesen zu dessen Chance. Während nämlich die Schönheitskritiker ein Problem darin sehen, dass die Schönheit ihr Publikum zu einer Aufmerksamkeit für die attraktive Oberfläche verführt, die vom Interesse für Wahrheit und Sittlichkeit ablenkt, macht Schiller die Schönheit nun umgekehrt sogar zu einer Bedingung wahrhaft gelingenden Erkennens und Handelns: Nur der an der Erfahrung der Schönheit gewonnene ästhetische Zustand versetzt das Subjekt in eine Lage, in der es weder als bloß sinnliches sich selbst noch aber als instrumentell vernünftiges der Welt gegenüber blind sein muss, in der es weder sich selbst noch die anderen unterdrücken muss. Jacques Rancière hat in eben dieser Schillerschen Operation die erste Manifestation dessen gesehen, was er allgemein »ästhetisches Regime« nennt: Dieses Regime erkennt die Autonomie des Ästhetischen gegenüber den Sphären der theoretischen und der praktischen Vernunft im selben Zug an, in dem es gerade in dieser Autonomie den Vorschein einer Vollendung bzw. Versöhnung der Vernunft erblickt; und zwar sowohl in theoretischer wie in praktischer Hinsicht.3 Tatsächlich ist diese Dialektik, nach der die Zweckfreiheit des Ästhetischen am Ende einen besonders großen Mehrwert für die Menschheit bergen soll, auch nachidealistisch für die ästhetische Theorie der Moderne bis hin zu Adorno bestimmend geblieben. Im Hintergrund des »ästhetischen Regimes der Moderne« behalten indes die philosophisch gewichtigen Stimmen der Schönheitskritiker Recht. Denn wie Schillers zehnter Brief zeigt, ist das ästhetische Regime nicht als Einspruch gegen, sondern als eine Konsequenz aus deren Kritik am Schönen entstanden. Das ästhetische Regime setzt mit anderen Worten vermittelt das sogenannte »ethische Regime« fort, für das bei Rancière Platon einsteht und das sich dadurch auszeichnet, dass verschiedene Darstellungsweisen kritisch bezüglich ihres Wahrheitsgehalts und ihrer Wirkungen auf das Gemeinwesen befragt werden – wobei in

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dieser Hinsicht strikt zwischen guten und schlechten Darstellungsformen unterschieden wird.4 Eben eine solche Unterscheidung informiert auch das ästhetische Regime, das nicht zufällig ein Regime der Wahrheitsästhetik ist. In der Orientierung des Schönen am Wahren (nämlich der normativ wahren, weil befreiten Gestalt des Menschen, die zugleich Gehalt wie Wirkung des Schönen ist) zeichnet auch das ästhetische Regime noch im Namen des ethischen. Wie dort spaltet sich auch hier das Feld ästhetischer Darstellungsformen auf in einerseits diejenigen Formen, die als wahrheitsorientierte dem Gemeinwesen wie auch immer vermittelt nutzbar sind, und andererseits diejenigen, die ihm (als Spektakel oder Simulakrum) gefährlich sind. Man kann an Schillers Abgrenzung des »aufrichtigen« und »selbständigen« ästhetischen Scheins von aller »betrügerischen Schminke«5 ebenso denken wie an Adornos Dialektik des ästhetischen Scheins, mit der er die Werke der Kunst vom falschen Schein der Kulturwaren absetzt. Aufgrund der Hartnäckigkeit, mit der sich dergestalt das ethische im ästhetischen Regime der Moderne hält, sollte man, wie ich meine, tatsächlich besser von einem ethisch-ästhetischen Regime sprechen. So hat auch die Verschiebung, die das ethische vom ästhetischen Regime trennt, ihren Grund zunächst weniger in einem ganz anderen Verständnis des Ästhetischen als vielmehr in einem ganz anderen Verständnis des Politischen. Während das ethische Regime eine Kritik der Darstellungsweisen aus einer Perspektive unternimmt, in der Politik mit Ethik identifiziert wird – das politische Leben ist bei Platon das gute Leben –, wird bei Schiller nun ein bezeichnenderweise an der französischen Revolution erfahrener Konflikt zwischen Politik und Ethik zum Ausgangspunkt für die Suche nach einer anderen Sphäre, in der die Versöhnung von Politik und Ethik auf eine Weise antizipiert wäre, die der Politik selber nicht erreichbar ist. Diese Sphäre ist die – eben deshalb als autonom gedachte – des Ästhetischen. Wiewohl die Kontinuität des ethischen im ästhetischen Regime zuweilen auch in Rancières eigenen Schriften an die Oberfläche tritt, versucht er doch zumeist, das ästhetische gegen das ethische Regime zu konturieren. Entsprechend nennt er die Funktion der Antizipation eines versöhnten Zustands, die dem Schönen im ästhetischen Regime zukommt, auch zumeist nicht – wie ich – ethisch, sondern metapolitisch.6 In einer Reihe von Texten hat Rancière die These variiert, dass es kein Zufall ist, dass die moderne Demokratie zeitgleich mit dem ästhetischen Regime auftaucht, wobei er beide gegen das ethische Regime, das heißt gegen Platon, in Stellung gebracht hat, der im STAAT bekanntermaßen die Demokratie in einem Atemzug mit dem Theater verwirft.

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Dagegen will ich hier deshalb so auf der wie auch immer untergründigen Kontinuität des ethischen im ästhetischen Regime insistieren, weil ich – anders als Rancière – weder meine, dass die Kunst der Gegenwart noch im Einzugsbereich des Schillerschen Modells steht7 noch dass sie – oder Kunst überhaupt – entlang des entsprechenden ethisch-ästhetischen Argumentationszusammenhangs verstanden werden sollte; und zwar aus ästhetischen wie politischen Gründen. Gerade vor dem Hintergrund demokratietheoretischer Überlegungen will ich dem ethischästhetischen Regime mit und gegen Rancière eine andere Konzeption des Verhältnisses von Ästhetik und Politik entgegensetzen. Ich will das mit Rancière tun, insofern seine im engeren Sinne politischen Schriften entscheidend von dem Impuls getragen sind, jede Identifizierung von Ethik und Politik, ob nun bei Platon oder bei Hannah Arendt, als antidemokratisch zurückzuweisen. Demokratische Politik ist für Rancière eben gerade nicht identisch mit dem guten Leben – vielmehr ereignet sie sich im Kampf um dessen Bedingungen. Gegen Rancière will ich aber zeigen, dass dem berechtigten Einspruch gegen die Ethisierung der Politik auch einer gegen die Ethisierung der Ästhetik entsprechen müsste. Eine solche Kritik impliziert natürlich auch, dass Ästhetik und Politik nicht mehr unmittelbar durch die ethische Klammer zusammengehalten werden. Erst dann aber lässt sich meines Erachtens jene eigentümliche Verschlingung von Ästhetik und Politik richtig verstehen, die Rancière zu Recht mit dem Leben moderner Demokratien in Verbindung gebracht hat. Dieser Zusammenhang lässt sich vor dem Hintergrund der philosophischen Theaterkritik besonders gut erläutern, denn diese nimmt ihren Ausgang in der Problematisierung einer solchen Verschlingung. Die besondere Relevanz des Theaters in diesem Kontext erklärt sich aus der Besonderheit, dass es – im Gegensatz zu den anderen traditionellen Künsten – Handlungen darstellt; und zwar im Spiel. Dieser Umstand begründet schon Platons praktischen Vorbehalt gegen das Theater. Unter seinem Einfluss nämlich, so Platons Verdacht, kommt es zu einer Theatralisierung des Politischen selbst. Die Aufmerksamkeit wird gewissermaßen vom Handeln auf dessen Darstellung abgelenkt, so dass die politische Sphäre schließlich in Politikdarsteller auf der einen und Publikum auf der anderen Seite zerfällt. Entsprechend hat der antike politische Diskurs den Zerfall des Stadtstaats Athen unter das Stichwort der Theatrokratie, der Theaterherrschaft, gestellt. Ganz ähnliche Argumente finden sich auch heute noch. Man denke an den andauernden Erfolg von Guy Debords Kritik an der GESELLSCHAFT DES SPEKTAKELS8

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oder an die zahlreichen kulturpessimistischen Deutungen der Rolle, die die Medien für die Politik spielen. Dennoch ist für diesen Typus der zeitgenössischen Kulturkritik nicht Platon die entscheidende Referenz, sondern Jean-Jacques Rousseau. Das ethische Regime, das Rousseau im expliziten Rekurs auf Platon fortsetzt, tritt nämlich nun nicht mehr gegen, sondern im Namen der Demokratie auf. Während Platon die Demokratie als Wurzel der Theatrokratie identifizierte und die Theatrokratie als deren wahres Gesicht, ist die Demokratie für Rousseau umgekehrt das Gegenteil der Theatrokratie – und das Theater entsprechend eine Gefahr von außen, vor der man die Demokratie schützen muss. Aufgrund dieser Überzeugung hat Rousseau in einem berühmten Alterswerk noch einmal all seine intellektuellen Kräfte mobilisiert, um den Versuch zu unternehmen, den Bau eines Theaters in seiner Stadt – es ging um Genf – zu verhindern.9 Statt wie Athen an der Theaterbegeisterung zugrunde zu gehen, solle Genf sich lieber an den »bescheidenen Festen und Spielen« Spartas orientieren – an »guten« Spektakeln mithin, welche die republikanische Gemeinschaft Genfs nicht in Darsteller und Publikum zerteilen, sondern als Gemeinschaft versammeln. Die Idee von Demokratie, die dem zugrunde liegt, ist die einer Versammlung von Gleichen, in der niemand dem anderen etwas vorspielt bzw. vormacht und niemand bloß passiv zusieht, sondern alle gemeinsam handeln. Dass Frauen nach Rousseaus Vorstellung strikt in den Bereich des Privaten verwiesen werden und Fremde möglichst gar nicht erst auf die Idee kommen sollen, in die Genfer Republik zu kommen, muss indes schon einen ersten Zweifel hinsichtlich der Frage wecken, ob das Wesen der Demokratie mit dem Gedanken einer Versammlung von Gleichen tatsächlich schon hinreichend erfasst ist. Denn was in Rousseaus durchaus beklemmendem Bild einer homogenen republikanischen Gemeinschaft ausgeblendet wird, ist eben jener Aspekt, den Platon – in kritischer Absicht natürlich – die »Schrankenlosigkeit«10 der Demokratie nannte: dass nämlich, wie man mit Rancière formulieren könnte, buchstäblich jeder Beliebige sich auf die Demokratie und ihr zentrales Prinzip der Gleichheit aller berufen kann, um in ihrem Namen zu sprechen.11 In der Ausblendung dieser Möglichkeit ist Rousseaus provinzielle Vision der Genfer Republik tatsächlich zutiefst antidemokratisch. Die demokratische Idee einer Gleichheit von Beliebigen in Freiheit wird hier restlos ersetzt durch eine Gleichheit von de facto Gleichen, die den rigiden Ausschluss von Nicht-Gleichen voraussetzt, seien es Frauen, Fremde oder deviante männliche Mitglieder der Republik.

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Wenn man aber gegen solche Schließungen das Moment der Offenheit betont, mit der die Demokratie ihrem eigenen Prinzip nach jedem Beliebigen als gleichermaßen frei gegenüberzutreten beansprucht, so bedeutet dies im selben Zug, die Theatrokratie nicht als eine der Demokratie externe, sondern als eine ihr interne Bedrohung anzuerkennen.12 Denn die Möglichkeit, dass jeder Beliebige sich auf die Demokratie berufen kann, um in ihrem Namen zu sprechen, schafft zwangsläufig auch Raum für Charismatiker aller Art, die bereit sind, ihren eigenen Willen mit dem des Volkes zu identifizieren und sich eine Souveränität anzumaßen, die sich gegen die jeweils etablierte staatliche richten kann.13 Mit anderen Worten: Der universalistische Zug, mit dem sich die Demokratie potentiell der Freiheit aller verschreibt, öffnet sie zugleich für die Möglichkeit der Revolution wie der Theatrokratie. Rousseau umgeht das Problem des Verhältnisses von Souveränität und Demokratie mit der ebenso ideologischen wie illusionären Vorstellung eines vorab homogenen politischen Raumes, in dem sich die Frage nach der Bildung des Volkswillens – etwa durch den souveränen Akt, mit dem jemand im Namen aller spricht – gar nicht stellt. Einen solchen Willen aber gibt es niemals jenseits seiner politischen Repräsentation, das heißt: Es gibt ihn niemals jenseits der damit zugleich etablierten Trennung zwischen Repräsentanten und Repräsentierten, Regierenden und Regierten; es gibt ihn folglich niemals jenseits von Macht- und Herrschaftsverhältnissen. Das Theater nun macht diesen Zusammenhang explizit, indem es im Spiel die Trennungen exponiert, die jedem politischen Repräsentationsverhältnis zugrunde liegen: zum einen die Trennung zwischen Person und Rolle – die Repräsentanten des Volkes haben in der Politik wie auf dem Theater immer zwei Körper; zum anderen die Trennung zwischen Akteuren und Publikum.14 Das Theater hat, indem es Formen politischer Repräsentation als Repräsentation zu exponieren vermag, eine potentiell denaturierende, das heißt kritische Pointe. So kann sich das Theater beispielsweise gegen die vermeintlich repräsentationsfreien und vorpolitischen Gemeinschaftsmythen richten, die, wie wir wissen, gerade deshalb nur allzu gut zu den Souveränitätsspektakeln des Faschismus gepasst haben. Deren klaustrophiles Design in seine einzelnen Bestandteile zerlegt zu haben, ist das Verdienst etwa von Christoph Marthaler. Das Theater kann aber auch Politiker auf die Bühne und damit in ihren Repräsentationsstrategien vor eben jenes Publikum bringen, das sie zu vertreten behaupten: Das ist einer der Einsätze von Christoph Schlingensief. Und das Theater kann selbstkritisch die illusionistischen Techniken reflektieren, mit denen sich früher das dramatische Theater gegen

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seine eigene Theatralität zu wenden versucht hatte und die heute vor allem im Film fortleben. Dies ist eines der Projekte von René Pollesch. Dessen letztes Stück CAPPUCETTO ROSSO zum Beispiel beginnt mit ebenso witzigen wie intelligenten Reflexionen über die Hitlerdarstellungen bei Eichinger bzw. Hirschbiegel und Breloer. Polleschs Schauspieler spielen hier Schauspieler, die sich auf die Proben für die Bühnenversion von Lubitschs Film SEIN ODER NICHTSEIN vorbereiten, dessen Thema ja bekanntermaßen Schauspieler sind, die Nazis spielen, um ihnen zu entkommen. Im Backstage-Bereich, der bei Pollesch die eigentliche Bühne ist, diskutieren die Schauspielerfiguren nun unter anderem die zweifelhafte Leistung des komplett in den Führer eingefühlten Bruno Ganz sowie Tobias Morettis Problem, dass sein Hitler nie neben einem Schäferhund auftreten darf, weil dessen Bild dann sofort in das bekannte des Partners von Kommissar Rex umschlagen würde. Mit ewigen Nazidarstellungen kann man keine Politik machen, sagt Sophie Rois später im Stück. Wer wirklich politisch handeln will, soll Jura studieren. Los, sagt sie dann zum Publikum, geht alle raus, Jura studieren. Alle bleiben natürlich sitzen und verfolgen die andere Politik, die sich dort, als andere Darstellungspolitik, auf Polleschs Bühne entfaltet. Denn die politische Dimension des Theaters entfaltet sich bei allen drei Regisseuren genau in dem Maße, in dem das Theater seine Struktur nicht mehr illusionistisch verdeckt, in dem das Theater, um mit HansThies Lehmann zu sprechen, postdramatisch geworden ist.15 Es handelt sich damit aber zugleich um ein Theater, das sich vom ethischen Regime tatsächlich vollständig befreit hat, um ein Theater, das das politische Potential seiner eigenen Ästhetizität erkannt hat. Statt wie noch Brecht das Theater aus platonischen Motiven heraus gegen seine eigene Struktur kehren zu wollen,16 kehrt das avancierteste Theater heute seine eigene Theatralität ausdrücklich hervor. Während sich am modernen Theater bis hin zu Brecht gut zeigen lässt, wie bestimmend das ethische Regime in der Moderne geblieben ist, verändert das zeitgenössische Theater die gesamte Konstellation von Ästhetik und Politik, indem es sich von der ethischen Anrufung freimacht. Dies Theater zielt nicht mehr auf Gemeinschaft; und zwar weder, das ist entscheidend, im konkreten Sinne der Herstellung einer ›Versammlung von Interessierten‹ durch das Theater als moralischer Anstalt (in der Linie, die von Schiller zur Programmatik Brechts führt) noch aber im Sinne der Antizipation einer zukünftig versöhnten Gemeinschaft durch eine ästhetische Erziehung zweiter Ordnung (in der Linie, die Schiller mit Adornos BeckettInterpretation verbindet). Das zeitgenössische Theater ist weder dem ethischen noch dem ethisch-ästhetischen Regime zugehörig, weil es

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Gemeinschaft weder errichtet noch antizipiert. Im Gegenteil, und das haben Platon und Rousseau schon ganz richtig gesehen, es trennt: die Personen von ihrer Rolle und die Akteure vom Publikum. Das zeitgenössische Theater macht mithin eben jene Differenzstruktur des Theaters explizit, die durch das ethische ebenso wie durch das ethischästhetische Regime verdammt oder doch zumindest marginalisiert wurde und die, wie ich meine, als der eigentlich ästhetische Zug des Theaters ausgezeichnet werden muss. Gerade aufgrund dieses Zugs nun arbeitet das Theater aber bezeichnenderweise gegen die Theatrokratie. Denn Theatrokratie ist weder die letzte Wahrheit über die Demokratie (sondern eine ihr immanente Gefahr) noch aber ist sie die Wahrheit über die politischen Wirkungen des Theaters. Vielmehr muss die Theatrokratie als die Wahrheit über die repräsentationspolitische Dimension absoluter und eben darin undemokratischer Souveränität verstanden werden. Denn diese ist wesentlich dadurch bestimmt, sich als Repräsentation unsichtbar machen zu wollen. In diesem Sinne ist die Ästhetisierung des Politischen im Faschismus deshalb theatrokratisch zu nennen, weil der Intention nach hier alles ins Bild der Einheit zwischen Führer und Volk eingehen soll – es soll zu diesem Spektakel politischer Souveränität kein Außen, kein Publikum mehr geben, vor dem es sich produziert. Gleiches gilt aber auch für die »bescheidenen Feste und Spiele« Spartas, die Rousseau in Genf inszeniert sehen wollte. Als deren Paradigma benennt Rousseau bezeichnenderweise den Tanz einer Kompanie. Bereits der junge JeanJacques, so gesteht uns der alte, geriet angesichts der »Übereinstimmung von fünf- oder sechshundert uniformierten Männern« ins Schwärmen, »die einander alle bei der Hand halten und eine lange Kette bilden, die sich im Takt und ohne jede Unordnung tausendfach vor und zurück durch tausend sich verschieden entwickelnde Figuren windet.«17 Rancières offenkundige Ambivalenz gegenüber, wenn nicht Sympathie für Rousseaus »archi-ethisches Modell«18 hat zweifellos mit der Korrespondenz zu tun, welche die Utopie der sozialen Authentizität mit den anarchistischen und libertären Protesten gegen das Gesetz und die Staatsmacht im Allgemeinen zusammenschließt.19 Indes unterschätzt Rancière hier, wie mir scheint, die strukturelle Ambiguität dieses Modells. Wenn das ›archi-ethische‹ Bild der einmütig zum Ornament der Masse versammelten Kompanie immer schon latent das bedrohliche Gegenbild demagogischer Verblendung mitführt, so deshalb, weil im Ideal der absoluten, das heißt: sich als solche auslöschenden Repräsentation alle Differenz getilgt werden soll: die horizontale zwischen den einzelnen Mitgliedern der Gemeinschaft wie auch die ver-

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tikale zwischen Repräsentant und Repräsentierten. Geschlossenheit ist das Bild der Masse als Bild absoluter Souveränität. In genau dieser Hinsicht aber ist die Moderne, wie Gabriel Tarde gegen Gustave LeBon eingewendet hat, gerade kein »Zeitalter der Massen« mehr.20 Bereits 1901 hat Tarde darauf aufmerksam gemacht, dass die raum-körperlich gebundenen Massen zunehmend in medial vermittelte Öffentlichkeiten verwandelt werden. Das heißt nicht, dass es keine Massenphänomene mehr gibt, aber sie gehen nun aus den pluralisierten Öffentlichkeiten hervor und weisen auf diese zurück. Die Einzelnen gehen nicht mehr in einer Masse auf, sondern sind Teil verschiedener Öffentlichkeiten, und dies auf je verschiedene Weise. Die Momente der Konstitution von raum-körperlich greifbarer Gemeinschaftssubstanz stehen nun stets in einer Spannung zu der sich entziehenden und lediglich in den sprichwörtlichen Launen ihrer Meinung erscheinenden Öffentlichkeit. Eben diese Spannung zwischen Gemeinschaft und Öffentlichkeit prägt meines Erachtens das Leben moderner Demokratien. Denn der demos der Demokratie ist nicht einfach das Gegenteil zur Logik des ethnos, wie Rancière zuweilen in seinen politischen Schriften suggeriert.21 Vielmehr spaltet sich der demos der Demokratie auf in einerseits die unkalkulierbare und supplementäre Größe der in ihrer Singularität Ungezählten und andererseits das, was im Sinne einer substantiellen Gleichheit zählbar ist. Diese für die Demokratie konstitutive Spaltung zwischen ihrer prinzipiellen Offenheit für das unabsehbar Heterogene auf der einen Seite und der praktischen Notwendigkeit von dessen Einhegung in einer berechenbaren Identität auf der anderen Seite – diese Spaltung durchzieht auch die Logik der Demonstration. In der Demonstration treten die Ungezählten, wie Rancière ausgeführt hat, den anschaulichen Beweis ihres Rechts auf Anerkennung an, indem sie auftreten, als ob sie bereits als politische Subjekte zählten. Damit fordert die Demonstration eine andere soziale Wahrnehmung; in diesem Sinne ist sie bereits Umgestaltung der Aufteilung des Sinnlichen.22 Aber es handelt sich hier um eine Umgestaltung, die eben nicht die Logik des Zählens selbst außer Kraft zu setzen vermag, sondern diese nur – entlang einer anderen Definition substantieller Gleichheit – erneut einsetzt. Die Spaltung, die den Demos auf die zwei Pole einer Gleichheit von ungezählten Beliebigen in Freiheit auf der einen und einer Gleichheit von abzählbar Ähnlichen auf der anderen Seite spannt, ist, wie Jacques Derrida immer wieder betont hat, zugleich Wesen wie Chance der Demokratie: Sie ist der grundlose Grund ihrer prinzipiellen Perfektionierbarkeit. Eben deshalb aber trägt die Identifikation von Ethik und Politik, die diese Spaltung stets zu verdecken oder zu überwinden

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sucht, ob nun in der platonischen oder in der modernen Fassung bei Rousseau, antidemokratische Züge. Entsprechend findet die Demokratie ihr Mittel gegen die Gefahr der Theatrokratie auch nicht in der Fiktion absoluter Souveränität (vielmehr fällt diese mit der Theatrokratie zusammen), sondern das demokratische Mittel gegen die Gefahr der Theatrokratie liegt im Bewusstsein eines für die Demokratie konstitutiven Risses zwischen dem unbestimmten demos auf der einen und der kratía, der Macht oder Kraft der Souveränität, die dem demos immer wieder eine politische Form gibt, auf der anderen Seite. Dies Bewusstsein aber geht notwendig einher mit der Einsicht in den Zusammenhang von Souveränität und Repräsentation. Die demokratische Souveränität ist darin eine relative, dass sie um ihren Status als Repräsentation ebenso weiß wie um ihre Abhängigkeit von der Anerkennung durch eine eben nicht homogene Öffentlichkeit. Das schmälert nicht die Gewalt der Souveränität, die auch in einer Demokratie eben nie bloß aus dem Willen des Volkes abgeleitet ist, sondern diesen je wieder neu bestimmt – was sich heute besonders auf der weltpolitischen Bühne beobachten lässt. Aber das Repräsentationsbewusstsein moderner Demokratien setzt diese Macht der Souveränität in ein unauflösliches Verhältnis zum Problem ihrer demokratischen Legitimation. Wenn das Theater dadurch, dass es an die Differenzstruktur auf dem Grund aller politischen Repräsentation erinnert, als eine wesentlich demokratische Institution gelten kann, so ist mit Demokratie natürlich nicht diese oder jene demokratische Verfassung gemeint, sondern deren intern gespaltene Struktur, die sie, wie Derrida formuliert hat, im Kommen hält. Die Funktion, die unter anderem das Theater unter den Bedingungen der Globalisierung heute (mit-)übernimmt, ist daher nicht die der Gemeinschaftsbildung, sondern die der Trennung, um die zunehmend im weltpolitischen Maßstab zu diskutierende Frage nach der Konstitution des demos der Demokratie offen zu halten.

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Schiller, Friedrich: Über die ästhetische Erziehung des Menschen, Stuttgart 2000, S. 38f. Ebd., S. 41. Rancière, Jacques: »Die Aufteilung der sinnlichen Welt. Ästhetik und Politik«, aus dem Franz. von Jürgen Link, in: KultuRRevolution 41/42 (2001), S. 127. Ebd., S. 125. Schiller: Über die ästhetische Erziehung, S. 111ff. Vgl. Rancière: »The Thinking of Dissensus: Politics and Aesthetics«, Ms., S. 7. Vgl. Rancière: »Aesthetics and Politics: Rethinking the Link«, Ms., S. 5. Debord, Guy: Die Gesellschaft des Spektakels, aus dem Franz. von Jean-Jacques Raspaud, Berlin 1996. Rousseau, Jean-Jacques: »Brief an Herrn d’Alembert über seinen Artikel ›Genf‹ im VII. Band der Enzyklopädie und insbesondere über den Plan, ein Schauspielhaus in dieser Stadt zu errichten«, aus dem Franz. von Dietrich Feldhausen, in: ders.: Schriften,

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Demokratie und Theater

Bd. 1, hrsg. v. Henning Ritter, Frankfurt/M. 1988, S. 333 – 474.

10 Platon: Der Staat, in: ders.: Sämtliche Dialoge, Bd. 5, übers. und hrsg. v . Otto Apelt,

Leipzig 1923, S. 331.

11 Rancière: Das Unvernehmen. Politik und Philosophie, aus dem Franz. von Richard

Steuer, Frankfurt/M. 2002.

12 Ich bin daher auch skeptisch, ob Rancières Überlegungen zur ästhetischen Dimension

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des Politischen tatsächlich, wie er in »Die Aufteilung der sinnlichen Welt« sagt, »nicht das geringste« mit dem zu tun haben, was Walter Benjamin als »Ästhetisierung des Politischen« kritisiert. (S. 122) Vgl. Derrida, Jacques: Schurken. Zwei Essays über die Vernunft, aus dem Franz. von Horst Brühmann, Frankfurt/M. 2003, S. 38 – 40. Vgl. Menke, Christoph: »Die Depotenzierung des Souveräns im Gesang. Claudio Monteverdis Die Krönung der Poppea und die Demokratie«, in: Horn, Eva u. a. (Hrsg.): Literatur als Philosophie – Philosophie als Literatur, München 2005, S. 281 – 296. Lehmann, Hans-Thies: Postdramatisches Theater, Frankfurt/M. 1999. Diesen Zusammenhang hat Jacques Rancière jüngst selbst expliziert: »The Emancipated Spectator. Ein Vortrag zur Zuschauerperspektive«, aus dem Engl. von Marcus Coelen und Susanne Leeb, in: Texte zur Kunst 58 (2005), S. 35 – 51. Vgl. für den Zusammenhang zwischen platonischer Theaterkritik und Brecht auch Rebentisch, Juliane: »Theatrokratie und Theater. Literatur als Philosophie nach Benjamin und Brecht«, in: Horn, Eva u. a. (Hrsg.): Literatur als Philosophie – Philosophie als Literatur, S. 297 – 318. Rousseau: »Brief an Herrn d’Alembert«, S. 472. Rancière: Was bringt die Klassik auf die Bühne?, Vortrag am 3. Nov. 2005 im Rahmen der internationalen Konferenz Spieltrieb. Was bringt die Klassik auf die Bühne? am Deutschen Nationaltheater Weimar, in diesem Band S. 23 – 38. Derrida: Grammatologie, aus dem Franz. von Hans-Jörg Rheinberger und Hanns Zischler, Frankfurt/M. 1974, S. 241. Vgl. Tarde, Gabriel: L’opinion et la foule [1901], Paris 1989; Le Bon, Gustave: Psychologie der Massen [1895], aus dem Franz. von Rudolf Eisler, Stuttgart 1982. Vgl. Rancière: »The Thinking of Dissensus«, S. 4. Rancière: Das Unvernehmen, S. 67.

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POLITIK DES ENTHUSIASMUS – ENTHUSIASMUS DER MACHT Versuch über Schiller

1 In Brechts FATZER-Fragment bündelt eine Passage wie in einem Brennglas die Reflexionen auf die Aporie des Politischen als Klugheitslehre, die Brecht in den Jahren seiner Lehrstückproduktion um 1930 mehr als alles andere beschäftigten. Ein kleines Kollektiv von Deserteuren hat seinen »findigsten Kopf«, den Fatzer, verraten – tatenlos zugesehen, als ihn Soldaten auf der Straße zusammenschlugen, weil sie nicht erkannt werden sollten. Das war klug. In einer späteren Szene stellt Fatzer die anderen zur Rede: Ihr wart recht klug / Aber vielleicht zu klug? / Standet ihr da und hattet eure Muskeln in der Hand? / Solchen kann es nicht übel gehen. / So kluge Leute brauchen niemand zum Beistand. / Höchstens könnte man sagen, euch fehlte es (Nur um ein Geringes) / An impulsiver Zuneigung / Törichtem Aufbrausen / Vielleicht hättet ihr euch durch solche / Unbeherrschtheit hineingeritten und / Vielleicht wärt ihr auch wieder herausgekommen / Vielleicht durch euren / Von soviel Zuneigung gerührten Fatzer/[…]Etwas Unvernunft bitte!1 Man kann diese Stelle als Paradigma einer Aporie des Kalküls lesen, das unfähig ist, Akte der Unvernunft einzu-»rechnen«, konsistent realistisch und logisch bleibt. Wer sich und sein Handeln, seinen »Muskel« immer »in der Hand« hat, verliert vielleicht mit solcher Autonomie zugleich die Chance, die im »Beistand« der anderen besteht. Impulsivität, Zuneigung, Aufbrausen, Unbeherrschtheit können Fehler sein, aber ohne das Risiko solcher Unvernunft, Überschreitung, ohne eine »Rücknahme der Maßgabe« des Rationalen2 funktioniert die vernünftige Zwecklogik und das rationale Maß selbst nicht. Wenn und insofern sie die möglichen emotionalen Auswirkungen des nicht-vernünftigen Handelns nicht bedenken kann – hier etwa Rührung, Mitgerissenwerden, Dank und daraus erwachsende neue Energien –, versagt Ratio, klug, als politische Klugheit.3 Die Aufforderung »Etwas Unvernunft bitte!« lässt sich variieren: Etwas Enthusiasmus bitte! Aus einer Gegenwart heraus, die kaum zu

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Enthusiasmus neigt, ihn eher verdächtig findet, die das Wort Pathos kaum anders als in dem Zusammenhange gebraucht, jemand habe »falsches Pathos« vermieden, ist zu fragen nach einem Dichter, den man den exemplarischen Dramatiker des Enthusiasmus nennen darf, bei dem der Enthusiasmus als politische Energie erscheint, zugleich als ein Verhalten, das den rationalen Diskurs ins Stolpern bringt, ihn korrigieren und überwachen muss – so wie nach einer Formel Derridas der Wahn die Vernunft überwachen muss. Es gibt bei Schiller das vielfach und vielstimmig intonierte Thema einer inneren Unhaltbarkeit in der Politik des Enthusiasmus auch in der wiederkehrenden dramaturgischen Figur, dass das utilitäre Kalkül über eine sinnfreie Verausgabung des Subjekts stolpert, die sich nicht berechnen lässt. Das geschieht z. B. drastisch in DON CARLOS, in TELL, in MARIA STUART, in WALLENSTEIN, in DEMETRIUS. In der Folge kehrt sich dann die politische Rationalität, die mit ihrer Wirkung auf den anderen genau rechnen zu können glaubte, ins Destruktive um. Schiller betreibt die dramatische Analysis, unter welchen Bedingungen der Enthusiasmus Subjekt und Objekt des politischen Kalküls ist: wie er Politik motiviert und wie umgekehrt mit dem Enthusiasmus der anderen Politik gemacht wird. Das Scheitern des Kalküls resultiert, weil immer wieder der Impuls, der Enthusiasmus auch der Wahrheit, der Liebe, der Treue, der Treue auch zu sich selbst die Oberhand gewinnen kann über jede zweckrationale politische Überlegung und Intrige. Die Pläne scheitern bei Schiller weniger, wie im Trauerspiel und bei Shakespeare, an den unglücklichen Umständen (in denen sich freilich auch bei ihm die Realität der historischen Kontingenz verpuppt), sondern mehr noch an der inneren Zweideutigkeit der politischen Handlungsmaximen als solcher, die, solange sie als Politik Menschen manipulieren will, auf Motivationen setzt und setzen muss, die sich jederzeit gegen sie kehren können. Kein Enthusiasmus ohne Pathos. Während aber für Schiller Pathos ein Index moralischer Freiheit zu sein vermochte, wird der heutige Zustand eher durch Versuche gekennzeichnet, der allgegenwärtigen Abnutzung und Vergleichgültigung gerade »pathetischer« Wirklichkeiten zu begegnen durch den Rekurs auf eher schlichte Setzungen – so in einer Arbeit der Gruppe rimini protokoll mit dem Titel DEADLINE, in der das Pathetische von Sterben, Tod und Trauer sich mitteilt dadurch, dass Leute, die professionell mit Beerdigungszeremonien befasst sind, auf der Bühne aus dieser ihrer Tätigkeit berichten. Die Sensation des Gewöhnlichen vermittelt, was in offiziöser Rhetorik unsäglich wurde. Kein Zweifel, die Neigung zu pathetischem Aufschwung macht Schiller heute schwer verdaulich, will man nicht in billige Parodie oder Ableug-

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nung flüchten. Den Vordergrund der Bühne besetzen bei ihm immer wieder Rede und Geste einer selbstvergessenen Begeisterung, eines pathetischen Aufschwungs, durch Zweifel, Widerspruch, Ermüdung, Erfahrung kaum zu berührenden Überschwangs, einer gefühlsstarken Beschwingtheit: »Mich hält kein Band, mich fesselt keine Schranke, / Frei schwing ich mich durch alle Räume fort, / Mein unermesslich Reich ist der Gedanke, / Und mein geflügelt Werkzeug ist das Wort.4« Der in solchen Zeilen weltlos erscheinende Enthusiasmus ist jedoch in Schillers Dramen Gegenstand einer vielschichtigen, sehr realen und komplexen Untersuchung. Um sie geht es hier und damit implicite um den allgemeineren Tatbestand, dass die in Schillers Dramen vertretenen (bisweilen auch hinausposaunten) Thesen und Ideologeme von den Texten insgesamt nicht etwa illustrierend ausgemalt, sondern zum Problem gemacht, auf die Probe gestellt, aufs Spiel gesetzt, kurz: Theater und Szene werden. Vorweg aber soll ein sich aufdrängender Eindruck thematisiert werden: dass Schillers Sprache ihrerseits etwas hervorruft, was man einen Enthusiasmus der Lektüre nennen kann. Der klassische Schwung und Rhythmus vermittelt, in den Gedichten wie den Dramen, eine sonderbare Aura der Behauptung, der letzten Wahrheit, des Unwidersprechlichen. Kaum vermag man sich diesem Sog zu entziehen, den bis zum sprichwortartigen resultativ klingenden Setzungen seiner Gedankenlyrik, den narrativen Verdichtungen (»Zurück, du rettest den Freund nicht mehr«), den dramaturgischen Aufschwüngen und berühmten Schlüssen (»Der Lord lässt sich entschuldigen, er ist zu Schiff nach Frankreich. Dem Manne kann geholfen werden.«) Gerade diese Spracherfahrung aber: dass man begeistert, widerstandslos auf dem sicheren Wellenschlag seines Rhythmus dahinzugleiten vermag, entfernt und entfremdet Schiller der Gegenwart. Hält man neben seine Texte einen des späteren Hölderlin, so frappiert der Kontrast: die sichere, oft allzu gesicherte Ausrundung und der organische Fluss hier; Stocken, paraktaktische Montage, Innehalten, Abbrechen dort. Zwei Stile des Atmens. Hölderlins – oder etwa Kleists – Sprache scheinen viel deutlicher in die »Moderne« zu weisen –, in die Welt des Fragments, der Zweifel und Zweideutigkeiten, der zerrütteten Syntax, der gebrochenen Reflexion, der aufgeschobenen Synthesis. Bei ihnen werden Bruch, Zerstückelung, Sprachausfall »das Stottern im sprachlosen Text« (Heiner Müller) konstitutiv – Schiller und Goethe haben es mit besorgter Abwehr registriert. Form ist niedergeschlagener Inhalt. Unmöglich mithin, den harmonisierenden und zugleich überredenden Gestus vieler Texte Schillers als Äußerlichkeit abzutun. Sein Platz scheint vor, allenfalls auf der Wasser-

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scheide zur Moderne zu sein, zu deren Theorie er doch, schon als Denker des Sentimentalischen, selbst einen erheblichen Beitrag geleistet hat.5 Seine Rhetorik aber steht, immer wieder, im Bann einer Geste des Idealismus, die auch die schwersten Konflikte, die auch das Tragische in die schöne Form einer Versöhnung und Verzeihung pressen will, in Einheit um fast jeden Preis. Und doch: Seine Dramatik geht, darum geht es hier, darin nicht auf. Auch wenn die Schwierigkeiten mit der Rhetorik bei seiner Dramaturgie, erst recht seiner ästhetischen Theorie wiederkehren. Neben Racine gehört Schiller zu denjenigen Autoren, deren Stücke dem Idealbegriff eines »reinen« Dramas im Sinne Peter Szondis nahe kommen. Hier schließt das Drama, schließt logisch, schließt ein und aus, gibt gestaltete Totalität. Diese vollendete dramatische Form ist zugleich das Symptom einer Ästhetik, die auch die zerreißendsten Konflikte in der schönen Form gleichsam bergen und in harmonisches Wechselspiel transformieren soll.6 Aber diese Utopie kann auch als unerträgliche Leichtigkeit der Vermittlung auftreten. »Leicht beieinander wohnen die Gedanken, doch hart im Raume stoßen sich die Sachen« entgegnet Wallenstein, die eigene zweideutige Politik des Verrats und des Betrugs beschönigend, dem idealistischen Max Piccolomini. Es ist gerade die Leichtigkeit des gedanklichen Beieinanderwohnens, die Schillers Ästhetik einzuschließen droht in den idealistischen Bannraum der Vollendung. In diesem Raum herrschen der Sinn und das Subjekt, das aus sich selbst seine Freiheit gewinnt. Es ist auch ein Raum dessen, was man auch mit dem bösen Wort »Sonntagskunst« belegt hat. Und doch. Die Dramatik Schillers spielt nicht nur in diesem Raum der Illusion und des schönen Scheins. Aus einer in diesem Sinne verengenden Rezeption muss man das Werk, zur Not auch in Stücken, befreien. Dann tritt hervor, dass das Interesse von Autoren wie Brecht und Heiner Müller an Schiller kein Zufall ist. Dass dieser vielmehr eine dramatische Analysis des Politischen ausformulierte, bei der diese Nachfolger mutatis mutandis anknüpfen konnten. Dann tritt hervor, dass in seinen Stücken – viel mehr als in seinen theoretischen Texten – unter der Decke der oft allzu glatten Rhetorik eine andere Wirklichkeit arbeitet. Dann tritt hervor eine Dramatik, die in der Abrundung einen Abgrund (ver)birgt. Das betrifft zumal die Schilderung der jeweiligen dramatischen Welt, in der eine Subjektivität sich (politisch) geltend machen will. Diese Welt ist in aller Regel ein ohne Erbarmen gezeichnetes politischhistorisches Labyrinth der Machinationen, und was man hier findet, sind: Schmerz, Verlust, Sinnleere, Vergeblichkeit, Mechanik, Paradox, eine ›barocke‹ Trauer. Die Analyse des Politischen führt auf Manipulation, Selbsttäuschung, Fragwürdigkeit, tiefe Spaltung. Diese Motive

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überschatten von den Kulissen her Schillers helle Vorderbühne – und es ist gerade dieser Schatten, der seinem dramatischen Werk das fortdauernde Interesse verschafft und den eine Archäologie des Lesens Text für Text freilegen kann. Mithin gilt es, den erwähnten Enthusiasmus der Lektüre, das begeisterte Mitgehen kritisch zu distanzieren, und das ist zumal eine Arbeit des Theaters. Dieses darf sich nicht die Rolle des Museumswärters, Zeremonienmeisters oder Konservators aufdrängen lassen darf, sondern muss Übersetzung, Über-Setzung, Archäologie leisten. Am Anfang kann dabei die folgende Einsicht stehen: In Schillers Dramen reißt, immer wieder, ein Abgrund auf – und muss aus zwingender innerer Logik aufreißen. Seine Dramaturgie artikuliert immer aufs neue einen tiefen Spalt, einen Riss zwischen den Mechanismen der »Welt«, die die Dramen präsentieren auf der einen, der Subjektivität der Helden, die in dieser Welt agieren, auf der anderen Seite. Diese Welt ist, recht besehen, ganz ins Schwarze verzeichnet. Hegel hatte Recht, als er 1801, anders als später in der ÄSTHETIK, am WALLENSTEIN das Gespenst einer absurden Nichtigkeit gewahrte: Der unmittelbare Eindruck nach der Lesung WALLENSTEINS ist trauriges Verstummen über den Fall eines mächtigen Menschen, unter einem schweigenden und tauben Schicksal. Wenn das Stück endigt, so ist Alles aus, das Reich des Nichts, des Todes hat den Sieg behalten; es endigt nicht als Theodizee.7 Was Hegel über Wallenstein bemerkt, könnte mit ebensolchem Recht über andere Stücke, beispielsweise über die Welt des DON CARLOS gesagt werden, der oft nur als idealistisches Hohelied auf das Freiheitsstreben gelesen wird. Am Ende enthüllt das Drama eine düstere Hierarchie, in der jeweils höhere Mächte mit den niederen wie mit Puppen spielen. Posa kalkulierte, spekulierte und spielte mit Philipps Vertrauen, und Carlos rechnet dies in einer jener Textpassagen, die Schillers Lust an Szenen der Demütigung erkennen lassen, dem Vater in verzweifelter Genugtuung vor. Aber unerwartet taucht am Ende der Großinquisitor auf und erklärt seinerseits, »seit Jahren« die freiheitlichen Umtriebe des Marquis Posa überwacht zu haben – »Das Seil, an dem er flatterte, war lang, doch unzerreißbar.« Die im Bewusstsein ihrer Autonomie Handelnden erweisen sich als am Gängelband unerkannter Mächte geführt. Was hier, aber auch sonst immer wieder bei Schiller, durchschlägt, ist das barocke Bild einer Geschichte, die über Leichen geht und einem »Verhängnis« untersteht, das den Akteuren uneinsehbar bleibt. Über-

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haupt ist nicht immer klar genug gesehen worden, wie sehr Schillers Dramatik durchdrungen ist von den Traditionen und Topoi der barocken Trauerspiele. Es geht um das Politisch-Historische als Feld unabsehbarer Verkettungen von Intrigen und Machtverteilungen; um das politische Handeln, das die Ideen verbrennt, in deren Namen es geschieht, um die Rolle der Träger der Souveränität.8 Kein Zufall, dass in DON CARLOS auch die Unangemessenheit des Königs Philipp als von Leidenschaften beherrschte Kreatur an seine geschichtlich-politische Aufgabe Thema wird, ein Urthema des Barock. Kein Zufall, dass in MARIA STUART beide Heldinnen das religiöse ebenso wie das staatliche Zeremoniell ganz wie Theaterauftritte ansehen – und mit ihnen der Zuschauer, der ja erfährt, wie sie sich darauf vorbereiten und proben und der eine theatrale Inszenierung katholischer Riten erblickt, die ohne Glauben auf die Bühne zitiert und durch diesen Vorgang in ähnlicher Weise schal werden, wie es Stephen Greenblatt für gesellschaftliche Rituale in Shakespeares Theater herausgearbeitet hat. Verstellung und Maskenspiel, gefälschte Identität und die kalkulierte Inszenierung sind von den RÄUBERN bis zu DEMETRIUS ein Grundmotiv Schillers. Die Theatralik der Macht wird, ihres theologischen Rangs beraubt, so wie es das barocke Trauerspiel längst vorgezeichnet hat, zum Spielmaterial innerlich hohl gewordener Inszenierung.9 Dieser Welt der Sinnleere und des Masken- und Machtspiels gegenüber platziert Schiller seine Helden in einer solchen Weise, dass deren Anblick durch ihre tragischen Leiden hindurch ein durchaus identifikationsfähiges Vergnügen bereitet. Die tränenvolle Einfühlung in Held und Situation stellt – gegenüber der bestürzenden Schilderung einer moralisch hohlen Machtwelt – die zweite Facette von Schillers Wirkungsästhetik dar. Doch hebt sie die erwähnte Spaltung nicht auf, sondern pointiert sie nur umso schmerzhafter. Die Perspektive der autonom und vor allem immer wieder enthusiastisch Handelnden wird durchkreuzt und weicht am Ende einer eher melancholischen Besinnung auf die Welt, die gezeigt wurde. Es ist das Eigentümliche von Schillers Tragik, vielleicht deren eigene Tragik, dass ihm die idealistische Behauptung möglich wurde nur durch eine solche dramatische Figuration, in der die Protagonisten in ihren hoch- und weitgreifenden Ambitionen den Schatten barocker Vergeblichkeit nicht abzuschütteln vermögen. Das dramaturgische Betriebsgeheimnis dieser Konstellation aber ist genau die hier behauptete Aufspaltung zwischen den dramatischen Figuren, mit deren Energie Leser und Zuschauer mitschwingen, und der mechanischen Totenwelt der Machinationen, die die Kulisse ihres Handelns bietet und in deren Räderwerk sie notwendig geraten.10

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2 Der Enthusiasmus von Schillers Helden nimmt ganz unterschiedliche Formen an, wird aber immer unverkennbar als Energiequelle ihres Handelns präsentiert. Bevor jedoch erläutert werden soll, wie Schiller, der Protagonist und mehr noch der Analytiker des Enthusiasmus dessen Abgründe und Ambiguitäten unter die dramatische Lupe nimmt, soll in groben Zügen daran erinnert werden, in welcher Weise Schillers Epoche Wort und Sache des Enthusiasmus vor Augen stand, ohne hier natürlich die lange Geschichte der Wandlungen vom antiken enthousiasmos,11 der kultischen Besessenheit, über die Mystik bis in die moralische und dann rein ästhetische Begeisterung und Erhebung nachzeichnen zu können oder zu wollen. 1791 bis 1793 schrieb Schiller seine GESCHICHTE DES DREISSIGJÄHRIGEN KRIEGS, in dem er eine Leidenschaft die Bühne der Geschichte und Politik betreten sieht, die er »Religionsenthusiasmus« nennt.12 Die Massen greifen im Namen der Religion zu den Waffen, auf den Sieg der eigenen religiösen Partei und Propaganda setzt man »Gut und Blut, alle seine zeitlichen Hoffnungen«.13 Hier beginnt die Geschichte einer Politisierung der Massen, die diese dann in der Revolution zu einem von den Intellektuellen mit fasziniertem Schrecken betrachteten neuen Protagonisten werden lässt. Schiller gibt sich als Historiker wie als Dramatiker keinen Illusionen hin. Hätten sich »Privatvorteil« und »Staatsinteresse« nicht mit der Religion vereinigt, so hätte »nie die neue Lehre (der Reformation) so zahlreiche, so tapfre, so beharrliche Verfechter gefunden«: Die Regenten kämpften zu ihrer Selbstverteidigung oder Vergrößerung; der Religionsenthusiasmus warb ihnen die Armeen, und öffnete ihnen die Schätze des Volks. Der große Haufe, wo ihn nicht Hoffnung auf Beute unter die Fahnen lockte, glaubte für die Wahrheit seine Blut zu vergießen, indem er es zum Vorteil seines Fürsten versprützte.14 Und: […] der Religionsfanatismus fürchtet das Entfernte, Schwärmerei berechnet nie, was sie aufopfert. Was die entschiedenste Gefahr des Staats nicht über seine Bürger vermocht hätte, bewirkte die religiöse Begeisterung.15 Man sieht, wie Schiller hier die Begriffe Enthusiasmus, Fanatismus, Schwärmerei oder Begeisterung austauschbar verwendet. Tatsächlich besaß das Wort im 17. und weithin noch im 18. Jahrhundert vor allem den Sinn von blindem Fanatismus. Einige wie Shaftesbury bemühten

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sich seit Beginn des 18. Jahrhunderts, ihn positiver zu sehen. Man nannte ihn »wonderfully powerful and extensive«, betonte, dass man ihn kaum ganz klar von einer »divine inspiration« abgrenzen könne.16 Enthusiasmus komme, so Shaftesbury, auch vor bei »heroes, statesmen, poets, orators, musicians, and even philosophers themselves«. Es geht beim Enthusiasmus schon für Shaftesbury um eine Erscheinung, die dem »sublime«, dem Erhabenen verwandt ist. Im Unterschied zum Erhabenen, dem in der Auffassung der Zeit der eher farblose Affekt der Achtung entspricht, grenzt Enthusiasmus ans Pathologische, hat Anfallcharakter, trübt die Wahrnehmung. Einschränkung oder gar Ausfall der Realitätsprüfung gehören zu seinen Kennzeichen. Vielleicht handelt es sich bei vorgeblich enthusiastischen Zuständen um bewusste Täuschungsmanöver. Ein Wahrheitsbeweis, ob trans-rationales Benehmen eines angeblich von Enthusiasmus Ergriffenen göttlich inspiriert ist oder nicht, kann kaum erbracht werden.17 Erst die neue Konzeption des »Genies« sowie die Emanzipation der »Einbildungskraft« als positiver Wert trugen dazu bei, den Enthusiasmus gegen Ende des 18. Jahrhunderts zum wenigstens ambivalenten und dann positiven Begriff zu machen. Sofern Enthusiasmus wie das Erhabene als subjektive Gestimmtheit angesichts einer Wahrnehmung gedacht wurde, lag es in der Natur des Konzepts selbst, dass Ergriffenheit und Exaltation durch das Göttliche und Erhabene von Täuschung und Selbsttäuschung, bloß subjektiv exaltierter Euphorie und Einbildungen nicht trennscharf abzuheben war. Was indessen den Enthusiasmus problematisch macht: dass er eine unreine und zweifelhafte Form des Erhabenen darstellt, kommt dem Theater gerade zugute. Sein Fragwürdiges macht ihn zur probaten Qualität dramatischer Personen. Schiller hat aus der Analytik dieser zweifelhaften Affektivität ein mächtiges dramatisches Motiv seiner dramatischen Gestalten gewonnen: den gewaltigen Aufschwung eines Pathos, das in seinem radikalen Aufbegehren alles Maß sprengt und seine tragischen Gestalten mehr beherrscht als klassische Motive der Tragödie wie Rache, Ehre oder Eifersucht. In den frühen Texten tritt der Enthusiasmus im Sinne einer hemmungslosen Selbst-Steigerung deutlicher hervor. Franz Moor bezieht seine Energie aus einem deutlich enthusiastischen Selbstgefühl, weil er, von der Natur durch Hässlichkeit benachteiligt, sich von ihren menschlichen Gesetzen – Ehre, Gewissen, Verwandtenliebe – frei wähnt und, noch wichtiger, alles einzig und allein sich selbst zu verdanken hat: »Gab sie (die Natur) uns doch Erfindungsgeist mit, setzte uns nackt und armselig ans Ufer dieses großen Ozeans, Welt […]. Sie gab mir nichts mit; wozu ich mich machen will, das ist nun meine Sache.18«

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Nichts geringeres als der Ozean, Haupt-Topos des Erhabenen, muss herhalten, um die illusionierte Größe zu markieren, die sich der Selbsthelfer im Enthusiasmus zuerkennt. Ganz analog aber wird szenisch dargelegt, wie das augenscheinlich grausame und unnatürliche Verhalten seines Vaters Karl Moors Revolte inspiriert, ihn enthusiastisch wünschen lässt, zum Tiger zu »verwilden«. Und auch Amalia erlebt dieses Abschütteln sozialer Ketten, wenn sie, ihre kulturell erzwungene weibliche Schamhaftigkeit abwerfend, den Dolch gegen ihren Unterdrücker Franz zu zücken wagt und ihn verjagt: »Ah! Wie mir wohl ist. Jetzt kann ich frei atmen …« Sie fühlte sich nun – bezeichnende Parallele zu Karls Sprache des Enthusiasmus – mitten in ihrem Elend »stark wie das funkensprühende Roß, grimmig wie die Tigerin«. Enthusiasmus ist hier wie dort unter ganz verschiedenen und sogar entgegengesetzten moralischen Vorzeichen der Schwung einer Transgression, eines Übertretens der Zivilisationsschranke, Sturz in eine namenlose Freiheit, die von Anfang an eine Art Selbst-Auslöschung mit einschließt. Er ist eine Verausgabung. Die Spannbreite solcher Enthusiasmus-Motive reicht also von Karl Moors enthusiastischem Aufstand zu Franz Moors ebenso enthusiastisch gelebter Bosheit. Sie reicht vom politischen Enthusiasmus eines Posa bis zum erotischen des Don Carlos, von Johannas göttlicher Begeisterung zu ihrem patriotischen Opfer-Enthusiasmus, der sie übermenschlich Ketten sprengen lässt. Zunächst aber ist Enthusiasmus bei Schillers Helden ein Übermaß der Selbstgewissheit. Diese strahlt als Aura auf andere aus und wird so zur objektiven politischen Energie und Macht. Die Jungfrau von Orleans reißt alle mit, weil sie enthusiastisch an ihre Sendung glaubt. Im Schillerschen Helden schneiden sich die beiden »Welten«, die Intrigenwelt der klugen »Besinnung« und der Schwung der Grenzüberschreitung in der »Begeisterung«, und diese Überschneidung definiert seine Tragik. »Er glaub an sich, so glaubt ihm auch die Welt« sagt die politisch kalkulierende Marina über Demetrius, und Laß ihn nur jene Dunkelheit bewahren, Die eine Mutter großer Taten ist – Wir aber müssen hell sehn, müssen handeln. Er gibt den Namen, die Begeisterung, Wir müssen die Besinnung für ihn haben.19 Enthusiasmus ist bei Schiller politische Energie, eine psychologisch wirksame Macht, in der Welt des Realen den eigenen Willen zur Geltung zu bringen und Fesseln zu sprengen: zivilisatorische, geistige, seelische oder auch buchstäbliche (Johanna).20 In seiner psychologischpolitischen Analyse geht es um eine doppelte Tendenz der Energien, die

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das Handeln speisen. Die eine ist die auf Bewältigung und Überwältigung, sogar Vergewaltigung, Lust am kriegerischen oder seelischen Siegesrausch.21 Diesem Willen zur Bemächtigung steht gegenüber – aber ist es ein wirkliches Gegenüber? – der das Subjekt ebenso dahinreißende Trieb zur Opferung, Hingabe, zum irrationalen Es-darauf-ankommenlassen, bei dem Scheitern und auch das Opfer des Lebens absehbar ist. Es kann Hingabe an eine Liebe sein, an eine Leidenschaft, dienende Hingabe an ein Ideal, das Opfer für die Sache. Schillers Epoche ist die von Sade, und die Möglichkeit zu dieser zugespitzten psychologischen Dialektik des Enthusiasmus ist ohne die Entwicklung der Psychologie im 18. Jahrhundert nicht zu verstehen.

3 Im Enthusiasmus fand Schiller seine eigene Version dessen, was Hegels Tragödientheorie am Helden der Antike als »Pathos« identifiziert hatte. Hegel zufolge ist der antike Heros ganz und gar besessen von und »verwachsen« mit einem der »sittlich« genannten Grundwerte seiner Gemeinschaft und bringt so die Ausweglosigkeit eines (durch rationalen Ausgleich unschlichtbaren) Konflikts hervor, der dadurch tragisch wird. Bei Schiller ist es der unbedingte, im Grunde besinnungslose Enthusiasmus, der in tausend Abschattungen von seinen Helden Besitz ergriffen hat und für sie ganz ebenso unbremsbar die tragische Wendung der Dinge heraufbeschwört. Jedoch ist ein entscheidender Unterschied zu bemerken. Zur antiken Tragik gehört nach Hegel, dass das »Pathos« des Helden einem sozial sanktionierten Inhalt gilt. Der Enthusiasmus als Elevatio des Selbst jedoch ist paradoxerweise bei Schiller von sich selbst her inhaltslos, radikal leer. Ob der Schwung des Subjekts als Kampf um Freiheit manifest wird, als nationale Emphase, als Rache des Zukurzgekommenen, als Absage des Zurückgestoßenen an die Normen des Humanen, an rücksichtslose Machtentfaltung zu sei es auch hehren Zwecken – das bleibt gegenüber dieser strukturellen Leere des enthusiastischen »Transport« im Grunde zufällig. Auch wenn es sich mit den Inhalten eines Pathos der Freiheit, der Moralität usw. auflädt – das Engagement des Selbst gilt zuerst und zuletzt – sich selbst. Es zehrt von (und zehrt sich auch auf in) der eigenen Dynamik. Man kann diese Inhaltslosigkeit und Selbstbezüglichkeit gespiegelt finden in der dramatischen Motivik des Spiels. Im Thalia-Fragment des DON CARLOS steht eine überraschende, später gestrichene Stelle, die den Freiheitskämpfer Posa in merkwürdige Beleuchtung rückt. Als Carlos ihm allzu überschwänglich für sein Versprechen dankt, eine Begegnung

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mit der Königin zu arrangieren, weist der Marquis ihn zurück mit der Bemerkung: »Weißt du / denn so gewiß, ob nicht geheime Wünsche, / Nicht Furcht vielmehr und Eigennutz mich leiten?«22 Die barocke Undurchschaubarkeit der Motive verbindet sich mit radikaler moralischer Ungewissheit und einer Dimension des bloßen Vorspielens. Eigentlich ist es allein ein Spiel, was das Selbst treibt, jenseits aller Inhalte, aller politischen Motive seine Steigerung zu erfahren. Ganz analog eine aufschlussreiche Passage, in der Wallenstein, von Terzky zu eindeutiger Handlungsweise aufgefordert (»Woran erkennt man aber deinen Ernst, / Wenn auf das Wort die Tat nicht folgt?«), zu einer Tat, die klarstelle, dass er den schwedischen Feind bei seinen Verhandlungen nicht nur »zum besten habe« repliziert: »Und woher weißt du, dass ich ihn nicht wirklich / Zum besten habe? Daß ich nicht euch alle / Zum besten habe? Kennst du mich so gut?«23 Terzkys ratlose Replik darauf (»So hast du stets dein Spiel mit uns getrieben!«) bleibt, da sie das Ende dieses Auftritts darstellt, ohne Antwort. Die radikale Ambivalenz des Enthusiasmus lässt es kaum zu, dass er konkret bestimmt wäre durch Affekte des Guten. Was Schiller zeigt, ist dies: Die moralische Reinheit verurteilt sich zur Ohnmacht, Selbstvertrauen oder der Stolz aufs Eigene sind Hybris, stets lauert im altruistischen Motiv das Begehren der Selbsterhöhung. Immer wieder moduliert Schiller das in verschiedenen Tonarten. Der Affekt des Enthusiasmus, so das überraschende Ergebnis, verfügt im Unterschied zum Hegelschen sittlichen Pathos über keinen positiv bestimmbaren Inhalt. Er ist nichts als in sich bewegte Selbsterweiterung, Selbst-Steigerung. Und was sich aber mit dieser Leere aufs beste verträgt, ist eben der Spielcharakter des Handelns. Auch im Spiel geht es am Ende um – nichts. Es liegt eine genaue dramatische und theatrale Logik darin, dass dergestalt in die Darstellung der enthusiastischen Energie ein Moment interveniert, das sich mit keinem einzelnen bestimmten oder bestimmbaren Affekt deckt, sondern gleichsam trans-affektiv verfasst ist, eine leere Affektivität oder Meta-Affektion: Affekt des Affiziertseins selbst.24 Während im Enthusiasmus zugleich die Inhaltslosigkeit des Spiels zur Geltung kommt. Das aber hat seine genaue theatrale Logik. Denn es ist ja alle Affekt-Repräsentation schon durch das factum brutum der schauspielerischen Vergegenwärtigung in sich geteilt und gebrochen. Das »Paradox des Schauspielers« transformiert jeden Affekt, insofern die berechnete (und berechnende) äußere Darstellung durch den Schauspieler das Moment des Spiels, des nur Vorgespielten in jeden Affekt einträgt – eine spielerischen Invention, mindestens eine das Wirkliche um-schreibende Hyperbel des gewohnten Gefühlsausdrucks.

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Und dieses Falsums wird auch der hochgradig naiv identifizierte Zuschauer mindestens von Zeit zu Zeit inne. Bekanntlich hebt aber das Bewusstsein des Vorgetäuschten Lust und Identifizierung, Illusion und Genuss an der Affektivität keineswegs auf. An die Stelle des geglaubten mimetisch nachgeahmten Affekts tritt vielmehr im Theater kompensierend eine andere Lust, die – wiederum – aus Steigerung und Selbststeigerung des Menschen resultiert, ästhetische Lust nunmehr an der Steigerung des Ausdrucks selbst, Lust, die nicht zuletzt aus der – masochistisch genossenen – Macht des Spielers über das Gemüt der Zuschauer gewonnen wird. So entspricht der Inhalt, der in den Stücken thematisierte Enthusiasmus der Macht in seiner Ambiguität, wovon sogleich weiter zu sprechen ist, genau der spezifisch Schillerschen Form der Theatralität.

4 Was Schiller in seinen Stücken dramatisch erweist, ist dieses: dass die Lust an der Macht, an Überwältigung ein unvermeidbarer, essentieller Bestandteil eben jenes Ideals der Freiheit bleibt, das gegen die Macht aufsteht. Im Ideal der Freiheit deckt er die Lust an der Überhebung auf, im Wunsch nach Anerkennung den Wunsch nach Macht über die anderen, in der Behauptung der eigenen Würde den Durst nach Ruhm und Bewunderung. Im frühen FIESCO ist das Problem zu plakativer Deutlichkeit herausgetrieben. In der Szene 19 des zweiten Akts kämpft der Verschwörer die Versuchung nieder, nicht seine Stadt zu befreien, sondern sich als Held und Fürst über die anderen zu erheben. Der Aufruhr in Genua ist der in ihm: »Welch ein Aufruhr in meiner Brust! Welche heimliche Flucht der Gedanken. Gleich verdächtigen Brüdern, die … auf den Zehen schleichen und ihr flammend Gesicht furchtsam zu Boden schlagen …« »Republikaner Fiesco? Herzog Fiesco? Gemach – hier ist der jähe Hinuntersturz wo sich scheiden Himmel und Hölle. Eben hier haben Helden gestrauchelt … Dass sie mein sind, die Herzen von Genua? Daß von meinen Händen sich gängeln lässt das furchtbare Genua? … Unglückselige Schwungsucht! Engel fingst du mit Sirenentrillern von Unendlichkeit« Ein Diadem erkämpfen ist groß. Es wegwerfen ist göttlich. (Entschlossen) Geh unter Tyrann! Sei frei Genua, und ich (sanft geschmolzen) dein glücklichster Bürger.« Der Schmelz des republikanischen Enthusiasmus siegt hier noch. Dann aber geht die Morgensonne über Genua auf: »Diese majestätische Stadt (mit offenen Armen dagegen, also auf die Sonne zu, eilend) Mein! … Es ist schimpflich, eine Börse zu leeren, es ist frech, eine Million zu verun-

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treuen, aber es ist namenlos groß, eine Krone zu stehlen. Die Schande nimmt ab mit der wachsenden Sünde … Gehorchen und Herrschen! Sein und Nichtsein!« Und Fiesco verliert sich in die Vision »zu stehen in jener schrecklich erhabenenen Höhe, … tief unten den geharnischten Riesen Gesetz am Gängelbande zu lenken … Ich bin entschlossen.«25 Nur eben zum Gegenteil dessen, was er zwei Szenen zuvor beschlossen hat. Der Rausch des Erhabenen, des Hoch-erhoben-Seins über die anderen wird buchstäblich genommen. Buchstäblich auch die Befreiung von allem Gesetz, das statt das moralische Handeln zu leiten, am Gängelband geführt wird. Zum Kriterium des Handelns wird, nahezu ästhetizistisch, die Elevatio selbst, die enthusiastische Erhebung an sich: Macht als inhaltsloser Rausch, Aufstieg in die Leere eines Raums jenseits der Transgression der Gesetzesschranke, aktive Energie der Erhebung. Deren Bestimmungslosigkeit spiegelt sich schön in einer Bemerkung Schillers über einen Zeitgenossen, Karl Leonhard Reinhold: »Er wird sich nie zu kühnen Tugenden oder Verbrechen, weder im Ideal noch in der Wirklichkeit erheben, und das ist schlimm. Ich kann keines Menschen Freund sein, der nicht Fähigkeit zu einem von beiden oder zu beiden hat.«26 Was immer sie sonst noch bedeuten mag, Hölderlins Formel, »der tragische Transport« sei »eigentlich leer und der ungebundenste« ist bei Schillers Enthusiasmus zuständig. Dieser hat am Ende keinen Grund, keinen Stoff und Gegenstand, besteht in der doppelten Erfahrung des radikalen Ungenügens an einer fremdbleibenden leeren Welt und eines nicht minder leeren Aufschwungs dagegen. Daher vielleicht Hölderlins nicht leicht zu verstehende Begeisterung, sein Enthusiasmus für Schiller. Dessen Dramatik kreist um einen »leeren Transport«, den Hölderlin freilich anders zu begründen unternehmen wird. Bei Schiller bleibt der Enthusiasmus politisch kodiert, sein Schwung kleidet sich in historisches Kostüm. Hölderlin dagegen spitzt das Tragische zur beinahe reinen Bewusstseinsproblematik zu, entstofflicht es damit aber so sehr, dass er nicht zufällig daran scheitert, im EMPEDOKLES einen Philosophen (und ein philosophisches Problem) zum Helden zu machen, ohne die klassische Form des tragischen Dramas zu verlassen. Der so verstandene Enthusiasmus wollte sich aus guten Gründen nicht mehr zum Drama schicken.27 Schiller hingegen gelang es, eine dramatische Form zu realisieren, in welcher jene essentiell leere Bewegtheit des Subjekts historisch und politisch das rechte Kostüm anlegt, um die inhaltliche Fülle und Plastik des antiken tragischen Helden immerhin nachzuspielen, wenn schon nicht wiederzugewinnen. Diese Leere aber treibt unwiderstehlich den Spielcharakter allen Handelns und auch der politischen Praxis hervor. (Wallensteins politi-

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sches Spiel mit Möglichkeiten hat sich, ohne dass er es hindern kann, bereits in Praxis verwandelt.) Es will daher scheinen, dass hier etwas anderes geschieht, als dass ein tragischer Konflikt zwischen dramatis personae, zwischen einem Pathos und einem anderen zur Darstellung kommt, der dann durch das Schöne oder durch das Spiel des Theaters entmächtigt würde und dennoch wiederkehrt, wie es Christoph Menke herausarbeitet.28 Eher eröffnet sich unterhalb der Ebene des Konflikts zwischen Praxis und Spiel, zwischen dem Ernst des Handelns und dem ästhetischen Vergnügen am endlich un-ernsten Spiel ein anderer Abgrund, in dem die Unterscheidung zwischen Ernst und Spiel selbst zusammenstürzt. Wie kann überhaupt ein Widerstreit oder eine Dialektik zwischen Ernst der Praxis und Spiel gedacht werden, wenn keineswegs sicher ist, ob nicht das Spiel längst die Praxis bis in alle Poren durchdrungen hat? Hier könnte und muss vielleicht die Frage einsetzen, wie bei Schiller der enthusiastische Spiel-Aufschwung – durch Entfernung von der Praxis der Realität – die tragische Umwendung hervorbringt. Inwiefern die Grundfigur des Tragischen beim Schillerschen Subjekt der Sturz des Ikarus wäre. Was in FIESCO, künstlerisch gewiss noch überdeutlich, sich abzeichnete und bei Schiller immer wieder variiert wird, ist die unheimliche Koplizenschaft, die den Enthusiasmus der Freiheit mit dem Enthusiasmus der Macht verbindet. Unverkennbar hallt im Freiheitswunsch das Echo der Machtlust nach. Ungebundene Machtvollkommenheit ist jedoch nicht einfach das Gespenst einer bedrohlich entstellten Freiheit. Das ließe sich gedanklich leicht korrigieren. Worum es Schillers Dramatik geht, ist radikaler, ist die Erfahrung, dass eben gerade jene Energie, die Freiheit allererst wollen lässt, sich vom Wunschbild auch moralischer Ungebundenheit nicht ablösen lässt. Im enthusiastisch verfochtenen Ideal der Freiheit selbst nistet der amoralische Enthusiasmus der Macht. Daher kann, unberechenbar, eines ins andere umschlagen. Keine politische Praxis, auch keine gedankliche Sonderung vermag die Naht aufzutrennen, welche die leere Selbst-Erhebung und die politisch-republikanischen Ziele zusammenhält. Beide Wunschbilder, das der Macht und das der Freiheit, dependieren von dem Begehren nach/einer Vorstellung von Grenzen- und Schrankenlosigkeit, die die Moral und die politischen Kategorisierungen nicht unberührt lässt. Das Theater wird für Schiller der Ort, an dem dieser Abgrund des Politischen immer wieder buchstäblich überspielt wird – oder in dem über diesem Abgrund gespielt wird.29

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5 Wir haben denjenigen Schiller zu lesen, aufzusuchen, zum Teil wiederzufinden, der keineswegs die idealistische Parole über die reale politische Logik deckte, sondern der tiefer grub und eine Leere und Leerstelle des Überschwangs im Kern des Politischen und seiner Rationalität ausmachte. Ihn finden wir eher in dem Dramatiker als in Schiller, dem Theoretiker des Schönen. Der letztere war eher versucht, die Versöhnung positiv zu erzwingen. Das Schöne soll bei ihm mehr sein als bei Kant, dem es als »Symbol« des Sittlichen galt, auf dieses Sittliche also nur hindeutet. Schiller will es als in den Sinnen gegeben, als »Freiheit in der Erscheinung« fassen und so den Bruch von Leben und Vernunft überbrücken. Während Hölderlin etwa sich in immer neuen poetischen und theoretischen Anläufen bis zur Selbstzerstörung seines Vokabulars und der Logik darum mühte, den philosophischen Zielbegriff eine Ganzheit, Einheit, »Innigkeit« denkbar zu halten, ohne die Momente der Trennung, der Differenz und des Spiels temporärer Sukzession zu verdrängen, geht der Wunsch des Theoretikers Schiller auf ein Jenseits der Aufspaltungen und Relativierungen. Er konzipiert einen idealen ästhetischer Zustand, in dem, was er ein freies »Konsentieren« alles Seienden nennt, stattfinden soll, eine Art Konsens aller Dinge. Eine Welt, in der sogar den Dingen »Freiheit« zukommt. Ein in jeder Hinsicht »schönes« Beispiel, das Schiller gibt, ist das von Kleid und Körper: Auch dem Kleid wächst im ästhetischen Zustand Freiheit zu. Das ist, keine Frage, ein utopisch überfliegendes, ein enthusiastisches Bild. Nur trägt es in sich auch ein verborgenes Gift: ein problematisches, später ideologisch desaströs gewordenes klassizistisches Kunstideal, das nach dem Vorbild des Organischen gemodelt ist. Die Schönheit dieser Freiheit kommt nur dem Organischen zu – nichts, was fragmentiert wäre, mechanisch, abgespalten, behindert, gebrochen oder tot, findet darin Platz und Daseinsrecht. In einer solcherart radikalisierten Utopie des Schönen, in der es nur eingehaltene Versprechen und die friedvolle Ruhe des Miteinander gibt, ist aber dem Schönen und der Freiheit der Stachel genommen. Es ist, sieht man genauer hin, eher ein Reich des Todes – und dies gerade, weil in ihm allein und rein nur Leben sein soll, nichts sonst. Der Dualismus, den Kant aufgerissen hatte zwischen Vernunft- und Verstandeswelt, schlägt sich am Ende dramatisch und dramaturgisch nieder als der hier hervorgehobene Spalt zwischen der Subjektivität mit ihrem enthusiastischen Anspruch auf Selbstgewinn und Ungebundenheit und einer nicht nur drohenden Welt sinnleerer Kausalmechanik, in der ein chaotischer Krieg um Macht zwischen den Individuen als Pro-

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tagonisten der Macht tobt, die jeden Gedanken an eine Perspektive aufs Bessere hin niederschlagen kann. Hegel hat eine Tragödientheorie formuliert, in der die Wirkung auf den Zuschauer so beschrieben wird: Erschütterung über das Los der Helden, gepaart mit einer das Ganze der tragischen Kollision reflektierenden Versöhnung in der Sache. Diese Theorie der Tragödie kommt her aus (und hat ihr Ziel in) einer resolut nachtragischen Sphäre. Man ist nicht übel in Versuchung, die Formel für Schiller umzukehren. Bei diesem finden wir uns am Ende irgendwie, wenn auch durch Tränen, versöhnt mit den Helden, die oft zu einer Selbst-Versöhnung auch im ärgsten Unglück gelangen (Extremfall Maria Stuart), zu einer wenn auch spät gewonnenen Selbst-Übereinstimmung. Dagegen bleiben wir erschüttert über die Sache, keineswegs versöhnt mit einer Welt, in der die gezeigten Konflikte das Walten blinder Machtkräfte erkennen lässt, die sich mit dem bösartigen Zufall und der sinnlosen Intrige aufs Effektivste vereint haben. Gleichwohl kann man die These aufstellen, dass Schillers Theater die Probe auf eine eigentümliche Theatersituation in der Theorie gemacht hat, nämlich auf die Szene des »Geschichtszeichens«, von der Kant 1795 im »Streit der Fakultäten« gehandelt hat. Bekanntlich fand er nicht in einer wirklichen Tat (in der »Gegebenheit« der französischen Revolution), wohl aber in einer »Begebenheit«, einem bestimmten Ereignis etwas, das er »Geschichtszeichen« nennt. Gedanklich ist die Suche nach einem solchen Zeichen entstanden aus einem immanenten Problem der kantischen Philosophie: Sie hatte einen Abgrund zwischen dem Mechanismus (dem Verstand) und der Freiheit (der Vernunftbestimmung) aufgerissen, den die DRITTE KRITIK, aber eben auch die Suche nach Übergängen zwischen Empirie und Vernunftbestimmungen schließen musste. Zugleich entstand das »taktische« Problem, einen Beleg und wohl gar Beweis gegen die Vertreter eines Determinismus und/oder der in Hinsicht auf die Vernunftbestimmung des Menschen letzthinnigen Sinnlosigkeit der Geschichte anzuführen. Gesucht wird also der Beweis, dass wenigstens eine Anlage des Menschen zum Moralischen existiert, die ihn (einmal, irgendwann) zu einer moralischen Handlungsweise aus freier, nicht gesetzmäßig, mechanisch, durch Interessen bedingter Kausalität befähigen muss. Kant nun findet, wenn nicht den Beweis, so doch eine beweiskräftige Hindeutung, ein Symbol, ein »signum rememorativum, demonstrativum, prognosticum«, das auf den möglichen Fortschritt des Menschengeschlechts hinweist. Es handelt sich nicht, wie man zunächst vermuten könnte, um die geschichtliche Wirklichkeit der Revolution – sind doch

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deren Taten – nicht anders als alle anderen realen Handlungen – stets zweideutig und also auch zu interpretieren im Sinne kausallogischer Notwendigkeit (aus Trieb, Interesse usw.) statt als Wirkung moralische Freiheit. Vielmehr besteht das Zeichen in der beobachteten »Denkungsart der Zuschauer« »bei diesem Spiel«. Darin nämlich wird eine Kausalität aus Freiheit manifest. Da der Schauplatz, auf dem die Helden ihre Rolle spielen und ihre wirklichen Taten vollbringen, nicht die Instanz sein kann, in der über einen möglichen »Sinn« der Geschichte befunden wird, fällt die Entscheidung darüber vielmehr »im Gefühl der verborgenen und fernen Zuschauer (dem Zuschauerraum der Geschichte), die sie betrachten, vernehmen und im Schall und Rauch der res gestae unterscheiden, was gerecht ist und was nicht.«30 Wie werden dieses Gefühl, diese Denkungsart der Zuschauer von Kant benannt? Die Revolution, heißt es, findet »in den Gemütern aller Zuschauer (die nicht selbst in diesem Spiele mit verwickelt sind) eine Teilnehmung (Teilnahme) dem Wunsch nach, die nahezu an Enthusiasmus grenzt, und deren Äußerung selbst mit Gefahr verbunden war, die also keine andere als eine moralische Anlage im Menschengeschlecht zur Ursache haben kann«.31 Der Wunsch nach Freiheit »grenzt« an Enthusiasmus für die Freiheit. In dieser (passiven) »Teilnehmung« und Parteinahme« für die Freiheit drückt sich eine Anlage aus, die, weil in potentia vorhanden, mit Notwendigkeit, wie Kant kühn folgert, auch einmal in der gesellschaftlichen Wirklichkeit zur Moralität führen muss. Was hier präsentiert wird, ist nun nichts anderes als eine Theaterszene mit Publikum: Das faktische Geschehen entspricht dem dramatischen Vorgang auf der Bühne; was die Zuschauer erblicken, ist ein Spiel »großer Umwälzungen« – dem entspricht die Thematik, die Schillers historische Dramen seinen Zuschauern bietet; die emotionalen Reaktionen auf das Spiel sind »öffentlich« – wiederum wie in einem Theatersaal; es lässt sich von der Begeisterung an der Idee gewonnener Freiheit auf ein Interesse an der Humanität, auf eine Eigenschaft »des Menschengeschlechts im ganzen« schließen – unbeschadet des »nationalen« Stoffs und ganz wie es Schiller vom Theater verlangt; die Beobachtung von Anzeichen dieses Enthusiasmus wird zu einer Ermutigung gegenüber dem Skeptizismus, der in der Geschichte kein Fortrücken zum Besseren, sondern nur ein anarchisches Chaos traurig stimmender Sinnlosigkeit erblickt. Was bei Kant die Revolution ist, die mit dem Lauf der Dinge bricht, entspricht in Schillers Stücken die Position des enthusiastisch Handelnden, deren Grenzüberschreitung. In der Identifikation mit dem Helden und der affektiven Wucht, die den Zuschauer dabei

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ergreift (Affekt des Affekts), findet man jene Grenzüberscheitung wieder, die in der geschichtlichen Wirklichkeit die Zuschauer mit der an Enthusiasmus grenzenden das Selbst erhebenden und erhöhenden Teilnehmung für die Sache der Freiheit erfüllte. Sogar die scharfe Trennung zwischen der Bühne des Geschehens und dem Zuschauerraum, die Kant vornimmt (und aus systematischen Gründen seiner Philosophie vornehmen muss), spiegelt sich im ästhetischen Prinzip des Schillerschen Theaters wieder. Schiller lässt bekanntlich nur die ganz reine schöne Form gelten, nur sie (im Theater die möglichst rein in sich geschlossene dramatische Dialektik), frei von jeder Beimischung sinnlicher Interessen in die ästhetische Lust, garantiert die reine, also interesselose Teilnehmung am ästhetischen Spiel, die den utopischen Charakter der Kunst ausmacht. Vor diesem Hintergrund kann man sagen, dass Schiller, jedenfalls mit seinem Theater, auf einen solchen reinen Enthusiasmus der Zuschauer abzweckte. Er betrachtete das Theater sozusagen als Institution zur systematischen Erzeugung von Geschichtszeichen (Brecht definierte das seine bekanntlich als Institution zur systematischen Erzeugung von Skandalen) – und zwar im eben analysierten Sinne als Stätte und Gelegenheit, Enthusiasmus zu erzeugen und so der Anlage zur Moralität, mithin der Sinnhaftigkeit der Mühen um Aufklärung und Humanität, Gerechtigkeit und Moral wieder und wieder Gelegenheit zum Erscheinen zu bieten. Auch in diesem Sinne ist Schillers Theater ein Theater des Enthusiasmus, getragen von der Idee, diese Zeichen im ästhetischen Raum des Theaters geschehen zu lassen, Gerechtigkeit und politische Freiheit als Möglichkeit immer wieder ästhetisch zu behaupten.

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Brecht, Bertolt: Große Berliner und Frankfurter Ausgabe, Berlin und Weimar; Frankfurt/M. 1991, Bd. 10, S. 455f. Vgl. Lehmann, Hans-Thies: »Die Rücknahme der Maßgabe.Schuld, Maß und Überschreitung bei Bertolt Brecht«, zuerst 1994, wiederabgedruckt in: ders.: Das Politische Schreiben, Berlin 2002, S. 261 – 277. Das war übrigens für Brecht keineswegs nur ein Lehrstück-Modell, sondern konkretes politisches Problem: Verspielte »seine« die kommunistische Partei nicht durch allzu große taktische Klugheit ihre politischen Chancen? Zit. nach Safranski, Rüdiger: Schiller oder Die Erfindung des deutschen Idealismus, München 2004, S. 406. Vgl. Szondi, Peter: »Das Naive ist das Sentimentalische, Zur Begriffsdialektik in Schillers Abhandlung«, in: ders.: Lektüren und Lektionen, Frankfurt/M. 1973, S. 47 – 99. Vgl. de Man, Paul: »Ästhetische Formalisierung: Kleists ›Über das Marionettentheater‹«, in: ders.: Allegorien des Lesens, Frankfurt/M. 1988, S. 205 – 233. Hegel zit. nach Safranski: Schiller, S. 462. Für die Präsenz der barocken Motive ist etwa der Dialog zwischen König Philipp, der seinen Sohn zu opfern noch zögert, und dem Großinquisitor ein schlagendes Beispiel. König: »Er ist mein einz’ger Sohn – Wem hab ich gesammelt?« Großinquisitor: »Der Verwesung lieber als der Freiheit.« König: »Wir sind einig. Kommt.« – »Wohin?« – »Aus meiner Hand das Opfer zu empfangen.«

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Vgl. Jobez, Romain: Die Souveränitätsfrage im Schlesischen Trauerspiel der frühen Neuzeit, Diss., Frankfurt/M. und Paris 2004. Vgl. zu einer analogen Argumentation für »materialistisches Theater« einen Text von Louis Althusser von 1962, Das ›Piccolo Teatro‹, Bertolazzi und Brecht. Bemerkungen über materialistisches Theater, abgedruckt in: alternative Heft 137, Berlin, April 1981, S. 73 – 86. Enthusiasmos als Begeisterung und Gotterfülltheit gilt bei Demokrit als eine Art der Ekstasis, göttliche Begeisterung der Dichter. Platon unterscheidet verschiedene Gestalten des Enthusiasmos bei Mantikern, Weihepriestern u. a., auch bei politisch Handelnden und Philosophen. Enthusiasmos geht nicht auf eine »geistferne Irrationalität« sondern intuitive Erkenntniskraft des Nous zurück. Bei Aristoteles findet sich schon der Gedanke, dass der Redner sich in enthusiastisches Pathos versetzt und dadurch die entsprechende Reaktion bei den Zuhörern hervorruft. Später wird, etwa bei Longinus, die Verbindung zum Erhabenen hergestellt. (vgl. weitere Einzelheiten in: Horn, Christoph/ Rapp, Christoph: Wörterbuch der antiken Philosophie, München 2002, S. 136f.) Schiller, Friedrich: Sämtliche Werke, München 1988, Band 4, S. 367. Ebd., S. 371. Ebd., S. 367. Ebd., S. 371. Während »inspiration« als »a real feeling of the Divine Presence« gilt, nennt Shaftesbury »ethusiasm a false one.« »But the passion they raise is much alike. For when the mind is taken up in vision, and fixes its view either on any real object, or mere spectre of divinity; when it sees, or thinks it sees, anything prodigous, and more than human; its horror, delight, confusion, fear, admiration, or whatever passion belongs to it, or is uppermost on this occasion, will have something vast, immane, and (as painters say) beyond life.« (Shaftesbury, A letter concerning enthusiasm, in: Ders.: Characteristics of Men, Manners, Opinions, Times etc., London 1900, Bd. 1, S. 37f. Shaftesbury nennt in diesem Zusammenhang als Beispiel die französischen Protestanten, die im Gefolge des Kriegs der Camisarden nach England flohen und dort öffentlich mit ihren immer wieder aufbrechenden Wunden posierten, die sie im heiligen Krieg um ihre religiöse Freiheit in den Cevennen davongetragen haben wollten. Schiller, Band 1, S. 501. Ebd., S. 29. Solche Selbst-Elevation interessiert den Dramatiker Schiller besonders bei den zweideutige »Großen«, beim Einzelnen, der als Enthusiast der Machtausübung magische Wirkung ausübt. Der Republikaner Schiller dachte sich politische Macht, um diese Einsicht führt kaum ein Weg herum, essentiell als charismatische Macht im Sinne Max Webers, die darauf beruht, bei anderen nicht nur kühle Zustimmung sondern enthusiastische Gefolgschaft hervorzurufen. Das macht nach den schlechten, den schlimmsten historischen Erfahrungen mit besinnungsloser Begeisterung sein Pathos oft fragwürdig, zumal, besonders seit der Erfahrung mit der Revolution in Frankreich, auf der anderen Seite seine extreme Skepsis bei der Schilderung des Volks kaum hinter der Shakespeares zurückbleibt, der etwa die Menge im »Julius Cäsar« als pures Wachs unter den rhetorischen Kunstgriffen der Redner vorführt. Schillers Freiheitspathos klingt vor allem wegen dieser Konstellation von charismatischem Helden und lenkbarer Masse, auf die er den eigenen Enthusiasmus der Macht wirken lässt, oft hohl. Ebd., Band 1, S. 754. Ebd., Band 2, S. 1206. Ebd., S. 343. Zu einer analogen Problematik in Racines tragédie classique vgl. Vortrag des Verfassers (1999): »Rhythmus und Tableau. Überlegungen zum Theater Racines«, in: Heeg, Günther/Mungen, Anno (Hg.): Stillstand und Bewegung. Intermediale Studien zur Theatralität von Text, Bild und Musik, München 2004, S. 39 – 61. Schiller, Band 1, S. 698. Brief an Körner 29.8.1787, zit. nach Safranski: Schiller, S. 309. Vgl. dazu: Birkenhauer, Theresia: Legende und Dichtung. Der Tod des Philosophen und Hölderlins Empedokles, Berlin 1996, bes. S. 560 – 588. Vgl. Menke, Christoph: Die Gegenwart der Tragödie, Frankfurt/M. 2005. Heute bildet sich ein Historiker vielleicht etwas auf den Nachweis ein, dass die Deutschen Hitler zujubelten, weil sie von sozialen Wohltaten profitierten. Aber Schillers Analyse gilt dem Enthusiasmus als einem politischen Faktor und Movens, der bewirkt, dass Menschen auch für ganz imaginäre und moralisch untragbare Ziele, dass sie buchstäblich für Nichts, nur weil ihnen eine durchaus imaginäre Selbst-Erhöhung winkt, über Leichen und über die Trümmer von Ideen schreiten können. Lyotard, Jean-Francois: Der Enthusiasmus. Kants Kritik der Geschichte, Wien 1988, S. 58. Zit. nach Lyotard, S. 57.

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Was Schillers Aktualität sein könnte, liegt weniger in dieser oder jener Hinterlassenschaft, sondern in einer Geste, die sich dem Aktuellen selbst stellt. Diese Geste hat nicht aufgehört, gegenwärtig zu sein, und ist von der Absicht geprägt, die Zeit, den Wechsel der Zeit und somit jene Epoche oder Schwelle nicht zu verfehlen, auf der das Heute geschieht. Der Übergang zum 19. Jahrhundert wird auch für Schiller in einer Frageform virulent, die das Werden eines Zeitalters vom Augenblick seines Gewordenseins trennt und in der notorischen Formel insistiert: »Was sind wir jetzt?«1 – eine Frage, die Schiller in seiner Antrittsvorlesung zur Universalgeschichte formulierte. Keine Rede, kein Diskurs wird nun von der Aufdringlichkeit, d. h. von der Beschränktheit ihres Jetzt und dem Ereignis ihrer Aktualität erlöst. Wer hier spricht, ersucht um ein flüchtiges Anhalten und weiß, dass er der Verwicklung in den historischen Moment nicht entkommt. Man könnte für diese Frageform, für diese Haltung und für diese Lage durchaus den Titel einer Moderne reservieren. Das Gegenwärtige der Gegenwart kann allerdings nur fassen, wer Kodes und Konzepte für Veränderungen entwirft. In dieser Hinsicht war Schiller stets ein abtrünniger Idealist geblieben und hat sich mit seinen historischen und literarischen Projekten vor allem auf die Logik von Umschwüngen, von Umbrüchen und Übergängen konzentriert: auf Staatsstreiche und Komplotte, auf Intrigen und Verschwörungen, auf Rebellionen und auf den Zerfall alter und scheinbar ewiger Mächte. Was von den Vorlieben des Carlsschülers für Revolutions- und Verschwörungsgeschichten über die historischen Studien ins Drama der politischen Helden hineinreicht, ist eine Art Katharsis des historischen Zusammenhangs. Die Welt scheint in Stücke geschlagen, wird neu zusammengesetzt und ergibt ein anderes Bild. Jede Epoche wird hier als die Vorbereitung zu jenem elementaren Bruch gelesen, mit dem sie zu Grunde geht. Es erscheint darum nur konsequent, dass in der Konfektion der Vergangenheit immer wieder die Gegenwart auftritt, in historischen Kleidern, die abgelegt werden, um der Zukunft jene Blöße zu bieten, mit der sie beginnen kann. Das prägt Schillers historischen Enthusiasmus und sein Programm einer Geschichte, die über eine Resonanz oder eine Spiegelung entfernter Konstellationen verfügt.

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Dabei steht nicht zuletzt die Kraft und die Haltbarkeit historisch-politischer Kategorien auf dem Spiel. Die Schrift über die GESCHICHTE DES DREISSIGJÄHRIGEN KRIEGS etwa hat nicht nur ein neues Europa staatlicher Vielfalt – und damit Europa überhaupt – in Aussicht gestellt, sondern ebenso eine Lage, in der mit dem Ende der Universalität von Kirche und Reich auch politische Ordnungsbegriffe brüchig geworden sind. Bürger, Herrscher und Staat sind – wie Schiller schreibt – in neue und noch ungewisse »Verhältnisse«2 zueinander geraten und verweisen auf eine Zukunft, die sich in einer ungeklärten Mischung aus Staatsräson, politischer Leidenschaft, Religion und Politik entschieden haben wird. Das markiert die Wiederkehr des Historischen. Denn auch um 1800 zeigen Große Revolution, Nationalstaat, Republik und mobilisierte Völker eine Krise des Regierens und seiner Prinzipien an. Der »Wind des Zufalls« – wie es im FIESCO heißt3 – scheint in alle Verhältnisse gefahren und appelliert an eine Reformulierung dessen, wodurch sich Politik überhaupt definiert. Zwangsläufig hat sich Schillers Literatur darum als politisches Experimentalwissen, seine Anthropologie als politische Anthropologie formiert; sie haben gemeinsam eine politische Wahrnehmungslehre versucht und in immer neuen Variationen die Maßverhältnisse zwischen öffentlich und privat, Aufruhr und Ordnung, Triebwesen und Vernunft, Gesetzeskraft und Zufälligkeit erprobt. Bis hin zur Formel vom »Staat des schönen Scheins«4 war Schiller – literarisch, historisch und theoretisch – um eine Topik bzw. um eine Topologie des Politischen bemüht. Immer wieder haben Schillers große Dramen und Entwürfe an den Nullpunkt der politischen Setzung herangeführt und auf verschiedene Weise die Konsistenz politischer Formate ertastet oder ertestet: sei es in kollektiven Entfesselungen, die keine politische Form gewinnen, sei es in Szenen des Ausnahmezustands, die sich der Auflösung widersetzen, sei es in Herrschaftsfiguren, deren Legitimität ebenso glaubwürdig wie gefälscht, authentisch wie ausgehöhlt erscheint. Man kann hier durchaus ein Brechen aller Begriffsachsen verzeichnen und damit die insistierende Frage, wie und unter welchen Bedingungen sich ein politisches Wesen, seine Verbindlichkeit überhaupt als möglich erweisen kann. Diese Experimentalsituation lässt sich allerdings nicht nur auf die Neuordnung Europas im Gefolge der Revolutionskriege beziehen, sie gewinnt eine systematische Dimension auch in der Struktur des politischen Wissens (oder der politischen Theorie) um 1800, deren Konzepte und Kategorien in mehrfacher Hinsicht problematisch geworden sind. Lassen Sie mich das kurz skizzieren. Zunächst – und das wäre ein erster Aspekt – möchte ich darauf verweisen, wie sich schon seit dem 17. Jahr-

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hundert die Fragen politischer Regierung, ihre Objekte und Mittel auf besondere Weise vervielfältigt haben. Neben den Theorien der Souveränität, die sich aus dem Stand mittelalterlicher Königsmacht ableiten, und neben den Theorien des Naturrechts und des Gesellschaftsvertrags, die sich als Fortsetzung und Umschrift von Souveränitätslehren verstehen lassen, hat sich eine ganz andere Form zur Organisation des sozialen und politischen Felds herausgebildet. Hier geht es nicht mehr um politische Subjekte, sondern um lebende Individuen und Bevölkerungen; nicht mehr um Rechtsverhältnisse, sondern um Leidenschaften, Interessen und Verhaltensweisen; nicht mehr um politische Repräsentation, sondern um die Regulierung von Lebenssituationen, von biologischen, medizinischen, sozialen, ökonomischen Milieus; nicht mehr um die Frage einer politischen Gründung, sondern um das Problem einer politischen Steuerung. In fast allen europäischen Staaten wurde seit Ende des 17. Jahrhunderts ein neuer Gegenstandsbereich des Politischen verfertigt, der ein komplexes Verhältnis von Territorien, Bevölkerungen und Gütern umfasst und Interventionen unterhalb des Rechts und der Gesetze einschließt. Das Politische ist hier nicht an die Reichweite des Souveräns oder der Staaträson gebunden, es entwirft sich vielmehr als ein Kräftefeld, das andere Aktionsformen politischer Macht provoziert: eine politische Ökonomie, eine Bevölkerungspolitik, eine Gesundheitspolitik usw. Es wird damit ein besonderes Regierungswissen erzeugt, das den Titel »Policey« erhalten hat und sich als Organ einer umfassenden politischen Sorge auf die Gesamtheit des physischen und moralischen Staatslebens bezieht, auf seine Empirie. Diese »Policey« – so lautet es in zeitgenössischen Definitionen – ist die Erkenntnis, das Instrument und die Gesamtheit der aktuellen Maßnahmen, die sich auf die Erhaltung und Vermehrung der Staatskräfte konzentrieren.5 Die Policey bezieht sich – kurz gesagt – auf die Förderung der individuellen und allgemeinen Wohlfahrt zur Stärkung des Staats überhaupt und nimmt dabei eine minutiöse Bearbeitung von Körpern, Fähigkeiten und Verkehrsweisen vor. Zugleich aber – und das wäre der zweite Punkt, den ich hier andeuten möchte – stellt sich damit die eminente Frage, wie sich diese beiden Seiten oder Körper des Staates, der empirische und der rechtliche, der physische und der symbolische, zueinander verhalten: wie also bloße Steuerungsregeln und Rechtssätze miteinander um die Definitionsmacht der politischen Regierung konkurrieren, wie sie einander ausschließen oder überschneiden, verzahnen oder wechselseitig verstärken. Das Netz policeylicher Regierungstechniken einerseits und das Gesetz der Souveränität andererseits lassen sich als die äußeren Grenzen der

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Macht verzeichnen und bestimmen das »Wohlfahrtsstaats-Problem« moderner Gesellschaften (wie Foucault es genannt hat): die Frage nämlich, wie sich die auf Rechtssubjekte ausgeübte politische Macht und die auf lebende Individuen ausgeübte policeyliche Macht gegeneinander abstimmen lassen.6 Dabei hat sich, so scheint es, nach der französischen Revolution diese Spannung verschärft. Man muss nämlich um 1800 eine Art Transzendental-Werden des politischen Wissens verzeichnen, das zwischen souveräner Repräsentation und polizeilicher Steuerung nicht selbstverständlich eine gemeinsame Form, eine gemeinsame StaatsForm findet. Denn einerseits reichen eine politische Empirie, die Verwaltung verstreuter Daten und Fakten nicht hin, die Grundsätze einer rechtlichen Ordnung zu stiften. Und andererseits ist damit noch nichts darüber ausgesagt, wie sich umgekehrt die elementaren Regeln sozialer Organisation aus den Gesetzen der Vernunft deduzieren lassen. Dies scheint mir die besondere Problemlage politischen Wissens um 1800 zu sein, eine politische Antinomie, in der die Doppelgestalt des staatlichen Wesens um eine prekäre Lücke herum aufgebaut ist und somit an eine politische Synthesis appelliert. In einer Reihe von unterschiedlichen Entwürfen – von Kant über Adam Müller und Novalis bis hin zu Wilhelm von Humboldt, Fichte und Hegel – hat man die entsprechenden Fragen gestellt: Wie lassen sich dynamische Prozesse in stabile Strukturen übersetzen? Wie lässt sich eine juridische Idealfigur des Staats mit den kontingenten Daten einer politischen Empirie vermitteln? Und wo wäre der Ort, an dem diese Vermittlung geschieht? Schillers Ästhetik – und das ist meine nicht ganz überraschende These hier – ist an dieser Schnittstelle angesiedelt und reklamiert damit ihren systematischen Ort in der Figur des politischen Wissens. In den Briefen ÜBER DIE ÄSTHETISCHE ERZIEHUNG DES MENSCHEN stellt Schiller nämlich das genannte Problem sehr genau dar: Wie lässt sich der »Naturstaat« der empirischen Kräfte mit der Gesetzgebung der Vernunft vermitteln? Wie gerät man vom aktuellen Gesellschaftszustand zu einem vernunftgemäßen und ideellen, der eben »nicht in der Erfahrung gegeben« ist? Wie organisiert sich der Übergang von »der Herrschaft bloßer Kräfte zu der Herrschaft der Gesetze«? Und wie kann sich das Subjekt des Willens umgekehrt als »ein zuverlässiges Glied in der Kausalverknüpfung der Kräfte« erweisen?7 So wenig sich der Staat mit der Deduktion eines Sittengesetzes verwirklichen lässt, so wenig lässt er sich nach den Gegebenheiten der »physischen Gesellschaft« begründen. Zwischen der Materialität des Gesellschaftslebens und dem Grund seiner Rechtmäßigkeit klafft auch hier eine Lücke, an deren Auffüllung sich die Haltbarkeit von Ordnungsgedanken überhaupt entscheidet. In

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der Spannung zwischen Vernunftgesetz und materiellen Kräften bemisst sich die Staatswerdung – Schiller sagt: »Staatsverwandlung«8 – allein an der Reichweite regulatorischer Prinzipien, die im Feld divergierender Neigungen und Interessen ein Moment des Gemeinsamen hervortreiben, ein Gemeinsames, an dem Gesetze erfahrbar, Erfahrungen aber gesetzmäßig werden. Schillers Auflösung des Problems ist bekannt. Der notleidende und in die Zweiheit von Physis und Nomos zerfallene Staat findet sein Lebensprinzip in einer »Organisation«, die sich »durch sich selbst und für sich selbst bildet«, und das heißt: Es handelt sich darum, dass der »politische Künstler« das gegebene Menschen-«Material« auf eine Weise bearbeitet, die sich dem Zufälligen stellt, in der Vielfalt die Einheit hervortreibt und wie in einer »Polypennatur« das Ganze des Staats in jedem seiner Teile reproduziert.9 In deutlicher Verschränkung von ästhetischer und teleologischer Urteilskraft wird hier der politische Ort des ästhetischen Zustands umrissen und definiert. Denn die Vermittlung der diversen Antagonismen in der Schillerschen Theorie – etwa Stofftrieb und Formtrieb – verweist eben auf jene Mittelfigur des ästhetischen Staats: Hier ist das Feld, das ausschließlich durch die »Wechselwirkung« von Materie und Form, Leben und Gestalt strukturiert wird; hier ist das Gefüge, das den mechanischen Zusammenhang der Elemente in ein »organisches Leben« transformiert; und hier ist schließlich der Ort, an dem der »dynamische Staat« kontingenter Kräfte und der »ethische Staat« der moralischen Notwendigkeit einander begegnen und damit die »Gesellschaft« verwirklichen.10 Es geht dabei nicht nur um das Prinzip einer Urteilskraft, mit der sich ein subjektiver Bestimmungsgrund im sensus communis allgemeingültig macht; und es geht dabei nicht nur um die ästhetische Lösung eines politischen Problems.11 Denn so sehr das Schöne als Gravitationspunkt der ästhetischen Republik die Kluft zwischen Sinnlichkeit und Gesetz, Materiellem und Formalen schließt und eine freie Zusammenstimmung der Vermögen unter der Leitung der Urteilskraft repräsentiert, ebenso sehr lässt sich dieses Schöne als konsequenter Ausdruck und als Verwirklichung einer politischen Steuerungsidee begreifen. In Schillers systematischer Argumentation steht der Schönheitsbegriff als Formel für eine Regulierung, die lebende Individuen und Rechtssubjekte gleichermaßen umfasst. Gesetze werden hier als Regelsysteme installiert und führen schließlich zu jenen indirekten Mechanismen, nach denen sich »der Wille des Ganzen durch die Natur des Individuums vollzieht«, oder besser: nach denen alles Einzelne »auf das Ganze bezogen« ist und doch »nur unter seiner eigenen Regel zu stehen, seinem eigenen Willen zu folgen« scheint.12

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Ganz offensichtlich ist also Schillers ästhetischer Status bzw. Staat die Lösung eines doppelten Problems. Er ist die Antwort auf die transzendental-politische Frage nach dem Übergang zwischen Staatsphysis und Vernunftgesetz; und er ist die Lösung jenes Steuerungsproblems, das eine Koordination von dynamischen Prozessen und stabilen Strukturen verlangt. Schillers Ästhetik, den ästhetischen Staat und sein Schönheitsprogramm möchte ich also als konsequente Antwort auf die Verunsicherung politischer Kategorien um 1800 begreifen und überdies als Versuch, die Antinomie zwischen bloßen Regierungspraktiken und rechtlicher Begründung in einer homogenen Staatsform aufzulösen. Dabei hat Schiller selbst keinen Zweifel daran gelassen, dass dieses Staatsbegehren seiner Ästhetik, dieses regulatorische Prinzip das Pseudonym einer politischen Funktion ist, die an anderer Stelle schlicht Policey heißt. Ich möchte hier nur daran erinnern, wie etwa Fichte in seiner Theorie des Naturrechts – und ausgehend von einer ähnlichen Problemlage – die Polizeifunktion definiert. Die Polizei wird bei Fichte nämlich nicht nur als universale Ordnungsmacht adressiert (die dafür sorgt, dass in der Gesellschaft alles »nach der Schnur geht«), sondern als ein Vermögen, das analog zur Urteilskraft eine Einheit im Mannigfaltigen stiftet und den politischen Körper insgesamt für die Gesetze der Vernunft empfänglich macht. Die Polizei fungiert hier als »Verbindungsmittel«, das die »Wechselwirkung« zwischen souveräner Gewalt und gesellschaftlichem Kräftefeld organisiert, sie fungiert als »Vermittlerin«, die für die Allgemeinheit der Rechtssätze die Einzelfälle herbeisucht und umgekehrt die Einzelheiten auf die Höhe einer gesetzmäßigen Vermittelbarkeit hebt. Wie die Urteilskraft als Vermögen des Übergangs die Lücke zwischen Sinnlichem und Freiheitsbegriffen schließt, so erweist sich die Polizei hier ganz analog als ein Vermögen, das im Übergang von der Materialität des Sozialen zu den formalen Grundsätzen erst die Einheit des Staatslebens garantiert: auch hier eine transzendental-politische Synthesis.13 Es lässt sich also gegen Ende des 18. Jahrhunderts – und das wäre meine These hier – nicht nur von einer Verpolizeilichung der Ästhetik sprechen, sondern umgekehrt auch von einer Ästhetisierung der Polizei. Beide Prozesse sind in Schillers Überlegungen und Projekten angelegt; lassen Sie mich das wenigstens kurz skizzieren. So stehen schon Schillers frühe Überlegungen zum Bildungsmodell des Schauspiels im Umkreis jener policeywissenschaftlichen Programme, die im 18. Jahrhundert das Theater selbst als ein privilegiertes Institut zur sozialen Steuerung entwerfen: etwa in den policey-poetischen Schriften des Wie-

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ner Kameralisten Joseph von Sonnenfels, der die Leitfiguren einer aufgeklärten Dramaturgie – gemischte Charaktere, Gefühlstransfer und Täuschungskontrakt – ganz ausdrücklich als Realisierung eines policeylichen Kontrollauftrags benennt.14 Schillers moralische Anstalt ist also in der »Schule der Sitten«15 von Kameralisten und Policeywissenschaftlern bereits präfiguriert und erhält dennoch eine exemplarische Zuspitzung. Denn auch bei Schiller geht es um die extensive Erfassung jener Vorfälle, Taten und Regungen, die im Geltungsraum der »Gesetze« nicht definiert sind und doch die Wirklichkeit der sozialen Verkehrsformen bestimmen. Während der grobe Raster von Recht und Gesetz nur eine negative Aktionsweise impliziert, begreift sich das Schillersche Bühnenwesen als Interventionsraum, der feinmaschig und stimulierend den »sinnlichen Teil des Volks« durchdringt und die »Gerichtsbarkeit bis in die verborgensten Winkel des Herzens« fortsetzt.16 Und dies ist nun keine Gerichtsbarkeit im strengen Sinn, keine Herrschaft von Rechtsbegriffen mehr. Wenn das Gericht der Bühne anfängt, »wo das Gebiet der weltlichen Gesetze sich endigt«, so weicht das Kriterium des Rechtmäßigen einer minutiösen Beobachtung von Eigenschaften, Leidenschaften und Handlungsweisen, die ein Urteilsvermögen herausfordert, das nicht mit Begriffen, sondern mit Erfahrungen, nicht mit Gesetzen, sondern mit Regeln operiert. Der »Wirkungskreis der Bühne« ist damit als Ort der Erhebung und Korrektur elementarer Sozialdaten konzipiert: eine sozialtechnische und polizeiliche Option.17 Gerade dadurch, dass das Theater das »ganze Gebiet des menschlichen Wissens« und »alle Situationen des Lebens« erschöpft, gerade dadurch, dass es sich zum Schauplatz einer politischen Anthropologie verdichtet, wird es zum Organ der Vermittlung und zu einem »gemeinschaftliche[n] Kanal« schlechthin: zu einem Institut, das die Kommunikation zwischen »Gesetzgeber« und Leben, zwischen der »gesetzgebende[n] Macht« und der Materialität der sozialen Ereignismasse organisiert und damit den Zusammenhang des »ganzen Staat[s]« garantiert.18 Diese Einheit von ästhetischer und politischer Steuerung, die Kooperation von Polizei und Theater war schließlich – und das ist meine letzte Bemerkung hierzu – Gegenstand jener Skizzen und Entwürfe, mit denen sich Schiller zwischen 1799 und 1804 beschäftigte, jener Pläne zu einem Kriminaldrama, das schließlich den Titel DIE POLIZEY erhalten sollte. Mag man in den Gegenständen von Schillers klassischer Dramatik vor allem das überschaubare Politikfeld von hohen Repräsentanten und Staatsaktionen erkennen, ein Feld, das von der theatralischen Sichtbarkeit der Macht geprägt ist, so erscheint es umso bemerkenswerter, dass das POLIZEY-Projekt einen ganz undrama-

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tischen Gegenstand aufgreift, dass es soziale Unübersichtlichkeit ebenso wie die Unsichtbarkeit von Machttechnologien thematisiert. Und wie in kaum einem anderen Projekt sind gerade hier ästhetische und politische Programmatik, poetologische und regierungstechnische Reflexionen ineinander verschränkt. Lassen Sie mich das in drei Punkten ansprechen. Erstens. Zunächst hat Schiller hier den Aufgabenbereich der Polizei ganz nach den Schaubildern polizeiwissenschaftlicher Handbücher des 18. Jahrhundert umrissen. Die Polizei beschäftigt sich demnach mit der Totalität des Gesellschaftslebens, kümmert sich um Handel und Gewerbe ebenso wie um Gesundheitsfürsorge und öffentliche Moral; um den Schutz des Eigentums wie um Vorsorge gegen Unfälle; um die Pflege von Infrastrukturen wie die Verfolgung von Verbrechen. Der Schauplatz des Dramas, nämlich Paris, muss (wie Schiller notiert) in »seiner Allheit erscheinen«,19 und das heißt: Die Polizei rückt die Gesamtheit einer Bevölkerung und ihrer Verkehrsweisen ins Bild, und mehr noch: Sie ist deren organisatorisches Zentrum, sie ist der Ort, an dem sich die Verbindung von Allen mit Allen konstituiert und entschlüsselt. Und wie in den Handbüchern des 18. Jahrhunderts installiert sich diese Polizei als universales Steuerungsorgan. Die Polizei wäre demnach ein »verborgen wirkender höherer Verstand«,20 sie ist ein Regulator aller Beziehungen, der unsichtbar eingreift, unmerklich interveniert und durch diese indirekte Steuerung das gesellschaftliche Feld erst stiftet. Sie ist in dieser Hinsicht auch Produzent anthropologischen Wissens: kalkuliert mit der »schändlichen Seite« der Leute, setzt sie als »wilde Tiergattung« voraus und kann darum – wie Adam Smiths »unsichtbare Hand« – aus allen versammelten »Uebeln« schließlich das allgemeine »Gute« hervortreiben.21 Kurz, diese Polizei ist das Institut der Wohlfahrt und Vorsorge schlechthin. Zweitens löst diese Polizei damit – für Schiller – ein darstellungslogisches und also poetologisches Problem, und zwar in zweierlei Hinsicht. So folgt Schillers Entwurf zunächst einem beiläufigen Hinweis aus Merciers NEUEM VERSUCH ÜBER DIE SCHAUSPIELKUNST, der die Akten der Polizei als Fundus für die Verfertigung dramatischer Intrigen empfiehlt, einen Fundus also, der wie kein anderer die Materialen aus den ›verborgensten Winkeln‹ des individuellen und sozialen Lebens liefert.22 Mercier selbst hat diese Logik des polizeilichen Wissens später umgesetzt, nämlich in seinem zwölfbändigen TABLEAU DE PARIS, das eine Totalerfassung der französischen Hauptstadt versucht und dabei minutiöse Beobachtung mit dem Blick auf ein »Riesentheater«, mithin auf die Totale eines »Tableaus« oder »Gemäldes« kombiniert – ein Ver-

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such, der wohl die wichtigste Quelle für Schillers Entwurf ist.23 Und ein ähnliches Programm auch bei Schiller: Schauplatz des Dramas soll das Büro des Polizeileutnants sein, das somit ein Gemälde für die Einheit des Mannigfaltigen garantiert. Schiller schreibt: »Es ist eine ungeheure Maße von Handlung zu verarbeiten und zu verhindern, daß der Zuschauer durch die Mannigfaltigkeit der Begebenheiten und die Menge der Figuren nicht verwirrt wird. Ein leitender / Faden muß da seyn, der sie alle verbindet, gleichsam eine Schnur an welche alles gereiht wird; sie müßen entweder unter sich, oder doch durch die Aufsicht der Polizey miteinander verknüpft seyn und zuletzt muss sich alles, im Saal des Polizeylieutenants, wechselseitig auflösen.«24 Eine Einheit im Mannigfaltigen aber stiftet diese Polizei auch noch in anderer, dramentheoretischer Hinsicht. Hat nämlich Schiller im Umkreis des WALLENSTEIN die Vorzüge der tragischen Analysis vermerkt und dabei – wie im ÖDIPUS – die glückliche Einheit von Stoff und dramatischer Form konstatiert, so ist eben das Polizeidrama als moderner ÖDIPUS konzipiert: als eine endlos verzweigte Intrige, die durch das Ermittlungswesen der Polizei eben ihre poetische Form erhält.25 Die Polizei transformiert also nicht nur die Gesellschaft in eine regierbare, politische Form; sie ist auch diejenige Agentur, die naturgemäß den stofflichen Vorfall zugunsten seiner ästhetischen Formatierung tilgt. Mit dieser Wendung, mit diesem politischen wie ästhetischen Organisationsprinzip legt sich schließlich – drittens – die Vermutung nahe, dass eben die Policey des Dramenentwurfs eine gewisse Anwärterschaft auf den Schillerschen Schönheitsbegriff reklamieren kann. Dies bestätigt sich dort, wo das historische Vorbild des zentralen »Polizeyministers« – der berüchtigte d’Argenson, Minister und Generalleutnant der Pariser Polizei unter Ludwig XIV. – bei Schiller zu einem Charakter konvertieren musste, der als »feiner Gesellschafter«, mit »Herz und Geist« und »schöne[m] Betragen« selbst wiederum ein besonderes »Gefühl für das Schöne« offenbart.26 Wie die Policey mit ihrer schönen Zweckmäßigkeit Gesellschaft erst herstellt, so ist ihr oberster Repräsentant in der Mitte des Dramas der soziale oder policeyliche Mensch schlechthin, nämlich schon »poliziert« und mit seiner Empfänglichkeit fürs Schöne stets aufs Neue »polizierbar«, und das heißt: mit seiner Sinnlichkeit auf die Form und mit seinem Geist aufs Materielle eingestimmt; ganz nach dem Programm der ästhetischen Erziehung. Auch hier ist also der ästhetische Zustand ebenso policeylich definiert wie die Policey selbst ästhetischer Natur – und beide zusammen verkörpern jene disziplinäre Macht, die allein einen »geselligen Charakter« produziert.27

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In Schillers ungeschriebenem POLIZEY-Drama – so ließe sich das zusammenfassen – operiert also die Policey-Funktion in komplexen Verhältnissen, die sowohl die Struktur des Repräsentierten wie die der Repräsentation selbst betreffen. Sie, die Polizey, stiftet die soziale bzw. politische Form; sie liefert ein poetologisches Programm; und sie übernimmt schließlich eine Vermittlungsfunktion, die dem ästhetischen Zustand vorbehalten ist – wie zum Beleg für die von Friedrich Schlegel formulierte These, das Theater sei »als ein äußerst merkwürdiges und wichtiges Mittel und Problem einer sehr vervollkommneten Polizei zu betrachten, eine in ihrer Art einzig zusammengesetzte Volksmenge zu beschäftigen und unsichtbar zu lenken.«28 Das politische Wissen um 1800 zeichnet sich durch die Unselbstverständlichkeit seiner Begriffe und die Verstreutheit seiner Schauplätze aus. So wenig Naturrechtslehren hinreichen, den Vollzug sozialer Ordnung zu kodieren, so wenig liefert die Tatsache, dass es Gesellschaft gibt, Aufschluss über das Prinzip ihrer Gesetzmäßigkeit und führt – auch am Abhang der Französischen Revolution – an jenen markanten historischen und theoretischen Punkt, an dem die Möglichkeitsbedingung politischer Formgebung selbst infrage steht. Schillers politische Topik bzw. Topologie hat darum in verschiedenen Variationen die Art, die Reichweite und die Bindungskraft politischer Aktionsweisen befragt. Wie sich in Schillers späten Dramenentwürfen ein Theater der Personen und Taten zur Dramatik von Infrastrukturen verschoben hat, so lässt sich seine Verknüpfung von Ästhetik und Polizei schließlich als Dokument einer Krise des Regierens begreifen: einer Krise, in der der Steuerungsbedarf moderner Gesellschaften auf die Ungeborenheit seiner politischen Mittel trifft.

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Schiller, Friedrich: »Was heißt und zu welchem Ende studiert man Universalgeschichte. Eine akademische Antrittrede«, in: ders.: Sämtliche Werke, hrsg. v. Gerhard Fricke und Herbert G. Göpfert, München 61980, Bd. 4, S. 755. 2 Schiller, Friedrich: Geschichte des dreißigjährigen Kriegs, in: Sämtliche Werke, Bd. 4, S. 366. 3 Schiller, Friedrich: Die Verschwörung des Fiesco zu Genua. Ein republikanisches Trauerspiel, in: Sämtliche Werke, Bd. 1, S. 675. 4 Schiller, Friedrich: Über die ästhetische Erziehung des Menschen in einer Reihe von Briefen, in: Sämtliche Werke, Bd. 5, S. 669. 5 Vgl. Jung-Stilling, Johann Heinrich: Lehrbuch der Staats-Policey-Wissenschaft, Leipzig 1788, S. XXXIII, 7 – 9; Justi, Johann Heinrich Gottlob von: Grundsätze der PoliceyWissenschaft, Göttingen 21759, S. 3 – 8. 6 Foucault, Michel: »Omnes et singulatim. Zu einer Kritik der politischen Vernunft«, in: Vogl, Joseph (Hrsg.): Gemeinschaften. Positionen zu einer Philosophie des Politischen, Frankfurt/M. 1994, S. 75. 7 Schiller: Über die ästhetische Erziehung des Menschen, S. 574 – 576. 8 Ebd., S. 576. 9 Ebd., S. 578, 584. 10 Ebd., S. 580, 604 – 606, 667.

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11 Vgl. Borchmeyer, Dieter: Tragödie und Öffentlichkeit. Schillers Dramaturgie im 12 13

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Zusammenhang seiner ästhetisch-politischen Theorie und die rhetorische Tradition, München 1973, S. 97ff. Schiller: Über die ästhetische Erziehung des Menschen, S. 667; ders.: Kallias oder Über die Schönheit. Briefe an Gottfried Körner, in: Sämtliche Werke, Bd. 5, S. 422. Fichte, Johann Gottlieb: Grundlage des Naturrechts nach Principien der Wissenschaftslehre, in: ders.: Gesamtausgabe, hrsg. v. Reinhard Lauth und Hans Gliwitzky, Bd. I/4, Stuttgart-Bad Cannstatt 1970, S. 84 – 85. Vgl. Sonnenfels, Joseph von: Sätze aus der Policey, Handlungs- und Finanzwissenschaft. Zum Leitfaden der akademischen Vorlesungen, Wien 1765, S. 75ff.; ders.: Briefe über die Wienerische Schaubühne, Wien 1769 (Neudruck, hrsg. v. H. Haider-Pregler, Graz 1988). Sonnenfels: Sätze aus der Policey, S. 76. Schiller, Friedrich: »Die Schaubühne als eine moralische Anstalt betrachtet«, in: Sämtliche Werke, Bd. 5, S. 822 – 825. Ebd., S. 823, 825. Ebd., Ebd., S. 828 – 829. Schiller, Friedrich: Die Polizey, in: Werke. Nationalausgabe, Bd. 12, Weimar 1982, S. 92. – Vgl. Sprenger, Mirjam: ›Legierungen aus Zinn und Blei‹. Schillers dramatische Fragmente, Frankfurt/M. u. a. 2000, S. 58 – 75. Schiller über die »Mächte des Turms« in Goethes Wilhelm Meister, die den Romanhelden »mit ihrer Aufmerksamkeit, und ohne die Natur in ihrem freien Gange zu stören, … von ferne und zu einem Zwecke, davon er selbst keine Ahnung hat, noch haben darf«, leiten. Zit. nach dem Herausgeberkommentar zu Johann Wolfgang von Goethe: Wilhelm Meisters Lehrjahre, in: ders.: Werke, hrsg. v. Erich Trunz, München 111982, Bd. 7, S. 640. Schiller: Polizey, S. 92 – 93. Mercier, Louis-Sébastien: Neuer Versuch über die Schauspielkunst, übers. v. Heinrich Leopold Wagner, Leipzig 1776 (Reprint: Heidelberg 1967), S. 241. Ders.: Tableau de Paris, Amsterdam 1782 (Reprint: Genf 1979). Zur poetologischen Rolle der Polizei in Merciers Tableau vgl. Ethel Matala de Mazza: Tableau de Paris, Amsterdam 1782 (Reprint: Genf 1979). Schiller: Polizey, S. 91. Schiller an Goethe, 2. August 1797, in: Werke. Nationalausgabe, Bd. 29, Weimar 1977, S. 141; ders.: Die Polizey, S. 96. Ebd., S. 92. In der Briefen Über die ästhetische Erziehung des Menschen (S. 624) heißt es entsprechend: »Durch die Schönheit wird der sinnliche Mensch zur Form und zum Denken geleitet; durch die Schönheit wird der geistige Mensch zur Materie zurückgeführt, und der Sinnenwelt wiedergegeben«; vgl. ebd., S. 667. Schlegel, Friedrich: »Vorrede« zu Arnims Erzählungen von Schauspielen, in: Kritische Friedrich-Schlegel-Ausgabe, hrsg. v. Erich Behler, Bd. 3, Darmstadt 1975, S. 42.

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GRENZEN DER KRITIK: JEFF KOONS UND DIE AUFTEILUNG DES SINNLICHEN

Das Wesen der Politik, schreibt Jacques Rancière, liegt im Konflikt, in der streitbaren Auseinandersetzung. Das Politische ist nicht die Kunst, eine Gemeinschaft zu führen, sondern der Streit um das, was überhaupt als gemeinsam angesehen werden kann. Politik ist kein Zustand, keine institutionelle Einrichtung und keine Ordnung. Vielmehr ist sie die Praxis, die eine für gegeben angenommene Ordnung in Frage stellt, sie in ihrer Kontingenz aufzeigt und verschiebt. Die Form des Politischen ist DAS UNVERNEHMEN (LA MÉSENTENTE), wie der Titel von Rancières Buch über das Politische lautet.1 Wobei Unvernehmen nicht der bloße Konflikt von Meinungen oder Ansichten bedeutet, sondern ein MissVerstehen, das zum Beispiel dann entsteht, wenn zwei der gleichen Meinung sind, aber nicht in der Lage, dieses Gemeinsame erkennen und verstehen zu können. Was sie trennt, ist eine ›Ordnung des Sinnlichen‹, des Sichtbaren und Sagbaren, die, als eine Art prä-konfigurierte Bühne, ein Denken und Kommunizieren über das, was als gemeinsam oder getrennt angesehen wird, regelt und reguliert. Politik ereignet sich in den jeweils konkreten historischen Momenten der Infragestellung dieser Bühne. »Die politische Tätigkeit«, so Rancière, »ist jene, die einen Körper von dem Ort entfernt, der ihm zugeordnet war oder die die Bestimmung eines Ortes ändert; sie lässt sehen, was keinen Ort hatte gesehen zu werden, lässt eine Rede hören, die nur als Lärm gehört wurde.«2 Politik ist da, wo eine Begegnung zwischen zwei ungleichartigen Vorgängen stattfindet, wo also die Behauptung von Gemeinsamkeit auch eine Streiterfahrung ist. Im Folgenden möchte ich versuchen, Jacques Rancière zur zeitgenössischen Kunstpraxis in Bezug zu setzen. Anstatt dabei anhand von Beispielen für oder gegen Rancière zu argumentieren, schlage ich vor, seine Figur des Konfliktuellen selbst als eine Praxis des Umgangs mit Kunst und Theorie zu verstehen und zu gebrauchen. In diesem Sinne stelle ich Rancière eine künstlerische Position gegenüber, die die meisten vermutlich nicht gerade als wahlverwandt mit Rancière einschätzen würden: Jeff Koons. Natürlich möchte ich letztlich behaupten, dass es eine Nähe zwischen Rancière und Koons gibt. Nur – das gilt es zu zeigen – verunmöglicht es eine bestimmte Ordnung des Sinnlichen, ein

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»Regime des Sagbaren und Sichtbaren«, diese Nähe zu erkennen. Anders ausgedrückt: Die Gemeinsamkeit von Rancière und Jeff Koons wahrnehmen zu können, erfordert jene »Re-Organisation der Ordnung des Sicht- und Sagbaren«, von der Rancière in seinen Texten spricht. Jeff Koons ist ein ebenso etablierter wie umstrittener Künstler. Er ist der erfolgreichste Künstler der achtziger Jahre, aber es gibt wenige Künstler, die gut oder schlecht zu finden eine derart ideologisch besetzte Geschmacksache ist. Für viele liegt Koons offenbar so weit jenseits eines geltenden Verständnisses von Kunst, Ästhetik und Politik, dass allein seinen Namen zu nennen schon einem faux-pas gleichkommt – ungefähr so, als säße man in der Kirche und erzählte seinem Banknachbarn, dass man gerne Tarot-Karten legt. Die Gründe für Ressentiments gegen Koons liegen auf der Hand: Koons’ Arbeiten sind kitschig, und er ist zu explizit kommerziell, dermaßen unsublim in seiner Haltung gegenüber dem Markt, dass sogar üblicherweise nicht gerade zu verbalen Ausfällen neigende KunsthistorikerInnen die Frage nach Jeff Koons mit einem bloßen »He makes me sick« (Rosalind Krauss) quittieren. Mit seinen kühnen Behauptungen – wie zum Beispiel der, dass er sich »auf der Ebene der Kirche bewege«3 – positioniert sich Koons dem Anschein nach völlig anachronistisch zu den Maximen eines heutigen Kunstverständnisses. Koons äußert den Anspruch, so entfernte Bereiche wie Kunst und Mythologie oder besser noch: Kunst und ›Volksglauben‹ zusammen zu führen. Er spricht davon, dass Kunst ›Vertrauen‹ erwecken soll – und das nach einem Jahrhundert, das den Zweifel und die radikale Infragestellung des Kunstbegriffs zum Konstruktionsprinzip erhoben hat. Koons fordert, dass sich die Kunst in den Dienst einer Selbstbestätigung des Betrachters stellen soll, und zwar eines jeden Betrachters, unabhängig von seiner Herkunft, Kultur und Bildung. Sie soll – schilleresk ausgedrückt – den Menschen seiner Kultur, seinen sinnlichen Fähigkeiten und seinen Interessen zuführen. Wenn Koons sagt: »Embrace your past«, dann bedeutet das soviel wie: Lass Dich nicht einschüchtern, du bist in Ordnung mit dem, wo du herkommst, und dem, was du bist. Vorgetragen mit dem berühmten Gewinnerlächeln, das ihm ins Gesicht gemeißelt zu sein scheint, liegt fast außer Frage, dass Koons nicht ernsthaft meinen kann, was er sagt, dass also derartige Äußerungen nur ironisch zu verstehen sind. Wenngleich sowohl die Kritik als auch ein allgemeines Publikum wohl spüren, dass seinem Ansatz eine gewisse Radikalität innewohnt, tendieren sie dennoch dazu, Koons für zynisch, bestenfalls für ironisch zu halten. Koons hingegen betont konsequent, dass ihn weder Ironie noch Zynismus interessieren. »Irony causes too much critical contemplati-

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on«, sagt er in einem Interview von 1987.4 In dieser Absage an Ironie (und an die Distanz, die dadurch geschaffen wird) unterscheidet sich Koons wesentlich von einem Kunstdiskurs der achtziger Jahre, dem er oftmals zugeordnet wird. In den Arbeiten von Künstlern wie Haim Steinbach oder Sherrie Levine schwingt eine Ambivalenz gegenüber der Haltung der Kritik mit, die Koons nicht mitträgt. Dafür ist ein Zeitschriftenprojekt ein programmatischer Fingerzeig, das der Künstler 1987 für Artforum realisierte.5 Er bildete sich selbst zwischen BarockEngeln, lüsternem Rokoko-Dekor und überschwänglichem Kircheninterieur in Form einer Keramikfigur als Don Quichote ab. Über dem Bild steht der folgende Text: »To be forever free in the power, glory, spirituality and romance, liberated in the mainstream, criticality gone.« Koons hält die Frage der Kritik nicht in der Schwebe, so wie Warhols Arbeiten dies im Oszillieren zwischen Kritik und Affirmation tun. Er versucht sie zu überwinden, wobei sich natürlich die Frage aufdrängt, was dabei an ihre Stelle tritt. Bedeutet ein Jenseits der Kritik notwendig den Schritt hinter sie zurück, oder könnte es auch einen Schritt über sie hinaus bedeuten? Man muss Jeff Koons als einen konzeptuellen Künstler verstehen. Er fühlt sich der Konzeptkunst verpflichtet, obgleich er ihre Parameter einer radikalen Reorganisation unterzieht. Was Koons mit der Konzeptkunst teilt, ist der nach vorn getragene Anspruch auf eine veränderte gesellschaftliche Wirklichkeit und Wirksamkeit der Kunst. Er teilt mit ihr das Interesse an Kommunikation und an einer Öffnung der Kunst auf eine anders strukturierte und weiter gefasste Idee von Öffentlichkeit. Aber die Art und Weise, wie eine solche Kommunikation faktisch stattfindet, denkt er grundlegend anders. Die Konzeptkunst führte die Sprache als das primäre Medium in die Kunst ein, im Glauben daran, dass damit per se eine quasi universale Zugänglichkeit einherginge. Wenn Koons, zu seiner Haltung zur Konzeptkunst befragt, antwortet, er schätze die Ideen, aber sie ließen sich seiner Meinung nach auch realisieren, ohne dabei den Betrachter zu entfremden, so klingen in seinen Worten Zweifel an, dass es ihr gelungen ist, diesen Anspruch auch einzulösen.6 In der Tat gibt es in der Konzeptkunst einen Selbstwiderspruch, der ungelöst blieb: Sie bewegt sich innerhalb des Paradigmas einer Ästhetik der Reflexion und der kritischen Distanz, und fordert zugleich dessen Überwindung zugunsten einer direkteren Form künstlerischer Kommunikation. In diesem Widerspruch zwischen Sagen und Tun gründet Koons’ Verhältnis zur Konzeptkunst. Er verfolgt durchaus ähnliche Ideale, wählt aber, indem er das Umsetzungsproblem ins Zentrum rückt, eine andere Strategie. Während die Kon-

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zeptkunst die Frage des Betrachters, des Publikums und der Öffentlichkeit diskursivierte und thematisch werden ließ, ist Koons daran gelegen, eine Kommunikation mit dem Betrachter bzw. der Betrachterin faktisch herzustellen. Für ihn ist Kunst wesentlich Kommunikation. Die mediale Funktion des Kunstwerks, seine Wirklichkeit und Wirksamkeit – der soziale Pakt, der das Verhältnis zwischen Werk und Betrachter regelt – markiert den eigentlichen Kern seiner Arbeiten. Koons spricht von der ›Verantwortung‹, die das Kunstwerk gegenüber dem Betrachter hat, und die er versucht, wahrzunehmen und einzulösen. Die Ebene der kritischen Reflexion ist dabei keineswegs aufgehoben, nur wird ihr Verhältnis zu den Ebenen der Wirkung und der Erfahrung des Kunstwerks neu überdacht. Koons erkennt, dass die politischen Effekte der Kunst nicht in den (kritischen oder affirmativen) Haltungen oder Meinungen liegen, denen sie Ausdruck verleiht, sondern in der Art, wie sie einen Betrachter, eine Betrachterin, ein Publikum, eine Öffentlichkeit, letztlich Gesellschaft adressiert, bzw. in den Formen der Integration und Exklusion, die dabei zum Tragen kommen. Koons operiert aus einem Bewusstsein über die politische Macht dieser Ein- und Ausschlüsse, und seine Arbeiten sind der Versuch, auf diesen Prozess einzuwirken und ihn zu gestalten. Wenn er sagt: »Anyone can feel that art can either be something that is very generous or something that can be a segregator. And the way it segregates them is to make them feel uncomfortable about their own cultural history«,7 dann spricht er meines Erachtens aus einer Perspektive, die der Rancières in dem Sinne vergleichbar ist, dass beide das politische Potential der Kunst in den Prozessen des Ein- und Ausschlusses, der Teilhabe und der Ausgrenzung situieren, die sich in der ästhetischen Kommunikation ereignen. Und wenn Koons programmatisch behauptet: »My work is not a segregator. No one has ever looked at a Jeff Koons and has felt that this work was speaking down to them, they have always felt above my work«,8 so argumentiert er auf der Basis eines Performanzbewussteins, einer Sensibilität für die Art und Weise, wie das eigene Werk diese »Aufteilung des Sinnlichen« immer auch performativ mit hervorbringt und deshalb auch mit gestalten kann. Versteht man die Arbeiten von Koons als ein solches Operieren mit der ›Aufteilung des Sinnlichen‹, so haben sie mit Ironie nichts mehr gemein. Es liegt jedoch nicht nur ein Missverständnis darin, ihn als ironisch zu bezeichnen, in gewisser Weise impliziert es auch eine Geste der Macht. Denn die Perspektive der ›Ironie‹ führt in die Wahrnehmung und das Verstehen genau jene Distanz wieder ein, die Koons versucht aufzuheben. Als ironisch wird Koons in jenen Modus der Reflexion,

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der Distanz und der Trennung reintegriert, aus dem er – den eigenen Angaben nach – aussteigen will. Innerhalb einer solchen Ästhetik der Distanz muss Koons ironisch sein, weil sich seinen Arbeiten nur so überhaupt Sinn verleihen lässt. Jenseits der Ironie kann aus der ihr unterliegenden Ordnung des Sichtbaren und des Sagbaren heraus seine Sprache, mit Rancière gesprochen, »nur als Lärm hörbar werden«. Anstatt Koons jedoch für ein Modell der kritischen Distanz zu reklamieren, liegt meiner Meinung nach das – gerade im Hinblick auf die Frage nach dem Kritischen – Interessante in der Unstimmigkeit, die er gegenüber einer Haltung der Ironie produziert. Wenn Koons sagt: »My art is not a segregator«, dann rückt er zunächst einmal ins Blickfeld, dass jedes Kunstwerk, gewollt oder ungewollt, gestaltet oder ungestaltet, immer sowohl exkludierende als auch inkludierende Effekte hat. Jede Gemeinsamkeit bedeutet auch einen Ausschluss und umgekehrt. Faktisch gilt das auch für Koons. Er schließt zum Beispiel weite Teile der Kunstkritik aus, mithin aber einen Bereich, der an sich schon in einem privilegierten Verhältnis zu Kunst steht. Wenn Koons in einem Interview auf die Frage: »You would like to become like a kind of guide, a kind of mentor to follow for the masses?« antwortet: »I would hope to be a political propagandist«, und auf die anschließende Frage: »How do you think about the real one?« entgegnet: »I think I am the real one«,9 so spricht dabei nicht der Größenwahn aus ihm, sondern vor allem ein Bewusstsein für die realitätskonstituierenden, diskurs- und kulturproduzierenden Effekte, die jedes Kunstwerk aufweist. Ähnliches steht hinter einer Äußerung wie: »Artists somehow develop this moral crisis where we are fearful of being effective in the world. We were the great seducers, we were the great manipulators, and we have given up these intrinsic powers of art – its effectiveness.«10 Wobei auch hier entscheidend ist, dass es eben nicht darum geht, das Verhältnis zwischen einem Modell der Reflexion, der Distanz und der kritischen Erkenntnis einerseits und einer auf Effekte zielenden Wirkungsästhetik andererseits einfach umzukehren. Vielmehr geht es darum, die Grundlagen dieser Antinomien neu zu organisieren. Als Koons Ende der siebziger Jahre als Künstler in Erscheinung trat, hatte die Konzeptkunst gerade traditionelleren künstlerischen Produktions- und Ausdrucksweisen Platz gemacht. Die neuen Wilden oder wie auch immer diese Phänomene genannt wurden, zeigten, dass sich scheinbar überwunden geglaubte Konzepte von Subjektivität, Expression und Autorschaft mühelos rehabilitieren ließen. Zugespitzt (und traumatisiert von dieser Erkenntnis) spricht Benjamin Buchloh von einer Dialektik, die eine radikale Kritik und das Außerkraftsetzen von traditio-

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Jeff Koons »Puppy« 1992. Foto Heiko W. Rupp

nellen Darstellungsbegriffen mit ihrer darauf folgenden Wiederherstellung verbindet.11 Es kann also nicht um eine bloße Verkehrung oder Umkehrung gehen, sondern es geht vielmehr um die Frage, auf welchen grundlegenden ästhetischen Übereinkünften der Kunstbegriff in seinen jeweils kritischen oder affirmativen Ausformungen überhaupt basiert. In dieser Frage nehmen die Arbeiten von Koons ihren Ausgangspunkt, indem sie versuchen, den ästhetischen Effekt zu konzeptionalisieren und die ästhetische Effektivität des Konzeptionellen zu gestalten.

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Die Kritik der Konzeptkunst richtete sich wesentlich gegen das Prinzip der Ware. Wobei sich die Idee, dass die Resistenz gegenüber dem Markt größer wird, je weiter man das Kunstwerk in die Richtung einer Nicht-Materialität bewegt, als problematisch, weil unhaltbar erwies. In ästhetischer Hinsicht führte sie zu grundlegenden künstlerischen Veränderungen, die aber auf einer strukturellen Ebene nichts an dem Waren- oder Produktstatus des Kunstwerks änderten, vor allem, weil sie von einem sehr schmalen Produktbegriff ausgingen. Ästhetisch gesehen ging die Konzeptkunst hinter Geschmacksstandards zurück (nicht ohne dabei zugleich neue zu setzen). Aber sie unterschätzte, dass grundsätzlich alles eine Ware sein kann, auch ein bloßes Stück Papier, solange es jemanden gibt, der darin einen Wert sieht. Die Favorisierung der Idee an sich greift den Warencharakter des Kunstwerks überhaupt nicht an. Ein Werk, das, wie bei Lawrence Weiner, nur als sein Surrogat, nämlich als Zertifikat, käuflich ist, mag den Aquisitions- und Sammlungsprozess ein wenig verkomplizieren, aber strukturell und faktisch ist dieses Werk natürlich genauso eine Ware wie alles andere, was auf Märkten gehandelt wird. Es liegt so gesehen sogar ein gewisser Elitismus darin zu glauben, dass diese Produkte nicht auch geschätzt und für Wert befunden werden könnten. Koons wählt eine andere Strategie der Auseinandersetzung mit dem Prinzip der Ware. Sein Ansatz ist nicht der einer Haltung oder Meinung, sei diese nun kritisch oder affirmativ, sondern vielmehr die Funktionsweise der Ware. Koons beschäftigt sich mit der kulturellen und gesellschaftlichen Bedeutung ihres Potentials, menschliches Begehren zu gestalten und auf diese Weise auf die Formung der Individualität einzuwirken. Er setzt bei dem an, was die Ware mit dem Kunstwerk verbindet und greift ihr formendes und affektives Potential auf. Als seine früheste ästhetische Erfahrung bezeichnet Koons sogenannte Readymade-Situationen: »Mein Vater war Innenausstatter. Durch ihn habe ich gelernt, dass die Umgebung Emotionen und die Art des Fühlens manipulieren kann.«12 Er beschreibt diese Situationen als bürgerliche Stillleben, in denen jeder Farbgrund und jede Anordnung der Objekte ein angenehmes Fluidum bildeten, das, je nach Stimmung, Affekte und Emotionen herstellen oder regulieren konnte. Seine frühen Arbeiten, wie zum Beispiel die in Neon beleuchteten Glasvitrinen präsentierten HOOVER-Staubsauger (1981 – 1986) oder die in einem quasi schwerelosen Gleichgewicht in Wassertanks schwebenden BASKETBÄLLE (1985), werden wie Readymades eines amerikanischen Mittelklasse-Lebensstils präsentiert. Koons wirft einen (nahezu marxistisch geprägten) Blick auf die Art und Weise, wie sich ein klassenspezifisches Selbstverständnis

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und das Begehren nach sozialem Aufstieg in Objekten und Gütern des Konsums manifestieren. Eine seiner Werkserien trägt den Titel EQUILIBRIUM, der bei Koons eine ästhetische, aber auch eine sozioökonomische Bedeutung hat, d. h. Aspekte der sozialen Mobilität, Ambitionen des Aufwärtsstrebens und ihre Kompensation in Luxusobjekten umschreibt. Interessant (bzw. effektiv) wird dieser Ansatz jedoch vor allem in dem Moment, in dem Koons beginnt, die Frage nach der Wirkung und Wirksamkeit auf die Kunst selbst anzuwenden und versucht, dieses affektive Verhältnis zu den Dingen von einer Ebene der Thematik in die einer ästhetischen Erfahrung zu überführen. Denn der Unterschied zwischen einer bloßen high/low-Zusammenführung und einer ReOrganisation der Aufteilung des Sinnlichen, die Kategorien wie high und low überhaupt erst hervorbringen, liegt darin, dass erstere auf der Ebene des Zeichens verbleibt, während letztere als eine am Kunstwerk gemachte Erfahrung performativ wirkmächtig wird. Rancière weist zu Recht darauf hin, dass Rauschenbergs Zusammenführung eines Autoschlüssels und einer Velasquez-Kopie auf einer Leinwand noch keine Auflösung der high- und low-Paradigmen bedeutet.13 Denn die Sphäre der Hochkunst und ihre Ausschlüsse werden dabei grundsätzlich weder verlassen noch verändert. Bei Koons hingegen vollzieht sich diese Zusammenführung auf einer Ebene des Sinnlichen und seiner Erfahrung. Seine Arbeiten sind darauf ausgerichtet, ein Begehren zu evozieren, das – quasi in einer Balance von Verstand und Empfindung – zugleich Medium der Verführung und der Reflexion ist. Koons integriert eine populäre Kultur nicht als Zeichen, sondern als Funktionsmodus, als Kommunikationsform ästhetischer Effekte. Er lässt die Grenzen zwischen high und low als sensorische Grenzen kollabieren und avisiert auf diese Weise eine Re-Organisation der Ordnung des Sinnlichen, wie Rancière sie beschreibt. Die Tatsache, dass sein Wertevorschlag (der Rekurs auf Kitsch, auf eine Ästhetik der unteren Klassen) tatsächlich als eine Umwertung der Ordnung des Sinnlichen wirksam wird, zeigt sich darin, dass seine Arbeiten für jene Rezipienten, für die eine andere – gegenwärtig dominantere – Ordnung des Sinnlichen maßgebend ist, entweder gar nicht verständlich sind oder suspekt erscheinen, bisweilen sogar eine Gefahr darstellen. Damit lassen sich die starken Reaktionen – wie die eingangs erwähnte – erklären. 1801 schreibt Schiller in einem seiner Briefe an Goethe, dass er aus Unzufriedenheit mit den Entwicklungen der deutschen idealistischen Theorie der philosophischen Ästhetik den Rücken zugewendet hat. Seine Kritik mündet in dem Vorwurf, dass »diese Herrn Idealisten ihrer

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Ideen wegen allzu wenig Notiz von der Erfahrung nehmen«.14 Der Umgang mit dieser aber sei es, der den Künstler auszeichne. »Es leben jetzt mehrere so weit ausgebildete Menschen, die nur das Vortreffliche befriedigt, die aber nicht im Stande wären, etwas zu machen, ihnen ist der Weg vom Subjekt zum Objekt verschlossen; aber eben dieser Schritt macht mir den Poeten.«15 Schiller stellt Goethe dann eine pragmatischere und empirischere Haltung vor, die von der poetischen Kommunikation vor allem die lebendige Gestalt fordert, was impliziert, dass ein Effekt auf die ganze Persönlichkeit, auf die Affekte und den Willen ausgeübt wird. In der Priorisierung der medialen Funktion des Ästhetischen, der Effektivität ästhetischer Kommunikation ließe sich vielleicht eine Begegnung der Positionen von Koons und Schiller konstruieren. Koons versucht, mit den formativen Effekten ästhetischer Kommunikation zu operieren und gleichzeitig alle Elemente des Kunstwerks zu reduzieren, welche die Ebenen subjektiver Intention, Repräsentation oder formaler Entscheidungen zu sehr betonen. Denn, so Koons: »Überläßt man die Kunst dem Monarchen, wird sie sein Ego widerspiegeln und schließlich dekorativ werden. Überläßt man die Kunst den Massen, wird sie das Ego der Massen widerspiegeln und ebenfalls dekorativ werden. Überläßt man die Kunst Jeff Koons, wird sie mein Ego widerspiegeln und schließlich dekorativ werden.«16 In dem Fokus auf die kulturellen und gesellschaftlichen Implikationen einer Wirkmächtigkeit des Kunstwerks liegt ein Grund, warum Koons ständig auf historische Epochen verweist, in denen die Kunst eine andere, zum Beispiel staatsbildende oder religiöse Funktion erfüllte. Sein Bewusstsein für die kommunikative und effektive Kraft ästhetischer Erfahrung erklärt auch sein Interesse am Barock, als einer Kunstform, die in ihrer ästhetischen Formen- und Materialsprache ganz auf die Modellierung und Manipulation eines Selbstgefühls ausgerichtet ist, sowie zum Rokoko, das als Meta-Diskurs einer Kunst fungiert, die mit ihrer eigenen Künstlichkeit operieren will. Weil der Rokoko-Stil im Bezug auf seine Klassenzuordnung ambivalent ist, spiegelt sich in ihm auf besondere Weise das Modell einer Gesellschaftshierarchie bezogen auf ihre Träume vom Geschmack. Zunächst als bürgerlich und antiabsolutistisch geltend, wurde das Rokoko nach der französischen Revolution mit Wohlstand assoziiert und deshalb genau im Lager des Ancient Régime platziert. Koons Interesse am Rokoko gründet vermutlich jedoch vor allem in der Art und Weise, wie es sich in Nippes-Gegenständen seit Mitte des 18. Jahrhundert tradiert hat. Die Ambiguität der Rokoko-Figurine wirkt dabei in unterschiedliche Richtungen. Sie bestätigt – ähnlich wie heute das Lesen von Gazetten wie Gala – eine

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bürgerliche Kultur und einen bürgerlichen Status und spiegelt gleichzeitig eine Sehnsucht nach gesellschaftlicher Mobilität, die sich zum Beispiel auf das Aristokratische richtet. Mitte der achtziger Jahre entsteht eine Arbeit, die zu den bekanntesten Werken von Koons gehört: der RABBIT. Koons hat das triviale Spielzeug in eine glänzende, sich quasi über alle sozialen und kulturellen Grenzen hinweg behaupten wollende Ikone transformiert. Der RABBIT gehört – neben Büsten von Ludwig XIV (dem Monarchen) und Bob Hope (die Identifikationsfigur der Masse) – zu der SkulpturenWerkgruppe STATUARY, die alle aus rostfreiem Edelstahl gefertigt sind, das Koons als Platin für Arme bezeichnet, weil es die Eigenschaft des Kostbaren simuliert und zugleich mit seiner reflektierenden Oberfläche eine nahezu verschmelzende Beziehung des Betrachters zu dem Kunstwerk herstellt. Es ist praktisch unmöglich, das Kunstwerk zu sehen, ohne sich selbst zu sehen, so dass Fragen der Erkenntnis, der Interpretation und des Verstehens hinter die Involvierung des Betrachters in das Werk zurücktreten. In gesteigerter Form werden diese Effekte in den vielen Spiegel-Arbeiten erfahrbar, die Koons produziert hat. Es gibt ganze Spiegel-Räume, in denen man sich selbst und die anderen Besucher z. B. bei der Betrachtung des rosa gefärbten Spiegelbildes in einem riesigen Comic-Elephanten beobachtet. Der Akt der Kunstbetrachtung oszilliert dabei zwischen dem ständigen Aufheben und Neuschaffen von Distanz. Die Betrachtung des eigenen Spiegelbildes hebt die Trennung zum Kunstwerk auf – das Bewusstsein, bei diesem Vorgang unter Beobachtung zu stehen und selbst zu beobachten, führt sie wieder ein. Dass eine Kunst, die sich in einem solchen Sinne als eine Art Situationsgestaltung beschreiben lässt, im Hinblick auf ihr Potential des Einwirkens auf die Situation an Grenzen stößt, wird in einer Koons-Retrospektive deutlich, die 2004 in Oslo zu sehen war.17 In einem Raum der Ausstellung wurden Gemälde aus seiner jüngsten Werkgruppe, der ETHEREAL-Serie, präsentiert. Es handelt sich dabei um großformatige Bilder, die ganz darauf zielen, die Eigenschaften der Verführung und Üppigkeit zu evozieren, die den Waren, die sie repräsentieren, eigen sind. Sie sind schön (mit dem Ziel, eine positive Reaktion hervorzurufen), sie streben nach Objektivität (danach, das Verstehen in die eigene Wahrnehmung zu stärken, man kennt und erkennt, was man sieht), sie zeigen etwas Bekanntes (um von der Frage des Verstehens zu dem Prozess des Erinnerns zu verschieben) und sie reflektieren den Betrachter (um die Interpretation zugunsten eines Involviertseins mit sich selbst aufzuheben). Diese Bilder stehen für eine Haltung, ein Selbst- und Weltverhältnis, das in gewisser Weise als eine Art Gegenstrategie zur

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Kritik fungiert, die ähnliche Ideen und Ideale bedient (wie zum Beispiel die Vorstellung einer anders und offener gelagerten Form der ästhetischen Kommunikation), aber die Strategie verkehrt. An der Wand neben den Bildern war ein von Seiten des Museums verfasster Text angebracht, der das Verstehen der Kunstwerke vereinfachen sollte. Darin wurde der Betrachter aufgefordert, »diese Gemälde als einen Ausdruck der Leere und Vergänglichkeit unserer konsumorientierten Wohlstandsgesellschaft« zu lesen. Die Erklärung wurde hier deutlich als ein disziplinierender Ordnungsruf erkennbar. Sie trägt sogar Züge dessen, was Rancière Polizei nennt. Als könne Koons gegen ästhetische Regeln verstoßen, solange über den richtigen Diskurs die Ordnung des Sag- und Sichtbaren wiederhergestellt wird. Der Appell an die Gesellschaftskritik verkehrt sich auf einmal zum Ordnungshüter, der die Ordnung sicher stellt, innerhalb der die – vermeintlich kritische – Bedeutungsproduktion erfolgt. Obwohl Koons ein erfolgreicher und etablierter Künstler ist, scheint sein Diskurs derart randständig zu sein, dass selbst Leute, die ihn schätzen, ihn auf einer diskursiven Ebene nur in der doppelbödigen Figur des zum Schein, als quasi doppelte Negation, einordnen können. Als wäre es überhaupt nur kontextualisiert als Kritik möglich, Koons in einem Museum zu zeigen. Wendet man sich nun noch einmal Koons Artforum-Beitrag von 1987 zu, so wird deutlich, dass das programmatisch verkündete »criticality gone« natürlich nicht eine Negation der Kritik bedeutet. Eine Kritik der Kritik ist auch Kritik, und damit verbliebe Koons ja letztlich in demselben System. Es bedeutet auch nicht die Aufgabe einer kritischen Haltung, sondern vielmehr die Re-Organisation der Aufteilung des Sinnlichen, die dem Modus der Kritik unterliegt. Mit seinem, im Hinblick auf die eigenen Maximen vielleicht erfolgreichsten Werk, schafft es Koons tatsächlich, eine solche Re-Organisation erfahrbar zu machen. Die Rede ist von PUPPY, der monumentalen Blumen-Skulptur in der Form eines kleinen Hündchens, die der Künstler 1992 zuerst vor dem Schloss in Arolsen bei Kassel aufstellte und dann ein paar Jahre später vor dem Guggenheim Museum in Bilbao und dem Rockefeller Center in New York. Im Unterschied zu den meisten anderen seiner Werke bezieht sich PUPPY nicht auf einen bestimmten kulturellen Bereich. Es ist keine Referenz an die Welt des Kitsches, der Pornographie oder der Werbung, wie viele andere Arbeiten des Künstlers. PUPPY verbindet die Tradition des Monuments, der Überhöhung des Menschen und seiner Geschichte mit dem Organischen und der Natur. Erhöhung, Monumentalisierung des Organischen, das aber zugleich triviales Spielzeug ist. Es ist eines der wenigen Objekte, mit denen es

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Koons wirklich gelingt, die zelebratorische, generöse und zugleich integrative Aura hervorzubringen, von der er immer wieder spricht. In der Erzeugung eines quasi natürlichen Objekts – in Form eines zweckfreien monumentalen Riesenspielzeugs – hält der PUPPY dem Menschen das Prinzip seiner eigenen Selbstverwirklichung entgegen; eine ›lebendige Gestalt‹ als Resultat einer Formung, die – mit Schiller gesprochen – auf der Fähigkeit basiert, mit den Gegebenheiten der faktischen Welt spielerisch neue Welten zu entwerfen.

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Im Original: Rancière, Jacques: La Mésentente. Politique et Philosophie, Paris 1995. Deutsch: Das Unvernehmen. Politik und Philosophie, aus dem Französischen von Richard Steurer, Frankfurt/M. 2002. Ebd., S. 41. zitiert nach Rosenblum, Robert: »Über Jeff Koons«, in: Anthony d’Offay Gallery (Hrsg.): Das Jeff Koons Handbuch, München, Paris, London 1992, S. 23. Jeff Koons im Gespräch mit Giancarlo Politi: »Luxury and Desire. An interview with Jeff Koons«, in: Flash Art 132 (1987), S. 73. Koons, Jeff: »Baptism: A Project for Artforum«, in: Artforum 26 (1987), S. 101 – 107. Jeff Koons im Gespräch mit Mary Anne Straniszewski: »Jeff Koons, Conceptual Art of the ’60s and ’70s alienated the viewer«, in: Flash Art 143 (1988), S. 114. Jeff Koons im Gespräch mit Jérôme Sans, in: museum in progress, Kunsthaus Bregenz (Hrsg.): KünstlerInnen. 50 Positionen zeitgenössischer internationaler Kunst, Köln 1997, S. 148. Ebd. Ebd. Jeff Koons im Gespräch mit Burke & Hare: »From Full Fathom Five«, in: Parkett 19 (1989), S. 47. Vgl. Buchloh, Benjamin H.D.: »Von der Ästhetik der Verwaltung zur institutionellen Kritik«, in: Syring, Marie Luise (Hrsg.): Um 1968: Konkrete Utopien in Kunst und Gesellschaft, Städtische Kunsthalle Düsseldorf, Köln 1990. Das Jeff Koons Handbuch, München et al. 1992, S. 5. Rancière, Jacques: »The Politics of Aesthetics«, Vortrag, gehalten in der Sommerakademie Frankfurt/M. am 8.9.2004. Schiller an Goethe am 27.3.1801, in: Gräf, Hans Gerhard / Leitzmann, Albert (Hrsg.): Der Briefwechsel zwischen Schiller und Goethe in drei Bänden, 2. Band: 1798 – 1805, Wiesbaden 1955, S. 367 Ebd., S. 368. Das Jeff Koons Handbuch, München et al. 1992, S. 76. Jeff Koons: Retrospektive, Astrup Fearnley Museet for Moderne Kunst, 4.9. – 12.12.2004.

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POETIK UND WISSEN: DER KAMPF UMS SYMBOLISCHE

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DAS DURCHQUEREN DES FANTASMAS DER MODERNE: VON SCHILLER UND GOETHE BIS BRECHT

In mehreren Texten jüngerer Zeit behauptet Jacques Rancière mehr oder weniger explizit, dass sich die Werke Schillers und Brechts innerhalb einer Logik verorten lassen, die er als »ästhetisches Regime der Kunst« bezeichnet.1 Rancière konzidiert natürlich, dass Schillers ÜBER DIE ÄSTHETISCHE ERZIEHUNG DES MENSCHEN das Privileg zukommt, ein zentrales, produktives und nach wie vor unübertreffliches Paradoxon konstituiert zu haben: Das Ästhetische besetzt einen eigenen, separaten, autonomen Bereich, und dient gleichzeitig gewissermaßen als Modell einer neuen Lebensform der Gemeinschaft oder des Kollektivs. Brecht findet seinen Platz nur innerhalb dieser bereits eingeführten Begrifflichkeit. Strebte das ästhetische Regime historisch danach, das ursprüngliche Paradoxon in Richtung zweier gleichermaßen unrealisierbarer Extreme zu drängen – das des Wunsches nach einem Zusammenbruch des Ästhetischen, auf dass der Unterschied zwischen Kunst und Leben schwinde, und das des Bestrebens, die mühselig erworbene Autonomie um jeden Preis zu wahren – so lässt sich Brechts kritisches oder politisches Theater am besten als dritter oder Mittelweg begreifen, der einen unausweichlich an den Schillerschen Ausgangspunkt zurückführen muss. Das Theater muss seine ästhetischen Erfahrungen ausspielen, mit dem Ziel, letztlich die Koordinaten des Lebens in der Gemeinschaft neu zu konfigurieren, und gleichzeitig muss es sich aus dem Leben zurückziehen, um die eigene, spezifisch theatralische oder ästhetische Wirkungskraft beizubehalten. Der immer weitere Kreis, den das ästhetische Regime zieht, bleibt also notgedrungen ewig unvollendet. Von Schiller bis Brecht und weiter bis zu der wahrgenommenen Ohnmacht des Zeitgenössischen (die von Rancière als Krise oder funktionaler Zusammenbruch des kritisch-politischen dritten Weges diagnostiziert wird2), ist die Kunst, als privilegierter Ort der Ästhetik immer wieder, wenn auch positiv und produktiv, zum gleichen, ewigen Schwanken zwischen zwei Polen verdammt. Ich möchte nun im Folgenden die Achse Schiller-Brecht ein wenig anders konfigurieren, und damit Rancières Konzept eines »ästhetischen Regimes der Kunst« grundsätzlich in Frage stellen. Ich behaupte, dass

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Brecht sich nicht schlicht innerhalb einer bereits von Schiller bestimmten Begrifflichkeit positioniert, sondern als jemand gesehen werden muss, der den Schillerschen Knoten, der ja kein anderer ist, als der von ihm als einem der ersten formulierten Knoten des Modernismus, tatsächlich löst. (Es darf dabei allerdings nicht übersehen werden, dass Brecht diesen Knoten nicht zerschlägt, indem er grundlegend anders als Schiller agiert, sondern indem er eine Eigenschaft, die sich entgegen der Intention des Autors, in den Werken Schillers findet, erst zum Tragen kommen lässt.) Brechts fundamentale Bedeutung und seine grundlegende Besonderheit liegt also in genau dieser Tangentialität zum modernistischen Diskurs, wenngleich Modernismus hier nicht in dem stereotypen Sinn verstanden werden darf, gegen den sich Rancière so berechtigt wehrt. Das heißt, wir dürfen ihn nicht als die alte Geschichte von NichtGegenständlichkeit, Intransitivität und dem ewig Neuen begreifen.3 Vielmehr gilt es, den Modernismus als Antwort (oder eine lange Folge von Antworten) auf ein ganz spezifisches Problem zu erkennen, das sich – und hier nehme ich, inspiriert von T.J. Clarks beispielhafter Analyse meine Schlussfolgerung vorweg – wie folgt stellt: Ab einem bestimmten Augenblick in der Geschichte – und wenn wir mutig sein und ein konkretes Datum nennen wollen, so sei dies das Jahr 2 nach der Französischen Revolution – konnte das Kunstwerk nicht länger überzeugend von politischer Kontingenz getrennt betrachtet werden, weder in der Theorie, noch in der Praxis. Die Kontingenz des Politischen definierte sich dabei über das noch ungeklärte Auftauchen des ›Volkes‹ auf der Bühne der politischen Macht.4 Wir müssen die Moderne als eine Reihe von Versuchen verstehen, diese Trennung zu vollziehen, obgleich sie konstitutiv nicht gelingen kann. Der Modernismus scheitert immer und unausweichlich – wenn auch sein Scheitern eine Angelegenheit von höchstem Interesse ist – an den Grundfesten dieser Unmöglichkeit. Genau in dieser Hinsicht lässt sich Schillers Werk als eine der ersten – und deutlichsten – Formulierungen der Problematik des Modernismus sehen. In gleicher Weise können wir auch Brecht verstehen, der diese Problematik tatsächlich hinter sich lässt. Geht es in Schillers Werk, und in der Theorie, die diesem ja zu Grunde liegen soll, um die Verdrängung der politischen Kontingenz, von der es immer wieder berührt wird, will die Brechtsche »Methode«5 Offenheit ihr gegenüber als essenzielle Bedingung für erfolgreiches künstlerisches Schaffen konstituieren. Ich schlage daher die Brücke zwischen Schiller und Brecht, um zu zeigen, dass wir hier viel über den Anfang und das Ende des modernistischen Diskurses und seine wesentlichen, und typischerweise übersehenen Grundannahmen lernen können. (Anders als bei Rancière erkennen wir

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beispielsweise, dass, wenn es überhaupt eine Logik des ästhetischen Regimes gibt – und diese würde ich dann lieber modernistisch nennen –, diese nicht transzendental oder quasi-transzendental konstitutiv für das Feld der Kunst an sich ist, sondern vielmehr der ihr vorausgehenden Motivation zur Flucht vor oder Unterdrückung der politischen Kontingenz unterliegt.) Diese Argumente sollen jedoch nicht einfach und abstrakt in den Raum gestellt, sondern in der folgenden detaillierten Analyse konkretisiert werden. Zunächst erörtere ich Schillers und Goethes zweifelhaften Versuch, eine klare Trennung zwischen epischer und dramatischer Form herzustellen. Dieses Unterfangen lässt sich nur als Abwehrhaltung gegenüber der Tatsache begreifen, dass die politische Kontingenz die Sphäre des Kunstwerks beeinflusst bzw. in ihr wirkt. Ich möchte diese Behauptung durch eine Interpretation der beiden Werke belegen, an denen Goethe und Schiller in der Zeit ihres Diskurses über Epos und Drama arbeiteten. Es ist die Kraft der politischen Kontingenz, die in Goethes HERMANN UND DOROTHEA und Schillers WALLENSTEIN die epische Form gefrieren lässt und sprengt, womit die dramatische Form kollabiert. Während Goethes Epos zum Lächerlichen tendiert, vermittelt uns Schillers schmerzhafte Auseinandersetzung mit dem tatsächlichen Kollaps seiner dramatischen Praxis allerdings eine bedeutende Einsicht: Obgleich sich die Narben der politischen Repression durch das Gesamtwerk Schillers ziehen, brechen sie nur in seinen Dramen, und insbesondere im WALLENSTEIN blutig auf: Erst wenn wir uns auf das Scheitern der Schillerschen Dramenpraxis konzentrieren, können wir das Scheitern seiner dramatischen und ästhetischen Theorie in Gänze erfassen. Im letzten Teil meines Textes beschreibe ich, wie es Brecht gelingt, durch die Überwindung dieser Repression, die Problematik des Modernismus tatsächlich hinter sich zu lassen. Damit erfüllt meine Analyse auch die Funktion der Kritik an Rancières Konzept eines ästhetischen Regimes und bietet sich als im Frühstadium befindliche Alternative an.

1 Bekanntermaßen erörtern Schiller und Goethe ihre Unterscheidung zwischen Epos und Drama in einer Reihe von Korrespondenzen zwischen April und Dezember 1797.6 Die Schlüsselbegriffe ihrer Differenzierung sind uns vertraut, und sollen hier nur kurz wiederholt werden. Sie lassen sich am besten als eine Kette von Gegensätzen beschreiben. Während die Unabhängigkeit und die Interessengleichheit der Elemen-

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te des Epos dieses in die Kategorie der Substantialität verweisen, und von den Zwängen des Inhalts und der damit verbundenen Darstellung weitgehend befreien, steht das Drama unter dem Zeichen der Kausalität und ist gezwungen, ständig Hindernisse zu überwinden, um sich der Schlussfolgerung anzunähern. Sieht das Epos von Affekt und Überraschung ab, interessiert es sich nur für die Handlung, die es als reines Mittel präsentiert, das von den Protagonisten verstanden oder bewusst ersehnt wird, dann präsentiert das Drama die Handlung als Selbstzweck, als etwas, das schicksalhaft das Verständnis des Helden übersteigt. Nach Goethes fast definitiver Zusammenfassung – die Schiller nur um wenige Sätze ergänzt – zeigt das Epos die Taten aktiver, nach außen orientierter Männer als abgeschlossene Vergangenheit, und präsentiert sich selbst als etwas, das der Leser oder Zuhörer frei handhabt. Seine Eigenschaften finden sich metaphorisch integriert in die Person des Rhapsoden, ein kluger Mann, der ruhig und umsichtig den Überblick über die Ereignisse, von denen er berichtet, bewahrt. Der Rhapsode darf keinesfalls in seinem eigenen Werk auftauchen. So liest er seinen Part hinter einem Vorhang stehend, und gewährleistet damit, dass sein friedliches und reflektierendes Publikum von jeglicher Persönlichkeit abstrahiert und sich allein dem »universellen Klang der Musen« hingibt.7 Das Drama beschreibt, im Gegensatz dazu, das Leiden der Menschen in der Binnenperspektive als absolut präsent. Handlung im Drama ist etwas, was frenetische Bewegung vor unseren Augen bedeutet. Die entsprechende Figur ist der Mime: ein bestimmtes Individuum, das das Publikum am eigenen Leiden teilhaben lassen und sich des eigenen Selbst weniger bewusst sehen möchte; ein Individuum, das will, dass das Publikum Denken und Reflektion einstellt, und sich unter unaufhörlichem Drängen hingibt. Wenngleich hier zahlreiche Gegensätze zu beobachten sind, wollen wir uns für unsere aktuellen Zwecke auf eine Dimension beschränken. Für Goethe und Schiller ist die ultimative Voraussetzung des Epos die Möglichkeit der Öffnung eines Raumes reflektiver Distanz; die ultimative Voraussetzung des Dramas liegt dagegen in einer Verringerung dieser Distanz zu Gunsten der unmittelbaren Beteiligung (Was das für eine Brechtsche Analyse bedeutet, sollte hier bereits offensichtlich sein.) Allerdings geht es mir weniger um die Differenzierung an sich, als um den Versuch, sie spezifisch zu verfremden. Warum ist es genau in diesem historischen Moment für Goethe und Schiller so wichtig, einen deutlichen Trennstrich zwischen den Qualitäten des epischen oder dramatischen Gedichts zu ziehen? Vergessen wir nicht, dass Hegel, weniger als dreißig Jahre später, in seinen Vorlesungen über die Ästhetik

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zwar seinen beiden poetischen Vorgängern in vielem Recht gibt, jedoch die epische Form unbeirrt in die primitiven Epochen der Menschheit verweist, d. h. in einer Zeit verortet, in der der Mensch ganz und gar mit den Objekten und Sitten der ihn umgebenden Welt eins war.8 Nach ähnlich langer Zeit baut Marx die definitive Qualifizierung in der Einführung zu den Grundrissen aus: Im Kontext eines sich ständig ausbreitenden Kapitalismus existieren die Bedingungen für die Produktion epischer Dichtung schlicht nicht mehr.9 Was bedeutet dann aber, an der Schwelle dieser Entwicklungen, Schillers und Goethes Rückzugsgefecht? Auf diese Frage geben die Autoren des Briefwechsels je eine und dies in hohem Maß ungleich überzeugende Antwort. Goethe ist zweifellos weniger gewinnend, und es ließe sich durchaus behaupten, dass er projiziert: Das Publikum wird verantwortlich gemacht für ein Problem, mit dem der Dichter nicht fertig wird. Indem es nicht gelingt, das Kunstwerk in seine »reinen Bedingungen«10 einzubetten, und der Neigung zur inkohärenten Mischung der Genres nachgebend, verschreibt sich der moderne Künstler dem tyrannischen Wunsch seiner ebenso modernen Leser, Zuschauer und Zuhörer – ein Wunsch, der sich mit den Begriffen des Strebens nach einem dramatischen Realismus bestimmen lässt, d. h. als Wille, in jeder Darstellung das vollkommen und perfekt Wahre und Gegenwärtige zu entdecken. Goethes virulente Sprache ist bezeichnend: Im Gegensatz zu diesen »kindischen, barbarischen, abgeschmackten Tendenzen« sollte der wahre Künstler den Klassikern folgen und lernen, die Werke der Kunst mit »undurchdringlichen Zauberkreisen«11 zu umgeben. Offensichtlicher noch ist jedoch die Sinnlosigkeit der Aufgabe: »Aber wer kann sein Schiff von den Wellen sondern, auf denen es schwimmt?«,12 klagt Goethe. »Warum machen wir so selten ein Epigramm im griechischen Sinn? Weil wir so wenig Dinge sehen, die eins verdienen. Warum gelingt uns das Epische so selten? Weil wir keine Zuhörer haben.«13 Schillers Antwort – und das ist typisch in seinen Debatten mit Goethe – ist wesentlich interessanter und erlaubt faszinierende Einsichten, denen der Autor jedoch, und auch dies ist typisch, selbst letztlich nicht folgt. Wir wollen Epos und Drama unbedingt voneinander trennen, sagt Schiller, weil wir im Akt unserer gedichtlichen Praxis selbst merken, dass diese Trennung letztlich nicht vollzogen werden kann. Die freie und reflexive Distanz, die das Epos bestimmt, herrscht auch in der vermuteten sinnlichen Präsenz des Dramas, denn die »Dichtkunst« schafft die Distanz zu ihrem Gegenstand durch ihr eigenes Wesen. Schiller nennt diese Distanz, etwas verwirrend für die Ohren heutiger

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Zeit, »Idealität«. Umgekehrt findet die eingeschränkte und unmittelbare Partizipation, die das Drama bestimmt, ihren Platz auch im Epos, denn die Dichtkunst präsentiert und repräsentiert ihren Gegenstand genau in dem Augenblick, in dem es Distanz zu ihm schafft. Die Formen überlagern sich also, und zwar, so behauptet Schiller, im Verlauf und unter den Bedingungen der Geschichte. Wir müssen Epos und Drama als zu vermischende Genres sehen, denn die Situation, die ihre gänzlich voneinander getrennte Existenz erlauben würde, besteht nicht länger; es gibt keine Rhapsoden mehr, und keine Welt mehr für sie; Mittel und Kraft der griechischen Tragödie sind – bedauerlicherweise – redundant geworden. Doch sollte man, anstatt diese Tatsachen zu beklagen, sich ihnen mutig stellen. Schillers Kritik an Goethe kommt unverblümt daher. Es geht nicht darum, den Wunsch des Publikums nach Realismus zu verurteilen, sondern wir müssen versuchen, ihn durch die »Verdrängung der gemeinen Naturnachahmung«,14 wie Schiller es nennt, zu überwinden. Damit ihr Werk »sich reinigte«,15 müssen die Künstler von der Oper und den Chören des alten Bacchusfestes lernen; sie sollten ihr Werk um »symbolische Behelfe«16 ergänzen, die »in allem dem, was nicht zu der wahren Kunstwelt des Poeten gehört und … bloß bedeutet werden soll, die Stelle des Gegenstandes verträten«.17 Im Gegensatz zu Goethe, der sein Publikum für seine eigenen Schwierigkeiten verantwortlich macht, erkennt Schiller in diesen eine bedeutende Veränderung: Epische und dramatische Form beziehen sich nicht länger als strikte Gegensätze aufeinander, sondern beginnen, sich gegenseitig zu durchdringen und zwar – und hier wird auf erstaunliche Weise Hölderlin antizipiert – so, dass jegliche Kunst den Raum eines dialektischen Konflikts zwischen Unmittelbarkeit und Distanz besetzt. (Im zeitgenössischen Jargon formuliert, ließe sich sagen, dass es unmöglich wird, den Inhalt einer Äußerung von dem Ort, an dem sie gemacht wird, zu trennen; Brecht folgend könnten wir formulieren, dass wir von jetzt an zeigen müssen, und gleichzeitig zeigen, dass wir zeigen.) Schiller schreckt natürlich – zumindest in seinen Erörterungen über Epos und Drama (denn der Aufsatz ÜBER NAIVE UND SENTIMENTALISCHE DICHTUNG ist, wie später ausgeführt werden soll, eine andere Geschichte) – vor dieser Schlussfolgerung zurück, und bedient sich einer Plattitüde: reziproke Interaktion führt nicht zu Konfusion, denn der Künstler erfüllt weiterhin seine zeitlose und essenzielle Aufgabe der Verknüpfung von »Charakter mit Schönheit, Reinheit mit Fülle, Einheit mit Allheit«.18 Damit soll hier zunächst spekulativ gesagt werden, dass Schillers Zögern im Angesicht dieser Schlussfolgerung auf der Prämisse einer sie

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überlagernden Einschränkung beruht, nämlich dem – bewussten oder unbewussten – Unwillen, nach dem wahren Grund für die Vermischung von Epos und Drama zu fragen. (Dieser Unwille wird im o.g. Bezug auf die »symbolischen Behelfe« angedeutet; werden diese eingeführt, damit Kunst das bezeichnen und darstellen kann, was nicht wirklich in ihre Domäne gehört, oder geht es darum, sie zu reinigen und vor der Bedrohung von außen zu schützen?) Was wäre denn dieser wahre Grund? Wovor muss sich das Kunstwerk, zumindest in seiner Schillerschen Form, schützen? Die Antwort auf diese beiden Fragen ist, so möchte ich behaupten die gleiche: Epische und dramatische Form fließen ineinander, weil das innere Sanktuarium des Kunstwerks von der fremden Logik der politischen Kontingenz erfüllt ist; und es ist genau diese Kontingenz, die eine bestimmte Art von Kunst, die ich in der Folge modernistisch nenne werde, erfolglos abzulegen versucht. (Ich würde letztlich behaupten wollen, dass es diese Kontingenz des Politischen ist, die – auf eine in vielen ästhetischen und philosophischen Diskursen kaum zur Kenntnis genommenen Weise – den Raum zwischen dem Inhalt und dem Ort einer Äußerung öffnet, d. h. den Raum zwischen dem, was gezeigt wird, und dem Faktum oder der Praxis des Zeigens selbst.) Selbst in den Briefen finden sich Spuren der Angst, die Goethe und Schiller angesichts dieser Kontingenz verspüren. Epos und Drama können nicht vom Menschen handeln, sagt uns Goethe, wo dieser »moralisch, politisch, mechanisch«19 funktioniert. Wenn es für sie überhaupt einen »sittlichen Gegenstand«20 gibt, dann ist er von einem ungebrochenen, unmittelbaren Wesen, am besten geeignet für die Formen der klassischen Dichtung. Unbeabsichtigt amüsant schreibt Schiller an Goethe: »Unser Freund Humboldt, […] bleibt mitten in dem neugeschaffnen Paris seiner alten Deutschheit getreu, und scheint nichts als die äußere Umgebungen verändert zu haben. Es ist mit einer gewissen Art zu philosophieren und zu empfinden wie mit einer gewissen Religion; sie schneidet ab von außen und isoliert, indem sie von innen die Innigkeit vermehrt.«21 Diese Spuren sprechen für sich, und so möchte ich mich nicht weiter bei ihnen aufhalten, sondern mich den viel produktiveren Widersprüchen der dichterischen Praxis zuwenden. In Goethes HERMANN UND DOROTHEA und Schillers WALLENSTEIN beobachten wir die Wandlung des Epos zum Drama und des Dramas zum Epos unter den spezifischen Zwängen der politischen Kontingenz und erkennen deren zunehmend konkretere und immer weniger von der Popularisierung der Politik trennbare Form.

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2 Wollten wir HERMANN UND DOROTHEA in einem Satz zusammenfassen, so würden wir sagen, dass sich in diesem Werk Form und Inhalt verständnislos über die beiden Seiten einer unüberwindlichen Kluft hinweg anstarren. Bereits die flüchtige Beschreibung verdeutlicht dies. Das protestantische Exil wird in der Beschreibung aus einer historischen Periode übernommen und in einen eigenen, neuen, politischen und zeitgenössischen Kontext eingebettet. Goethes Poem erzählt uns von Dorotheas Flucht vor dem anhaltenden »Schrecken« der französischen Revolution in die liebenden Arme ihres künftigen Ehemannes. Den prosaischen Rahmen der Handlung steckt der Autor, der sich an die aus der klassischen Form des Epos abgeleiteten oder aktualisierten Erfordernisse hält: Das Gedicht ist strikt in Hexametern komponiert; die Titel verbinden (Herodot folgend) die neun Gesänge des Epos mit der gleichen Zahl der Namen der Musen; eine rüde dazwischen geschobene, pseudohomerische Stimme appelliert an das Wohlwollen dieser Musen und betont und kündigt die recht banalen, wenn auch nicht unschuldigen, Äußerungen der Personen im Stück an. So lernen wir, dass Intelligenz den »Reichen geziemet«,22 und »Wer nicht vorwärts geht, der kommt zurücke!«.23 Ich möchte mich intensiver mit Schillers WALLENSTEIN befassen, und so soll an dieser Stelle nur auf einige Motive verwiesen werden, die die recht unbeholfene Anpassung einer vorgeblich ruhigen epischen Form – die Goethe, geradezu symptomatisch, nur durch höhere plumpe Ironie gewährleisten kann – an den unterdrückten, falsch verstandenen oder verdrehten politischen Charakter des Inhalts verdeutlichen. Genauer gesagt möchte ich, entsprechend dem Vorgesagten, diese beiden Motive nutzen, um zu illustrieren, wie die angenommene reflexive Distanz der epischen Form faktisch von einer Art ›Drama‹ überwältigt wird, das nicht länger in den explizit individualistischen und psychologischen Grenzen gehalten werden kann, die Goethe und Schiller ihm setzen wollen. Dieses Drama nimmt vielmehr, wenn auch in hoffnungslos unbewusster Weise, eine politische Form an, die unmittelbar mit den radikalisierenden und popularisierenden Konsequenzen der französischen Revolution assoziiert wird. Das erste Motiv ist das der Zuschauerschaft, oder, im Debordschen Sinn, das der Spektakularisierung. Es fällt auf, dass Goethe die reflexive Distanz, die er als notwendiges Element des Epos betrachtet, nur erreichen kann, indem er seine Charaktere mit den statischen Qualitäten der passiven Beobachtung ausstattet. Hermanns Eltern, die Nachbarn, der Apotheker und Priester, und schließlich Hermann selbst begegnen dem

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Schicksal der von ihnen wie in einem Panoptikum betrachteten politischen Exilanten in einer wechselhaften Mischung aus Furcht und Erleichterung. Sie sind erleichtert, da ihnen selbst das Schicksal des Exils bislang erspart blieb (ihre Wohltätigkeit, ihre Almosen für die Flüchtlinge werden beschrieben als ihr Weg, die Katastrophe aus ihrem Bewusstsein zu verdrängen). Gleichzeitig spüren sie Furcht oder Panik, da ihnen doch bald Ähnliches blühen kann. Im Kontext der Passivität des Zuschauers angesichts des eigenen und des fremden »Schicksals« (signifikanterweise wird dieses eminent politische Schicksal mit einem »schrecklichen Brand« verglichen, der viele Jahre zuvor die Stadt heimgesucht und zerstört hatte), finden zahlreiche, fragile Überlegungen zur Vergänglichkeit des Eigentums ihren Platz. Hermanns Vater muss »den Schlafrock mit indianischen Blumen, Von dem feinsten Kattun, mit feinem Flanelle gefüttert«24 hingeben; seine Mutter, eilig den Sohn suchend, »durchschreitet« ihr Land. Sie bleibt dann unerklärlicherweise stehen, um »die Fülle der Trauben« zu konstatieren und sich daran zu erfreuen, dass das Land, auf dem sie geht, und die Felder, die sie bestellt, noch »ihre eigenen«25 sind; alle fürchten die Zerstörung einer »blühende[n] Stadt, […] erst durch die Hände fleißiger Bürger neu aus der Asche erbaut«,26 und der Apotheker verleiht auf beeindruckende Weise seiner Zufriedenheit darüber Ausdruck, dass er in Zeiten wie diesen ledig ist: »Hab ich die Barschaft gerettet und meinen Körper, so hab ich Alles gerettet; der einzelne Mann entfliehet am leichtsten«.27 Und selbst da, wo kein Ungemach von unten droht, fährt er fort, ist es schwer genug, ja fast unmöglich, ohne die »Fülle des Gelds«28 mit den ständig wechselnden Phantasmagorien der Mode Schritt zu halten. Das zweite Motiv – und hier lassen wir uns von Fredric Jameson29 inspirieren – soll als erzwungener Erzählfluss bezeichnet werden. Über den Verlauf des Goethe-Gedichts wacht ein unerbittlich guter Geist. Die Hindernisse, die der Vereinigung der Liebenden entgegen stehen – ein Sturm, das Stolpern an der Schwelle des Hauses und ein »witziges«, auf Klassendenken beruhendes Missverständnis: Dorothea glaubt ursprünglich, dass sie die neue Magd Hermanns und seiner Familie werden soll – sind sichtbar künstlich; eine Reihe bewusst homerischer Einwürfe erinnert uns darüber hinaus ständig an das unvermeidlich glückliche Ende der Geschichte. (In seinen Briefen an Schiller bestimmt Goethe diese Herrschaft des Wohlwollens als wesentliche Bedingung, damit das Epos überhaupt in reflexiver Distanz zu den beschriebenen Ereignissen entstehen kann.30) Auffällig ist jedoch, dass der Text dieses Wohlwollen nur gewährleisten kann, wenn er den Stoff der politischen Kontingenz fragil handhabt – wir könnten auch sagen, verzerrt. Die

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abstrakt wahrgenommenen »Schrecken« des politischen Exils sind – abgesehen von der Bedrohung, die sie für dieses kleinbürgerliche Milieu darstellen – nur insofern bedeutend, als sie die Ehewilligen in ihrem besten Licht zeigen. Dorothea hilft der »Frau des reichen Besitzers«31 bei der Geburt ihres Kindes, und verteidigt die eigene Ehre, wie die der anderen, weil sie sich eigenhändig gegen die Avancen der französischen Soldaten wehrt. Hermann wählt seine Frau in dem Moment ihrer größten Not, und beglückwünscht sich sogar noch zur Tatsache, dass er zu ihrem Schutz eilt. Noch unbeholfener, falls das überhaupt möglich ist, ist die Konstruktion des politischen Terrors als deus ex machina mit dem die losen Enden der Erzählstränge miteinander verknüpft werden. Eine Zeit lang glaubt Hermann, dass Dorothea bereits an ein anderes Eheversprechen gebunden ist. »Glücklicherweise« fiel der Konkurrent jedoch der Guillotine zum Opfer, und uns wird so – in zeitlich unmöglicher Form – eine Lehre über den Verlauf der Revolution erteilt, die eine neue, und dieses Mal glückliche Verbindung bestimmen wird. Die Lektion selbst ist dabei (wenn wir nicht an Heine, Marx und den späten Engels denken, sondern an Kant, Schiller, Hegel und Moses Hess32) typisch deutsch: Zustimmend ist zunächst die Rede von Revolution und der lobenswerten »Liebe der Freiheit«,33 doch schnell verkommt diese unter dem Einfluss der »eigennützigen Menge«34 und führt entweder zur altvertrauten »Verderbtheit«, »Herrschaft« und »Bedrückung«35 oder, im Widerspruch dazu, durch den Zusammenbruch von Recht, Ordnung und Staat,36 zum Chaos des natürlichen Zustands. Das Schicksal nimmt seinen Lauf, die Moral der Geschichte ist klar, und das zweite Motiv schließt sich nahtlos an das erste an: Angesichts der dauerhaften Folgen der Revolution sollen wir die Unsicherheit in Bezug auf das, was (zu) uns gehört, so gut wir können »genießen« und »bewahren«.37 »Schätze das Leben nicht höher / Als ein anderes Gut, und alle Güter sind trüglich!«38 – »›Dies ist unser!‹ – so laß uns sagen und so es behaupten!«39 So erkennen wir, zusammenfassend, wie die beabsichtigte Ruhe in Goethes »bürgerlichen Idylle«40 (und dies sind seine Worte) angesichts der spezifischen Zwänge seines eigenen Bezugs auf die Revolution unvermeidlich der dramatischen Unsicherheit weicht und sich in dem, was adäquater als Epos der bürgerlichen Angst genannt werden kann, auflöst. Auf Schillers WALLENSTEIN lastet das gleiche Gewicht historischer und politischer Kontingenz, und doch bewegt es sich diametral in entgegengesetzter Richtung: Die intendierte Unmittelbarkeit seiner dramatischen Partizipation weicht, trotz der Bemühungen des Autors, einer neuen epischen und reflexiven Distanz, die sich vom Politischen praktisch nicht trennen lässt. (Während er an diesem Dramenstoff

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arbeitet, teilt Schiller Goethe mit, dass er das Gefühl hat, ein »epischer Geist«41 wache über ihn.) Zunächst fällt an diesem Werk – neben der typisch flachen Sprache, angesichts derer uns nicht überrascht, dass Brecht den späten Schiller im Gegensatz zu Lukretius als paradigmatisches Beispiel für die Verwendung gestusfreier Sprache42 wählt – eine formale Besonderheit auf. Schillers ursprüngliche Absicht, die konventionelle Tragödie in fünf Akten zu schreiben, machte eine seltsame Wandlung durch. Wir sehen uns dazu angehalten, einen (anlässlich der Wiedereröffnung des Weimarer Hoftheaters 1798 geschriebenen) Prolog zu lesen, in dem eine Parallele zwischen den aktuellen Napoleonischen Kriegen und dem längst beendeten Dreißigjährigen Krieg gezogen wird; eine vorläufige Schilderung des Kräftefeldes der Interessenskonflikte, von denen Wallenstein in seinem Lager umgeben ist; und zwei verflochtene Tragödien in fünf Akten – die des Wallenstein und die des Max Piccolomini. Es ist nur natürlich, dass Schiller in seiner Korrespondenz mit Goethe diesen schmerzhaften Kampf, in dem einem schrecklich widerspenstigen politischen und historischen Stoff eine kohärente ästhetische und künstlerische Form aufgezwungen werden soll, in aller Ausführlichkeit beschreibt (umso mehr, als dieses Bemühen noch durch die Tatsache erschwert wird, dass Schiller diesen Stoff ja zuvor schon in die umfassende, wenn auch ein wenig idealistische GESCHICHTE DES DREISSIGJÄHRIGEN KRIEGS geformt hatte). So soll an dieser Stelle in aller Kürze und schematisch eine Interpretation des WALLENSTEIN skizziert werden, die diesem Bemühen gerecht wird und sein Wesen erklärt, eine Lesart, die vermittelt, wie die Stücke letztlich in zwei nicht miteinander versöhnbare Aspekte zerfallen – den ästhetischen oder dramatischen Aspekt der beiden Tragödien, und den embryonaleren politischen Aspekt des ihnen vorausgehenden Textes. Diese Aufspaltung lässt sich als eine Art Testament Schillerscher Integrität verstehen, d. h. begreifen als ein Zeichen seiner Weigerung – entgegen eigener manifester Absicht – die ureigene Logik historischer und politischer Umstände den radikal unangemessenen Anforderungen einer bestimmten Form der Dramenkunst zu unterwerfen. Indem er dem Einfluss oder der inneren Kraft dieser Kontingenz nachgibt, schafft Schillers Stück eine epische Distanz, die nicht länger ruhig und allgegenwärtig die beschriebenen Ereignisse außerhalb bestimmt, sondern sich auf ihre Ebene selbst begibt. Dies ist dann nichts Anderes, als eine Antwort auf ihre konstitutive und unauslöschliche Unmittelbarkeit und ihr inhärent politisches Wesen. Beginnen wir also mit Schillers fragilen Versuchen, dem Stoff eine ästhetische und dramatische Form aufzuzwingen. Hierzu fassen wir

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zunächst die beiden ›Tragödien‹, die sein Drama beschreibt, kurz zusammen. (Auf WALLENSTEINS LAGER komme ich später zu sprechen). Die Tragödie des Wallenstein rührt angeblich aus einer grundlegenden, karikaturesken Charakterschwäche. Den großen General, ständig von wechselnden Allianzen mit Katholiken und Protestanten in Versuchung geführt, ereilt sein Schicksal, heißt es, weil er seine Entscheidungsfreiheit auf Kosten der Entscheidung selbst nicht aufgeben will. Sein Aberglaube – die Angst vor Geräuschen und der Glaube an die Omen seines Astrologen Seni – erscheinen als bloße Varianten dieses grundlegenden Wesenszuges. Die Tragödie des Max Piccolomini (ein erfundener Charakter in einem Schauspiel, das auf wahre historische Ereignisse zurückgeht) ist, überraschenderweise, wesentlich komplexer. Gezwungen, zwischen Wallenstein – dem Mann, den er, trotz des letztendlichen Verrats, als symbolischen Vater liebt – und einem wesentlich weniger beeindruckenden wirklichen Vater, Octavio, zu wählen, muss er sich für letzteren entscheiden, da er beim Kaiser im Wort steht. An diesem Dilemma scheitert er. Die Flucht in die erhoffte reine Liebe gelingt nicht (Schiller selbst erkannte die absolute Inkongruenz dieses Motivs im Kontext des Dramas43), und so geht der junge Piccolomini letztlich bereitwillig in den Gewalttod. Interessant an der ersten Tragödie, die von der ›Charakterschwäche‹ des Wallenstein handelt, ist, dass sie einen Bruch, gar eine tiefe Kluft in Schillers Theorie des tragischen Dramas verdeutlicht. Die wesentliche Voraussetzung dieser Theorie lässt sich mit Terry Eagletons jüngst geprägtem Begriff der »ideology of the tragic«44 beschreiben. Diese Ideologie steht der tatsächlichen Praxis der authentischen Kunst des Tragischen diametral entgegen. Mit Eagletons Begriffen gesprochen sucht diese Ideologie, der eine Vielzahl von Autoren und Kritikern anhängen, grundlegend die Ehre und Würde des Leidens zu bekräftigen (während die authentische Praxis der Tragik, von Sophokles bis Thomas Mann, dieses Leiden typischerweise als Erreichen eines im wahrsten Sinn des Wortes unerträglichen Limits artikuliert; die Grenze des Sündenbocks, Anawim oder Pharmakon, oder, um mit Lacan zu sprechen, das Até, der Raum »zwischen den beiden Toden«45). In Schillers typisch pseudokantianischer Abwandlung dieser Ideologie soll uns das tragische Drama zeigen, wie der Held pathetisch unter seinem phänomenalen Leid zusammenbricht, und es gleichzeitig erhaben in der Bekräftigung seiner noumenalen Freiheit überwindet.46 Schillers ganzer dramatischer Weg lässt sich als der gescheiterte Versuch verstehen, vorausschauend oder zurückblickend den Anforderungen dieser Theorie zu genügen. So stellt sich Karl in DIE RÄUBER schließlich seinem

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Schicksal und die Tatsache, dass er, wie eine der Personen im Stück sagt, »Schuld mit Wucher bezahlt«,47 ist aufgrund der strikt psychologischen Grenzen, innerhalb derer dies präsentiert wird, geradezu obszön. Sie werden – vorsichtig und nicht alles erfassend – von dem vage oder karitativ politischen Charakter seiner letzten Geste durchbrochen: Karl will gewährleisten, dass ein »Schelm […], der im Tagelohn arbeitet und elf lebendige Kinder hat«48 die Belohnung für seine Gefangennahme bekommt. (Das ganze Werk bemüht sich, wenn auch wenig entschlossen, ständig diese Grenzen zu durchbrechen.) Im späteren Werk, doch vor dem unerbittlichen Abtauchen in die Nebel der Vergangenheit (WILHELM TELL, DIE JUNGFRAU VON ORLÉANS, DIE BRAUT VON MESSINA etc.), scheint ein seltsamer Kompromiss erreicht worden zu sein: es ist der höhere Status des Marquis de Posa und der Maria selbst in DON CARLOS und MARIA STUART, die ihre würdige Herausforderung des Todes glaubwürdig erscheinen lässt, und sie, wenn auch immer noch ein wenig unbeholfen, mit der ihr unterliegenden Logik des religiösen und politischen Kampfes versöhnt. Einen völlig anderen Ansatz bergend, schiebt sich WALLENSTEIN nun zwischen diese beiden Stücke und begegnet Schillers Theorie vom tragischen Drama tatsächlich mit Not und Auflösung. Dies ist das Drama, in dem die Not des tragischen Helden eine entscheidende Wandlung durchmacht – in einer Weise, derer Schiller sich keineswegs bewusst war. Ein zentraler Charakter bemüht sich redlich, so zu handeln, wie ein tragischer Held Schillers handeln sollte, und scheitert letztlich katastrophal. Wallenstein möchte (in einer Logik, die obsessiven Neurotikern und Dekonstruktivisten vertraut sein dürfte) die eigene Entscheidungsfähigkeit um den Preis, niemals irgendetwas entscheiden oder tun zu müssen, bewahren. Doch als die Umstände ihn schließlich zwingen, eine Entscheidung zu treffen – die Kräfte des Kaisers haben sich gegen ihn verschworen, und er muss, jetzt oder nie, zu den Protestanten überlaufen – ist es zu spät. Um ihn herum nur noch Ruinen. Doch dieses Schicksal akzeptiert er nicht erhaben in angemessener Rede oder einem entsprechenden Monolog – wie de Posa oder Maria Stuart dies täten – sondern er wird schlicht von der Bühne gefegt, brutal ermordet, wie im richtigen Leben, von den Schergen des Kaisers. Wir hören nur »Dumpfe Stimmen – dann Waffengetöse – dann plötzlich tiefe Stille«.49 Diese selbst inszenierte Demontage der Schillerschen Dramentheorie sollte uns die drastische Unzulänglichkeit seiner ästhetischen und dramatischen Darstellung des Wallenstein vor Augen führen. Das Stück selbst gibt, durch die Erfindung der Person und des Dilemmas des Max Piccolomini, einen deutlichen Hinweis auf diese

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Unzulänglichkeit. Auch Piccolomini muss sich entscheiden, und das genau verweist auf die wahre historische und politische Problematik, mit der sein symbolischer Vater konfrontiert ist. Wallenstein möchte dem Kaiser nur im eigenen Interesse dienen, und dabei die Ehre und Loyalität wahren, die allein durch die echte Treue zum Kaiser gewahrt werden kann. Darum kann Piccolomini, als Wallenstein schließlich zu den Protestanten überläuft, nur noch gegen ihn die Partei des Kaisers ergreifen, selbst wenn dies letztlich seine eigene Not bedeuten wird. Mit marxistischen Begriffen formuliert, könnten wir sagen, dass Wallenstein sterben muss, weil er einen Fuß im Feudalismus behalten möchte, während der andere bereits im Strom des beginnenden Kapitalismus Halt sucht. (Nicht übersehen werden sollte, dass Wallensteins Erfolg bei der Rekrutierung seiner Armee in seinem enormen Reichtum gründet. Er investiert diesen, doch die verheerenden Verwüstungen seiner Armee machen ihn letztlich zu einer Form dauerhafter ursprünglicher Akkumulation.) Mit Lacans nachhaltig von Marx beeinflussten Worten können wir sagen, dass Wallensteins Subjektivität sozial aufgespalten ist, zwischen den beiden Feldern – dem des sich auflösenden Diskurses vom Herrn und Meister (interessanterweise braucht der Kaiser Wallensteins Geld) und dem des aufkommenden Diskurses von Universität und Kapital.50 Wallenstein möchte im Sinne des Letztgenannten funktionieren, doch die Privilegien des Erstgenannten behalten. Dabei kann es im Diskurs des Herrn und Meisters nur einen wahren Herrn und Meister geben (den Kaiser), während diese Autorität – sieht man vom unpersönlichen Prozess der Akkumulation selbst ab – im universitären oder kapitalistischen Diskurs fehlt. Schwer zu glauben, dass in seiner GESCHICHTE DES DREISSIGJÄHRIGEN KRIEGS Schiller einen weiten Weg geht und all das anerkennt (so dass wir schließlich im WALLENSTEIN eine Logik der Verdichtung und Verschiebung erkennen, die uns aus Hollywood-Filmen vertraut ist, mit dem leicht bizarren Vorbehalt, dass Schiller eine von ihm selbst geschriebene politische Geschichte ästhetisch und dramatisch verzerrt!). Die wahren politischen Pole des Wallenstein-Dilemmas, so lehrt uns Schiller in diesem Text – und diese verweisen auf seine Not – weisen in diametral entgegengesetzte Richtungen, denn durch Ambition versucht er zu erreichen, was nur die Tradition vermitteln kann: [In eben dem Maß, als sein äußerer Wirkungskreis sich verengte,] erweiterte sich die Welt seiner Hoffnungen, und seine schwärmende Einbildungskraft verlor sich in unbegrenzten Entwürfen, die in jedem andern Kopf als dem seinigen nur der Wahnsinn erzeugen

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kann. So hoch, als der Mensch nur immer durch eigene Kraft sich zu erheben vermag, hatte sein Verdienst ihn empor getragen; nichts von allem dem, was dem Privatmann und Bürger innerhalb seiner Pflichten erreichbar bleibt, hatte das Glück ihm verweigert. Bis auf den Augenblick seiner Entlassung hatten seine Ansprüche keinen Widerstand, sein Ehrgeiz keine Grenzen erfahren; der Schlag, der ihn auf dem Regensburger Reichstag zu Boden streckte, zeigte ihm den Unterschied zwischen ursprünglicher und übertragener Gewalt und den Abstand des Unterthans von dem Gebieter. Aus dem bisherigen Taumel seiner Herrschergröße durch diesen überraschenden Glückswechsel aufgeschreckt, verglich er die Macht, die er besessen, mit derjenigen, durch welche sie ihm entrissen wurde, und sein Ehrgeiz bemerkte die Stufe, die auf der Leiter des Glücks noch für ihn zu ersteigen war. Erst nachdem er das Gewicht der höchsten Gewalt mit schmerzhafter Wahrheit erfahren, streckte er lüstern die Hände darnach aus; der Raub, der an ihm selbst verübt wurde, machte ihn zum Räuber. Durch keine Beleidigung gereizt, hätte er folgsam seine Bahn um die Majestät des Thrones beschrieben, zufrieden mit dem Ruhme, der glänzendste seiner Trabanten zu sein; erst nachdem man ihn gewaltsam aus seinem Kreise stieß, verwirrte er das System, dem er angehörte, und stürzte sich zermalmend auf seine Sonne.51 Wir erkennen also, wie Schillers politische Geschichte des Wallenstein vorausblickend die in der Erfindung des Max Piccolomini gemachten Andeutungen zu Ende schreibt. Schließlich hat Wallensteins Not wenig oder nichts mit seiner anscheinend tragischen ›Schwäche‹ zu tun. Sie ist eher eine durch und durch politische, und die ›epische‹ Distanz, die sich im Stück ergibt, funktioniert als unbewusstes Register der politischen Dimension seines Untergangs. WALLENSTEINS LAGER ist, so gesehen, ein seltsamer Auswuchs, der sich auf den Hauptteil des Textes wie ein Symptom auf die Ursache bezieht. Hier manifestiert sich deutlich Distanz. Es ist ein erster Versuch über die konkurrierenden Kräfte von finanziellem Eigeninteresse, religiöser Tradition und hierarchischer Unterdrückung, die Wallenstein umgeben, und die ihn von der scheinbar psychologischen Natur seines Schicksals entfremden. (Brecht lernt seine Lektion aus dem Erleben des Schillerschen Helden, und macht sie explizit: Sein Drama ist schlicht voll von Charakteren, die alle möglichen Formen der politischen Not durchmachen, und vielleicht wiedergeboren werden. In der MUTTER COURAGE bietet Brecht sogar in Teilen eine Neuschrift des WALLENSTEIN, indem er sich bewusst auf den ›epischen‹ Anstrich des ›Lagers‹ bezieht, wobei der Begriff jetzt – in

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Abwendung von oder in der letzten Drehung der Schillerschen Schraube, es ist schwer zu entscheiden, welches der beiden – seine spezifisch Brechtschen Konnotationen aufweist.) Gewiss wäre es interessant zu fragen, warum Schiller (wie viele andere deutsche Idealisten) sich genötigt fühlt, genau in dem historischen Augenblick eine Ideologie des Tragischen zu formulieren, in dem die Not des tragischen Helden praktisch untrennbar mit dem Trend zur Popularisierung der Politik verbunden ist. Ich möchte an dieser Stelle aus meiner Interpretation des WALLENSTEIN jedoch nur zwei Schlussfolgerungen ziehen, die bei der Lektüre der explizit theoretischeren Arbeiten Schillers nicht übersehen werden sollten. Zum einen ist klar, dass Schiller der Versuchung erliegt, die weitgehend nicht handhabbare (und dennoch dramatisch und ästhetisch darstellbare) Logik der historischen und politischen Umstände zu entstellen.52 (Brecht, so behaupte ich dagegen, stellt diese Kontingenz dar und bleibt gegenüber der Tatsache, dass sie letztendlich nicht beherrschbar ist, und dass es traumatischen Widerstand gibt, offen. Das unterscheidet ihn von der Tradition des Modernismus insgesamt.) Diese Versuchung, der Schiller erliegt, muss insbesondere bei der Lektüre der ÄSTHETISCHEN ERZIEHUNG DES MENSCHEN berücksichtigt werden. Das gesamte Werk ist vom Wunsch geprägt, dieser Versuchung nachzugeben, doch die Schlüsselpassagen finden sich im »Fünften Brief«. Hier verschiebt Schiller auf gar nicht subtile Weise die falsch verstandenen politischen Konflikte der Französischen Revolution und sieht sie als vulgär klassenabhängig geprägt und letztlich philosophische Kategorien, angesichts derer sich der Marx des 18TH BRUMAIRE im Grabe herumdrehen würde. Es ist weiterhin zu betonen, dass selbst da, wo sich, wie vor allem im WALLENSTEIN, die ›epische‹ Distanz des Politischen im Werk Schillers findet, der Autor an keiner Stelle die Tatsache zur Kenntnis nimmt, dass sie von eminent politischer Natur ist. Vergessen wir das nicht bei unserer Interpretation Schillerscher Texte, die Brecht vorwegnehmend erscheinen könnten, weil er dem dramatischen Werk eine konstitutive und unvermeidliche Distanz zuschreibt: Es kommt in den Sinn die bereits genannte Korrespondenz mit Goethe, der Aufsatz ÜBER NAIVE UND SENTIMENTALISCHE DICHTUNG und der kürzeren Text ÜBER DEN GEBRAUCH DES CHORS IN DER TRAGÖDIE. Auffällig in diesen Schriften ist, dass Schiller, in dem Moment, in dem er die dem Drama und der Dichtung eigene ›epische‹ und reflektierende Distanz zulässt, unmittelbar gezwungen ist, sie unter einer explizit nicht-politischen Logik zu subsumieren.53 In ÜBER NAIVE UND SENTIMENTALISCHE DICHTUNG findet sich die reflektierende Distanz des modernen und sentimentalen Dichters beispiels-

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Howard Rouse

weise letztlich – entsprechend einer Logik der Sehnsucht nach der verlorenen Harmonie, die die drei relevanten Genre der Satire, des Idylls und der Elegie bestimmt – eingeschrieben in eine konfliktfreie Geschichtsphilosophie, die sich unmittelbar von den Verschiebungen der ÄSTHETISCHEN ERZIEHUNG ableiten lässt. Die seltsamen Strategien des Modernismus sind bereits angelegt.

Aus dem Englischen von Lilian-Astrid Geese.

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Vgl. Insbes. Ranciere, Jacques: Esthétique et Politique (2000) und »The Aesthetic Revolution and its Outcomes«, in: New Left Review 14 (März – April 2002), S. 131 – 351, »The Thinking of Dissensus: Politics and Aesthetics«, Vortrag zur Konferenz ›Fidelity to the Disagreement: Jacques Ranciere and the Political‹, London: Goldsmiths College, 16. – 17. September 2003, http://homepages.gold.ac.uk/psrpsg/ranciere.doc, und »The Politics of Aesthetics«, http://theater.kein.org/node/99. Diese Texte erörtern Schillers grundlegende Rolle; der letztgenannte Artikel befasst sich detailliert mit Brecht. Vgl. die letzten Seiten in Esthétique et Politique. Vgl. Esthétique et Politique (engl. Übs. The Politics of Aesthetics, S. 53f.) Vgl. Clark, T.J.: Farewell to an Idea: Episodes from a History of Modernism, New Haven und London 1999, insbes. Kapitel. »Painting in the Year 2«, S. 15 – 53. Jameson, Fredric: Brecht and Method, London und New York 2000. Vgl. Der Briefwechsel zwischen Schiller und Goethe, Frankfurt/M. 1977, S. 363 – 385 und 497 – 530. Ebd., S. 523. Vgl. Hegel: Vorlesungen über die Ästhetik, Band II Vgl. Karl Marx: Grundrisse, S. 110f. Briefwechsel, S. 518. Ebd. Brief 391. Ebd. Ebd. Brief 393. Ebd. Brief 394. Ebd. Ebd. Ebd. Ebd. Ebd. Brief 391. Ebd. Ebd. Goethe: Werke, Jubiläumsausgabe, Band 6 (Frankfurt/M.: Insel Verlag, 1998), S. 171. Ebd., S. 142. Ebd., S. 128. Ebd., S. 144f. Ebd., S. 132. Ebd., S. 135. Ebd., S. 142. Vgl. Fredric Jameson: The Political Unconscious: Narrative as a Socially Symbolic Act, Ithaca: Cornell University Press, 1981. Vgl. Briefwechsel, S. 376 f. Werke, S. 134. Zu radikalen Unvereinbarkeit dieser beiden Reaktionen auf die Revolution im Zusammenhang mit diesen Namen vgl. Stathis Kouvelakis: Philosophy and Revolution: From Kant to Marx, Übs. G. M. Goshgarian (London und New York: Verso, 2003). Werke, S. 182. Ebd., S. 159. Ebd. Ebd. Ebd., S. 184.

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Ebd., S. 183. Ebd., S. 184. Ebd., S. 542. Briefwechsel, S. 504. Vgl. Bertolt Brecht,: »On Rhymeless Verse with Irregular Rhythms«, in: Brecht on Theatre: The Development of an Aesthetic, Hrg. und Übs. John Willett (London: Methuen, 1964), S. 115 – 120, bes. S. 117. Briefwechsel, S. 511f. Vgl. Eagleton, Terry: Sweet Violence: The Idea of the Tragic (Oxford: Blackwell, 2003). Eagleton bietet eine gelungene Zusammenfassung in »Tragedy and Revolution«, in: Theology and the Political: The New Debate, Hrg. Creston Davis, John Milbank und Slavoj Zizek (Durham: Duke University Press, 2005), S. 7 – 21. Vgl Lacan, Jacques: The Seminar of Jacques Lacan, Book VII: The Ethics of Psychoanalysis, 1959 – 1960, Übs. Dennis Porter (New York und London: Norton, 1992), S. 243 – 287. Vgl. u. a. Schiller: »Vom Erhabenen« und »Über das Pathetische«, in: Sämtliche Werke, Bd. 5, Hrsg. v. Wolfgang Riedel, München 2004, S. 498 – 512 und 512 – 537. Schiller, Friedrich: Die Räuber, in: Sämtliche Werke, Bd. 1, Hrsg. v. Albert Meier, München 2004, S. 481 – 638, hier S. 612 (V, 2). Ebd., S. 617f. (V, 2). Wallensteins Tod (1799), in: Sämtliche Werke, Bd. 2, Hrsg. v. Peter-André Alt, München 2004, S. 407 – 547, hier S. 541 (V, 2). Vgl. Lacan, Jacques: Le Seminaire, Livre XVII: L’envers da la Psychanalyse (Paris: Le Seuil, 1991). Schiller, Friedrich: Geschichte des dreißigjährigen Kriegs, in: Sämtliche Werke, Bd. 4, Hrsg. v. Peter-André Alt, München 2004, S. 363 – 746, hier S. 587 (3. Buch). Dies ist als Kritik an Jacques Rancières Bezug auf Schiller zu sehen, wenn er versucht, die angenommene Logik eines »ästhetischen Regimes der Kunst« zu skizzieren. Vgl. die o.g. Arbeiten und Rancières Beitrag zum vorliegenden Band. Dies ist als Kritik an Alenka Zupanc̀´ic̀´s Text in dieser Veröffentlichung zu verstehen.

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Simon Critchley

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Ich möchte versuchen, die Frage »Was bringt die Klassik auf die Bühne?« zu beantworten, indem ich von der Inszenierung eines Klassikers berichte, die dieses Jahr im Theatre for the New City, im East Village, Manhattan, stattfand. Dort hatte vom 7. bis 10. April 2005 das kaum bekannte Stück von Jean-Jacques Rousseau NARCISSE, OU L’AMANT DE LUI MÊME (NARZISS ODER WER SICH SELBST LIEBT1) seine amerikanische Premiere. Aufgeführt wurde es von der neu gegründeten Eyeball Planet Company in einer rückhaltlos zeitgenössischen Inszenierung von Anne Deneys-Tunney, Professorin für Französische Literatur an der New York University (NYU). Die Idee für diese Produktion hatte sich zufällig aus einem Gespräch zwischen Anne und mir ergeben, als wir über unsere Pläne für ein eintägiges Symposium sprachen, um dem 250. Jahrestag von Rousseaus DISKURS ÜBER URSPRÜNGE UND GRUNDLAGEN DER UNGLEICHHEIT UNTER DEN MENSCHEN – der berühmte zweite Diskurs – am Französischen Haus der NYU zu gedenken. Bei Hühnchenleber in einem kleinen russisch-jüdischen Café in SoHo diskutierten wir über Rousseaus Abscheu vor sozialen Unterschieden. Anne brachte das Gespräch auf den NARZISS, und wir beide waren sofort von der Notwendigkeit überzeugt, gleichzeitig zum Symposium das Stück aufzuführen. Anne hat dafür Berge versetzt und dank ihres außergewöhnlichen Talents war es möglich, die Inszenierung zu realisieren. Was ist die Verbindung zwischen Narzissmus und Ungleichheit? Die Geschichte der Ungleichheit beginnt für Rousseau mit der Einführung des Privatbesitzes, genauer mit dem Moment, da jemand sagt »Das gehört mir« und genügend einfache Menschen findet, die es ihm glauben. Doch schon bevor der Privatbesitz institutionalisiert wurde, ab dem Moment, als sich die ersten menschlichen Wesen versammelten, miteinander verkehrten und sich gegenseitig anschauten, sei der Wunsch nach Distinktion ins Spiel gekommen: sich von den anderen zu unterscheiden und anders als die anderen sein zu wollen. Rousseau stellt sich vor, dass dies um einen Baum in einem angeblichen Naturzustand stattfand, und der Begriff des Blicks, des narzisstischen regard, ist dabei wesentlich. Mit dem Wunsch nach Abgrenzung von den anderen

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beginne sich dann die gesunde amour de soi, Selbstliebe, die das menschliche Wesen in seinem natürlichen Zustand definiert, in eine narzisstische amour propre, in Eigenliebe und Hochmut, zu verwandeln. Für Rousseau entspringt der Narzissmus dem Wunsch nach sozialer Unterscheidung, nach dem Gefühl der eigenen Bedeutung und Wichtigkeit. Narzissmus und Ungleichheit entspringen derselben Quelle. Dies ist der Kern des Dramas, das sich im NARZISS entfaltet. Ich weiß nicht, wie bekannt Rousseaus Theaterstücke sind, oder wie häufig sie gelesen werden, da es sich um ziemlich abseitige Werke handelt. Es gibt insgesamt sieben Stücke – in unterschiedlichen Stadien der Vollendung oder Unfertigkeit. NARZISS ist das einzige Stück, das jemals zu einer öffentlichen Aufführung gebracht wurde. Diese fand am 18. Dezember 1752 durch Les comédiens du Roi statt und blieb ein einmaliges Ereignis. NARZISS fand seinen Weg überhaupt nur auf die Bühne, da Rousseaus LE DEVIN DU VILLAGE, eine pastorale Oper, die vor dem französischen König, der Königin und dem Hofe in Fontainebleau im Oktober 1752 gezeigt wurde, einen beachtlichen Erfolg erzielt hatte. Ludwig XV. war von LE DEVIN DU VILLAGE so beeindruckt, dass er nach einer Unterhaltung mit Rousseau verlangte, aber dieser wurde so neurotisch von einer Blasenschwäche geplagt, dass er befürchtete, sich während der Audienz zu benässen und er lehnte mit Klagen über seine Gebrechen ab. NARZISS wurde von Rousseaus zeitweiligem Freund Grimm als »une mauvaise comédie« beschrieben, und obwohl man sicher mehr Loyalität von einem Freund erwarten könnte, hatte er nicht ganz Unrecht. Das Stück ist im Stile Marivaux’ geschrieben, der den Text gelesen, kommentiert und sogar geringfügig verändert hat. Leider hat NARZISS nicht die Qualität eines Marivaux, was auch daran liegen mag, dass Rousseau behauptet, das Stück im Alter von achtzehn Jahren geschrieben zu haben. Dies ist zwar nicht falsch, aber auch nicht ganz richtig, denn man weiß, dass Rousseau das Stück zwischen seiner Jugend und dem Zeitpunkt seiner einzigen Aufführung – er war zu diesem Zeitpunkt ungefähr vierzig Jahre alt – immer wieder erheblich umgeschrieben hat. Er gibt dies in seinen BEKENNTNISSEN zu, wenn er schreibt, »wenn ich in der Vorrede zu diesem Stück behauptet habe, es mit achtzehn Jahren geschrieben zu haben, so habe ich also um einige Jahre gelogen.«2 Gleichwohl ist NARZISS wahrscheinlich Rousseaus erstes längeres literarisches Werk. Die Handlung des NARZISS ist sehr einfach: Es geht um einen Mann, der sich in ein Porträt verliebt, das ihn selbst in Frauenkleidern zeigt. Das Drama beginnt damit, dass Narziss’ Schwester Lucinda einen Plan

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ausheckt, um dem unheilbar eitlen Protagonisten, der mit Angelica verlobt ist, einen Streich zu spielen.3 Sie will damit seine Liebe auf die Probe stellen, was aber völlig fehlschlägt, als Narziss sich heftig in sein effeminiertes Porträt, sein objektiviertes Selbstbild, verliebt. Viel spielerische, dramaturgische, wenn auch vorhersehbare Ironie liegt in der Szene, in der Narziss seinen Bediensteten, Frontin, fortschickt, um in ganz Paris nach seiner neuen Geliebten, die er selbst ist, zu suchen: Lucinda: Frontin, wo ist dein Herr? Frontin: Fort, auf der Suche nach sich selbst. Lucinda: Auf der Suche nach sich selbst? Frontin: Ja, um sich selbst zu ehelichen. Schließlich wird Narziss, der sich seines Fehlers und seines Irrwegs gewahr wird, von seinem Vater gescholten, und er beschließt trotz alledem, Angelica zu heiraten. Die zweite Liebesgeschichte in NARZISS zwischen Lucinda und Leander soll die dramatische Hauptbeziehung spiegeln, bleibt aber seltsamerweise unaufgelöst und ist nicht sehr gelungen in das Stück eingebaut. Letztlich stellt das Stück eine kleine Lektion über die Fehler des Narzissmus dar und endet mit der Moral: »Wenn wir uns gegenseitig aufrichtig lieben, hören wir auf, uns selbst zu vergöttern.« Als solches ist es ein unoriginelles, seichtes und auf eine hübsche Art inkonsequentes Stück von jener Sorte, von der sich Rousseau literarischen Erfolg versprach, als er 1742, in seinem dreißigsten Lebensjahr nach Paris zog. Die Dinge werden allerdings komplexer und interessanter, wenn man das Stück zusammen mit dem wichtigen, recht langen und faszinierenden Vorwort liest, das Rousseau 1952 für die Veröffentlichung des Stücks geschrieben hat. In seinen BEKENNTNISSEN erklärt Rousseau das Vorwort zu »einem meiner besten literarischen Werke«. In der Abfolge der Rousseauschen Werke ist das Stück in der Zeit zwischen dem ERSTEN und ZWEITEN DISKURS, also zwischen 1750 und 1755, zu verorten. Um die philosophische Argumentation des Vorworts einzuleiten, möchte ich eine berühmte Anekdote erwähnen: Es geht um Rousseaus Moment der »Erleuchtung«. Diese ereignete sich 1749 – Rousseau war 37 Jahre alt –, als er seinen Freund und Mitstreiter, den Enzyklopädisten Diderot im Gefängnis besuchen wollte. Diderot saß außerhalb von Paris in Vincennes ein, da er Meinungen geäußert hatte, die sich gegen Religion und Staat richteten. Da er knapp bei Kasse war, lief Rousseau für seine Besuche in Vincennes die fünf Meilen zum Gefängnis zu Fuß und für gewöhnlich las er unterwegs eine Zeitschrift oder eine

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Zeitung, um sich die Zeit zu vertreiben. Bei einer dieser Gelegenheiten stieß er bei der Lektüre des Mercure de France auf eine von der Akademie von Dijon ausgeschriebene Preisfrage. Das Thema lautete: »Hat der Fortschritt der Künste und Wissenschaften zur Läuterung der Sitten beigetragen?« Blitzartig und der Vision des Paulus auf seinem Weg nach Damaskus gleich, wurde Rousseau klar, dass der Fortschritt der Künste und Wissenschaften in Wahrheit die Sitten verdorben hatte. In einem Brief an Malesherbes von 1762 schreibt Rousseau von seiner Erfahrung mit dem Fehlen emotionaler Zurückhaltung, die für ihn typisch ist: Hat jemals etwas einer schnelleren Eingebung geglichen, so war es die Bewegung, welche in mir vorging, als ich diese Frage las. Auf einmal fühle ich, daß mein Geist von tausend Lichtern geblendet wird, ganze Massen lebhafter Gedanken stellen sich ihm mit einer Gewalt und in einer Unordnung dar, die mich in eine unaussprechliche Verwirrung versetzt; meinen Kopf ergreift ein Schwindel, welcher der Trunkenheit gleicht. Ein heftiges Herzklopfen beklemmt mich, hebt meine Brust empor; da ich gehend nicht mehr atmen kann, lasse ich mich am Fuß eines Baumes am Wege hinsinken und bringe eine halbe Stunde dort in einer Bewegung zu, daß ich beim Aufstehen den ganzen Vorderteil meiner Weste mit Tränen benetzt finde, ohne gefühlt zu haben, dass ich welche vergoß. Ach, mein Herr, wenn ich jemals den vierten Teil alles dessen, was ich unter diesem Baume gesehen und empfunden habe, hätte niederschreiben können, mit welcher Deutlichkeit hätte ich alle Widersprüche des gesellschaftlichen Systems gezeigt, mit welcher Kraft hätte ich alle Missbräuche unserer Einrichtungen dargestellt, mit welcher Einfachheit hätte ich gezeigt, dass der Mensch von Natur gut ist, und daß es lediglich von ihren Einrichtungen herrührt, wenn die Menschen böse werden.4 Fortschrittsglaube ist die von uns auf nur allzu eingängige Weise »Aufklärung« genannte zentrale Überzeugung, die von Bacon herrührt und für Autoren wie Voltaire und Diderot absolut entscheidend ist. Nach diesem Glauben hat die Entwicklung der Wissenschaft, Technologie, Kunst und Kultur zur Verbesserung der Menschheit beigetragen, oder, in Kants Definition, ist Aufklärung das Heraustreten der Menschheit aus der selbstverschuldeten Unmündigkeit. Rousseau jedoch war vom Gegenteil überzeugt: Rationaler und wissenschaftlicher Fortschritt ist moralischer und politischer Rückschritt, Zivilisation ist Niedergang, der so genannte Fortschritt in den Künsten und Wissenschaften hat die

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Menschheit schlechter, unmenschlicher, verkommener gemacht, die Menschen sind selbstsüchtig und habgierig geworden. Bei Rousseau erkennen wir eine frühe Variante der Geschichtstheorien des 19. Jahrhunderts, insbesondere derjenigen, die sich in Marx’ und Engels’ DEUTSCHER IDEOLOGIE und auf den ersten Seiten des KOMMUNISTISCHEN MANIFESTS findet. Dort ist dargelegt, dass der scheinbare Fortschritt der Menschheit nur fortschreitende Entfremdung bedeutet, weit weg von unserem wahren Zustand, den der junge Marx »Gattungswesen« nennt. Auch Nietzsches GENEALOGIE, nach der die Geschichte der Moral dazu geführt hat, dass durch das schleichende Ressentiment der jüdisch-christlichen Moral die aktiven Kräfte der Lebensbejahung vernichtet werden, gehört zu dieser Richtung. Nach Rousseau haben die Geschichte der Menschheit, die Gesellschaft und die so genannte Zivilisation zum Niedergang der Conditio Humana beigetragen: Der Mensch ist frei geboren, und überall liegt er in Ketten. Ist es nicht schlichtweg verlogen von Rousseau, ein Stück wie NARZISS zu publizieren und dessen Aufführung zu genehmigen – geschweige denn seine mehr oder weniger erfolgreichen Experimente mit Oper, Ballett, Musik und Dichtung –, wo er doch eine derartig gegenaufklärerische und kunstfeindliche Auffassung vertritt? Rousseau verwendet einen großen Teil des Vorworts darauf, diesem Einwand polemisch zu begegnen, und er lässt hierbei Anzeichen der Paranoia erkennen, die ihn später, als er bei jeder Umdrehung Spione sah, schmerzhaft an Einsamkeit ersticken ließ. Zunächst behauptet er auf eher unglaubwürdige Weise, dass NARZISS ein Jugendwerk sei und er später seine Meinung darüber geändert habe. Dann argumentiert er etwas überzeugender, dass, da die Pariser Gesellschaft im Hinblick auf Sitten und Moral tatsächlich gänzlich und unheilbar korrupt ist, es besser sei, sie mit solchen Bagatellen wie dem Theater zu unterhalten, um sie dadurch von schädlicheren und verwerflicheren Aktivitäten abzuhalten, wie Gewalt und Krieg. Mit beißender Ironie schreibt Rousseau: Mein Rat ist also, und ich habe ihn schon mehr als einmal gegeben, die Akademien, die Schulen, die Universitäten, die Bibliotheken und das Schauspiel sowie alle anderen Vergnügungen, welche von der Bosheit der Menschen eine gewisse Ablenkung geben können, bestehen zu lassen und sie sogar sorgfältig aufrechtzuerhalten, um die Menschen daran zu hindern, ihren Müßiggang an gefährlichere Dinge zu wenden. Denn in einem Lande, in dem es keine ehrenhaften Leute und keine guten Sitten mehr gäbe, wäre es dennoch besser, mit Schurken zusammenzuleben als mit Räubern.5

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Aus dieser Perspektive eröffnet das Scheitern des NARZISS nach der Uraufführung Rousseau die Möglichkeit, seine Ansichten auf eine ziemlich verdrehte Art zu verteidigen. Mit einigem Vergnügen schreibt er: Mein Stück hatte das Schicksal, das es verdiente und das ich vorausgesehen hatte, doch bei aller Langeweile, die es mir bereitete, habe ich die Vorstellung viel zufriedener mit mir selbst verlassen, und dies mit viel mehr Berechtigung, als wenn es Erfolg gehabt hätte.6 So wird das offensichtliche Scheitern des NARZISS in Erfolg verwandelt und dessen mittelmäßige Langeweile wird zu einem Triumph, den Rousseau durch seine Kulturbeschimpfungen erzielt hat. Ausgehend von der Frage der Langeweile hat Anne Deneys-Tunney für ihre New Yorker Inszenierung entschieden, das komplette Vorwort mit aufzuführen; es wurde von Anne und mir in einer Mischung aus Französisch und Englisch vorgelesen. Dazu spielte einfache und wirkungsvolle Musik von Michael Schumacher, und reduzierte, langsame Bewegungen der Schauspieler begleiteten auf der fast dunklen Bühne die Lesung. Es freut mich, berichten zu können, dass die bloße Länge und die verstärkte Langeweile dieser Aufführung des Vorwortes – es dauerte ungefähr dreißig Minuten – dazu führten, dass sich viele Leute im Publikum sehr unwohl fühlten und nervös auf ihren Sitzen hin und her rutschten. Das ist möglicherweise die Rousseausche Variante des Entfremdungseffekts. Verortet man den NARZISS innerhalb der Argumentation des Vorworts und der Diskurse, erhält die Frage des Narzissmus eine andere, tiefer gehende Bedeutung. Denn wenn Narzismuss der Effekt erfahrener Ungleichheit ist – oder vielmehr ihr gelebter Affekt –, dann ist die Idee des Theaters insgesamt zu verdammen. Dies wird klar, wenn man den NARZISS mit Rousseaus Theaterkritik in Verbindung setzt, wie sie 1758 im BRIEF AN D’ALEMBERT ÜBER DAS THEATER formuliert wird, wo Rousseau d’Alemberts Projekt für ein Theater in Genf scharf kritisiert. Rousseau formuliert zwei wesentliche Einwände: Erstens sei das Theater gefährlich für Moral und Gesellschaft, da in ihm – eine meiner Ansicht nach ziemlich dämliche Vorstellung – das vermeintlich natürliche Geschlechterverhältnis umgedreht wird, indem Frauen die Möglichkeit gegeben wird, durch das Spiel mit theatralischer Aufführung Macht über Männer auszuüben. Theater – und Rousseau denkt hier vor allem an die spielerische Komik und Ironie Molières – dreht die Hierarchie der Geschlechter um und ist zudem im Wesentlichen verweiblichend. In dieser Hinsicht stellt die Travestie des NARZISS, wenn der

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männliche Protagonist sich in sich selbst verliebt, als er sich selbst im eigenen weiblichen Abbild cross-dressed gegenüber tritt, die gesamte sexuelle Bedrohung des Theaters dar. Zweitens ist Rousseaus Theaterkritik eine Kritik der Darstellung, und er wiederholt hier, was Platon im STAAT mit Blick auf die Tragödiendichter formuliert hat. Platon will das Theater aus der wohlgeordneten Polis ausschließen, da es mimesis, oder Nachahmung, des bloßen Scheins betreibt und sich nicht auf die wahre Form der Dinge richtet, der Aufmerksamkeit zu widmen die Aufgabe des Philosophen ist. Die Kritik des Theaters als Verweiblichung und Darstellung des Scheins geht zusammen mit Rousseaus Vorschlag, dem Theater durch öffentliche Spektakel zu begegnen. Diese Idee hatte einen direkten Einfluss auf die Einführung der republikanischen Feiertage, die fêtes nationales civiques, durch Robespierres in den Jahren nach der Französischen Revolution. Das Entscheidende dieser Spektakel ist, dass es sich hierbei nicht um Aufführungen handelt, sondern um die direkte Anwesenheit des Volkes, das sich unter freiem Himmel und bei hellem Tageslicht selbst begegnet, anstatt im Dunkeln des Theaterraums herumzulungern, der nur zu sehr an die Höhle Platons erinnert. Rousseau schreibt: Pflanzt in der Mitte eines Platzes einen mit Blumen bekränzten Baum auf, versammelt dort das Volk, und ihr werdet ein Fest haben. Oder noch besser: stellt die Zuschauer zur Schau, macht sie selbst zu Darstellern, sorgt dafür, daß ein jeder sich im andern erkennt und liebt, daß alle besser miteinander verbunden sind.7 Beim Volksfest betrachtet das Volk nicht passiv einen Gegenstand theatraler Darstellung, sondern es wird selbst Subjekt und Gegenstand des eigenen Dramas sowie Akteur der eigenen Souveränität. Diese Idee hat natürlich eine enorme politische Bedeutung, und es ist klar, dass sich hinter der Verdammung des Theaters die radikale Kritik eines dekadenten politischen Systems verbirgt. Im Innern von Rousseaus GESELLSCHAFTSVERTRAG liegt die Idee einer Volkssouveränität, nach welcher der einzige Weg, die Legitimität einer Gesellschaft zu sichern und die anscheinend einander entgegengesetzten Ansprüche von Freiheit und Gleichheit auszubalancieren, darin besteht, die Souveränität im Willen des Volks zu verankern und nicht in einer äußerlichen Autorität wie einem Monarchen oder einer erblichen Aristokratie. Das Volk soll aus Akteuren im Theater des Staates bestehen. Vor diesem Hintergrund wird das öffentliche Fest zu einer lebendigen Manifestation der Souveränität und der zugleich individuellen und kollektiven Autonomie des

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Volks. Im öffentlichen Fest wird der allgemeine Wille des Volks ohne die Vermittlung durch die Repräsentation ausagiert. So gesehen entspricht Rousseaus Idee der öffentlichen Feier möglicherweise Schillers Vorstellung von einer ästhetischen Revolution, die jede politische Revolution begleiten muss. Diese Idee findet, wie Jacques Rancière zeigt, ihre dramatischste und aphoristischste Darstellung in der organizistischen Konzeption, mit der im ÄLTESTEN SYSTEMPROGRAMM DES DEUTSCHEN IDEALISMUS Sinnlichkeit und Politik im Ruf nach einer »neuen Mythologie« miteinander verbunden werden. Im Gegensatz dazu ist das Theater ein Tempel zu Ehren des Narziss, ein höhlenartiger Spiegelsaal, der nichts so sehr widerspiegelt wie das Verlangen nach Abgrenzung und die Verlogenheit der Eigenliebe. Das Theater ist ein Ort, an dem die Handelnden keine Subjekte sind, sondern sich vielmehr selbst in ihrem Verlangen zu sehen und gesehen zu werden zum Gegenstand machen. Das Theater ist der Ort, an dem Narzissmus und Ungleichheit sich kreuzen und untrennbar miteinander verbinden. All das bedeutet, dass der Status des Theaters bei Rousseau ein sehr eigentümlicher ist. Er ist vielleicht ohne Vorläufer, aber sicher nicht ohne Nachahmer. Sein Theater ist ein Theater gegen Theater; gegen die Idee der Theatralität selbst. Was ist Theater? Narzissmus. Wozu ist das Theater da? Dazu, den Menschen die Erfahrung ihrer höhlenartigen Gefangenschaft zu ermöglichen, in der sie sich durch Repräsentation und Vergegenständlichung befinden, und es entfremdet sie ihrer eigenen sowohl individuellen als auch gemeinschaftlichen Subjektivität. Was kann dann die Absicht von Rousseaus Theater sein? Es dient als Mittel zu nichts weniger als zur Diagnose und Kritik des dem Leben im 18. Jahrhundert wesentlichen Narzissmus’ sowie zur Subversion des sozialen Dramas, das sich aus der Ungleichheit entwickelt. Theater ist Narzissmus. Mehr noch ist die Gesellschaft – da das Theater nicht ex nihilo aus irgendeinem gesellschaftlichen Vakuum hervortritt – selbst Narzissmus. Noch schlimmer aber ist, jedenfalls für mich, dass auch die Philosophie, insofern sie sich aus der eigenen intellektuellen amour propre nährt, eine narzisstische Angelegenheit ist. Rousseau stellt dies glasklar in seinem Vorwort von 1752 dar: Der Geschmack an der Philosophie lockert alle Bande der Achtung und des Wohlwollens, die die Menschen an die Gesellschaft binden, und dies ist vielleicht das gefährlichste der Übel, die sie hervorbringt. Der Zauber des Studierens verdirbt bald den Geschmack an jeder anderen Neigung, und dadurch, daß der Philosoph über die Menschheit nachdenkt, dadurch, dass er die Menschen beobachtet,

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lehrt er, sie nach ihrem wahren Wert zu schätzen, und es ist schwer, Zuneigung für das zu empfinden, was man verachtet. Bald vereinigt er in seiner Person alle Anteilnahme, welche die tugendhaften Menschen für ihresgleichen haben; seine Verachtung für die anderen kommt seinem Hochmut zugute, und seine Eigenliebe wächst in demselben Maße wie seine Gleichgültigkeit für das übrige Universum. Die Familie und das Vaterland werden für ihn sinnleere Worte; er ist nicht Vater, nicht Bürger, nicht Mensch, er ist Philosoph.8 Kommen wir zurück zur Frage, was die Klassik auf die Bühne bringt. Wenn Narzissmus, Stolz und das Verlangen nach Abgrenzung und Auszeichnung wirkmächtige Elemente im Leben des 18. Jahrhunderts waren, dann trifft dies umso mehr auf den Beginn des 21. Jahrhunderts zu, auf eine Welt, die ein riesiger, spektakulärer Spiegelsaal geworden ist und in der die einzige Realität diejenige ist, die vom Reality-TV geboten wird. Unsere Großstädte sind ungehindert durch egalitäre politische Visionen Kathedralen zur Feier der Ungleichheit geworden. Die polemische Absicht der New Yorker Produktion bestand deshalb darin, die Zuschauerschaft zu unterminieren, die Darstellungsmittel zu gebrauchen und zu missbrachen, um Narzissmus, Ungleichheit und das Theater selbst zum Thema zu machen: natürlich eine lächerlich naive Absicht, die von vorneherein zum Scheitern verurteilt war! Meiner Ansicht nach jedoch ist Naivität außerordentlich wichtig und so muss das, was die Klassik auf die Bühne bringt, ihre weiterhin bestehende soziale Wahrheit sowie die Tatsache sein, dass die klassischen Werke etwas von uns fordern, dass sie infrage stellen, wer und wo wir sind, und uns somit erlauben, uns vorzustellen, wie wir verändern können, wer und wo wir sind. Die New Yorker Produktion war auf entschiedene Weise zeitgenössisch, und mir scheint, dass wir Klassiker dadurch auf die Bühne bringen, dass wir ihnen genau diesen Status des Klassischen verweigern und entziehen und so das Zeitgenössische an ihnen bestärken. Anne Deneys-Tunneys Inszenierung hat auf vielfältige Weise versucht, diese Absicht zu realisieren: durch den Einsatz der wechselhaft zugänglichen Musik von Stephen Tunney; durch Nikos Floros‘ unglaublich aufwendige Kostüme; vor allem aber durch eine Technik, die von Anne »automatisches Schauspiel« genannt wird. Diese Technik beruht auf der Idee, dass die Schauspieler bei ihrem Spiel keinerlei eigene Absicht verfolgen. Sie werden vielmehr zu Puppen, Maschinen oder Marionetten, die in einem festen Repertoire von Bewegungen und Abläufen gefangen sind. Anne hat versucht, den Schauspielern eine Technik der Dissoziation

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Theater Ist Narzissmus – Über Jean-Jacques Rousseaus Narziss

beizubringen, in der die Bewegungen des Körpers von den gesprochenen Worten getrennt sind und bei der Worte und Bewegungen in unterschiedliche Richtungen streben. Diese Dissoziation erzeugt neben komischen Effekten ein Gefühl der Unglaubwürdigkeit, und dies war genau der theatrale Effekt, den Anne vor allem hervorbringen wollte. Denn es ist wesentlich, dass es sich um ein Theater handelt, an das niemand glaubt: weder die Schauspieler noch die Zuschauer – und natürlich auch Rousseau nicht. Mit diesem Aspekt des »Glaubens« möchte ich eine ein letzte Frage formulieren: Sollten wir ans Theater glauben? Sollten wir das wirklich? Und wenn ja, wie und was sollten wir daran glauben? Sie sind selbst gebildet und intelligent und ich überlasse es Ihnen, diese Dinge zu entscheiden, aber ohne eine Antwort hierauf könnte es sein, dass wir uns langsam fragen, was wir bei dem Spiel im Dunkeln des Theaters eigentlich treiben.

Aus dem Englischen von Susanne Leeb und Marcus Coelen.

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Rousseau, Jean-Jacques: Narcisse ou L’amant de lui-même, in: Oeuvres completes, Bd. 2, hrsg. v. Bérnard Gagnebin und Marcel Raymond, Paris 1964, S. 957 – 1018; teilweise übersetzt unter dem Titel Narziss oder Wer sich selbst liebt in: Renger, Barbara (Hrsg.): Mythos Narziß, Leipzig 1999, 106 – 109. Rousseau, Jean-Jacques: Bekenntnisse, übers. v. Ernst Hardt, Frankfurt/M. 1956, S. 152. In Rousseaus Text wird der männliche Protagonist Valère genannt, aber für die New Yorker Produktion hat Anne entschieden, ihn Narziss zu nennen. Diesen Namen werde ich auch verwenden. Rousseau, Jean-Jacques: »Vier Briefe an Malesherbes«, in Schriften, Bd. 1, hrsg. v. Henning Ritter, München 1978, S. 475 – 496, hier S. 483. Rousseau, Jean-Jacques: »Vorrede zu ›Narcisse‹«, in: a.a.O., S. 145 – 164, hier S. 162. Ebd., S. 163. Rousseau, Jean-Jacques: »Brief an d’Alembert über das Schauspiel«, in: a.a.O., S. 333 – 474, hier S. 462f. Rousseau, »Vorrede zu ›Narcisse‹«, S. 156.

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SCHILLERS SCHAUPLÄTZE UND DIE TOPOGRAPHIE DES WILHELM TELL

Dramengeographie Schillers Schauplätze, das heißt: Genua, Sizilien, Malta, Spanien, Reims, Paris, Schottland, London, sowie: die Zentralschweiz, die Böhmischen Wälder, die Donau, Krakau, Moskau und schließlich – der Indische Ozean, die Weltmeere. Und das heißt auch, aber nur ein einziges Mal: die namenlose Residenzstadt eines deutschen Fürsten, in KABALE UND LIEBE nämlich. In seinen Dramen erschließt sich Schiller Schauplätze in ganz Europa, ja in den letzten Lebensjahren weitet sich der Radius sogar noch merklich aus, bis nach Russland, zu den eurasischen Ebenen, den ungeheuren Weiten des östlichen Raumes (im DEMETRIUS) und bis hin zu außereuropäischen Handlungsräumen in den SEESTÜCKEN, diesen »Phantasien über eine globale, maritime Welt«,1 wie Rüdiger Safranski die drei Fragmente nennt. Auch wendet Schiller sich, der nie in einer größeren Stadt gelebt hat, geschweige denn die aufsteigenden Zentren London und Paris gekannt hätte, dem Thema der Metropole zu – dem Thema, das zu einem bestimmenden literarischen Motiv im 19. Jahrhundert werden sollte. In dem geplanten, aber leider ebenfalls über das Skizzenstadium nicht hinausgelangten Stück DIE POLIZEY ist Paris Schauplatz und zugleich Hauptakteur. Das kühne Unternehmen – eine Art Balzacsches Projekt avant la lettre – ist allerdings gescheitert.2 Wenn man den Blick über eine erst noch zu erstellende Karte von den durch Schiller dramatisierten Räumen schweifen lässt, dann ist eines unübersehbar: Welche ungeheure Diskrepanz zwischen Erfahrungs- und Imaginationsraum! Die Schauplätze, an denen er seine Dramen ansiedelt, hat Schiller nie mit eigenen Augen gesehen, er war nie in Italien, nie in England, Spanien, Frankreich oder in der Schweiz. Und er war nie am Meer, nicht in den Alpen – die seine Epoche prägenden geographisch-naturästhetischen Erfahrungen sind ihm also verwehrt geblieben. Auf Schillers »Lebenskarte«3 war der äußerste Punkt im Süden durch Tübingen markiert, im Norden durch Berlin, im Osten durch Dresden und im Westen durch Mainz.4 Ein mehr als überschaubares Gebiet – dessen Ausmaße in keinem Verhältnis stehen zu den gewaltigen Dimensionen des in seinen Dichtungen genutzten Raumes.

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Als vornehmlich kopfreisender Dramatiker befindet er sich übrigens in guter, ja in bester Gesellschaft. Auch Shakespeares Dramen (mit Ausnahme von THE MERRY WIVES OF WINDSOR) haben nicht das dem Dichter vertraute England zum Schauplatz, »sondern spielen«, wie Manfred Pfister ausführt, »in topographisch mehr oder weniger vage bestimmten mittelmeerischen Gefilden Frankreichs, Italiens, Siziliens, Illyriens oder Griechenlands […]«5 – an Orten, an denen Shakespeare nie gewesen ist. Dramengeographie: Was lässt sich, nebst einer im Falle Schillers und Shakespeares offensichtlichen Diskrepanz von Lebens- und Imaginationsraum auf einer künftigen Landkarte dramatischer Schauplätze weiter ablesen? Oder anders gefragt: Was geschieht, was ist damit gewonnen, wenn man Orte dramatischer Handlung, Orte der Fiktion auf den empirischen Raum bezieht? Darf man das überhaupt?

Literaturgeographie Literaturgeographie – das, verkürzt gesagt, In-Beziehung-Setzen von empirischem Raum und Raum in der Fiktion – kann auf eine rund hundertjährige Geschichte mit etlichen Unterbrüchen zurückblicken. In ihren Anfängen versteht sich Literaturgeographie als eine Art Hilfswissenschaft der Literaturgeschichte und lässt sich in zwei Stränge gliedern: Der eine verzeichnet Wohn- und Aufenthaltsorte von Dichtern, der andere Handlungsräume und Schauplätze der Fiktion, wobei häufig beides kombiniert wird. Der erstgenannte Ansatz, der versucht, Dichter und ihre Herkunfts- und Wohnorte in ein System zu bringen, um auf dieser Basis »die Einheit und Eigenart der Literatur eines bestimmten Lebensraums«6 zu bestimmen, ist bekanntlich durch das Werk Josef Nadlers schwer belastet worden. Seine berühmt-berüchtigte, monumentale LITERATURGESCHICHTE DER DEUTSCHEN STÄMME UND LANDSCHAFTEN ist wegen ihrer vor allem in der 4. Auflage überdeutlichen Anlehnung an die nationalsozialistische Ideologie nach 1945 mit einer beispiellosen Vehemenz verdammt worden.7 In der Nachkriegs-Germanistik hat man deshalb tunlichst alles vermieden, was einem auch nur den geringsten Vorwurf hätte einbringen können, sich im Dunstkreis Nadlers aufzuhalten. Raumbegriffe, Raumkonzepte waren tabu. Und so hat es Jahrzehnte gedauert, bis Aspekte des literarischen Raumes und der Literaturlandschaften wieder in die Diskussion einfließen konnten, zunächst im Rahmen der Bemühungen regionaler Literaturgeschichtsschreibung in den achtziger Jahren. Der zweite Strang – und dieser ist es, der hier interessiert –, befasst sich mit dem Kartographieren von Schauplätzen und Handlungsräu-

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men. Die entscheidenden Anstöße dazu sind zunächst aus England gekommen, etwa durch William Sharps 1904 veröffentlichte Essaysammlung unter dem Titel LITERARY GEOGRAPHY; und auch in jüngster Zeit, in der Untersuchungen zu Räumen der Fiktion im übergreifenden Horizont des ›topographical turn‹ wieder massiven Auftrieb bekommen haben, sind es in erster Linie amerikanische und englische Beiträge, die ganz neue Impulse setzen. Zu den innovativsten Studien zählt zweifellos Franco Morettis ATLAS DES EUROPÄISCHEN ROMANS (1999), in dem der Autor Romananfänge- und enden (im Falle Jane Austens), Schauplätze eines Genres (die gothic novel zwischen 1770 und 1840), Wege einzelner Figuren (in pikaresken Romanen), die Orte von »erzählerischen Komplikationen« (Missgeschicke, Intrigen, Tratsch, Verführungen) sowie von handlungsentscheidenden Begegnungen und vieles mehr kartographisch darstellt und deutet. 8 Die einleitende grobe Skizze von Schillers Imaginations- und Lebensraum entspricht insofern den beiden traditionellen Gegenstandsbereichen der Literaturgeographie – den Lebensorten der Dichter und den Handlungsräumen ihrer Dichtungen.

Geographische und topographische Referenzen Wer Literaturgeographie betreibt, stellt die Kategorie der Referenz und damit Techniken der Referentialisierung in den Mittelpunkt. Grundlegend ist die Annahme, dass eine referentielle Beziehung zwischen Orten im Text und Orten in der Welt besteht. Diese Beziehung ist hochkomplex und kann natürlich keineswegs nur mit einer Begrifflichkeit beschrieben werden, die auf Mimesis-Theorien rekurriert. Literaturgeographie ist – aus verschiedenen Gründen – ein unsicheres Terrain, ein schlüpfriger Grund. Ja, einer der besten Kenner von literarischen Handlungsräumen, Brian Stableford, bezeichnet »literary geography« zu Recht als »fugitive field«9. Denn Literaturgeographie besetzt exakt die heikle Schnittstelle zwischen inner- und außerliterarischer Wirklichkeit. Was gewinnt man also, wenn man geographische und topographische Referenzen ernst nimmt? Hinsichtlich der Räumlichkeit von Epik ist das des öfteren schon erprobt worden, aber wie verhält es sich mit dramatischen Texten? Der Blick in die Forschungsgeschichte der Literaturgeographie zeigt nämlich: Das Drama ist nie behandelt worden; weder in den Anfängen noch ein Jahrhundert später bei Franco Moretti, Brian Stableford, Armin von Ungern-Sternberg oder Robert Stockhammer, um nur einige tonangebende Theoretiker zu nennen.10 Einzig

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Reinhart Meyer hat methodische und inhaltliche Vorarbeiten für eine künftige Dramengeographie geschaffen. Insgesamt 315 deutschsprachige Dramen hat er ausgewertet, die von 1789 bis 1795 in der Deutschen Schaubühne abgedruckt worden sind. Das Corpus ist deshalb so aufschlussreich, weil es Dramen von Schillers Zeitgenossen enthält. Die simple Frage: Wo spielt die Handlung? führt zu einer Reihe interessanter Ergebnisse. Von den 315 untersuchten Texten spielen 225 (= 71,4%) in Deutschland, 90 (= 28,6 %) außerhalb. Von den außerhalb Deutschland spielenden Dramen sind 71 im europäischen Raum angesiedelt (auch hier eine aufschlussreiche Verteilung: 3 in Skandinavien, 3 in den Niederlande, 22 in England und Schottland, 33 in der Romania, 10 in Osteuropa) und 19 im außereuropäischen Raum.11 Vor diesem Hintergrund erscheinen Schillers Imaginationsraum, sein Ausgreifen bis in die außereuropäischen Räume, und die Tatsache, dass nur ein Drama, eben KABALE UND LIEBE, vollumfänglich auf deutschem Boden angesiedelt ist, als gänzlich atypisch für seine Epoche.

Dramen-Topographie I Der Dramentext stellt Referenz her in der Figurenrede (der »Wortkulisse« oder dem »gesprochenen Raum«12) oder in den Szenenanweisungen. Oder in den Paratexten: DIE VERSCHWÖRUNG DES FIESCO ZU GENUA. Aber wenn man sich in das Problem der Orts-Referenzen vertieft, wird schnell klar, was man insgeheim schon vermutet hat: Das Drama ist, von einigen wenigen Ausnahmen abgesehen, genuin a-topographisch angelegt. Die mangelnde konkrete Ausgestaltung von Handlungsräumen und Schauplätzen hat verschiedene Gründe: Unter anderem mussten und müssen Autoren Rücksicht nehmen auf die beschränkten Visualisierungstechniken der Bühnen bzw. auf den Umstand, dass dieselben Kulissen oft für mehrere Stücke eingesetzt worden sind; deshalb sind die Szenenanweisungen, was den räumlichen Aspekt anbelangt, oft sehr unspezifisch gehalten – genannt wird ein Dorf, ein Landgasthaus, ein Feld usw.; auch im Drama der Moderne ist der unkonkrete Ort vorherrschend, wenn auch aus anderen Überlegungen heraus. Man denke an Becketts Szenenanweisungen in WAITING FOR GODOT, in dem sich die Schauplatzbeschreibung in einem lakonischen »A country road. A tree« erschöpft. Und wenn Toponyme real existierender Örtlichkeiten eingeführt werden, dann haben sie doch bloß die Funktion von Chiffren, wie Max Frischs ANDORRA oder Marieluise Fleißers FEGEFEUER IN INGOLDSTADT. Das Drama setzt, dies müsste man nun im Hinblick auf die historischen Entwicklungslinien

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verfeinert darstellen, nicht auf eine exakte Topographie, sondern auf Raumsemantik. Garten, Wald, Kerker, Gasthof, Schloss, Hütte, Dorfplatz, Schenke, Straße: Topoi des Dramas, Versatzstücke, Kulissen, die irgendwo situiert werden, ohne dass dabei das weitere Umfeld, der Gesamtraum von Bedeutung wären. Spielt es also gar keine Rolle, wo, geographisch gesprochen, ein Drama seine Handlung ansiedelt? So pauschal lässt sich das nicht ausdrücken. Zum einen muss oft der historischen Überlieferung Genüge getan werden; es gibt Stoffe, die einen bestimmten geographischen Rahmen schlicht voraussetzen. Schiller etwa hat manche Handlungsräume mehr oder minder frei gewählt, um dort einen Stoff aufzurollen (DIE BRAUT VON MESSINA, DIE RÄUBER, KABALE UND LIEBE, seine fragmentarischen Seestücke). Und andere, die Mehrzahl, waren ihm durch den Gegenstand vorgegeben: in WALLENSTEIN, MARIA STUART, DEMETRIUS, in der JUNGFRAU VON ORLÉANS, im WILHELM TELL. Zum anderen gab und gibt es durchaus Handlungsräume, die eine gewisse Reizwirkung auf das Publikum ausüben – einen Reiz, der auf räumlicher Evokation beruht. Als Goethe sich 1779 auf seiner zweiten Schweizer Reise befand, brachte er noch unterwegs, auf der Rückfahrt nach Weimar, das Singspiel JERY UND BÄTELY zu Papier. »[I]ch schrieb das Gedicht sogleich und konnte es völlig fertig mit nach Deutschland nehmen. Die Gebirgsluft die darinnen weht, empfinde ich noch, wenn mir die Gestalten auf den Bühnenbrettern zwischen Leinwand und Pappenfelsen entgegen treten.«13 Situiert ist das Geschehen »in den Gebirgen des Kanton Uri«,14 denn Goethe setzte bei diesem helvetischen Idyll auf die Anziehungskraft des Schauplatzes und wollte das Singspiel möglichst rasch zur Aufführung bringen, solange eben »das Interesse an Schweizererzählungen noch nicht verraucht ist«15. Auch das englische Singspiel philhelvetischen Charakters, das Schweizerische Szenerien und Stoffe präsentiert, lockt mit ähnlichen Schauplätzen. Als Beispiel seien Titel wie THE ARCHERS, THE MOUNTAINEERS OF SWITZERLAND (1776) oder HELVETIC LIBERTY, THE LASS OF THE LAKE genannt.16 Von der Atmosphäre dieser Orte ist ja aber dann wenig bis gar nichts umsetzbar; nicht, wenn man das Drama als reinen Lesetext behandelt und nicht, wenn man es als inszeniertes betrachtet. Wenn es für die Aufführung gedacht ist, wird die Diskrepanz zwischen dem darzustellenden Raum und dem dargestellten Raum ohnehin riesig sein. Auch wenn seit der Renaissance die Guckkastenbühne oder Illusionsbühne üblich ist und auch wenn die in jener Zeit entdeckte Technik der Zentralperspektive es erlaubt, durch das Bühnenbild auch größere Räume mit Tiefenwirkung, z.B. Landschaften zu simulieren – was die

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Umsetzung anbelangt, wird immer ein schmerzliches Defizit zu verzeichnen sein: Drameninszenierungen sind, um überzeugende Bilder von weitläufigen Außenräumen zu schaffen, ein denkbar ungeeignetes Medium. Und wenn man die Stücke als reine Lesedramen behandelt? Dann müsste der Dramentext einen stark epischen Zug aufweisen, entweder in der Figurenrede oder in den Szenenanweisungen. Manchmal tut er das, z.B. bei Shakespeare, und eben auch bei Schiller. Doch in der Regel verweigern sich Dramentext und Inszenierung gleichermaßen einer Außenraum-Illusion.

Dramen-Tourismus Ein kurzer Exkurs sei gestattet: Es gibt ein deutliches Indiz dafür, dass das Drama in der Regel a-topographisch funktioniert: das Ausbleiben von Dramen-Touristen. Tausende sind auf den Spuren von Jean-Jacques Rousseaus Liebesromane JULIE OU LA NOUVELLE HELOÏSE (1761) an den Genfersee gereist, Scharen sind im englischen West Yorkshire durch die Moore der Brontës gestreift, wieder andere haben sich, mit den Romanen im Gepäck, aufgemacht, um in Walter Scotts Schottland Fiktion und Wirklichkeit zu vergleichen. Von den Proust-Wallfahrten ganz zu schweigen … Was aber macht die Faszination von literarischen Schauplätzen aus? Eine vorläufige Antwort: Wenn man, wie das traditionellerweise geschieht, Geschehen, Figuren und Handlungsraum als die drei Konstituenten der fiktionalen, im engeren Sinne epischen und dramatischen Welt voraussetzt,17 dann kommt dem Schauplatz (und ihm allein) die spezifische Funktion zu, eine durchlässige Membran zwischen den Welten zu sein. An die Figuren und an die Handlungszeit ist in der Regel aus der Position des Lesers kein Herankommen möglich, an den Schauplatz – mit einer Reihe von Einschränkungen – aber schon. Genau darin liegt der Zauber der Wechselwirkungen zwischen fiktionalem Raum und realen Landschaften und Städten begründet. Mit Blick auf Fontane schreibt Irmela von der Lühe: »Die Grenze zwischen Fiktion und Wirklichkeit, erzählter und tatsächlicher erlebter Welt wenn nicht aufzuheben, so doch durchlässig zu machen, ist eine Funktion, die die Orte, die Städte, in unserm Fall also die Stadt Berlin in der Literatur erfüllen.«18 Über einen Dramen-Tourismus ist wenig bekannt. Zwar gibt es vereinzelte Beispiele: Zu Beginn des 19. Jahrhunderts identifizierten zahlreiche Reisende bei der Überquerung des Gemmi im Wallis die Passhöhe mit dem Handlungsort in Zacharias Werners Morddrama DER 24. FEBRUAR: Sie bestätigen in Tagebüchern und Briefen, voll wohligen

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Gruselns, dass »die schauerliche Oede rings umher […] zum Schauplatz einer solchen Dichtung vorzüglich geeignet«19 sei. »Der finstere Gemmi […] sah so unheimlich aus, als ob er Werners furchtbaren 24ten Februar recht lebendig repräsentiren wollte«,20 vermeldet ein Graf Starklof. Doch niemals kann sich der Dramentourismus mit der ausgeprägten Kultur des literarischen Reisens auf den Spuren von Romanhelden und -heldinnen messen.

Der Vierwaldstättersee aus der Vogelschau (18./19. Jahrhundert)

Dramen-Topographie II: Der Raum von Schillers WILHELM TELL Es gibt Autoren, denen, einer Auszeichnung gleich, das Attribut topographischer Dichter verliehen worden ist: Thomas Hardy gehört dazu, Theodor Storm, Walter Scott, und, immer wieder: Proust!21 Und es gibt explizit topographische Genres, wie etwa den Kriminalroman (Helmut Heissenbüttel spricht in diesem Zusammenhang von einer »topographischen Verankerung«22 des Detektivromans). Aber gibt es topographisch arbeitende Dramatiker? Oder ist das ein Widerspruch in sich? Der bisherige Gang der Argumentation hat gezeigt, dass die Großgattung Drama wenig Affinitäten zu Geographischem und Topographischem aufweist; umso aufschlussreicher dürften die Ausnahmen sein. Und in der Tat: Zu all dem bislang Gesagten gibt es eine große Ausnahme: Friedrich Schillers WILHELM TELL. In diesem Stück überwiegt das Topographische, nicht das Topologische. Der Tell-Stoff, je nach Gesichtspunkt ein historischer oder aber ein mythischer Stoff, gehört in die Kategorie, in der der Schauplatz schon vorgegeben ist: die majes-

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tätische Bergkulisse der Innerschweiz, zwischen Luzern und Gotthard, mit dem Vierwaldstättersee als Zentrum der Landschaft. Bei seinem Besuch in dieser »Landschaft Tells« stellte der Schweizer Schriftsteller Urs Widmer im Herbst 2003 fest, dass Schiller die Handlung »durch eine geradezu aufdringlich exakte Topographie«23 beglaubige. Hundertfünfzig geographische Angaben zählte er in dem Stück. »Schiller muss mit dem Vergnügen eines Kopfreisenden auf seine Karte geblickt und sich immer erneut geeignete Orte herausgepickt haben. Er macht keine Fehler. Keine Angaben, die sich widersprechen. Die Wege wären abschreitbar.«24 Es ließe sich an dieser Stelle vieles sagen über Schillers Arbeitstechnik, darüber, wie er sich einen Raum, den er nie gesehen hat, offenbar virtuell, dreidimensional vorstellen konnte. Nur soviel: Er war ein guter und genauer Kartenleser.25 Was macht den Handlungsraum von Schillers WILHELM TELL so konkret? Was bedeutet es, dass alles lokalisierbar ist? Schiller arbeitet nach dem Prinzip äußerster topographischer Genauigkeit. Er operiert dabei in einem Raumkontinuum, in einem zusammenhängenden Raum rund um den Vierwaldstättersee; aus diesem Raumkontinuum greift er einzelne Punkte heraus: das Rütli, Altdorf, Zwing-Uri, die Hohle Gasse, den See zwischen Flüelen und der Tellsplatte. Und was er nicht zeigt, das lässt er durch Figurenrede evozieren, etwa durch Melchthals Schilderung von der Überquerung des Surennenpasses. Dieses räumliche Kontinuum scheint das Ungewöhnliche zu sein, ein Handlungsraum von gewaltigen Ausmaßen, aber doch wiederum so überschaubar, dass Verbindungslinien und Korrespondenzen zwischen den einzelnen Schauplätzen entstehen. Das Einzigartige im WILHELM TELL ist, dass sich die Figuren dauernd in dem konkreten Raum bewegen, den sie beschreiben, dass die in der Figurenrede erwähnten topographischen Verankerungen auch im Spiel umgesetzt werden. Vergleichen wir die JUNGFRAU VON ORLÉANS damit. Die Handlung spielt in Frankreich, soweit, so gut: »Die Szene wechselt in verschiedenen Gegenden Frankreichs«, merkt Schiller in den Regieanweisungen an. Im Folgenden ist dann von einer »ländliche[n] Gegend« oder einem »wilde[n] Wald, in der Ferne Köhlerhütten« die Rede. Von topographischer Konkretheit keine Spur (natürlich wird Reims genannt und auch gezeigt, in Zusammenhang mit dem Krönungszug, aber die Landschaftsszenen, die Außenräume bleiben unbestimmt, unbestimmbar). Der Eindruck eines zusammenhängenden Raumes entsteht nicht, zu groß sind die Distanzen, zu vage die Beschreibungen. In der MARIA STUART oder der BRAUT VON MESSINA spielen Außenräume kaum eine Rolle. Und in den RÄUBERN und der WALLENSTEIN-Trilogie ist es wiederum der topologische

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Aspekt, der überwiegt: Wälder, Lager und Schlachtfelder. Mit anderen Worten: Nirgendwo sonst arbeitet Schiller mit solch topographischer Akribie wie im WILHELM TELL. Man vergleiche dagegen zwei andere Dramen, die in einer Gebirgsgegend angesiedelt sind, und in denen sofort erkennbar ist, dass der Topos Gebirge von Bedeutung ist und nicht die exakte Topographie. Sowohl in Lord Byrons MANFRED (1817) wie auch in Ibsens WENN WIR TOTEN ERWACHEN (1899) öffnet sich die Gebirgswelt nicht zum Raum, sie bleibt bloße Kulisse. Sie ist auch bloß mehr oder minder vage lokalisierbar. Bei Byron wird ein einziger markanter Punkt innerhalb des Berner Oberlandes benannt: der Jungfrau-Gipfel. Aber die Landschaft bleibt ansonsten derart abstrakt (obwohl Byron behauptet, er habe MANFRED geschrieben, »for the sake of introducing the Alpine scenery in description«26), dass ein x-beliebiger eisbedeckter Gipfel dieselbe Funktion hätte erfüllen können; der Raum selbst kann nur als atopographisch beschrieben werden. Ibsen versetzt seine Figuren an die norwegische Küste bei Fjorden und Schären und dann ins dahinterliegende Berggebiet, ohne Lokalisierungshinweise zu diesem Handlungsraum von schwer bestimmbarer Ausdehnung zu geben. Und werfen wir schließlich einen Blick auf die Reihe von Tell-Dramen, die vor 1804, vor Schillers Version, erschienen sind. Ist es vielleicht der aktionsreiche, beinahe drehbuchartige Stoff, der eine topographisch-konkrete Behandlung einfach nahe legt? Nein, auch das nicht, denn das Rütli und die Hohle Gasse, zwei der prominentesten Außenhandlungsräume, feiern erst in Schillers Stück Premiere auf der Bühne. Er war der Erste, der die beiden Schauplätze als Szenenhintergrund einrichtete (im Falle von Ludwig Ambühls Tell-Drama von 1792 etwa beschränkt sich die Handlung auf zwei Schauplätze, einen Saal in Gesslers Burg und den Platz in Altdorf).27 Im Falle des Schillerschen WILHELM TELL darf man mit Angela Corbinau-Hoffmann von einer »[d]eskriptive[n] Präsenz des Ortes«28 sprechen. Und es ist nur folgerichtig, dass es die Schauplätze des WILHELM TELL sind (die verwinkelte Landschaft der Vierwaldstätterseegegend mit Seearmen, Gebirgstälern und Passübergängen), die, völlig untypisch, eine gewaltige Masse an Literaturtouristen angezogen haben und noch anziehen. Man las »Schillers zart romantische Einleitung zum Tell«29, das heißt: die erste Szene im ersten Akt, wo die Landschaft sich in voller Pracht entfaltet, während sich durch ebendiese Szenerie rudern ließ. »Jetzt sind wir endlich auf dem See, der Himmel hell und klar; da wird Schiller hervorgeholt, und sein Tell mit Andacht gelesen; denn hier ist der Ort dafür […]. Die Schiffer wunderten sich nicht wenig, als sie

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den fremden Herrn fragen hörten: ›Das ist wohl der Buggisgrat, hier das Hackmesser, dort der Axen; und als ich ihnen nun sagte, das stehe alles in meinem Buche, es sei dies ein Buch von Wilhelm Tell, da hättest du ihre Freude sehen sollen, lieber Eduard!«30 Rudolf Bernhard Fetscherin, der Verfasser dieses Brieftagebuches von 1823, ist einer aus Hunderten von Reisenden, die man zitieren könnte; sie alle sind in die Landschaft Tells gereist, mit dem Dramentext im Gepäck, um dort die Originalschauplätze zu bestaunen.31 Realer Landschaftsraum und im Dramentext konstituierter Raum, Raum-Wirklichkeit und Raum-Fiktion kulminieren in Schillers WILHELM TELL in bislang nicht da gewesener Weise. Und man darf ohne Übertreibung sagen: In seiner räumlichen Konkretheit erweist sich dieses Stück als wohl einmalig unter den großen Dramen der Weltliteratur.

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Safranski, Rüdiger: Friedrich Schiller oder die Erfindung des Deutschen Idealismus, München 2004, S. 516. Honoré de Balzac, der große Erzähler, der Paris wie kein zweiter narrativ durchdrungen hat, hat sich Jahrzehnte später genau dies zur Aufgabe gemacht: die Hauptstadt und Frankreichs Regionen in ihrer Totalität abzubilden. Das prometheische Unternehmen der Comédie humaine hat in der Planung 135 Romane umfasst und hätte von rund 3000 Typen/Figuren bevölkert sein sollen. Sein Ziel war es, die französische Gesellschaft, d. h. das gesamte Personenspektrum seiner Zeit und sämtliche sozialen Räume, zu rekonstruieren, zu »kopieren«, wie er sagte. Siehe dazu Grimm, Jürgen (Hrsg.): Französische Literaturgeschichte, Stuttgart 41999, S. 255ff., sowie Scheffel, Michael: »Balzacs Paris«, in: Orte der Literatur, hrsg. von Werner Frick in Zusammenarbeit mit Gesa von Essen und Fabian Lampart, Göttingen 2002, S. 150 – 169 Dieser Ausdruck findet sich in Robert Nagels Deutschem Literaturatlas von 1907, dessen Untertitel lautet: Die geographische und politische Verteilung der deutschen Dichtung in ihrer Entwicklung nebst einem Anhang von Lebenskarten der bedeutendsten Dichter. Diese Angaben verdanke ich Dr. Martin Schalhorn, Deutsches Literaturarchiv, Marbach am Neckar. Pfister, Manfred: Das Drama. Theorie und Analyse, München 112001, S. 343. Heydebrand, Renate von: Literatur in der Provinz Westfalen 1815 –1945. Ein literarhistorischer Modell-Entwurf. Münster 1983, S. 1. Die vierte Auflage ist zwischen 1938 und 1941 in vier Bänden unter dem Titel Literaturgeschichte des Deutschen Volkes. Dichtung und Schrifttum der deutschen Stämme und Landschaften im Propyläen-Verlag, Berlin, erschienen. Siehe Moretti, Franco: Atlas des europäischen Romans. Wo die Literatur spielte, Köln 1999. Eine Fülle von Anregungen zum Thema »Geographie und Kartographie der Literatur« sind auch zu finden in Ungern Sternberg, Armin von: »Erzählregionen«. Überlegungen zu literarischen Räumen mit Blick auf die deutsche Literatur des Baltikums, das Baltikum und die deutsche Literatur, Bielefeld 2003, sowie in Stockhammer, Robert: »›AN DIESER STELLE.‹ Kartographie und die Literatur der Moderne«. In: Poetica. Zeitschrift für Sprach- und Literaturwissenschaft 33 (2001), S. 273 – 306; ders (Hrsg.): TopoGraphien der Moderne. Medien zur Repräsentation und Konstruktion von Räumen, München 2005. Stableford, Brian: »Introduction«, in: Cyclopedia of Literary Places, vol. 1, Pasadena 2003, S. XXXV. Vgl. Anm. 8. Meyer, Reinhart: »Die exotischen Handlungsräume im Drama des ausgehenden 18. Jahrhunderts«, in: Reise und soziale Realität am Ende des 18. Jahrhunderts, hrsg. von Wolfgang Griep und Hans-Wolf Jäger, Heidelberg 1983, S. 323. Siehe Pfister, Drama, S. 351. Goethe, Johann Wolfgang: Sämtliche Werke nach Epochen seines Schaffens, Münchner Ausgabe, Bd. 14, hrsg. von Reiner Wild, München 1986, S. 12.

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14 Goethe, Johann Wolfgang: Sämtliche Werke nach Epochen seines Schaffens, Münchner

Ausgabe, Bd. 2.1, hrsg. von Hartmut Reinhardt, München 1987, S. 292.

15 Ebd., S. 673 (Goethe an Kayser 29.12.1779). 16 Siehe Ziehen, Eduard: Die deutsche Schweizerbegeisterung in den Jahren 1750 – 1815,

Frankfurt/M. 1922, S. 25ff.

17 »Drei Elemente schaffen Welt und stellen damit die Strukturelemente der epischen

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Form dar: Figur, Raum und Geschehen. Sie können in verschiedenem Masse bei der Schaffung von Welt beteiligt sein.« (Kayser, Wolfgang: Das sprachliche Kunstwerk, Bern 61960, S. 352). Lühe, Irmela von der: »Fontanes Berlin«, in: Orte der Literatur, hrsg. von Werner Frick, Göttingen 2002, S. 190. Heimerich, Alexander: Bruchstücke, Bd. 1, Kopenhagen 1824, S. 75. Starklof, Karl Christian Ludwig: Tagebuch meiner Reise durch die Schweiz, Bremen 1819, S. 140f. Mit dem Satz »Marcel Proust is one of the great topographical poets […]«, eröffnet J. Hillis Miller seine Monographie mit dem Titel Topographies (Miller, Hillis J.: Topographies, Stanford 1995, S. 1). Heissenbüttel, Helmut: Über Literatur, Stuttgart 1966, S. 111. Widmer, Urs: »Die Topographie des ›Wilhelm Tell‹. Ein Lokaltermin mit Friedrich Schillers Drehbuch in der Hand«, in: Neue Zürcher Zeitung, 17. November 2003, S. 25. Ebd. Ausführungen und Abbildungen siehe Piatti, Barbara: Tells Theater. Eine Kulturgeschichte in fünf Akten zu Friedrich Schillers Wilhelm Tell, Basel 2004, S. 84 – 109. Zitiert nach Cheeke, Stephen: Byron and Place: History, Translation, Nostalgia, New York 2003, S. 86 (Byron an Moore, 25. März 1817). Siehe Zeller, Rosemarie: »Der Tell-Mythos und seine dramatische Gestaltung von Henzi bis Schiller«, in: Jahrbuch der deutschen Schiller-Gesellschaft 38 (1994), S. 85. Corbineau-Hoffmann, Angelika: Paradoxie der Fiktion. Literarische Venedig-Bilder 1797 – 1984, Berlin 1993, S. 112. Zitiert nach Hentschel, Uwe: Mythos Schweiz. Zum deutschen literarischen Philhelvetismus zwischen 1700 und 1850, Tübingen 2002, S. 284. Ebd., S. 286. Zum Schiller-Tourismus am Vierwaldstättersee siehe ausführlich Piatti, Tells Theater, S. 129 – 180.

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SCHILLERS SPIELBEIN: BEWEGUNG UND TANZ Zu einer Ästhetik im Zeichen von movere

Bewegung ist ein Schlüsselbegriff in Schillers Texten. Bewegung und Bewegtheit prägen die Figuren seiner Dramen, die gedrängten Miniaturszenen seiner Balladen, die rhythmische Figuration seiner Lyrik – und nicht zuletzt die Gedankenführung seiner theoretischen Schriften. Bewegung – im Sinne des Begriffes Pathos – wird in der Rezeption Schillers zumeist als Affekt-Bewegung gelesen. Wie aber zeigt sich jene andere Seite von Bewegung, die movere als körperlich gezeichnete Spur in Raum und Zeit auslegt? Damit ist die formale, die korporale Dimension von Bewegung angesprochen: ihre flüchtige Erscheinung und ihre ästhetische Darstellung als Figur. Jene Kunst, die Bewegung in solcher Weise zum »Stoff« und zur »Form« ihrer Darstellung einsetzt, ist der Tanz. Die Figur des Tanzes als Modell ästhetischer Reflexion? Schillers »Spielbein« – in der strengen Gedankenführung seiner ästhetischen Schriften – bewegt sich im Takt des Tanzes. Und das Spiel von Freiheit und Gesetz folgt umgekehrt nicht nur einem rhythmischen, sondern auch einem taktischen Prinzip: Der Tanz ist sowohl das Modell ästhetischer Autonomie als auch das Modell politischer Souveränität. Im 27. Brief aus »Über die ästhetische Erziehung des Menschen in einer Reihe von Briefen«1 zieht Schiller den Tanz als Bild für jene Form von Bewegung heran, die Bildung, Verwandlung und Mitteilung kultiviert: »Der gesetzlose Sprung der Freude wird zum Tanz, die ungestalte Geste zu einer anmutigen, harmonischen Gebärdensprache, die verworrenen Laute der Empfindung entfalten sich, fangen an, dem Takt zu gehorchen und sich zum Gesange zu biegen.« Movere wird im 18. Jahrhundert zu einem Schlüsselbegriff darstellungstheoretischer Reflexionen – nicht nur im Umkreis des Theaters. Dabei steht nicht nur der aus der antiken Tradition, etwa der aristotelischen Poetik, stammende rhetorische Begriff der affizierten Seele im Zentrum der Diskussionen – wenngleich die wirkungsästhetische Dimension von Bewegung die Theoretiker der Körperdarstellung, z. B. Lessing, Sulzer, Engel und auch Friedrich Schiller, intensiv beschäftigte. Daneben tritt die psychophysische Wechselwirkung, »influxus physicus« – der Einfluss der bewegten Seele auf den Körper und umgekehrt – ins Zen-

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trum des Interesses: jene Bewegung – »motus animi« –, die den Körper angreift, ihn in Aufruhr versetzt und seinerseits in Bewegung bringt. Es ist eine Wirkungsästhetik, die da einsetzt, wo die Rede schweigt. Bewegung, die Bewegtheit induziert. Die deutlichere Sprache des Herzens sei im stummen Ausdruck des Körpers zu finden, so die Überschrift über das Paradigma des movere. Der Wandel im Verständnis der »eloquentia corporis« vom Affekt zum Ausdruck,2 der anthropologische und der wissensgeschichtliche Kontext zu dieser Einfühlungstheorie und den Emotionalisierungsdiskursen des 18. Jahrhundert sind breit erforscht.3 Im Folgenden möchte ich das Thema der Bewegung, movere, nicht von seiner schauspieltheoretischen Seite her betrachten (dies ist in der Forschung hinlänglich geschehen), nicht also die wirkungsästhetische Dimension in den Vordergrund rücken: die Rührung, die Evidenz des körperlich-seelischen Affiziertseins, die als »unbestechliche Wahrheit«, wie Schiller in diesem Schaubühnenaufsatz schreibt, auftritt. Demgegenüber will ich nun das Augenmerk auf jene Seite des movere richten, die Bewegung als Thema eines ästhetischen und politischen Diskurses aufgreift. Damit rückt neben der Wahrheit nun die Schönheit in den Vordergrund der Betrachtung: Movere wird so in Schillers ästhetischen Schriften unter dem Gesichtspunkt der Form und der Figur diskutiert. Bewegung, als Kernvokabel in Schillers gesamten Schriften zur ästhetischen Theorie, gewinnt – in seiner Auseinandersetzung mit Kant und im Gespräch mit Körner, Wilhelm von Humboldt und Goethe – immer mehr Kontur und Prägnanz bis hin zu den Briefen ÜBER DIE ÄSTHETISCHE ERZIEHUNG. Ich will mich im Folgenden auf die KALLIASBriefe an Körner4 und die Abhandlung ÜBER ANMUT UND WÜRDE5 konzentrieren. Um die Zäsur, die Schillers Begriff eines von der Form her bestimmten Begriffs der Bewegung für den movere-Diskurs bedeutet, sichtbar zu machen, scheint es sinnvoll, das Thema im Kontext des Bewegungs- und Tanzdiskurses des späten 18. Jahrhunderts zu situieren. Im Feld von Bild- und Theatertheorien dominierte lange die Perspektive auf die mimische Seite der Bewegung: Der Körperausdruck und die Frage nach nonverbalen Zeichen – Gesten, Gebärden, Mimik – rückten in den Horizont eines an der griechischen Klassik orientierten »Phantasmas der natürlichen Gestalt«.6 So auch in einer ganzen Reihe der wichtigen Tanz- und Ballett-Traktate des 18. Jahrhunderts: von Jean Georges Noverre, dessen Ballette und Theorie Schiller über Joseph Uriot (seinen Fecht-, Bewegungs- und Französischlehrer aus der KarlsSchulzeit) kannte,7 über John Weaver und Anton Hilverding bis zu Gasparo Angiolini. In den Gesprächen über Bewegung und Bestimmungsmerkmale der Schönheit – Schiller wird diese Schönheit »An-

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Joseph Lanzedelly (geb. Giuseppe Lancedelli): »The Vigano couple in a Pas de deux«, Wien 1793

mut« nennen – tritt demgegenüber das Kriterium der Form und der Figur ins Zentrum der ästhetischen Reflexion. Aufschluss über die Vermittlung dieser darstellungstheoretischen Fragen mag dabei zunächst der Brief von Wilhelm von Humboldt an Schiller vom 12. Januar 1796 geben. Hier ist nämlich die Anmut als Figuration der Bewegung ganz konkret und sinnlich an den Auftritt einer Tänzerin gebunden. Humboldt hat die in dieser Zeit berühmte »Tänzerin aus Wien«, Maria Medina Viganò,8 in Wien gesehen und ist über ihren Auftritt tief beeindruckt und begeistert. Allein was das dießjährige Carnaval auszeichnet ist eine Tänzerin aus Wien, Madame Vigano, die wirklich jede Beschreibung übertreffen

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würde. Ich gäbe viel darum, wenn Sie sie sehen könnten. Eindrücke dieser Art pflegen schon durch ihre Seltenheit stark auf Sie zu wirken. Die Vigano glänzt nicht eigentlich durch die gewöhnlichen Tänzerkünste, durch große und vielfache Sprünge, sondern allein durch eine unbegreifliche Anmuth und Grazie der Stellungen. Ihre sehr große Stärke braucht sie allein dazu, ihrer Grazie Fundament und Festigkeit zu geben […] Ihre Tänze haben wenig Charakteristisches, überhaupt wird man gar nicht an Kunst und nur sehr wenig selbst ans Theater erinnert. Man sieht eine liebenswürdige weibliche Figur mit immer gleicher Natur, Wahrheit und Grazie, mit durchgängiger Harmonie und Einheit eine Menge wechselnder Stellungen und Gänge machen […] noch nie habe ich das Bild der Leichtigkeit und Grazie so rein aus einem lebendigen Anblick geschöpft.9 Und im Weiteren erprobt Humboldt in der ausführlichen reflektierenden Beschreibung dieses Tanzes jene Kriterien, die dieses movere bestimmen – jenseits des »Mimischen« und jenseits des »Pathetischen«. Humboldt verlagert die Qualität dieser Bewegung auf die nicht-theatrale Ebene der Form und des Ausdrucks; denn, obgleich man die Erscheinung von Madame Viganò mit einer »lebenden Antike« vergleichen könne, würde das »Pathos« solcher Antikenrepräsentation doch dem »Bild der Leichtigkeit der Grazie« widersprechen. Wodurch dieser Tanz sich auszeichnet, ist der »Charakter, den er selbst durchaus an sich trägt.« Dieser Begriff von movere als Figuration der Körperbewegung – in einer »gewissen luxurierenden Mannigfaltigkeit der Bewegungen«, der »Harmonie und Einheit« sowie einer Vielfalt »wechselnder Stellungen und Gänge« – definiert Tanz als autonome Kunst. In der Skala zwischen antik und modern würde dieser Tanz dem „Charakter des Modernen“ zuzuordnen sein – so Humboldt, um dann in Bezugnahme zu Schillers gattungspoetischen Reflexionen die entsprechenden Stichworte aufzunehmen: Idylle, das Pathetische. Bewegung, unter dem Eindruck der Form, wie im Tanz der Viganò, sei – »ungeachtet jener hervorstechend einfachen Naivetät« – durch den »Charakter des Modernen« geprägt und damit dem Sentimentalischen zuzurechnen. Johann Georg Sulzer in seiner ALLGEMEINEN THEORIE DER SCHÖNEN KÜNSTE10 hat Bewegung durch zwei Kriterien bestimmt: durch das (Zeit- und Raum-)Maß und die Figur.11 Er greift mit dem Kriterium des Maßes eine jener Kategorien als eine ästhetisch bestimmte und bestimmende auf, die in den Tanz-Traktaten seit der Renaissance zu den Basiskategorien zählen: »misura«, das Maß für die Zeit und die Geschwindigkeit.12 Das zweite wesentliche Kriterium für Bewegung ist Figur,

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d.h. die Linie, die Spur, die Form und ihre Mannigfaltigkeit der Durchführung: »Die schöne Bewegung ist eine sich beständig ändernde schöne Figur.« Da die Kunst der schönen Bewegung der Tanz ist, so folgt für eine Theorie des Schönen der Bewegung, laut Sulzer: »Die Theorie, welche das Schöne in der Bewegung überhaupt untersuchte, wäre die allgemeine Tanzkunst«. Diese allgemeine, von der Bewegung als Figur her bestimmte Definition lässt aber doch, ähnlich wie bei Humboldt, die Frage nach der anderen Seite des movere nicht ganz außer Acht: die Frage nach dem Anteil der Seele. Sulzer schreibt: »Alle Handlungen der Seele führen den Begriff der Bewegung mit sich«, und so auch im Umkehrschluss: »Daher kann die Bewegung zum Zeichen oder Ausdruck dessen gebraucht werden, was in der Seele vorgeht.« Die Macht des movere – der mit Bewegung verbundenen Figur – wird sichtbar im »Reiz einer vollkommenen Tänzerin«.13 »Reiz« ist hier – dem Sprachgebrauch der Zeit entsprechend – gleichbedeutend mit »Grazie«: »Wir nehmen dieses Wort [Reiz] in der Bedeutung, für welche verschiedene unsrer neuesten Kunstrichter das Wort Grazie gebrauchen.«14 Sulzer verwendet diese Begriffe – Reiz, Grazie, Anmut – unter jenem Gesichtspunkt, den auch Schiller einnimmt: Anmut ist eine feminin konnotierte Form der Bewegung – jene Form der (weiblichen) Schönheit, die die »Zuneigung aller Herzen gewinnt«. »Der höchste Grad der Anmut ist das Bezaubernde«, schreibt Schiller in ÜBER ANMUT UND WÜRDE. Die Differenz zwischen der (statischen) Schönheit der KörperGestalt, die Bewunderung erweckt, und dem »Reiz«, der durch Bewegung und Beweglichkeit bestimmt ist, wird auch bei Sulzer schon mit dem mythischen Bild des Gürtels der Venus eingeführt: »Wenn Juno reizend seyn will, muss sie etwas von ihrem Ernst ablegen, und den Gürtel der Venus auf eine Zeit borgen.« Weiter jedoch geht seine Differenzierung nicht; ja, er vertritt zuletzt sogar das Argument, dass sich das »Reizende«, der Zauber der Anmut also, nicht ästhetisch-analytisch »zergliedern« lasse. Anders Schiller, dessen theoretische Bemühungen in KALLIAS und in ÜBER ANMUT UND WÜRDE gerade auf die Analyse des ästhetischen Spezifischen dieser Schönheit der Bewegung zielen: Es ist überaus bemerkenswert, dass Schillers Bemühungen um analytische Stringenz einer »ästhetischen« Bestimmung des movere – ohne die ethische Seite zu kappen – zunächst den Tanz ausklammern. Anders als für Humboldt, Sulzer und auch für Körner werden für Schiller gerade nicht der Tanz und nicht die Tanztheorie der einflussreichen Ballettreformer zu Bezugsdiskursen seiner Auseinandersetzung, wiewohl man davon ausgehen kann, dass er diese zeitgenössischen Debatten um eine neue Ausdrucksform des Tanzes im »ballet en action« gut kannte. Diese Aus-

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sparung ist signifikant. Sie ist freilich in der Schiller-Forschung bislang kaum wahrgenommen worden – vermutlich, weil tanzästhetische Texte und die Relevanz dieser Diskurse für die Ästhetik und Theorie der Kunst im wissenschaftlichen Kanon wenig präsent sind. Ziehen wir zur Arrondierung dieser Fragen des movere als einer Ästhetik des bewegten und beweglichen Körpers, nach Sulzer und Humboldt, nun noch Christian Gottfried Körner heran – um die »Korrespondenzen« zu Schillers Theorie der Bewegung zu befragen. Körner bezieht sich, ähnlich wie Wilhelm von Humboldt, durchaus auf den (Bühnen-)Tanz, wenn er – in seiner »Abhandlung über die Bedeutung des Tanzes« – grundsätzliche Fragen zur Schönheit der Bewegung aufgreift. Der Text entstand im Zusammenhang der Korrespondenz mit Schiller, im Umfeld der KALLIAS-Briefe. Schiller ermutigte Körner, diesen Aufsatz für die Horen zu verfassen. Körner schrieb den Text im Anschluss an seinen 1795 in den Horen erschienenen Aufsatz ÜBER CHARAKTERDARSTELLUNG IN DER MUSIK. Der Text über den Tanz wurde freilich nicht, wie geplant, in den Horen publiziert, sondern erschien erst 1808: Heinrich von Kleist nahm den Artikel in die erste Nummer seiner Zeitschrift Phöbus auf und rahmte ihn durch zwei eigene Texte: das »Organische Fragment« der PENTHESILEA einerseits und das Gedicht DER ENGEL AM GRABE DES HERRN andererseits. Die mediale Kontextualisierung wäre eine eigene Studie wert; ebenso die Tatsache, dass die hier zusammengestellten ästhetischen Abhandlungen zugleich ein Journal- bzw. Zeitschriften-Programm bilden. Die Medien-Repräsentation hat in mehrfacher Hinsicht teil an den brennenden Fragen der Form, der Bewegung, der Ästhetik, der Politik des Körpers und der Zeitlichkeit in der Kunst. Der Ausgangspunkt von Körners Argumentation ist – ähnlich wie schon in Sulzers Artikel – der Gedanke, dass Musik und Tanz eigenständige Kunstformen seien, die ihre »Schätze« nicht »durch fremde Beihülfe erborgen müssen«.15 In einem Ballet, das unsern Sinn für Schönheit der Bewegung befriedigt, erfreut uns vieles, das zu der Handlung, die versinnbildlicht werden soll, gar nicht eigentlich gehört, und gleichwohl möchten wir diesen Genuß gerade am wenigsten aufgeben. Auch besteht er nicht in einem bloßen Reize der Sinnlichkeit, sondern ist von edlerer Art und erhebt uns anstatt uns herabzuwürdigen. Der Tanz muß also doch in sich selbst eine Bedeutung haben, und scheint sich zur Mimik zu verhalten, wie der Gesang zur Rede. Sollte es vielleicht Töne und Bewegungen geben, die eben deswegen nichts Bestimmtes bezeichnen, weil sie etwas Unendliches andeuten?

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Körners Text variiert insgesamt jene Theoreme und Begriffe, die aus den Debatten im Umkreis von Schillers ästhetischen Schriften hervorgingen. Noch in den Rezeptionszeugnissen dieses Textes (1808, also in der Zeit von Goethes WAHLVERWANDTSCHAFTEN) wird das Echo dieser Frage vernehmbar: Goethe, Böttiger und Bertuch etwa reagierten auf den Aufsatz. Und Bertuch hebt besonders hervor – indem er die Definition des Tanzes ganz im Sinne von Schiller fasst: »ein Sieg der Form über die Masse in der Bewegung ist der Tanz.«16 Körner wiederholt in seiner Abhandlung jene Kriterien, die in Schillers ästhetischer Theorie allgemein unter der Signatur der Bewegung gefasst sind, aus der Perspektive einer Tanz-Theorie. Beispielsweise wird die »Freiheit der Form« als »Schönheit der Bewegung« bei Körner als »Leichtigkeit« beschrieben: »Die Gestalt schwebt im Raume ohne Anstrengung und ohne Widerstand. Sie wird nicht durch Schwere an den Boden gefesselt; sie haftet an ihm aus Neigung. Jede Muskel behält ihre eigne Reizbarkeit und Elasticität, aber alle stehen unter der milden Herrschaft einer innern Kraft, der sie freiwillig zu gehorchen scheinen.« Die Schlüsselvokabeln des movere-Diskurses als eines ästhetischen und politischen werden aufgegriffen und variiert: »Bestimmtheit« etwa firmiert als ein anderer Begriff für Form. Dies entspricht dem Vokabular im Ästhetik-Diskurs des 18. Jahrhundert; ähnliche Begriffsverwendungen finden sich bei Herder und Karl Philipp Moritz. Auch der Terminus »Character«, der ebenso in Humboldts und Sulzers Bewegungs-Poetiken erscheint, erfährt eine signifikante Umbesetzung: Er bezeichnet gerade nicht das Theatrale als Rollenfigur oder CharakterDarstellung, sondern er erhält eine poetologische, eine Genre-orientierte Bestimmung – und zugleich eine auf »Nationalcharaktere« (bestimmter Tänze) ausgerichtete Bedeutung.17 Körner schreibt: »Einheit erhält der Tanz durch den Character, dem es ebenfalls nicht an Bestimmtheit fehlen darf.« Bestimmend für den Charakter ist nicht Handlung, sondern Rhythmus; und: »In dem Ideale des Characters sind Kraft und Anmuth vereinigt und die unendliche Verschiedenheit ihrer Verhältnisse gegeneinander giebt einen reichen Stoff für die Darstellung.« Körner bezieht diese Frage der Form im Weiteren nicht auf die Themen oder den Stoff des Tanzes – nicht also auf Fragen des movere durch ein »ballet en action« im Sinne des Dramatischen, sondern im Blick auf das Lyrische und auf Tanz-Figurationen, die nicht dem Theater-, sondern dem Gesellschaftstanz zugeordnet sind. Das Menuett, als Tanzform des ancien regime, und vor allem der Kontratanz, der auch in Schillers KALLIAS-Briefen eine zentrale Rolle spielt, werden hier zu Modellen. »Der Tanz des Engländers«, so nennt Körner diesen Gesellschaftstanz,

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durchaus korrekt, denn der »Kontratanz« oder »Contredanse« entsteht aus dem englischen »Country Dance«.18 Schiller hingegen spart in ÜBER ANMUT UND WÜRDE – anders als Humboldt oder Körner – den Theatertanz, das Ballett aus seiner Reflexion über Bewegung und Schönheit aus. Lediglich negativ – nämlich in den Passagen über »affektierte Anmut«, »Ziererei« und »Tanzmeistergrazie« – erscheint Tanz als theatralische Kunst. Der Grund dafür liegt nicht in einer Ausschließung des Tanzes insgesamt als Kunstform; er ist vielmehr systematischer Natur: Anmut als Schönheit der Bewegung, als »bewegliche Schönheit« widerstrebt der Nachahmung als Technik einer mimetischen Aneignung etwa durch Schauspielunterricht oder Tanztraining. Zwar, so gesteht Schiller zu, könne der Tanzmeister (mithin das Ballett als Schule der Bewegung) der Anmut zu Hilfe kommen, indem er »dem Willen seine Werkzeuge verschafft und […] die Hindernisse hinwegräumt, welche die Masse und die Schwerkraft dem Spiel der lebendigen Kräfte entgegensetzen.« Anmut jedoch muss – mehr noch als die sprezzatura des Hofmannes, die dem Schein des Mühelosen und der Leichtigkeit verpflichtet ist – jederzeit »unwillkürlich«, d. h. Natur sein, oder doch wenigstens so erscheinen. Und dieses Scheinen ist nicht dissimulatorischer Art – wie dies im Schauspiel und im Tanz als Darstellungstechnik gepflegt wird. Das Subjekt darf nie so aussehen, »als wenn es um seine Anmut wüsste«; denn was als Anmut erscheint, ist nicht eine ästhetische, sondern zuletzt eine moralische oder ethische Leistung der Person: die gelingende Integration der Sinnlichkeit durch den Geist. Schiller gibt diesem Herrschaftskompromiss zwischen Sinnlichkeit und Sittlichkeit den Namen »schöne Seele«: »In einer schönen Seele ist es also, wo Sinnlichkeit und Vernunft, Pflicht und Neigung harmonieren, und Grazie ist ihr Ausdruck in der Erscheinung.« Es ist diese Modifikation des Begriffs der Grazie durch die Bedeutung der Freiheit – »Schönheit der Gestalt unter dem Einfluss der Freiheit« –, mit der Schiller einen entscheidenden Schritt über die zeitgenössischen Auffassungen hinausgeht, ja, mit dem er dem herrschenden Diskurs geradezu eine Wende gibt. Wie bei Sulzer und Mendelssohn – doch anders als bei Kant – ist Anmut bei Schiller eine übertragbare Form des Schönen: Das Beispiel des Gürtels der Venus, mit dem er seine Ausführungen beginnt, bezeugt dies. Es handelt sich um eine relationale, eine beziehungstiftende und konfigurative Form des Schönen. Anmut ist, obgleich »figural«, nicht ein Schmuck – was das Bild des Gürtels suggerieren könnte –, wohl aber eine vergängliche, eine ephemere Gestalt des Schönen: nicht Eigenschaft des Subjekts, sondern durch dieses selbst hervorgebracht. Nicht die Natur des Subjekts, sondern allein die Form seiner Bewegung

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kann als »schön« begriffen werden. Und doch ist es nicht die zufällige, die unwillkürliche, nicht die zielorientierte oder begleitende Bewegung, die als anmutig erscheint, sondern jene willkürliche, die den Herrschaftskompromiss – die Integration von Neigung und Pflicht, von Sinnlichkeit und Sittlichkeit – schon impliziert. Eine »höchste Idee sittlicher Reinheit«, die wieder Natur geworden ist; dies freilich nicht in einem dissimulatorischen Gestus, sondern als ethisch-integrative Leistung des Subjekts. Schiller spielt hier mit dem semantischen Feld von grazia – in der Bedeutung von Gabe, Gunst und Anmut –, wenn er formuliert, »daß Grazie eine Gunst sei, die das Sittliche dem Sinnlichen erst zeigt.« Die Beziehung dieser prozessualen Figur von Schönheit und Bewegung ist offenbar nicht anders als in einem Paradox fassbar. »Wenn also Anmut eine Eigenschaft ist, die wir von willkürlichen Bewegungen fordern, und wenn auf der andern Seite von der Anmut selbst doch alles Willkürliche verbannt sein muß, so werden wir sie in demjenigen, was bei absichtlichen Bewegungen unabsichtlich ist, zugleich aber einer moralischen Ursache im Gemüt entsprechend ist, aufzusuchen haben.« Die willentliche Verursachung der Bewegung sollte in der Wirkung gänzlich gelöscht sein. Anmut wäre somit, und das scheint paradox, ein Zustand, eine Bewegung ohne Wirkungsintention, aber dennoch mit moralischer Ursache und eben darin wirkungsmächtig: durch jenen Reiz, jenen Zauber, der die ›moralische Induktion‹, das Vernunftmäßige und Willentliche der Bewegung in ihrem Erscheinen des Sinnlichen wieder überspielt. In diesem Paradox eines freien Spiels widersprüchlicher Kräfte findet eine (Wieder-)Zusammenführung und Überlagerung jener beiden Seiten des movere statt, die zuvor in Schillers ästhetischer Theorie gesondert worden waren: Bewegung als Form und Figur der schönen Körper-Bewegung; und Bewegung, die als Be-Rührung der Seele durch die Seele spricht: »Wo also Anmut stattfindet, da ist die Seele das bewegende Prinzip, und in ihr ist der Grund von der Schönheit der Bewegung enthalten.« Das Prinzip movere – als »motus animi« und als schöne Form der Körperbewegung – zeigt sich als Anmut. Was aber hat diese Theorie des Schönen – der Schönheit als Bewegung – mit dem Tanz zu tun? Was die Ästhetik mit der Kunst der schönen Bewegung? Die Grenze, die nicht wirklich systematisch zu bestimmen ist, liegt zwischen Wahrheit und Schönheit; in jener schmalen unentscheidbaren Zone, in der Kunst als Natur erscheint. Nicht als Kunsttheoretiker, nicht als Tanz- und Bewegungsexperte, sondern als Vertreter eines »moralischen Imperativs« als Bestimmungsmerkmal der Kunst tritt Schiller hier auf, wenn er mit entsprechender Geste ausführt: »Was werde ich aber nun dem mimischen Künstler antworten, der gern wis-

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sen möchte, wie er, da er sie nicht erlernen darf, zu der Grazie kommen soll? Er soll, ist meine Meinung, zuerst dafür sorgen, daß die Menschheit in ihm selbst zur Zeitigung komme, und dann soll er hingehen und (wenn es sonst sein Beruf ist) sie auf der Schaubühne repräsentieren.« Modern könnte man an Schillers Theorie eines ästhetisch-ethisch gefassten movere nennen, dass und wie er eine Analyse der anmutigen Bewegung und eine »Analysis of Beauty« kombiniert. In ÜBER ANMUT UND WÜRDE, und zuvor schon in den Körner-Briefen, unternimmt Schiller eine systematische Analyse von Bewegung, die mutatis mutandis jene Elemente enthält, die im 20. Jahrhundert der Choreograph und Tanztheoretiker Rudolf von Laban als Grundkategorien seines analytischen Systems extrapolierte.19 Schiller unterscheidet: Bewegungsrichtung und Bewegungsimpuls, resultierende Bewegungen, Geschwindigkeit und Energie- bzw. Kraftaufwand als modulatorische Faktoren der Bewegungsgestaltung. Er verfolgt beispielsweise eine Alltagsbewegung, die zielorientiert ist, anhand dieser Analysekriterien: Die Bewegung, die ich mache, wird durch die Absicht, die ich damit erreichen will, vorgeschrieben. Aber welchen Weg ich meinen Arm zu einem Gegenstand nehmen und wie weit ich meinen übrigen Körper nachfolgen lassen – wie geschwind oder langsam und mit wie viel oder wenig Kraftaufwand ich die Bewegung verrichten will, in diese genaue Berechnung lasse ich mich in dem Augenblick nicht ein, und der Natur in mir wird also hier etwas anheim gestellt. Nicht das Willkürliche, das Zielorientierte und auch nicht einfach das resultierend Unwillkürliche machen das Graziöse einer Bewegung aus. Dieses zeigt sich vielmehr in der Unwillkürlichkeit des Willkürlichen, in dem der »Zustand des Gemüts«, die Seele spricht: als Grazie, »als Schönheit der durch Freiheit bewegten Gestalt«. Diese Analyse der Bewegung enthält zwei Kategorien von movere, die im Blick auf das Ephemere der Bewegung von Bedeutung sind: den Begriff der Figur – wie er in Sulzers Definition von Bewegung und ebenso in zahlreichen Tanztheorien dieser Zeit gefasst ist20 – und den Begriff der Spur. Eine Verknüpfung beider Begriffe geschieht im Blick auf jene Beweglichkeit der Schönheit, die nicht als »architektonisch«, d.h. als Eigenschaft des Gegenstands bzw. des Subjekts fixierbar ist. In der zeitgenössischen ästhetischen Debatte ist diese Flüchtigkeit des Eindrucks von beweglicher Schönheit – als Spur – thematisiert. So spricht Karl Philipp Moritz beispielsweise in seiner Reflexion ÜBER DIE SIGNATUR DES SCHÖNEN von der Spur, die nicht aufgeht in der Gestalt,

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sondern vielmehr durch die Verwandlungskraft, das Transformationspotential und die Flüchtigkeit der Linie ausgezeichnet ist: »So viel fällt […] deutlich in die Augen, daß die zurückgelaßne Spur von irgendeiner Sache von dieser Sache so unendlich verschieden sein könne, daß es zuletzt fast unmöglich wird, die Verwandlungskraft der Spur mit der Gestalt des Dinges, wodurch sie eingedrückt ward, noch ferner zu erraten.«21 Schiller spürt diesem Zusammenhang von Figur und Spur, von Linie und Form in seinen Überlegungen zur Wellenbewegung der »Schlangenlinie« nach. In ÜBER ANMUT UND WÜRDE fragt er sich, ob die Bewegung des Schönen als Spur der »flammigten oder geschlängelten Linien« unter die Bestimmung von Anmut fallen, oder ob sie als »verfestete Bewegungen« von der Anmut auszuschließen seien: als festgeschriebene Figur in »Züge übergegangene[r] Gebärden«. Schiller befindet sich hier im Disput mit Mendelssohn und vor allem mit William Hogarth,

Friedrich Schiller: Schlangenlinie, 1793

dessen »Analysis of Beauty« die Wellenlinie als line of beauty definiert. An dieser Stelle wäre der breite und disparate Diskussionshorizont dieser Frage im ästhetischen Diskurs des späten 18. Jahrhunderts, in dessen Kontext die bewegte Figur der linea serpentinata und der Arabeske thematisch ist, aufzufächern.22 In KALLIAS ODER ÜBER DIE SCHÖNHEIT versteht Schiller, anders als in ÜBER ANMUT UND WÜRDE movere als Figur bzw. als Figuration: als Linie und als Spur einer Bewegung, ihrer »Varietät« und »Leichtigkeit«. Hogarths Schlangenlinie als Figuration der schönen Form wird jedoch von Schiller wiederum aus einem Paradox definiert – und damit gewendet. Nicht die Varietät dieser »line of grace« (Hogarth) ist das Kriterium. Die begriffslose Schönheit der Welle als Figur der Bewegung dient Schiller vielmehr dazu, seinen Begriff der Freiheit aus der sinnlichen Anschauung zu entwickeln, wobei hier auch die Bewegung der den Stift führenden Hand noch in die Figur einbeschrieben gedacht ist: »Folgende Linie aber ist eine schöne Linie, oder könnte es doch seyn, wenn meine Feder beßer wäre.« Das bedeutet nicht mehr und nicht weniger als den Versuch, ästhetische Abstraktion – die Figur – in der Form naturgemäßer Bewegung als Schein von Zwanglosigkeit zu begreifen. Das Verhältnis von Regel und Erscheinung in der Form – »Freiheit in seiner Technik« – wird zum ästhetischen Kriterium für die Autonomisierung der Bewegung als schöner Figur. Als Quintessenz dieses Verhältnisses hält Schiller fest:

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»Da wir uns nun die Regel bloß denken, die Natur aber sehen, so denken wir uns den Zwang und sehen die Freiheit.« Diese Kontamination von Regel und Grazie als sinnliche Erscheinung, von technischer Form und dem, was Schiller »kunstmäßig« nennt, entspricht nun freilich exakt dem, was eine Ästhetik der Bewegung als Tanz umfasst. Schiller entfaltet aus dieser Konfiguration der Bestimmungsmerkmale von Anmut eine ästhetische Definition von Bewegung, die zugleich eine Politik der Bewegung entwirft: in jener vielzitierten Passage aus Schillers KALLIASBriefen, in der es nicht um Tanz als körperlichen Ausdruck geht, sondern um Tanz-Figur als eine bewegte und bewegliche Konfiguration: Ich weiß für das Ideal des schönen Umgangs kein passenderes Bild als einen gut getanzten und aus vielen verwickelten Touren komponierten englischen Tanz. Ein Zuschauer aus der Galerie sieht unzählige Bewegungen, die sich aufs bunteste durchkreuzen und ihre Richtung lebhaft und mutwillig verändern und doch niemals zusammenstoßen. Alles ist so geordnet, daß der eine schon Platz gemacht hat, wenn der andere kommt, alles fügt sich so geschickt und doch wieder so kunstlos ineinander, daß jeder nur seinem eigenen Kopf zu folgen scheint und doch nie dem andern in den Weg tritt. Es ist das treffendste Sinnbild der behaupteten eigenen Freiheit und der geschonten Freiheit des andern. Dieses Bild ist nicht nur ein Muster der bienséance des Bürgers im Ballsaal, in der Nachfolge des Hofmannes. Es entwirft zugleich ein Sozialmodell als ästhetische Figuration. Movere wird in diesem Paradox des englischen Tanzes, d.h. des Kontratanzes – recht anders als Körner in seiner Abhandlung diesen versteht – zu einem perspektivischen Ineinander von Tanz, Bewegung und Beobachtung. Beide sind kontaminiert als ein vielfältiges, ein anmutiges Spiel der Bewegung als Linie und Spur. Dieser doppelte Begriff von movere wird zum Modell für das Verhältnis von Herrschaft und Freiheit: Schiller sieht darin eine Figur, die eine Politik der Bewegung zeichnet, in der das Ideal von Souveränität evident werden kann. Dabei ist das Dispositiv der Blickorientierung in diesen Passagen aus KALLIAS – und mehr noch in der Elegie DER TANZ – durch eine doppelte Optik gebrochen, nämlich durch die Gleichzeitigkeit der Beobachter (d. h. »Königs«)-Perspektive von oben und die durch Bewegung regulierte (und »verwickelte«) Perspektive in der (Tanz-)Figur. Ein kurzer Blick auf den Kontratanz mag dies erläutern: Contredanse, in seiner französisch geprägten Form, stammt aus dem Country Dance und wurde aus England nach Frankreich im

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17. Jahrhundert importiert und mehr und mehr ein beliebter Gesellschaftstanz. Im Gegensatz zu Paartänzen wie z.B. der Sarabande oder dem Menuett handelt es sich um einen in Paaren konfigurierten Gruppentanz, an dem mindestens acht Personen, also vier Paare, teilnehmen und der meist in langen Reihen, sogenannten long ways, getanzt wird. Typisch ist dabei jene Kon-Stellation, die dem Tanz auch den Namen gegeben hat: das Gegeneinander-Tanzen als eine Einander-GegenüberBewegung. Männer und Frauen stehen einander paarweise gegenüber. Es handelt sich um einen Figurentanz, in dem durch vielerlei Variationen, choreographische Figuren, durch die Bogen der erhobenen Arme hindurchgetanzt wird in einem ein Sich-Auflösen der Paare und der Figuren. Wegen dieser komplexen Kombinatorik bedarf des immer wieder der Abstimmung aller Beteiligten. In der Forschung23 wird die hohe Beliebtheit dieses Gesellschaftstanzes damit erklärt, dass sich dieser zunächst höfische Tanz nach und nach in den bürgerlichen Ballsälen durchsetzte. Anders als in repräsentativen Hoffesten trat hier die InterAktion als eine bewegliche Politik des Umgangs und damit der künstlerisch-gesellige Aspekt in den Vordergrund. Ja: Man hat von einem Gesellschaftsspiel mit demokratischem Charakter gesprochen. Bezeichnend ist nun, dass Schiller die Schlangenlinie, die Tanz als ästhetisches Modell politischer Freiheit vom »englischen Tanz« her figuriert, doppelt kodiert: Die Wege und Figuren des Kontratanzes, die übrigens der Schlangenlinie der S- bzw. Z-Form der linea serpentinata folgen, eröffnen die Bühne für den Bürger, der im Ballsaal die Spur höfischer Selbstzelebrierung aufgreift, der die Regel als Gesetz der Bewegung in der jeweiligen Konfiguration aushandelt und re-vidiert und in die Freiheit der Selbstbestimmung überträgt: in und durch die Bewegung des Tanzes. Die Perspektive von oben, aus der Galerie gibt dabei den Überblick über das Verwirren und Entflechten der Figuren, den (Königs-)Blick auf das movere des Tanzes. Die Perspektive von oben ist bei Hogath noch als Überblick, als Souveränität des Beobachters beschrieben. Der Genuss des Zuschauens steht immer dem Genuss des Mittanzens entgegen. Entweder gibt es die Beobachtung von oben oder den fehlenden Überblick in der Bewegung des Tanzens. Hogarth hat diesen Überblick genau beschrieben in seinem Text VON DEN CONTERTÄNZEN. Die Linien, welche eine Anzahl Leute im Conter- oder Figurentanzen zusammen machen, verursachen dem Auge ein ergetzendes Spiel, besonders wenn die ganze Figur auf einen Blick zu übersehen ist, wie in dem Komödienhause, von der Galerie. Die Schönheit die-

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ser Art von mystischem Tanzen […] kommt von der Bewegung in einer zusammen gesetzten Mannigfaltigkeit von Linien, besonders von Schlangenlinien, her, welche von den Grundsätzen der Verwicklung etc. regiert wird.24 Die Figur wird von oben, simultan und sukzessiv als Bild und als Bewegung sichtbar, während sie im Szenario selbst – als Überblick und damit als ruhige Position der Souveränität – nicht zu halten ist. Diese Perspektive in Text-Passagen aus Schillers KALLIAS-Brief, und mehr noch in der Elegie DER TANZ, ist aus der Königsposition gelenkt; jener Position, die – auch wenn der König nicht mehr, wie noch Ludwig XIV., das

Choreographische Figur, die ein »lateinisches Z vorstellet«, aus Pierre Rameaus le maître à danser, Paris 1734.

Zentrum des Tanzes selbst bildet – doch die Position des Souveräns, mithin die Bewegung des Gesetzes repräsentiert. Wenn Schiller den Tanz hier als Modell der bürgerlichen Souveränität und gar der nachrevolutionären Autonomie aufruft und die Tanzfiguren als Bild der »gewahrten eigenen Freiheit« und der »geschontes des anderen« in Szene setzt, so indem gerade diese Ästhetik des movere und ihre Souveränität im Bild der Grazie auch die Gegenbewegung zum ancien régime markiert, dessen Zwang der Regel der Bewegung noch einbeschrieben ist. Dies zeigt eine Analyse der figurativen Dimension von movere.

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Die Elegie DER TANZ führt diese kon-figurativen und spannungsreichen Verschränkungen von Bewegung als Anmut und als Linie der Grazie mit dem Maß – als Bewegungs-Gesetz der politischer Souveränität, »Jeder ein Herrscher« – zusammen: Siehe, wie schwebenden Schritts im Wellenschwung sich die Paare Drehen, den Boden berührt kaum der geflügelte Fuß. Seh’ ich flüchtige Schatten, befreit von der Schwere des Leibes? Schlingen im Mondlicht dort Elfen den luftigen Reihn? Wie, vom Zephir gewiegt, der leichte Rauch in die Luft fließt, Wie sich leise der Kahn schaukelt auf silberner Flut, Hüpft der gelehrige Fuß auf des Takts melodischer Woge, Säuselndes Saitengetön hebt den ätherischen Leib. Jetzt, als wollt’ es mit Macht durchreißen die Kette des Tanzes, Schwingt sich ein mutiges Paar dort in den dichtesten Reihn. Schnell vor ihm her entsteht ihm die Bahn, die hinter ihm schwindet, Wie durch magische Hand öffnet und schließt sich der Weg. Sieh! Jetzt schwand es dem Blick, in wildem Gewirr durcheinander Stürzt der zierliche Bau dieser beweglichen Welt. Nein, dort schwebt es frohlockend herauf, der Knoten entwirrt sich, Nur mit verändertem Reiz stellet die Regel sich her. Ewig zerstört, es erzeugt sich ewig die drehende Schöpfung, Und ein stilles Gesetz lenkt der Verwandlungen Spiel. Sprich, wie geschiehts, daß rastlos erneut die Bildungen schwanken Und die Ruhe besteht in der bewegten Gestalt, Jeder ein Herrscher, frei, nur dem eigenen Herzen gehorchet Und im eilenden Lauf findet die einzige Bahn? Willst du es wissen? Es ist des Wohllauts mächtige Gottheit, Die zum geselligen Tanz ordnet den tobenden Sprung, Die, der Nemesis gleich, an des Rhythmus goldenem Zügel Lenkt die brausende Lust und die verwilderte zähmt. Und dir rauschen umsonst die Harmonien des Weltalls, Dich ergreift nicht der Strom dieses erhabnen Gesangs, Nicht der begeisternde Takt, den alle Wesen dir schlagen, Nicht der wirbelnde Tanz, der durch den ewigen Raum Leuchtende Sonnen schwingt in kühn gewundenen Bahnen? Das du im Spiele doch ehrst, fliehst du im Handeln, das Maß.25 Eine Poetik des movere, als Kunst der schönen Bewegung, entfaltet nicht nur die selbstreferentielle Figur des Maßes als rhythmisches Gesetz des Gedichts, die die letzte Verszeile beruft. Sie entwirft auch

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das Bild des »ästhetischen Staates« als Raum der Freiheit, in dem Bewegung als zwanglose, mithin als Anmut, zum Erscheinungsbild des Menschen gehört: Ein Staat, in dem, wie Schiller im 27. Brief aus ÜBER DIE ÄSTHETISCHE ERZIEHUNG schreibt, »eigne schöne Natur das Betragen lenkt, wo der Mensch durch die verwickeltsten Verhältnisse mit kühner Einfalt und ruhiger Unschuld geht und weder nötig hat, fremde Freiheit zu kränken, um die seinige zu behaupten, noch seine Würde wegzuwerfen, um Anmut zu zeigen.«

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Schiller, Friedrich: 27. Brief aus »Über die ästhetische Erziehung des Menschen in einer Reihe von Briefen«, in: ders.: Sämtliche Werke, Bd. V: Erzählungen. Theoretische Schriften, hrsg. v. G. Fricke und H. Göpfert, München 91993, S. 661 – 669. Campe, Rüdiger: Affekt und Ausdruck. Zur Umwandlung der literarischen Rede im 17. und 18. Jahrhundert, Tübingen 1990. Da es in diesem Rahmen unmöglich ist, die breite und intensive ältere und neuere Forschung, deren Erkenntnissen ich zu Dank verpflichtet bin, hier zu nennen, zitiere ich hier stellvertretend zwei Titel, die darstellungstheoretische Fragen von movere (in Hinsicht auf das »commercium mentis et corporis«) untersuchen: Ko_enina, Alexander: Anthropologie und Schauspielkunst: Studien zur ›eloquentia corporis‹ im 18. Jahrhundert, Tübingen 1995; Torra-Mattenklott, Caroline: Metaphorologie der Rührung: Ästhetische Theorie und Mechanik im 18. Jahrhundert, München 2002. Schiller: »Kallias oder Über die Schönheit«, in: ders.: Sämtliche Werke, Bd. V, S. 394 – 433. Ders.: »Über Anmut und Würde«, in: ebd., S. 433 – 488. Heeg, Günther: Das Phantasma der natürlichen Gestalt. Körper, Sprache und Bild im Theater des 18. Jahrhunderts, Frankfurt/M./Basel 2000. Vgl. Brandstetter, Gabriele: »Die Bilderschrift der Empfindungen – Jean Georges Noverres Lettres sur la Danse, et sur les ballets und Friedrich Schillers Abhandlung Über Anmut und Würde«, in: Schiller und die höfische Welt, hrsg. v. A. Aurnhammer u.a., Tübingen 1990, S. 77 – 93. Maria Medina Viganò, verheiratet mit dem Tänzer und Choreographen Salvatore Viganò (der u. a. Beethovens Die Geschöpfe des Prometheus, Wien 1801, choreographierte) vgl. Winter, Marian Hannah: The Pre-Romantic Ballet, London 1974. Humboldt, Wilhelm von: »Brief Nr. 61, 12. Jänner 96«, in: Schillers Werke. Nationalausgabe, Bd. 36,1: Briefwechsel. Briefe an Schiller, 1.11.1795–31.3.1797, Weimar 1943ff., S. 80. Sulzer, Johann Georg: Allgemeine Theorie der schönen Künste, Bd. 1 – 4, Leipzig 1786 – 1787 (Reprint Olms/Hildesheim 1967). Vgl. den Artikel »Bewegung (Schöne Künste.)« in Sulzer, Bd. 1, S. 384ff.: »Es ist aber hiebey anzumerken, daß die Bewegung allemal den Begriff der Figur mit sich führe.« »Wenn man in der Bewegung ein gewisses Zeitmaß zur Einheit annimmt, so sind die Grade der Geschwindigkeit, wie die Glieder eines Ganzen anzusehen« (ebd). Ebd.: »Hierinn liegt der eigentliche Grund, der uns die Tanzkunst unter die schönen Künste zählen macht. Denn da ist das Schöne der Figur und Bewegung vereiniget.« Sulzer: »Reiz (Schöne Künste.)«, Bd. 4, S. 88f. – wobei mit dem Untertitel »Schöne Künste« indirekt auf die (hier nicht besprochene) physiologische Ebene des Begriffs verwiesen wird. Körner, Christian Gottfried: »Über die Bedeutung des Tanzes«, in: Phöbus. Ein Journal für die Kunst, hrsg. v. Heinrich von Kleist u. Adam H. Müller, Dresden, Erstes Stück, Januar 1808, Reprint hrsg. v. H. Sembdner, Stuttgart 1961, S. 33 – 38. Vgl. Phöbus, Anmerkungen im Anhang, S. 623. Vgl. die Ausführungen bei Körner über Menuett, Kontratanz, Allemande. Die hier erweiterte Frage nach den Nationaltänzen und ihrer Bedeutung wäre im Kontext des Tanzdiskurses um 1800 und des 19. Jahrhunderts genauer zu betrachten. – Zu »Contredanse« vgl. den Artikel »Country Dance, Contredanse« von Sibylle Dahms in: Die Musik in Geschichte und Gegenwart, hrsg. v. L. Finscher, 20 Bd./Sachteil 2, Kassel u. a. 1995, S. 1008 – 1020. Mit Rudolf von Labans komplexem System der Körperbewegung im Raum (der Bewegungs-Richtungen, der Faktoren von (An-)Trieb, Zeit, Raum, Fluss, Schwerkraft) ließe

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sich eine Reihe der Schillerschen Analyse-Kriterien für Bewegung lesen; vgl. Laban, Rudolf von: Die Kunst der Bewegung, Wilhelmshaven 1988; sowie ders: Choreutik. Grundlagen der Raum-Harmonielehre des Tanzes, Wilhelmshaven 1991. Schiller verwendet häufiger den Begriff der Gestalt oder den der Form als jenen der Figur; dies könnte mit den theoretischen Diskussionen mit Goethe (zur Dichtungstheorie und zur Morphologie) zusammenhängen. Moritz, Karl Philipp: Schriften zur Ästhetik und Poetik, kritische Ausgabe, hrsg. v. H. J. Schrimpf, Tübingen 1962. Im engen Rahmen dieses Beitrags kann ich nur auf wenige der relevanten Publikationen verweisen, insbesondere zu Hogarth; vgl. Müller-Farguell, R. W.: Tanz-Figuren. Zur metaphorischen Konstitution von Bewegung in Texten. Schiller – Kleist – Heine – Nietzsche, München 1995, S. 74 – 84; Oesterle, Günter: »Arabeske«, in: Ästhetische Grundbegriffe. Historisches Wörterbuch in 7 Bänden, hrsg. v. K. Barck u.a., Weimar 2002ff., S. 268 – 272; Mainberger, Sabine: »Einfach und verwickelt. Zu Schillers ›Linienästhetik‹. Mit einem Exkurs zum Tanz in Hogarths Analysis of Beauty«, in: DVjS (2005) H. 2, S. 196 – 252. Vgl. Dahms. Vgl. Mainberger. Schiller: »Der Tanz«, in: ders.: Sämtliche Werke, Bd. I: Gedichte/Dramen I, S. 237f.

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›THE PLAY’S THE THING‹: EN-CORPS UND DIE JOUISSANCE DES ANDEREN

Einleitung Eine der bemerkenswertesten Szenen in Werner Herzogs Film GRIZZLY MAN1 zeigt Timothy Treadwell, den Protagonisten dieses Dokumentarfilms, wie er seine laufende Kamera liegen lässt und in einen Waldweg abbiegt, um Wasser zu besorgen. Wir sehen seine Beine hinter einer Kurve verschwinden und hören seine Stimme aus einer Entfernung jenseits des Einstellungsrahmens. Dann Stille und eine Szene, die das vage Gefühl vermittelt, sie bereits zuvor gesehen zu haben, vielleicht sogar mehrere Male, die aber jetzt auf eigentümliche Weise anders ist – eine einfache Szene mit niedrigen Bäumen, die in einem Spiel aus Windstößen und Sonnenlicht tanzen. Herzog beschreibt diese Szene – die, an der Grenze zum Klischee, auch in einem beliebigen schlichten NaturDokumentarfilm platziert sein könnte – als eine von ekstatischer Schönheit, und vergleicht sie mit Tarkowskis durch und durch surrealen, verlassen Orten. Anders jedoch als Tarkowskis mit Metaphern beladene Landschaften besitzt dieses Bild eine symbolische Opazität und Stummheit, von der eindeutig ein beunruhigender Effekt ausgeht. Worin liegt die Schönheit dieses Moments? Wir haben bereits wiederholt gesehen, dass Treadwell viele Einstellungen seines Dokumentarfilms mit einem ausgeprägten Bewusstsein wählt und diese in ihrem Eifer und ihrer Intensität ebenso überwältigend wie furchtbar sind. Diese besondere Einstellung schafft jedoch eine Szene, die – neben einigen anderen von Treadwell gedrehten – unerwartete Affekte im Zuschauer auslöst. Sie unterscheidet sich nicht zuletzt dadurch, dass wir in den meisten Szenen, in denen wir in die Inszenierung eingeweiht werden, Treadwell selbst als das Subjekt des Kamerablicks sehen, das formal zu den Bären, den Füchsen oder der Wildnis Alaskas in Beziehung gesetzt wird. Wenn Treadwell allerdings den Blick der Kamera von sich abwendet, so bleibt er durch seine mit hoher, prägnanter Stimme und großer Schnelligkeit gesprochenen Kommentare in der Regel sehr präsent. Wie müssen wir also diese Baum-Szene, einen solchen verlassenen Ort verstehen? Herzog scheint unsicher über Treadwells Absichten bei der Aufnahme dieser Szene zu sein, und wir können selbst nur darüber spekulieren, ob Treadwell die Szene in seinen Film

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eingebaut hätte, den zu produzieren er in den Jahren vor seinem Tod begonnen hatte. Es scheint jedoch, dass die Szene insofern zu dem Übrigen von Herzogs Film passt, als sie einen eigentümlichen, desorientierenden Stil der Kameraführung herausstreicht, der für Treadwells Arbeit kennzeichnend ist. Was in Momenten wie diesen passiert, ist die kurze Manifestierung von etwas, das den grundlegenden Absichten von Dokumentarfilmen überhaupt und Naturdokumentationen insbesondere zuwiderläuft, nämlich die Einfügung einer Unterbrechung oder eines Abstands innerhalb der Realität oder, wie im Fall der Baum-Szene, innerhalb der Natur selbst, wodurch die symbolisch-imaginäre Rahmung unserer Betrachtung fundamental gestört und es ermöglicht wird, dass etwas gänzlich Fremdes hervortreten kann. In der unheimlichen Stille und in der klaustrophobischen Rahmung der Bäume, die sich im Wind bewegen, entsteht dieser Bruch durch die – vielleicht versehentliche – Verdoppelung der Inszenierung von Natur und ihrer Wildnis. Die Panorama-Einstellungen der Tundra, die an Postkarten erinnern, die majestätischen Grizzlybären, die sich ihre Paarungsrechte erkämpfen, die entzückende Gruppe von lächelnden Füchsen, die mit Treadwell zusammen für eine Werbeaufnahme posieren – all diese Szenen der Wildnis als Reflexion über die Exzesse und Domestizierung unserer Leidenschaften werden unterbrochen durch diese stille Einstellung, die entleert und ihres Objekts beraubt ist. In dieser Szene wird etwas produziert, was man durch eine leichte Sinnverdrehung mit den Worten von Sir Phillip Sydney als einen Moment, in dem »Kunst eine sekundäre Natur hervorbringt«, oder, genauer, als »Kunst, die für eine Sekunde Natur hervorbringt«2 bezeichnen kann. Kunst tritt hier aus einer Begegnung mit etwas anderem hervor, das eine eigentümliche Natur produziert, nämlich eine Natur, in der nach Lacans Begriffen das Subjekt als Körper oder »genießende Substanz« auf den Anderen an jenem Punkt trifft, an dem der Andere »nicht ganz« ist.3 Diese Szene führt zu einer Inszenierung in der Inszenierung, die strukturparallel zu der berühmen MausefallenSzene im HAMLET ist,4 wenngleich mit einem anderen Effekt. In Treadwells Einstellung funktioniert die sekundäre und sekundenhafte Inszenierung, die durch eine Aufnahme produziert wird, in der sich die Realität entzogen hatte, nicht, um die Leere oder den Abgrund des Sinns herzustellen, um den herum der imaginär-symbolische Rahmen der Wirklichkeit konstruiert wurde – sondern um einen eigentümlichen Positivismus zu erzeugen, oder »Seins-Effekte«, das heißt Effekte, die Lacan in seinem SEMINAR XX mit dem en-corps oder der körperlichen Manifestierung des Realen als unsterbliches, untotes Leben verbindet.5

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Filmstill aus Werner Herzogs »Grizzly Man«, 2005.

Die Baum-Szene produziert eine filmische Version von Lacans Neuartikulierung des griechischen Poesis-Begriffs, die er im SEMINAR XX (1972 – 73) in Abänderung des gängigen Verständnisses dieses Begriffs als »Imitation« oder »Ausdruck« des Ideals vornimmt. Im Gegensatz dazu ist poesis für Lacan die Erschaffung von etwas aus »nichts«, was in Verbindung steht mit dem Hervortreten des Körpers als »genießende Substanz« aus der kontingenten Begegnung mit dem Realen. Lacan revidiert in diesem Zuge auch die Darstellung der Sublimierung, die er in den SEMINAREN VII (1959 –19 60) – DIE ETHIK DER PSYCHOANALYSE6 – und XI (1964) – DIE VIER GRUNDBEGRIFFE DER PSYCHOANALYSE7 – gegeben hatte. Mit dieser Veränderung seines Verständnisses von Sublimation geht eine Neuverortung der weitgehend bekannten Lacanschen Figuren der Sublimation einher: Antigone und Hamlet, die – sowohl innerhalb des Subjekts als auch in der symbolischen Ordnung – jene Effekte darstellen, die durch die Auflösung des symbolisch-imaginären Knotens, der das Objekt a an besondere Signifikanten bindet, zustande kommen. Antigone und Hamlet stellen also ein gewisses Jenseits der symbolischen Ordnung dar, einen gewissen Exzess, der sich an den Grenzen des Symbolischen enthüllt, durch den das Subjekt zumindest für einen Moment frei ist, unbelastet durch den Mangel im Anderen zu handeln. Im SEMINAR XX verbindet Lacan poesis mit Sublimierung, wie sie (unter anderem) von den Figuren des religiösen Mystikers und des Engels dargestellt werden, die beide als Tropen einer besonderen Struktur der Vermittlung zwischen dem Sinnlichen und dem Transzendentalen gelten (d. h. durch die un-bedeutende Sprache der Mystiker und des Engels, die Stigmata der Mystiker usw.). Diese Vermittlung findet nicht

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in dem Kreislauf von Gesetz und Übertretung statt, der dem tragischen Heroismus Antigones und Hamlets unterliegt, sondern innerhalb des Raums eines nicht-traumatischen Verhältnisses zum Mangel im Anderen. Im Verlaufe von Herzogs Dokumentarfilm wird klar, dass, wenngleich Treadwells anfängliche Absicht, eine Kamera während seiner Sommeraufenthalte bei den Grizzlybären mitzuführen, dokumentarischer und pädagogischer Natur war, die Kamera ab einem bestimmten Moment sowohl zu seinem Hauptgesprächspartner als auch zur Materialisierung eines veränderten Verhältnisses zur Stimme und zum Blick wurde. Die senso-motorische Vermittlung der Natur durch den »Körper« der Kamera produzierte allmählich eine eigentümliche Körperlichkeit, die schließlich von der Struktur der Auseinandersetzung Treadwells mit der Wildnis Besitz ergriff und diese Struktur von innen heraus veränderte. Dieser letzte Effekt – die besondere Art, mit der die Kamera Treadwells affektive Auseinandersetzung mit seinem Gegenstand und das Sein des Gegenstands verändert – unterscheidet diese Arbeit am deutlichsten von den Genres des Dokumentarfilms, mit denen sie verglichen wurde: das Dokumentarfilmgenre über die Wildnis, Reality-TV oder eher bekenntnishaft-erzählerische Dokumentarfilme wie Jonathan Caouettes TARNATION. Deshalb stellt die Dokumentierung von Treadwells Leben mit den Bären in GRIZZLY MAN einen ausgezeichneten Ausgangspunkt dar, um – mittels Lacan – einige Begriffe anzugehen, die Schillers Artikulation des Spieltriebs implizit sind, insofern es bei diesem um den Impuls geht, in der Freiheit des ästhetischen Schaffens die Quelle unserer Kraft zu sehen, uns zu dem zu machen, was wir wollen.8 Es gibt natürlich viele Aspekte in Schilles Spieltrieb, die nicht mit den Lacanschen Formulierungen über die Frage des Verhältnisses des Subjekts zum Ästhetischen zusammengehen, so zum Beispiel Schillers Betonung der synthetischen und vereinigenden Kraft des Ästhetischen und die fortschreitende Erhöhung und »Menschwerdung« des Lebens, die durch die Arbeit des Spieltriebs im täglichen Leben erreicht werden. Es gibt jedoch viele Stellen in Schillers Text, die von Ambivalenz und Spannung geprägt sind und von denen es scheint, dass sie willentlich ungelöst geblieben sind, was nicht im Widerspruch steht zu seiner fortwährenden Betonung der kontinuierlichen Veränderung der Elemente des Spieltriebs in etwas anderes als das, was sie einst gewesen sind. Genauer gesagt interessiert mich besonders Schillers Schachzug, den Spieltrieb wieder im Körper zu verorten, nachdem er behauptet hatte, dass die »Willkür« des Körpers notwendigerweise mit den Gesetzen konform geht und es ebenso notwendig eine Unterwerfung des Willens unter die Sinnlichkeit gibt.9 Welche Verbindung besteht zwischen dieser

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Verschiebung und seinem Begriff von Ästhetik – als etwas, das den Körper in seiner Fleischlichkeit und seinen Affekten betrifft und deshalb vom Kantschen Ideal sehr verschieden ist – als die Bedingung des Willens? Auf welche Weise öffnet das Ästhetische, das sich im Spieltrieb materialisiert, den Zugang zu einer anderen Art von Raum, in dem oder durch den der Wille realisiert werden könnte – oder in dem der Wille durch eine Realität realisiert werden könnte, die anders ist als diejenige, die auf den unhinterfragten Begriffen wie das »Wahre«, das »Schöne« und/oder das »Gute« basiert? Zu diesen Fragen möchte ich nach einem Umweg über Lacan zurückkehren, wobei ich darauf zu sprechen komme, inwieweit Herzogs Dokumentation über Treadwell als Filmemacher uns erlaubt, die Rolle des Körpers und des Willens im Vorgang der Selbst-Veränderung durch die Ästhetik zu verstehen.

Encore! oder »Es ist genug …«? Lacan eröffnet und schließt das SEMINAR XX mit einigen Bemerkungen, die zu einer gedoppelten Inszenierung seines Textes führen und, während sie auf den ersten Blick wenig mit Treadwells Szenen gemein haben, schließlich deutlicher machen können, um was es in dessen Werkproduktion und seines Lebens als Kunst geht. Lacan stellt zwei Formen eines Willens, nicht zu wissen, vor und miteinander in Verbindung, wobei der »Wille« mit dem Verhältnis des Subjekts zum Objekt a und dem diesem Verhältnis zugrunde liegenden Genießen verbunden wird. Lacan beginnt mit dem Unterschied zwischen dem, was zu seinem wiederholten Erscheinen in den Seminaren, Jahr für Jahr, drängt, und dem Verlangen nach mehr, das seiner Annahme nach die Zuschauer veranlasst, jedes mal wiederzukommen. Er erwähnt eingangs auch sein Zögern, das SEMINAR über die ETHIK DER PSYCHOANALYSE zu veröffentlichen. Es handelt sich dabei um jenes SEMINAR, in dem er im Zusammenhang mit einer Diskussion der Sublimierung und des Ethischen in der Kunst Antigone als Beispiel für das ethische Subjekt vorgestellt hatte, das, indem es sich weigert sein Begehren zu verraten, die unversöhnliche Gewalt enthüllt, die den allgemeingültigen Begriffen des Guten und Wahren innewohnt. Lacan versteht Antigones unmenschlichen Akt als die Produktion einer »singulären« Sublimierung, die an eine Manifestation des Realen als inintelligible Leidenschaft durch die Überschreitung des Gesetzes erinnert. Im SEMINAR XX jedoch distanziert sich Lacan von dieser Figur der Sublimierung durch den Versuch, eine andere, weniger heroische und weniger tragische Figur zu entwerfen, die nicht in dem tödlichen Kreislauf von Begehren,

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Verbot und Überschreitung gefangen ist. Er erklärt, dass er sein SEMINAR nicht veröffentlicht hatte, weil: Mit der Zeit habe ich gelernt, dass ich ein wenig mehr darüber sagen konnte. Und dann, mir ist aufgegangen, dass das, was meinen Weg ausmachte, von der Ordnung des ich will davon nichts wissen war. Das ist ohne Zweifel, was, mit der Zeit, macht, dass noch [encore] ich da bin, und dass auch Sie da sind. Ich staune darüber immer … noch [encore]. Das, was mir seit einiger Zeit entgegenkommt, ist, dass es auch bei Ihnen, in der großen Menge derer, die da sind, ein ich will davon nichts wissen gibt. Allein, darauf kommt es an, ist es dasselbe?10 Die Antwort auf diese Frage lautet natürlich Nein. Lacan nimmt an, dass seine Zuhörer wiederkehren, da sie voraussetzen, dass er eine von ihnen verschiedene Position innehat, nämlich diejenige des Analytikers, als Subjekt, dem das Wissen unterstellt ist. »[G]erade darin, dass sie mir unterstellen, von anderswo auszugehen als Sie in jenem ich will davon nichts wissen, finden Sie sich an mich gebunden.«11 Diese Bindung unterstützt die Phantasie des Geschlechtsverhältnisses, das Lacan das gesamte SEMINAR hindurch mit der Geschichte des Wissens als eine Reihe von Versuchen, das »Eine« zur Existenz zu bringen, verbindet. Deshalb sagt er, um verständlich zu machen, was im SEMINAR inszeniert wird, »werde ich Sie zunächst im Bett unterstellen, ein Bett voll im Gebrauch, zu zweit«;12 diese beiden tun, was Leute in Betten tun, »sich umarmen«.13 Lacan und seine Zuhörer bleiben in der imaginär-symbolischen Rahmung des SEMINARS in einem Verhältnis zum Körper des Anderen als Objekt a. Deshalb positionieren sich seine Seminaristen als Analysanden in Bezug zu Lacan als Objekt a, als der Ersatz für das, was die Möglichkeit des artikulierten Wissens oder der »Wahrheit« birgt, die zu verfolgen das angenommene telos eines akademischen SEMINARS ist. Lacan behauptet in einer Verdoppelung der Positionen, dass er selbst ein Analysand ist, allerdings nicht in Bezug auf die Zuhörer, sondern in Bezug auf den Anderen als Nicht-Ganzes. So besteht die »Differenz« ihrer Plätze als Analysanden in ihrer unterschiedlichen Verortung in Bezug auf den Körper des Anderen. Am Ende sowohl des Vortrags als auch des SEMINARS selbst deutet Lacan an, dass noch eine weitere Szene inszeniert wird, die nicht von der Wirklichkeit der Beiden, die sich im Bett befinden, gespielt werden kann. Diese andere Szene wird durch einen Bruch in der Wirklichkeit angezeigt, der sich als Exzess manifestiert – allerdings nicht von der Art,

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wie sie von Antigone und Hamlet dargestellt wird, die beide in der Schlinge von Grenze und Überschreitung, Homogenität und Überschuss gefangen bleiben und von daher für die Sorte von Exzess stehen, die im Verfolgen des Begehrens bis zu seinem Ende produziert wird. Vielmehr wird diese andere Szene durch Lacans Wunsch angezeigt, zur Frage des Seins, oder zur Frage »was mit dem Sein ist« zurückzukehren, und diese Aufgabe fordert von ihm, die Szene der Realität des Seminars zu verlassen.14 Er verabschiedet seine Zuhörer indem er sagt: »Ich lasse Sie also auf diesem Bett, Ihren Einfällen. Ich gehe raus …«.15 Und ganz am Endes des SEMINARS: Voilà, ich verlasse Sie. Sage ich Ihnen, bis zum nächsten Jahr? Sie werden bemerken, dass ich das nie zu Ihnen gesagt habe. Aus einem einfachen Grund – ich habe nämlich nie gewusst, seit zwanzig Jahren, ob ich weitermachen würde, das nächste Jahr. Das, das ist Teil meines Schicksals von Objekt a. … Es könnte sein nach allem, dass dem encore ich hinzufüge ein es ist genug.16 Die Rückkehr zur Frage des Status’ des Seins schließt deshalb die Formulierung einer anderen Art von Sublimierung und einer anderen Art der Befriedigung ein, die zur Gattung »Es ist genug« gehört.

Sublimierung, En-corps und die Jouissance des Anderen In den SEMINAREN VII und XI streicht Lacan die Parallele zwischen unseren Idealisierungen von Kunst- und Liebesobjekten heraus, und setzt so die Geschichte der Kunst mit der Geschichte unseres Verhältnisses zum Objekt a in Verbindung. Im SEMINAR XX kommt Lacan noch einmal auf die Mechanismen der Idealisierung und Sublimierung in der Kunst und der Liebe zurück, aber er verbindet sie hier deutlicher mit dem, was er »den Körper« bezeichnet, den Körper des Anderen als »Nicht-Alles«.17 Diese Rückkehr impliziert eine neuerliche Darstellung der Sublimierung in der Kunst als kontingente Begegnung mit dem Realen – nicht dem Realen des Triebs, sondern der jouissance des Körpers des nicht-ganzen Anderen. Wenngleich er sich nicht explizit auf den »Körper des Anderen« als solchen im SEMINAR XI bezieht, können wir doch in diesem SEMINAR einen der ersten ausführlichen Versuche Lacans erkennen, etwas von diesem Körper zu artikulieren – also in dem Seminar, in dem er bekanntlich auch die Verlagerung vom Subjekt des Begehrens zum Subjekt des Triebs vornimmt. Diese Verlagerung vom Begehren zum Trieb

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lässt auch Lacans zunehmendes Interesse für die Frage erkennen, wie die Lücke zwischen dem Realen und dem Symbolischen das Funktionieren des Symbolischen selbst affiziert. Im SEMINAR XI formuliert Lacan das »Jenseits« des Begehrens als Funktion des Realen innerhalb des Bezugs des Subjekts zum Objekt a und somit als Funktion des Realen innerhalb der Sublimierung. Wie das Subjekt des Begehrens wird auch das Subjekt des Triebs in Bezug auf einen Verlust »geboren«, aber dieser Verlust ist eher ein realer als ein symbolischer. Als solcher funktioniert er nicht im Modus der Abwesenheit, sondern im Modus einer unmöglichen Überschreitung, die die Realität heimsucht, als ununterdrückbarer Rest, von dem das Subjekt sich nicht trennen kann. In anderen Worten, während das Begehren aus einem konstitutiven Mangel gespeist wird, entsteht der Trieb in Bezug auf einen konstitutiven Überschuss. Diesen Überschuss nennt Lacan das »anatomische Supplement« des Subjekts, ein exzessiver, irrealer Rest, der ein ständig präsentes Genießen produziert.18 In seiner Rückkehr zur Frage der Sublimierung im SEMINAR XX kann man eine weitere Fokusverschiebung verzeichnen, im Zuge derer die Frage deutlicher hervortritt, wie sich das Subjekt in ein Verhältnis zu diesem Überschuss setzt. Lacan diskutiert diese Bezugnahme als sexuelle Differenz, als eine Differenz, die in der Unterscheidung von phallischer oder »organischer« jouissance (jouissance des Partialobjekts) und der jouissance des Körpers selbst als Organ oder des »Organs ohne Körper« dargestellt wird.19 Lacan schlägt vor, diese beiden Formen des Genießens als zwei verschiedene Positionierungen in Bezug auf die Unmöglichkeit des Geschlechtsverhältnisses zu verstehen. Das Subjekt des OrganGenießens ist mit dem Anderen über die Vermittlung des Objekts a verbunden. Diese jouissance ist eingeschrieben in die geschlossene Schleife des Triebs, in der das Subjekt ständig daran arbeitet, den richtigen Abstand zum Objekt zu wahren – nah genug, um »sich zu umarmen«, und weit genug, um sich gegen den Furcht erregenden Existenzverlust zu verteidigen, der in der pathologischen Überschreitung durch den Anderen impliziert ist. Innerhalb dieser Struktur hat Sublimierung die Funktion, den Abstand zwischen dem Symbolischen und dem Realen als Mittel bestehen zu lassen, um die Idealisierung des Liebesobjekts zu gewährleisten bei gleichzeitigem Schutz vor einem traumatischen SeinsVerlust. Um diese Struktur zu illustrieren, verweist Lacan auf die Idealisierung und das Grauen, die beide in der höfischen Liebe von der Dame ausgelöst werden.20 Man kann sehen, wie das strukturelle Verhältnis zwischen Subjekt und dem Anderen, in welches der Trieb eingeschrieben ist, auf mehren

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Ebenen in Treadwells Versuchen, seine Verwandtschaft mit den Grizzlybären zu realisieren, ausagiert wird. In einem Großteil des von ihm aufgenommenen Materials sehen wir, dass die Idealisierung der Bären (denen er einen großen Teil seiner letzten dreizehn Lebensjahre widmet) von ihm ein mühsames, komplexes und unentwegtes »Vor-undZurück« fordert, eine genaue Untersuchung der angemessenen Distanz in Bezug auf (die Bären als) sein Liebesobjekt … – es handelt sich eindeutig um ein Liebeswerben. Diese delikate Verhandlung mit dem Objekt ist in diesem Fall wörtlich zu nehmen als eine Bedingung des physischen Überlebens. Sie ist jedoch zugleich auch notwendig (wie der Film ausführlich darlegt) für Treadwells psychologisches Überleben. Wir können auch unterscheiden zwischen seinen eher »informell« inszenierten Aufnahmen (z. B. die Profilaufnahmen seines Kopfes während er über eine Wiese geht und zur Kamera über seine schwierigen Beziehungen zu Frauen spricht) und der eher »offiziellen«, pädagogischen Dokumentation der Bären (z. B. die Werbeaufnahmen von ihm und den Bären in den Videos, die er Schulkindern zeigt als Teil seiner Kampagne, Grizzlybären vor der Wilderei und der Reduzierung ihres Lebensraums zu schützen), Einstellungen, bei denen er den Tieren gegenüber steht. Letzteres fordert noch eine weitere Ebene der Positionierung, denn um den Zuschauern zu zeigen, dass er und die Bären der gleichen Ordnung angehören – dass sie ein und dieselbe Realität teilen – muss er darauf achten, wo er sich ihnen gegenüber durch die Vermittlung des Blicks und der Stimme positioniert. Deshalb ist in den Aufnahmen, die der Öffentlichkeit gezeigt wurden, die Aushandlung der Position, von der er gesehen und gehört wird, als fait accompli präsentiert. Diese Szenen sind in einem traditionellen Dokumentarstil aufgenommen, in dem die Kamera wie die Prothese der Augen und Ohren funktioniert, was eine körperlose, »Gott gleiche« Perspektive produziert, von der aus das Sichtbare zu betrachten ist. Es wird jede erdenkliche Anstrengung unternommen, die Vermitteltheit der Szenen durch die Kamera zu leugnen, um die »Unmittelbarkeit« der Natur zu simulieren und den Betrachter mit der Szene zu vernähen. In einem Großteil der anderen, weniger offiziellen Aufnahmen, sehen wir, wie sich die Wirkung der Kamera auf Treadwells subjektive Position den Bären gegenüber auf ganz andere Art manifestiert. Wenn Lacan sich der Frage der jouissance des Anderen zuwendet, schlägt er vor, diese als eine jouissance zu verstehen, die nicht von der Phantasie des »Einen« oder »ganzen« Anderen abgedeckt wird. Als solche ist diese Form der jouissance nicht in den sich wiederholenden Kreislauf der Triebe eingeschrieben – welchen Lacan aufgrund des

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Drängens nach Homogenität und Verschmelzung, den Versuchen, den anderen zur Existenz zu bringen, als sexuell beschreibt –, sondern in das, was Lacan en-corps nennt, eine »genießende Substanz«, die im Körper jenseits seines sexuellen Seins beharrlich fortbesteht.21 Das Verhältnis des en-corps zum Körper ist so nicht komplementär oder symmetrisch, sondern eher ex-topisch und »a-sexuell«.22 Treadwells Verhältnis zur Kamera in seinen weniger offiziellen Aufnahmen lässt sich eher als eine bewegliche Ex-topie bezeichnen: Er hält die Kamera auf Hüftoder Kniehöhe, nimmt aus ungewöhnlichen Winkeln auf, während er vor und zurück läuft, und die Perspektive und Tiefenschärfe sich in einem unsteten Rhythmus ständig verändern. Die Kamera tritt als ein Organ des haptischen Sehens hervor, das aufgrund Treadwells taktiler, kinetischer und affektiver Beziehungen zu dem, was aufgenommen wird, »sieht« und »hört«. Die Kamera ist in diesen Fällen nicht wie eine allwissende Erweiterung der Augen und Ohren, sondern als Teil eines eigentümlichen körperlichen Komplexes eingesetzt, der aus scheinbar wahllosen Kreuzungen zwischen den »Körpern« Treadwells und seiner Kamera besteht. Dieser en-corps bewohnt Treadwell in seinem Innern – als ein Körper, der weder derselbe noch ein Anderer ist –, er markiert die Differenz des Körpers zu sich selbst; und von diesem »Nicht-Ort« (non-lieu) aus fungiert er in einer vermittelnden Rolle zwischen dem imaginär-symbolischen Körper (die Mythologie des Timothy Treadwell) und dem Anderen, der nicht-alles ist. Dieses Verhältnis ist »fremdartig« (étrange) insofern es weder eines der Verschmelzung noch der Autonomie ist

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(weder eines noch zwei), sondern der Logik angehört, die Lacan mit der Formel »nicht nicht-alle«23 benennt. Es bringt die Zählung durcheinander und die Grenzen zwischen Innen und Außen zum Verschwinden. Deshalb ex-istiert der en-corps als eine fremdartige Form der Positivität, die ein Genießen evoziert, das zugleich im Innern und doch jenseits des Körpers liegt. Lacan beschreibt diese jouissance als etwas, das den Körper über seine Grenzen hinausführt und auf diese Weise ein noch zu kommendes Sein vorbildet. Dieses wird – und wir können hier an unsere Darstellung der »Seins-Effekte« der poetischen Kunst in der BaumSzene erinnern – als das Hervortreten des Seins, im Bruch, der das Reale in die Wirklichkeit einführt, als eine Form des »untoten« oder unsterblichen Lebens.24 Lacan legt dar, dass die Sublimierung, die durch den en-corps angezeigt ist, durch eine kontingente Begegnung in Bewegung gesetzt wird, so dass sie mit tuché, als Glück oder Zufall zu verbinden ist. Er hat deshalb den Begriff des Realen als Ursache zunächst im SEMINAR XI entwickelt, wo er zwischen tuché und automaton, oder der Notwendigkeit, die mit Kette der Signifikanten, die die systematische Bestimmung des Symbolischen bildet, einhergeht. Im SEMINAR XX bezieht er tuché (Kontingenz) und automaton (Notwendigkeit) erneut auf die Unmöglichkeit des Geschlechtsverhältnisses. Die Unmöglichkeit erscheint hier als »nicht enden nicht geschrieben zu werden«, die Kontingenz als die »nicht geschriebenen Haltepunkte«, das Notwendige oder Nezessäre als das »nicht zessiert, sich nicht zu schreiben«.25 Der en-corps wird so in einer kontingenten Begegnung mit dem Anderen als Nicht-Alles realisiert, eine Begegnung, in der das Reale einen Signifikanten findet. Das

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»ästhetische Gefühl« entspricht hier dem Vorgang, durch den das Objekt a – als Ersatz oder Platzhalter für den nicht-ganzen Anderen – durch die tuché als Begegnung einen provisorischen Signifikanten erhält. In der Sublimierung finden wir im Allgemeinen irgendein gewöhnliches Ding, ein Stück der Realität, das auf den Status des Freudschen Dings gehoben wird. Der en-corps jedoch tritt hervor, wenn das Subjekt von einem Signifikanten »gefunden« wird, dessen Bedeutung oder Signifikanz nicht von außen (wie im Falle des Herren-Signifikanten) eingerichtet wird, sondern von innen heraus. Viele Kommentatoren haben darauf hingewiesen, dass Lacans Darstellung der jouissance des Anderen, die mit dem Körper als genießende Substanz verbunden ist, sich linguistischer Tropen der religiösen Bekehrung bedient, was mit seiner Assoziation dieser jouissance mit der Ekstase religiöser Mystiker übereinstimmt. Nach gemeinem Verständnis wird Bekehrung oftmals mit einem Ereignis verbunden, das in einem einzigen Moment eine vollständige Verwandlung auslöst. Nach Lacanschen Begriffen bedeutet Bekehrung eine Verwandlung, die, wenngleich sie von einem zufälligen Ereignis in Gang gesetzt wird, vom Subjekt eine sehr reale und kontinuierliche Arbeit fordert, die Arbeit der Materialisierung des Dings, die etwas vom nicht-ganzen Anderen zur Existenz bringt. Wenn Treadwell der Kamera von seiner ersten Begegnung mit den Grizzlybären erzählt, spricht er von einer Art Bekehrung und schreibt den Bären zu, ihn vom Alkoholismus geheilt und ihm etwas jenseits seiner selbst gegeben zu haben, dem er sein Leben widmen kann. Betrachtet man allerdings Treadwells Aufnahmen im Verlauf des Dokumentarfilms scheint es, dass seine Bekehrung, so sie stattgefunden hat, komplexer war als es die Sprache eines Zwölfpunkte-Programms erlaubt darzustellen. Die Phantasie, durch die Treadwells Beziehung zu den Bären ausgelöst und zu einem nicht unwesentlichen Teil weiter gefördert wurde, bezog sich auf eine primordiale Verbindung von Mensch und Tier, beide eingebettet in eine Paradies-Vorstellung von unschuldiger und homogener »Natur«. (Es gibt eine bemerkenswerte Szene, in der Treadwell versucht einen Bären, der gerade einen Kampf um Gattungsrechte verloren hat, dadurch zu trösten, dass er ihm von seinen eigenen Liebesproblemen erzählt). Es wird jedoch auch sehr deutlich, dass im Verlauf seines Lebens mit den Bären seine Verbindung mit dieser Realität wenn nicht zweitrangig, so zumindest in ihrer Bedeutung durch die Arbeit beiseite gedrängt wird, die wie gesagt darin besteht, das Ding zu materialisieren – eine Arbeit, die »Sein« produziert, das nicht der Ordnung der »Realität« angehört, sondern derjenigen der

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mystischen, ek-statischen körperlichen Produktionen. Dies ist eine Konsequenz, die sich aus dem Verhältnis ergibt, das Treadwell mit dem Ding unterhält, das ihn am deutlichsten von der Natur absetzt, in deren Innern er versucht eine Heimat zu finden – nämlich die Kamera. Die schiere Vielfalt der Orte, Handlungen, Selbst-Reflexionen, Gedanken und Stimmungen, die Treadwell aufzeichnet, legt nahe anzunehmen, dass die Kamera ihn permanent begleitet hat, und manchmal beschleicht uns das unheimliche Gefühl, dass es vielleicht eher umgekehrt war, dass nämlich er die Kamera begleitete. Während der Einsatz der Kamera in traditionellen Dokumentarfilmen typischerweise dazu dienen soll, das Subjekt mit der Realität des Films zu vernähen, indem alle distanzierenden Effekte reduziert werden, bringt die explizite Verwendung der Kamera als Vermittlerin der Treadwellschen Realität letztlich etwas ganz anderes zustande. Das bedeutet nicht, dass er seine Bemühungen um eine unmittelbar und nicht konstruierte Natur aufgibt, jedoch wird im Laufe der Betrachtung seiner Aufnahmen deutlich, wie er eine Kamera verwendet – oder von ihr verwendet wird –, die nun nicht mehr einfach eine Prothese und einen körperlosen Blick oder eine körperlose Stimme, sondern für sich genommen einen fremdartigen Körper darstellt. Wir werden so Zeugen eines bestimmten Kamera-Effekts, der darin besteht, dass die Kamera ihre materielle Differenz zu ihm enthüllt, die Differenz seines Körpers von sich selbst, wenn sie ihm die Zeichen seiner Anstrengungen, vom Anderen auf eine bestimmte Weise gesehen oder gehört zu werden, zurückgibt. Dieses Verhältnis zur Kamera wiederum beeinflusst seine Selbstwahrnehmung in Bezug auf die Bären und auf die »Wildnis« im Allgemeinen in einem solchem Maße, dass man versucht ist, mit Lacan zu sagen, dass eine Art asexuellen Verhältnisses mit der Natur sich auszubilden beginnt. Diese Veränderung erscheint nun nicht als eine Neuausrichtung des imaginär-symbolischen Körpers, sondern als ein Anzeichen der jouissance des Anderen, die sich, indem sie einer Artikulation als »Wissen« Widerstand leistet, als Spuren des Körpers manifestiert. Was Lacan mit den »Spuren des Körpers« verhandelt, ist etwas schwierig zu entziffern.26 Er prägt einen neuen Begriff, l’amur, teilweise homophon zu mur (Wand) sowie zum maritimem Ausdruck der Halse, der in der Angabe einer Kursänderung beim Segelschiff verwendet wird, und zu l’amour (Liebe).27 Im Hinblick auf Treadwell schlage ich in meiner Deutung vor, dass diese Spuren als eine Folge der Art und Weise hervortreten, mit der die Kamera, die selbst ein »Körper« ist, Treadwell sich selbst zurück gibt, insbesondere durch seine körperliche

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Differenz zu sich selbst. Dadurch wird nicht so sehr die imaginär-symbolische Beziehung zur Natur verändert, wie die Umstände seines Todes anzeigen, sondern vielmehr die reale Dimension seines körperlichen Verhältnisses zur »Natur«, so dass, während es ihm misslingt, ein »Eins« aus der Differenz von Kultur und Natur zu machen, etwas in dem Raum ihrer sich überlappenden Mängel hervortritt, das weder das Eine noch das Andere ist. Anders gesagt nimmt Treadwell – während er unfähig ist, sich weder mit der Welt der Natur zu verschweißen noch diese mit ihm (weder wird er wild noch die Natur domestiziert) – durch seine Beziehung zum en-corps, die durch das desorientierende Engagement mit dem vermittelnden Körper der Kamera gebildet wird, mehr und mehr eine Subjektposition ein, die durch die Überkreuzung zweier Differenzen gebildet wird – seine Differenz zum Menschlichen und die Differenz der Natur vom Tierischen, Pflanzlichen, Elementaren … Dieser eigenartige Stil und die Affekte, die mit den doppelt inszenierten Szenen, die oben beschrieben wurden, verbunden sind, werden das einzige, was uns von dieser jouissance des Anderen, die mit diesem en-corps verbunden ist, zu »wissen« übrig bleibt. Hier können wir vielleicht Schillers Begriff des Spieltriebs auf produktive Weise als einen Prozess verstehen, durch den der Wille nicht durch die Realisierung unserer moralischen »Natur« materialisiert wird, sondern durch seine Verwandlung in eine körperliche, aber nichtsdestotrotz, wollende Substanz – wollend im Sinne Lacans als Seins-Effekte produzierend. Durch den Vorgang, den Schiller als absondern beschreibt, werden das Körperliche und das Moralische verwandelt, wodurch beide sowohl in ihrer Abstraktion als auch Relation zu etwas Neuem werden. Der »Körper«, an den der Wille zurückgegeben wird, hat sich ebenfalls verändert, was ein Verständnis des Willens ermöglicht, das von einem neuen Aspekt geprägt ist, der nicht auf den synthetischen Begriff Schillers reduziert werden kann, nach dem der Wille bloß durch die Sinne eine Form erhält. Das Wort absondern hat, wie einige Kommentatoren vermerkt haben, Wurzeln in der Sprache der Alchemie, wo es impliziert, dass das Gegebensein von Substanzen in ihrer Veränderlichkeit liegt, in ihrem Potential zum Werden. Was sich in bestimmten Momenten in Treadwells Arbeit materialisiert, ist die Art und Weise, in der der Spieltrieb in der Suspendierung der Realität durch das Eindringen des Realen dasjenige erkennen lässt, was sich dem Zugriff des Wissens entzieht. Wenn der Spieltrieb sich abwandelt und verändert wird, schafft er einen Raum/eine Zeit, in denen »die Beziehung, von der gesagt wird, dass sie sexuell sei, aufhört, nicht geschrieben zu werden«. Gegen Ende des SEMINARS XX spricht Lacan von den »Seins-Effekten«,

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die in und durch die jouissance des Anderen ausgelöst werden, die wir in Treadwells ästhetischer Praxis am Werk gesehen haben: Es gibt kein Geschlechtsverhältnis, weil der Genuss des Anderen, aufgefasst als Körper, stets inadäquat ist – pervers auf der einen Seite, sofern der Andere sich reduziert auf das Objekt a – und auf der anderen, ich würde sagen, verrückt, rätselhaft. … [Bezüglich letzterem, dem zessiert sich nicht zu schreiben] gibt [es] nichts anders als Begegnung, die Begegnung, beim Partner, von Symptomen, von Affekten, von all dem, das bei einem jeden die Spur seines Exils zeichnet … Ist das nicht sagen, dass es allein durch den Affekt ist, der aus dieser Kluft resultiert, dass etwas sich begegnet, das unendlich variieren kann in Bezug auf die Ebene des Wissens, das jedoch, einen Augenblick, die Illusion gibt, dass das Geschlechtsverhältnis zessiere, sich nicht zu schreiben? – Illusion, dass etwas nicht nur sich artikuliert, sondern sich einschreibt, sich einschreibt in Bestimmung eines jeden, wodurch eine Zeit lang, eine Zeit der Schwebe, das, was das Geschlechtsverhältnis wäre, beim Sein, das spricht, seine Spur findet und seine Täuschungsbahn.28 Es sind diese Befriedigung, die »zessiert sich nicht zu schreiben« der jouissance des Anderen und die Beziehung zum nicht-ganzen Teil des Anderen, die erstere impliziert, die Lacan dem tragisch-heroischen Paradigma der Sublimierung, wie es von Hamlet und Antigone dargestellt wird, entgegensetzt. Lacan stützt, in einer Geste, die Schillers Betonung der zentralen Rolle des Spieltriebs in der positiven Transformation des Lebens analog ist, die Bedeutung der Beziehung dieses Anderen Modus der Sublimierung zu Selbstveränderung und Veränderung des Anderen durch das Ästhetische. »Die Mystik, das ist nicht alles das, was nicht Politik ist. Das ist etwas Ernstes …«29 Durch das, was Herzog uns von Treadwells Einsatz der Kamera innerhalb der Bewegung seines Werdens zu wissen gibt, haben wir einen konkreten Hinweis auf seine Subjektposition, von der aus das »Begehren für ein Gut, das verschwindet« und das Genießen, das man erlaubt, aber von dem man nichts weiß, so sind … dass »es reicht«.30

Aus dem Englischen von Marcus Coelen.

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Grizzly Man (2005), Regie und Drehbuch: Werner Herzog, produziert von Erik Nelson. Lionsgate und Discovery Docs. Sydney, Phillip: The Defense of Poesie, London 1595, S. 6. All Zitate aus Lacans Seminar XX stammen aus der deutschen Übersetzung Encore, übersetzt von Norbert Haas, Vreni Hass und Hans-Joachim Metzger, Berlin und Weinheim 1986, S. 24. Die Mausefallen-Szene bezieht sich auf das Spiel (Hamlets) mit dem Spiel (Shakespeares), das Hamlet am Ende der 2. Szene des 2. Aktes entwirft: I have heard that guilty creatures sitting at a play Have by the very cunning of the scene Been struck so to the soul that presently They have proclaimed their malefactions… The play’s the thing Wherein I’ll catch the conscience of the king (Hamlet, 91 – 92).

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Ich hab gehört, dass schuldbeladene Geschöpfe, die in einem Schauspiel saßen, durch die geschickte Anlage der Handlung so ins Herz getroffen wurden, dass sie ihre Missetaten alsbald laut verkündet haben … Dem König wird das Spiel zur Schlinge, in die ich sein Gewissen zwinge. (Hamlet, 155) Das Spiel im Spiel findet dann in der 2. Szene des 3. Aktes statt. Shakespeare, William: Hamlet, kommentiert und eingeleitet von Burton Raffel, 2003; deutsche Fassung: ders.: Hamlet, hrsg. und komm. von Holger M. Klein. Stuttgart 1984. Diese Aufnahme und weitere, auf die ich mich beziehe, müssen natürlich als bewegte Bilder betrachtet werden, damit sowohl ihre kinematographische Kraft spürbar wird als auch die Argumente, die ich Bezug auf Treadwells Selbst-Verwandlung entwickle, besser nachvollziehbar werden. Die Baum-Szene beginnt auf der DVD am bei 40:11, die Szene, in der er von den Füchsen gejagt wird, bei 23:32, und die Szene, in der den Fuchs, der seinen Hut gestohlen hat, jagt, bei 26:45. Lacan, Jacques: Seminar VII, L’éthique de la psychanalyse, hrsg. von Jacques-Alain Miller, Paris 1986; Die Ethik der Psychoanalyse, übersetzt von Norbert Haas. Weinheim und Berlin 1996. Lacan, Jacques: Seminar XI, Les quatre concepts fondamenteaux de la psychanalyse, hrsg. von Jacques-Alain Miller, Paris 1973 ; Die vier Grundbegriffe der Psychoanalyse, übersetzt von Norbert Haas, 4. Aufl., Weinheim und Berlin 1996. Schiller, Friedrich: Über die ästhetische Erziehung des Menschen in einer Reihe von Briefen, in: ders.: Werke IV. Frankfurt/M., 1966, S. 193 – 286, hier S. 269ff. et passim. Schiller: Über die ästhetische Erziehung, S. 196. Lacan, Jacques: Seminar XX, Encore, hrsg. von Jacques-Alain Miller. Paris 1975; Encore, übersetzt von Norbert Haas, Vreni Hass und Hans-Joachim Metzger. Berlin und Weinheim 1986, S. 7/9. Ebd. Ebd., S. 8. Ebd. Ebd., S. 4. Ebd. Ebd., S. 159. Ebd., S. 12, 28. Lacan, Jacques: »Position de l’inconscient«, in: ders.: Ecrits, Paris 1966, S. 829 – 850; »Die Stellung des Unbewussten«, in: ders.: Schriften II, übersetzt von Norbert Haas. Berlin und Weinheim 1986. S. 205 – 230., hier S. 225f./847. Lacan, Seminar XX, S. 11f. Ebd., S. 76f. Ebd., S. 26. Ebd., S. 6. Ebd., S. 15. Lacan, »Die Stellung des Unbewussten«, S. 884f. Lacan: Seminar XX, 65f., 101f., 157f. Ebd., S. 10. Ebd. Ebd., S. 158. Ebd., S. 82. Ebd., S. 76f.

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Die Frage des Realen im Drama (und in der Kunst im Allgemeinen) ist innerhalb der philosophischen Anstrengungen Schillers sehr gegenwärtig. Er berührt diese Frage an verschiedenen Punkten seines theoretischen Werkes, jedoch gibt es besonders einen Text, der sie auf sehr direkte und ausführliche Weise behandelt. Es handelt sich dabei um einen eher eigentümlichen Text, der weniger bekannt ist als viele seiner übrigen Schriften; er trägt den Titel ÜBER DEN GEBRAUCH DES CHORS IN DER TRAGÖDIE. Schiller hat diesen Aufsatz als Teil eines größeren Projekts verfasst, das dazu dienen sollte, die Wiedereinführung des Chors in das zeitgenössische Theater und in die Theorie des Dramas zu rechtfertigen. Dieses theoretische Projekt lief daher zu Schillers künstlerischen Versuchen parallel, in seinem Stück DIE BRAUT VON MESSINA (1803) den Chor, dieses Element des antiken Dramas, noch einmal zu erfinden, und der Aufsatz wurde zusammen mit diesem Stück veröffentlicht. ÜBER DEN GEBRAUCH DES CHORS IN DER TRAGÖDIE ist ein kurzer und faszinierender Text, der zunächst anachronistisch erscheint, der aber eine aufmerksame Lektüre durchaus wert ist. Die Forderung, den Chor (erneut) ins Drama einzuführen, ist fern davon, eine romantische Ehrerbietung an die vermeintlich ideale Form des griechischen Theaters zu sein. Eines der zentralen Argumente Schillers ist gerade, dass der Chor im modernen Theater auf grundlegend andere Weise als im antiken Griechenland funktioniert. Denn dort war er »ein natürliches Organ«, das den poetischen Anteilen des tatsächlichen Lebens direkt entwuchs, während er im neuen Drama ein »Kunstorgan« darstellt, das das tatsächliche Leben gerade unterbricht und im Widerspruch zu ihm steht. Aber gerade durch diese Unterbrechung »hilft [der Chor] die Poesie hervorbringen«, und »der Chor leistet daher dem neuern Tragiker noch weit wesentlichere Dienste, als dem alten Dichter«.1 Eine interessante antiromantische Note wertet in diesem Text das Künstliche höher als das Natürliche. Der Chor ist für das moderne Theater nicht aufgrund seiner antiken Herkunft und seines antiken Werts interessant, sondern Schiller behauptet im Gegenteil, dass der Chor einzig und allein im modernen Theater die Dimension erhält, die ihn überhaupt wertvoll und lobenswert macht. Deshalb liegen der Wert

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und die Vorzüge des Chors, wie Schiller selbst sagt, genau in denjenigen seiner Elemente, für die er in der Regel kritisiert wird, nämlich in der Tatsache, dass er »als ein Außending, als ein fremdartiger Körper und als ein Aufenthalt erscheint, der nur den Gang der Handlung unterbricht, der die Täuschung stört, der den Zuschauer erkältet«. (815) Diese Aspekte sind deshalb die Vorzüge des Chors im modernen Drama – und sie waren es nicht in der Zeit seines griechischen Ursprungs – weil, um es kurz zu sagen, durch diese Art der Entfremdung von der gegebenen, unmittelbaren Wirklichkeit, Kunst real sein oder etwas vom Realen konstruieren kann. Ich möchte im Folgenden die außergewöhnliche konzeptuelle Konfiguration herausarbeiten, die Schiller dazu bringt, das »Kunstorgan« des Chors mit der Frage des Realen in Zusammenhang zu bringen. Folgt man dieser Verbindung – mit Schiller aber auch über Schiller hinaus – führt dies zu einigen konzeptuellen Einsichten, die für die zeitgenössische Diskussion des Theaters von Bedeutung sein könnten. Schiller beginnt seinen Text damit, Kunst zu verwerfen, die über bloße Unterhaltung nicht hinauskommt. Die Leute erwarten von der Einbildungskraft der Künste eine gewisse Befreiung von den Zwängen der Realität: Wir mögen es, der Phantasie einen Raum zu geben und uns mit dem Möglichen zu unterhalten. Diese Unterhaltung kann einfach im Vergessen unserer täglichen Existenz und in der Erfahrung von Beglückung durch ungewöhnliche Ereignisse und Situationen bestehen, oder sie kann von ernsthafterer Art sein, wenn wir im Geschehen auf der Bühne diejenige moralische Urteilskraft anerkennen, die wir im wirklichen Leben vermissen. In beiden Fällen jedoch bleibt dieses sich Hingeben an die bloßen Möglichkeiten ein leeres Spiel, ein Traum. Wenn wir dann vom Theater zu der Welt der Realitäten zurückkehren, finden wir uns erneut in ihre engen Fesseln gezwängt. Denn die Welt bleibt wie sie ist, und so auch wir – nichts in uns wurde verändert. Dem setzt Schiller nun die wahre Kunst entgegen, die nicht nur ein kurzlebiger Traum von Freiheit ist, sondern uns tatsächlich frei macht (indem sie eine objektive Distanz zur sinnlichen Welt schafft, die andernfalls wie eine rohe und blinde Kraft auf uns einwirkt.) Darüber hinaus wird sich wahre Kunst nicht mit Wahrscheinlichkeit, mit dem bloßen Schein des Wahren zufrieden geben, da »die wahre Kunst etwas Reelles und Objektives will«. (817) Schiller wird nicht müde zu wiederholen, dass der sicherste Weg das Reale zu verpassen im Realismus und in der Porträtierung einer vermeintlich bloßen Wirklichkeit besteht. Damit die Kunst etwas vom Realen produzieren kann, muss sie durch das Ideale hindurchgehen.

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Daher rührt die grundlegende Frage in Schillers Text: »Wie aber nun die Kunst zugleich ganz ideell und doch im tiefsten Sinne reel sein – wie sie das Wirkliche ganz verlassen und doch aufs genaueste mit der Natur übereinstimmen soll und kann[?]« (817) Die Frage des Realen ist also mit der Frage des Ideallen eng verbunden, wobei das Idealle, wie wir später sehen werden, alles andere als ein eindeutiger Begriff ist. Schillers Argumentation entfaltet sich durch den Vergleich dreier künstlerischer Verfahren, die er mit den Namen »Realismus« (oder »Naturalism«), »Phantasie« und »poetische Kunst« von einander unterscheidet. In mehrfacher Hinsicht nimmt diese Argumentation viele der zeitgenössischen Debatten über die Kunst, ihre Mittel, Reichweite und Zwecke vorweg. Zunächst gibt es den Realismus als treue Porträtierung der Realität oder Wirklichkeit. Nach Schiller beruht diese Vorgehensweise auf dem Glauben, dass etwas real ist, das einer rohen Wirklichkeit angehört, und der Zugang zu dieser über das Opfer des Ideallen führt, das selbst als die Entstellung des Realen, seine Verfälschung aufgefasst ist. Alles, was wir auf der Bühne sehen, sollte dem, was wir in der Wirklichkeit sehen, so nahe wie möglich kommen. Jedoch kann dieses treue Abbilden der Wirklichkeit nur kontingente Erscheinungen erfassen und niemals das Reale, das es sich anstrengt zu erreichen. Es wird deshalb immer darauf begrenzt sein, den »Stoff der Welt« zu reproduzieren, und es wird so den Geist der Natur ewig verpassen. Mit dieser Kunst und ihrer ernsten und nicht erbaulichen Weise sehen wir uns »in die gemeine enge Wirklichkeit peinlich zurückversetzt« (817), während die wahre Kunst im Gegenteil zum Effekt haben sollte, uns zu befreien. Dieser Punkt verdient Erläuterung, denn Schillers Sicht auf die Möglichkeit der Befreiung (durch Kunst) unterscheidet sich sehr stark von den Ideen, an die wir durch einen bestimmten Strang des modernistischen Diskurses hierüber zu hören gewohnt sind. Es gibt in diesem Diskurs die Idee, dass Kunst uns nur dann befreien kann, wenn sie uns gerade nicht aus der rauen Wirklichkeit entfliehen lässt, indem sie uns also auf dem Boden der »gemeine[n] enge[n] Wirklichkeit« (817) hält. Befreiung ist hier vor allem die Befreiung von Illusionen und Entstellungen, eine Befreiung, die damit beginnt, uns die Dinge »so wie sie sind« zu zeigen. Auch wenn es paradox erscheinen mag, genau das ist auch Schillers grundlegende Auffassung. Wie wir bereits gesehen haben, ist er sehr weit davon entfernt, Kunst als eine »Flucht aus der Wirklichkeit« aufzufassen; dies wäre eine angenehme Unterhaltung, die er als

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einen bloßen »augenblicklichen Traum von Freiheit« bezeichnen würde. Jedoch liegt der entscheidende Unterschied darin, dass wir nach Schiller nie dazu gelangen, Dinge so zu präsentieren, wie sie wirklich sind, wenn wir die Wirklichkeit direkt in Blick nehmen und versuchen, dieser alles Ideale zu entreißen. Durch den Versuch, die Dinge direkt so zu zeigen, wie sie sind, gelangen wir einzig dazu, ihren »Stoff« zu zeigen, dessen schwere Gegenwart ihn nicht realer macht als irgendetwas sonst. Schiller verurteilt den Realismus in der Kunst aber nicht nur wegen seiner vorschnellen Gleichsetzung des Realen mit der rohen Materialität oder dem »Stoff«, sondern auch und vor allem für seine Unfähigkeit, überhaupt realistisch sein zu können. Im Theater ist Realismus bloße Anmaßung, es handelt sich, wie Schiller sagt, um »die beliebte Wahrscheinlichkeit« (817), um etwas, das real und wahr erscheint. In anderen Worten, was mit dem realistischen Prinzip der Wahrscheinlichkeit den Sieg davon trägt, ist gerade die Täuschung. Im Theater (in der dramatischen, vor allem in der tragischen Dichtung) ist Realismus der Gipfel des Illusionismus. Realismus ist Illusionismus und der überzeugendste Realismus ist das Meisterwerk der Täuschung.2 Allerdings ist für Schiller diese Anmaßung nicht das Schlimmste am Realismus, da diese nur zu offensichtlich und harmlos ist; das Schlimmste stellt sich vielmehr ein, wenn (wie im Falle der »Franzosen«) der Fortgang des Stücks, die »Handlung« selbst, vom Imperativ des Realismus bestimmt wird und auf der Bühne »eine Einheit des Ortes und der Zeit nach dem gemeinsten empirischen Sinn« eingeführt wird, »als ob hier ein anderer Ort wäre, als der bloß ideale Raum, und eine andere Zeit, als bloß die stetige Folge der Handlung« (818). Auch hier treffen wir direkt auf das, was Schiller als die Verwechselung des Realen mit dem Empirischen scharf verurteilt: In der Kunst gelangen wir nicht zum Realen, indem wir die Idealität seiner Einheit von Zeit und Ort opfern und sie durch eine empirische Einheit ersetzen. Die ideale Einheit von Zeit und Ort erlaubt der inneren Logik der Ereignisse, deren Abfolge und Anordnung zueinander zu bestimmen, während der Empirismus der Möglichkeit, die Abfolge (und Anordnung) der Ereignisse, die ihr Reales ist, künstlerisch zu konstruieren oder zu erschaffen, zuwider läuft. Dies bedeutet jedoch nicht, dass für Schiller die poetische Kunst – die für ihn aufgrund ihrer Treue zum Ideallen die einzig wahre Kunst ist – eine Art zögerliche Kreativität wäre, die ihren Platz zu einer idealen Zeit und einem idealen Ort hätte, wo alles möglich ist, und wo der Künstler von jeder Rücksicht auf Wirklichkeit befreit wäre. Gerade

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diese klägliche Kreativität ist das, was Schiller als die andere »Sackgasse« der Kunst bezeichnet, nämlich das Phantastische. Unterschieden von der Einbildungskraft, die den höchsten Ort in Schillers begrifflichem Gebäude innehat, wird die Phantasie von ihm schlicht als die Rückseite des Realismus verstanden. Hier ist alles möglich, und der Künstler will hier nicht im mindesten Rücksicht auf die Wahrheit nehmen; er will »mit dem Weltstoff nur spielen« und »durch phantastische und bizarre Kombinationen zu überraschen suchen« (817). Wir haben es also mit Folgendem zu tun: Die Realität dessen, was (da) ist, wird als Material oder »Stoff« genommen, der dann auf neuartige oder überraschende Weise kombiniert und zusammengesetzt wird. Die kreative Neuheit solcher Kombinationen ist, so Schiller, nicht als »Schaum und Schein« und das leichte Spiel, das in diesem Verfahren enthalten ist, wie die Schwerfälligkeit in dem ihm entgegengesetzten Realismus, durch und durch unpoetisch. Es folgt keiner inneren Logik des Dargestellten, oder bringt eine solche hervor, und deshalb kommt es – trotz aller vermeintlich idealler Aspekte seiner Phantasie oder Vorstellungen – dem Idealen niemals auch nur nahe. »Phantastische Gebilde willkürlich aneinander reihen, heißt nicht ins Ideale gehen, und das Wirkliche nachahmend wieder bringen, heißt nicht die Natur darstellen. Beide Forderungen stehen so wenig im Widerspruch miteinander, daß sie vielmehr – eine und dieselbe sind.« (817f.) So stellt sich also heraus, dass Realismus und Phantasie zwei Seiten derselben Medaille sind. Um die Lacansche Terminologie zu verwenden: Beide bleiben der Ordnung des Imaginären verhaftet. Das Problem des Realismus ist, dass dieser, je mehr er auf direkte Weise nach dem Realen strebt, umso mehr an den Schein gebunden bleibt. Das Problem des freien Spiels der Phantasie ist hingegen nicht so sehr, dass es nur Schein hervorbringt, sondern dass dieses Hervorbringen ein bloßer Schein von Kreation ist. Denn nur wenn sie das Ideale betritt – etwas, das diese Kunst nicht leistet – kann Kunst etwas Reales hervorbringen, d. h. etwas, das nicht sofort verschwindet, sobald die Vorstellung vorüber ist. Genau wie die oben erwähnte »Idealität« von Zeit und Ort sich nicht auf einen ideallen Raum der Freiheit oder des freien Spiels bezieht, sondern vielmehr ein dramatisches Mittel ist, durch dessen Einsatz der dramatische Dichter hoffen kann, den Effekt realer Freiheit (im Zuschauer) hervorzubringen, so ist auch der Schritt ins Ideal kein Schritt in die Freiheit selbst (durch die das »Ideale« gebildet wäre), sondern ein Mittel, eine notwendige Bedingung, um einen realen Raum der Freiheit zu schaffen. Was ist nun für Schiller die poetische Kunst? Kunst ist nur dann wahr, wenn sie ganz und gar das Tatsächliche hinter sich lässt und rein

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ideall wird. Um diese These zu begründen, erinnert Schiller daran, dass die Natur selbst nichts weiter ist als eine Idee des Geistes und den Sinnen niemals gegenwärtig ist. Sie liegt unter einem Schleier von Erscheinungen aber erscheint selbst niemals. Einzig der Kunst des Idealen ist es gegeben, »diesen Geist des Alls zu ergreifen und in einer körperlichen Form zu binden«. Aber auch die Kunst kann diesen Geist den Sinnen nicht gegenwärtig machen, sondern einzig der Einbildungskraft; und so wird sie »wahrer sein als alle Wirklichkeit und realer als alle Erfahrung«. Hieraus folgt, dass »der Künstler kein einziges Element aus der Wirklichkeit brauchen kann, wie er es findet, daß sein Werk in allen seinen Teilen ideell sein muß, wenn es als ein Ganzes Realität haben und mit der Natur übereinstimmen soll.« (818) Zugleich problematisch und interessant an dieser Darstellung ist, dass sie drei verschiedene Begriffe des Idealen (und seiner Beziehung zum Realen) miteinander verbindet. Zwei davon entspringen sehr klar Schillers Kant-Lektüre und bezeugen eine gewisse Vermischung zwei Kantscher Begriffe: das Noumenon und die transzendentale Idee. Über diese beiden Begriffe erhalten wir die klassische Schillersche Idee von der Kunst als Vermittler zwischen dem Sinnlichen und dem Übersinnlichen. Hier ist das Reale mehr oder weniger direkt mit dem Idealen (entweder in der Form der transzendentalen Idee oder derjenigen des Noumenal-Übersinnlichen) gleichgesetzt. Das Ideale ist kein Vermittler oder Mittel des Realwerdens der Kunst (wie es in einem anderen Strang von Schillers Argumentation der Fall ist), sondern selbst das Ziel. Mit anderen Worten: Die Kunst vermittelt eher zwischen der Realität und dem Idealen, als dass sie das Ideale benutzt, um etwas Reales hervorzubringen. In dieser Hinsicht muss die These, nach der Kunst ideell werden muss, um real zu sein, sehr wörtlich verstanden werden. Es verhält sich so, weil das Reale (als unterschieden von der Realität) das Ideale ist. Real ist entweder das Ding an sich oder aber die Idee des Ganzen, als etwas, das den Sinnen nie gegenwärtig sein kann (und so der Kantschen transzendentalen Idee entspricht). Und die Kunst existiert, um es der Einbildungskraft gegenwärtig, es also trotz allem »körperlich« zu machen. Ich werde diesen Begriff des Idealen bei Schiller, der sehr bekannt ist und vielfach kommentiert wurde, beiseite lassen. Ich werde mich vielmehr auf einen anderen Begriff konzentrieren, der, wenngleich er nur wenig in den erwähnten Erörterungen behandelt wird, von Schillers Bemerkungen zum Chor, die auf dies folgen, stark herausgestrichen wird, und sodann darstellen, wie dieser Begriff zur Produktion wahrer (dramatischer) Kunst beitragen kann.

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Wir haben bereits gesehen, dass Schiller das »Kunstorgan« des Chors für genau diejenigen seiner Aspekte lobt, für die es in der Regel kritisiert wird, dass es nämlich in der Ökonomie der Aufführung als etwas Äußerliches, als ein Fremdkörper erscheint, als ein Innehalten, das den Verlauf der Handlung unterbricht, den Illusionseffekt verdirbt und den Zuschauer irritiert. Dem fügt Schiller eine weitere Beschreibung hinzu, die sehr beredt darstellt, welche Rolle der Chor im modernen Theater spielen würde (sollte er dort eingeführt werden): in einer Art von Krieg gegen den Naturalismus in der Kunst würde er wie eine lebendige Mauer funktionieren, »die die Tragödie um sich herumzieht, um sich von der wirklichen Welt rein abzuschließen und sich ihren idealen Boden, ihre poetische Freiheit zu bewahren.« (819) Es gibt eine große Anzahl weiterer Stellen in Schillers Aufsatz, in denen er dieselbe Idee des Schnitts, der Trennung, Begrenzung und Unterbrechung als den entscheidenden Beitrag herausstreicht, den der Chor zum modernen Theater in dessen Anstrengung leistet, mithilfe des Idealen etwas vom Realen zu produzieren. Schillers eingangs vorgestellte Diskussion über den Unterschied zwischen wahrer Kunst und bloßer Unterhaltung, sollte genügen, um folgende Lektüre seiner Bemerkungen zum Chor und seiner Verbindung mit dem Idealen auszuschließen: Der Chor umreißt oder isoliert einen Raum für das Ideale, in dem wir Leben und Realität beobachten können, so wie sie nicht sind, aber (idealerweise) sein sollten. Schiller verwirft sehr schnell jede Art von Situation, in der der Zuschauer auf der Bühne »die moralische Weltregierung, die er im wirklichen Leben vermißt« findet, und verwirft solches als ein »leeres Spiel« oder als einen »Traum«. (816) Was mit der Idealität, die der Chor schafft, auf dem Spiel steht, ist nicht Idealisierung in irgendeiner Art. Schillers Bemerkungen zum Chor machen im Gegenteil deutlich, dass das Ideale in der Kunst nichts weiter ist als dieser Schnitt, der es von der Realität trennt. Das Ideale ist kein Bereich oder Ort (jenseits der Realität), sondern ein Schnitt, eine Trennung, die als Intervention die Realität selbst angeht. Der Künstler, sagt Schiller, ist derjenige, der kein einziges Element aus der Wirklichkeit brauchen kann, wie er es findet. Was bedeutet dies angesichts der Tatsache, dass er zugleich aber nur Elemente der Realität verwenden kann (und nicht etwa irgendeinen »übersinnlichen Stoff«), und dass es nicht ausreichend ist, wenn er diese Elemente auf neuartige und überraschende Weise kombiniert oder idealisiert? Die Antwort auf diese Frage liegt in folgender Präzisierung, die Schiller vornimmt: Der Künstler kann kein Element der Realität verwenden, so wie er es vorfindet. Mit anderen Worten: Konstitutiv für

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jedes Element der Kunst ist das Intervall, das es von sich selbst trennt; oder noch anders gesagt: Der eigentliche künstlerische (poetische) Raum hängt von der Tatsache ab, dass keines seiner Elemente mit sich selbst direkt koinzidiert. Um es noch ein wenig schärfer zu sagen: Jedes Element der Realität, das die Kunst verwendet, gehört derjenigen Ordnung an, die Magritte mit seinem berühmten ceci n’est pas une pipe explizit gemacht hat. Was hier auf dem Spiel steht ist also nicht einfach, dass Kunst kein Element der Realität (des Tatsächlichen) verwenden könnte, sondern dass, wenn sie ein solches verwendet, es nicht mehr unmittelbar identisch mit sich selbst ist – es existiert in Differenz zu sich selbst, und als Differenz zu sich selbst. Dies und nichts anderes ist die andere, faszinierende Bedeutung der Schillerschen Idealität, die ich hier sichtbar machen möchte. Idealität ist der Schnitt oder das Intervall, das ein Ding von sich selbst trennt. Ein künstlerisches Element ist nicht ideall in dem Sinne, dass es etwas Ätherisches oder Immaterielles wäre. Wie wir bereits gesehen haben, ist Kunst für Schiller nicht wirklich Kunst, wenn sie nicht – trotz aller Idealität – reale, materielle Effekte produziert. Wenn wir diese Aspekte in eine etwas ungewöhnliche Richtung weiter verfolgen, können wir dann nicht sagen, dass das deutlichste Beispiel dieses Effekts des Idealen als reinem Schnitt, der das Ding von sich selbst trennt, Duchamps berühmtes Urinal (FOUNTAIN) ist? Auch wenn es zunächst überraschend erscheint, Duchamps Verwendung des Urinals als ein Element der (gewöhnlichsten) Realität ist in der Tat ein hervorragendes Beispiel, um Schillers These zu illustrieren, dass wahre Kunst zugleich im stärksten Sinne ideall, aber auch im tiefsten Sinne real ist. Denn real ist in Duchamps ready-made nicht die rohe Materialität seines Objekts. Duchamps Geste ist dem Realismus (wie Schiller ihn definiert) direkt entgegen gesetzt. Wie Gérard Wajcman in einer ausgezeichneten Studie zum Duchampschen ready-made dargelegt hat,3 geht es nicht darum, dass Duchamp mit dem ready-made nichts (Neues) geschaffen hat, sondern vielmehr, dass er in wörtlichem Sinne das Nichts geschaffen hat. Denn was genau hat er ausgestellt und für jeden sichtbar präsentiert, als er das Urinal in die Galerie stellte? Nicht einfach das Urinal selbst (als Teil der Realität), sondern genau die Differenz, die ein gewöhnliches Objekt von einem Kunst-Objekt trennt. In sich selbst ist diese Differenz sozusagen »ein großes Nichts«, ein Nichts jedoch, das beachtliche materielle Konsequenzen hat. Mit Duchamp wird dieses Nichts etwas Greifbares, es wird das wahre Objekt der Ausstellung. Mit anderen Worten, was durch diese künstlerische Geste geschieht, die man genauer als die Aufrichtung einer Wand – der Wand

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einer Galerie – um dieses Objekt herum beschreiben kann, wodurch es von seinem gewöhnlichen Gebrauch getrennt wird, ist die Tatsache, dass wir jetzt mit dem Realen des Intervalls oder des Abstands konfrontiert sind, die gewöhnlich nur als »idealle« (d. h. als bloß in unserem Kopf existierende) verstanden werden. Was zugleich im jeweils stärksten Sinne ideall und real an Duchamps ready-made ist, ist genau dieses Intervall oder die Differenz, die nun das Ding von sich selbst trennt. Wenn deutlich geworden ist, dass sie ein Schnitt in die Realität der Dinge ist, ein Schnitt, der nicht ohne Konsequenzen für diese Realität ist, können wir auch sehen, dass Schillers »Idealität«, weit entfernt davon, dem Imaginären anzugehören, in der Tat dem sehr nahe kommt, was Lacan das Symbolische (im Gegensatz zum Symbolismus) genannt hat. Dieses Symbolische muss genau verstanden werden als ein Schnitt in die Realität dessen, was vorhanden ist, d. h. in die Realität des Tatsächlichen und Gegenwärtigen. In genau dem Sinne, in dem das Lacansche Symbolische nichts zu tun hat mit der Vorstellung, Worte als ideale Symbole realer Dinge aufzufassen, sondern den Bereich der Dinge von innen her spaltet, so ist auch die Schillersche Idealität weder eine immaterielle Replizierung tatsächlicher und gegenwärtiger Dinge noch ihre »reine Form« im Platonischen Sinne. Da nun für Schiller dieses Ideale/Symbolische der (einzige) Weg ist, um zum Realen zu gelangen, stellt sich die Frage, wie dies möglich ist? Was ist das Verhältnis zwischen beiden? Diese Fragen sind miteinander verbunden: Was ist, angesichts der Tatsache, dass Sprache – und viele andere Aspekte unseres gewöhnlichen Lebens – bereits symbolisch im Lacanschen Sinne sind, spezifisch an poetischer Sprache und ihrer »Idealität«? Schillers Antwort darauf lautet: Eine Verdoppelung der symbolischen Form selbst. Die eigentliche künstlerische Geste ist so etwas wie eine Operation, die das Symbolische am Symbolischen selbst vornimmt. Phantastische Kunst beispielsweise kombiniert gegebene symbolische Formen, aber sie produziert nichts vom Realen. Poetische Kunst jedoch kombiniert nicht nur ihre Elemente, sondern sie muss dazu noch die Elemente, die sie kombiniert, als ihre eigenen hervorbringen, d. h. sie in ihrem eigenen Raum produzieren. Sie kann dies durch die Verdoppelung der symbolischen Form leisten, und genau hier kommt das Kunstmittel des Chors ins Spiel. Damit die poetische Kunst (oder Sprache) existieren kann, muss sich ein weiterer, ein zweiter Raum inmitten der Realität der Kunst (oder Sprache) selbst öffnen. Mit anderen Worten, die wahre, poetische Kunst hat immer die Struktur eines Stücks im Stück, deren paradigmatisches Beispiel die berühmte play scene (oder mousetrap) im HAMLET ist.

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Poetische Kunst funktioniert durch ihre eigene Verdoppelung (welche synonym ist zu der Idealität als Schnitt, der ein Ding in Bezug zu sich selbst setzt), und durch diese Verdoppelung macht sie das Reale zugänglich oder produziert reale Effekte. Anders als der Realismus, der danach strebt, real zu sein, indem er die Künstlichkeit und die Entstellungen des Symbolischen beseitigt, schafft die poetische Kunst ein Reales, indem sie diese verdoppelt. (Dieses Verdoppeln ist im Übrigen nicht dasselbe wie Intensivieren, das die Künstlichkeit und die Entstellungen der Lächerlichkeit preisgibt; Verdoppeln ist keine Vermehrung, sondern im Wesentlichen ein Schnitt.) In diesem Sinne ist die Wand, die der Chor darstellt, nicht zwischen Zuschauern und Bühne (oder zwischen Realität und Fiktion) errichtet, sondern sie bildet eher eine Bühne auf der Bühne und verbindet somit die Zuschauer mit dem Herzen der Aufführung. Eine der Konsequenzen des Chors, die Schiller herausstreicht, ist beispielsweise, dass er den Dichter »zu dieser Erhebung des Tons, die das Ohr ausfüllt, die den Geist anspannt, die das ganze Gemüt erweitert«, ermächtigt, und »nimmt man den Chor hinweg, so muß die Sprache der Tragödie im Ganzen sinken, oder was jetzt groß und mächtig ist, wird gezwungen und überspannt erscheinen.« (822) Mit anderen Worten bringt uns die Gegenwart des Chors dazu, die poetische Sprache zu akzeptieren, uns in Beziehung zu ihr zu setzen und sie zu genießen, wohingegen eine direkte Konfrontation mit einer solchen Sprache uns zurückstoßen würde. Auf paradoxe Weise ist es so, dass der Chor – sozusagen – durch die Verstärkung der Schranke zwischen Zuschauer und Aufführung die beiden miteinander verbindet. Durch die Einführung von etwas, das radikal unnatürlich ist (der Chor als »Kunstorgan«) und durch den Bruch jeglicher Unmittelbarkeit im Verhältnis zwischen Zuschauer und Bühne können wir hoffen, die Poesie natürlich klingen zu lassen. Darüber hinaus kann der Chor einen bedeutenden Einfluss auf das gewohnte Verhältnis von Sprache und Handlung haben. Schiller fasst das in einen sehr beredten Satz: »So wie der Chor in die Sprache Leben bringt, so bringt er Ruhe in die Handlung.« (822) Hiermit ist ein weiterer Aspekt der Schillerschen Auffassungen über den Chor verbunden, der unsere Aufmerksamkeit verdient. Schiller setzt sein Verständnis der Verwendung des Chors im modernen Theater in direkten Gegensatz zu einer weiteren Tendenz, die er im zeitgenössischen Drama entdeckt, nämlich die Tendenz, die Unmittelbarkeit unserer Gefühle (Emotionen, Leidenschaften) zu ermutigen oder sogar zu fordern. Wir wissen, dass diese Tendenz seither den Hauptstrang unse-

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rer Kultur übernommen hat und zu einer Art von Identifizierung der Wahrheit mit Gefühlen oder Identifizierung des Realen mit dem Gefühlten insgesamt geführt hat, was noch von der Idee einer »Befreiung der Gefühle« von allen möglichen sozialen Zwängen, die diese bislang unterdrückt hätten, begleitet wird. Im Gegensatz dazu ist für Schiller eine »Freiheit der Gefühle« ein Widerspruch in sich selbst: als guter Kantianer versteht er Freiheit als Freiheit in Bezug auf Gefühle (was nicht vorschnell als Unterdrückung der Gefühle verstanden werden sollte). Wenn der Chor einerseits einen Schnitt in das Gewebe der Darstellung ist, funktioniert er andererseits als ein Schnitt, der die Zuschauer von der Unmittelbarkeit ihrer eigenen Gefühle und Emotionen trennt. Schiller sieht den Chor als etwas, das unserem Gemüt hilft, »sich immer klar und heiter von den Rührungen [zu] scheiden, die es erleidet«. Der Chor bildet deshalb auch eine Wand oder einen Abstand zwischen uns selbst und unseren Gefühlen. Er führt in wörtlichem Sinne die Handlung aus, die – in der berühmten closet scene zwischen Hamlet und seiner Mutter – der Geist von Hamlet zu tun fordert: O step between her and her fighting soul.4 – »Tritt zwischen sie und ihre Seel im Kampf«.5 Es ist kaum möglich, dass Schiller diese Zeile nicht im Kopf hatte, als er schrieb: »Dadurch, daß der Chor die Teile auseinanderhält und zwischen die Passionen mit seiner beruhigenden Betrachtung tritt, gibt er uns unsre Freiheit zurück, die im Sturm der Affekte verlorengehen würde.« (822) Es kann an dieser Stelle interessant sein, an die berühmten Bemerkungen zu erinnern, die Lacan in seinem Antigone-Kommentar der Funktionsweise des Chors in der klassischen Tragödie gewidmet hat. Der Chor ist da, sagt er, um an unserer Stelle zu fühlen. Wenn wir ins Theater gehen, sind wir mit den Angelegenheiten des Tages beschäftigt, mit dem Stift, den wir verloren haben, mit dem Scheck, den wir am nächsten Tag unterschreiben müssen usw. Wir sind nicht so stark in die Aufführung involviert, wie wir vielleicht annehmen. Jedoch kümmert sich der Chor während der Aufführung um unsere Emotionen. Denn der Chor liefert den emotionalen Kommentar, und er setzt sich zusammen aus »Leuten, die bewegt sind«.6 Deshalb müssen wir uns keine Sorgen machen: Wir könne in aller Ruhe weiter an den Scheck denken, und selbst wenn wir überhaupt nichts empfinden, wird der Chor es an unserer Stelle tun. Der Effekt kann erzielt werden, auch dann, wenn wir nicht viel selbst zittern sollten. Schillers These, die er hauptsächlich in Bezug auf die Funktionsweise des Chors im modernen Theater, wenn er schließlich dort eingesetzt würde, formuliert, scheint in die entgegengesetzte Richtung zu weisen:

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Als Zuschauer werden wir nur zu leicht von den Gefühlen überströmt, und wir können uns unserer emotionalen Teilhabe nicht erwehren – der Chor ist deshalb da, um »uns zurück zu stoßen« und unseren emotionalen Zustand zu unterbrechen. Es ist fast so, als sei der Schillersche Chor dazu da, uns inmitten einer emotionalen Szene daran zu erinnern, dass es da einen Scheck gibt, den wir am nächsten Tag unterzeichnen müssen … Dieser Aspekt von Schillers Erörterung des Chors verweist unter anderem auf das, was im modernen Theater als Verfremdungseffekt bekannt geworden ist. Ich behaupte nicht, dass Schiller so etwas im Sinne hatte, aber ein Aspekt davon ist eindeutig in seinen Überlegungen vorhanden. Der Chor tritt zwischen uns selbst und unsere Gefühle und lässt dadurch unsere Gefühle als getrennte Objekte erscheinen. In dieser Hinsicht ist der Chor nicht das Instrument der »Interpassivität« – nach dem Begriff, den Robert Pfaller geschaffen hat, um Anordnungen zu beschreiben wie diejenige, die Lacan entwirft, und in denen unsere Emotionen und Passionen durch eine andere Instanz übernommen werden7 –, sondern der Chor selbst ist sehr wörtlich eine Inter-Passion. Er ist ein »Organ«, das mitten in die Leidenschaften tritt, und das Spiel von Innen her trennt. Der Raum, den er dabei schafft, ist der Ort des RealSpiels.

Aus dem Englischen von Marcus Coelen.

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Schiller, Friedrich: »Über den Gebrauch des Chors in der Tragödie«, in: Sämtliche Werke, hrsg. von Peter-André Alt, München 2004, Bd. II, S. 815 – 823, hier 819. (Zitiert wird nach dieser Ausgabe, weitere Angaben im Text mit Seitenzahl in Klammern.) Es gibt ein Echo dieser Wahrheit in den Spezialeffekten des zeitgenössischen HighTech-Kino: Außergewöhnliche und oft extrem ausgefeilte ›illusionistische‹ Technologien werden eingesetzt, damit das, was wir auf dem Bildschirm sehen, genauso wie die Realität aussieht. In seinem Buch L’objet du siècle, Paris 1998, S. 29 – 90. Zitiert nach der deutschen Ausgabe von August Wilhelm Schlegel und Dorothea und Ludwig Tieck u. a., Essen 2004, S. 1244. Shakespeare, William: Hamlet, III, 4, 113. Zitiert nach der Edition von Harold Jenkins, London 1982: Arden Shakespeare. Lacan, Jacques: L’éthique de la psychanalyse, Paris 1986, S. 294. Vgl. Pfaller, Robert (Hrsg.): Interpassivität. Studien über delegiertes Genießen, Wien/ New York 2000.

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MASKE UND SCHIRM Zur Blickfunktion des Vorhanges in Tizians Gemälde DIANA UND AKTAION

Der »Trieb des Halbversteckten« kennzeichnet die Faszination der Malerei, wie Heinrich Wölfflin in RENAISSANCE UND BAROCK beschreibt: »Zur malerischen Unordnung gehört, dass die einzelnen Gegenstände sich nicht ganz und völlig klar darstellen, sondern theilweise verdeckt sind.«1 Für das Malerische ist das Motiv der Deckung eines der wichtigsten, weil »Alles, was auf den ersten Blick vollständig gefasst werden kann, im Bilde langweilig wirkt«2. Aus diesem Grund »bleiben einige Partieen verdeckt, die Gegenstände sind übereinander geschoben, schauen nur theilweise hervor, wodurch dann die Phantasie auf’s höchste gereizt wird, das Verborgene sich vorzustellen. Man meint, es sei der Trieb des Halbversteckten selbst, sich an’s Licht herauszubringen.«3 Schon Plinius macht das wahre Gelingen der Kunst an diesem Spieltrieb des malerischen Halbversteckten fest, das darzustellen dem Maler Parrhasios meisterhaft gelang: »Denn Körper und Innenflächen der Gegenstände zu malen ist sicherlich eine große Leistung, worin aber auch viele andere Ruhm erlangt haben; die Konturen der Körper zu zeichnen und dort, wo die Malerei aufhört, richtig abzusetzen findet man selten in der Kunstentwicklung. Die Kontur muss nämlich um sich selbst herumlaufen und so aufhören, dass sie anderes erwarten lässt und hinter sich auch das zeigt, was sie verbirgt.«4 Plinius’ Erläuterungen zur gelungenen Malweise des Parrhasios stehen im Kontext der Anekdote über den griechischen Malergenossen Zeuxis, der, wie es heißt, Trauben so mimetisch malen konnte, dass selbst Vögel sich durch seine Kunst täuschen ließen. Im Wettstreit mit Parrhasios unterlag er jedoch, denn als dieser ihn vor einen Vorhang führte und Zeuxis den drapierten Stoff beiseite schieben wollte, um das dahinter Verborgene zu sehen, musste er feststellen, dass er bereits ein Bild vor sich hatte. Diese »höhere« Täuschung beruht darauf, dass die gemalte Oberfläche, indem sie etwas zeigt, zugleich etwas verbirgt. Damit aber steht der Vorhang in der Malerei von Anfang an genau zwischen Mimesis und Mimikry: Sobald der Vorhang seinen Platz einnimmt, kann sich auf ihm etwas abzeichnen, das Illusion und Verbergung zugleich ist.

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In dem zwischen 1556 – 1559 gemalten Bild DIANA UND AKTAION von Tizian, das heute in der National Gallery von Edinburgh hängt, wird jenes enthüllende und verhüllende Augentäuschungsspiel in eine reflexive bzw. »passive, verzichtende und kontemplative«5 Szene überführt. Die Periode der fünfziger Jahre kennzeichnet nach Theodor Hetzer nicht mehr das bis zur Brutalität gesteigerte Wollen und heftige Begehren, sondern es ist »jetzt das reine nicht mehr wollende, nicht mehr begehrende Schauen«6. Das Heroische und Majestätische, das irdisch

Tizian: »Diana und Aktaion«, 1556 – 1559, Edinburgh, National Gallery of Scotland

und zeitlich Mächtige, die Politik, Schicksal und Geschehen gilt in dieser Periode als Motiv nun nicht mehr. Deswegen erstaunt es, dass dieses für den spanischen König Philipp II. gemalte Bild mit sieben weiteren Gemälden als Fürstenspiegel in einem programmatischen Zusammenhang steht,7 den Tizian selbst als Poesiezyklus bezeichnet hat. Im Rahmen höfischer Festspiele könnte es sich um ein bildliches Angebot an das königliche Auge handeln. Baldassare Taccones ATTEONE, vermutlich 1489 in Mailand aufgeführt, bot beispielsweise das Brunnenthema als ein Spiel mit Nymphen an, das durch den als deus ex machina herabsteigenden Merkur unterbrochen wurde. Mit Blick auf das tragische Ende Aktaions erläuterte Taccone das Theaterstück wie folgt: Es werde

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jedem Rebellen und Feind so ergehen, der den üblen Gedanken hege, den schönen sonnigen Staat zu gefährden8. In diesem theaterhistorischen Zusammenhang erklärt sich wohl der rote Vorhang in dem Bild Tizians, das damit auf die Enthüllung von »tablaux vivants«9 anspielt. Die Szene auf dem Lande, die Conrad Celtes 1501 dazu veranlasste, Kaiser Maximilian I. in Linz die Rolle des Aktaion zu geben, um die königliche Jagdkunst im höfischen Festspiel LUDUS DIANAE zu verherrlichen,10 wird im Gemälde mit einer Ruinenlandschaft verbunden. Das »Theater der Souveränität« betont die »Steigerung eines visuellen Zaubers«11 mittels des »szenischen Blick[s]«, der »durch den Theatervorhang verstärkt«12 wurde: »Es geht um die Fesselung der Aufmerksamkeit durch die Eröffnung von Perspektiven, durch Beleuchtungs- und Verwandlungseffekte«13. Ikonographisch gesehen stellt das Gemälde einen Sonderfall dar, da es als einziges einen Vorhang in die mythologische Szenerie einfügt. Blick und Vorhang sind dabei, wie hier anknüpfend an Jacques Lacan und Pierre Klossowski gezeigt werden soll, im Bild mit dem Begehren verbunden, über das das Subjekt sich im Angeschauten verliert. Für die zufällige oder vermeintlich zufällige Begegnung zwischen Diana und Aktaion14 bedarf es eines roten Vorhangs, der gleichsam einen Auftakt bildet; eines Vorhangs, der zusammen mit dem Fluss eine Grenze markiert. Zugleich betont der rote Vorhang den Moment einer plötzlichen Enthüllung, der Eröffnung eines verbotenen Anblicks, um damit jenseits des Lustprinzips einen Ort des Genießens zu offenbaren. Der Legende nach, wie sie seit dem 4. Jahrhundert von Kallimachos und auch in Ovids Metamorphosen tradiert wird, überrascht Aktaion Diana bzw. Artemis beim Bade. »Siehe,« erzählt Ovid, »da kommt der Enkel des Cadmos, der einen Teil seines Tagwerkes aufgeschoben hat, durch den unbekannten Wald, den er mit zögernden Schritten durchstreift, in jenes Gehölz. […] Kaum hatte er die Grotte mit der taufrischen Quelle betreten, als die Nymphen beim Anblick des Mannes sich nackt, wie sie waren, an die Brust schlugen, mit plötzlichem Heulen den ganzen Wald erfüllten, sich um Diana drängten und sich schützend vor sie stellten.«15 Obwohl ihr Nymphenschwarm sie umdrängte, drehte diese sich schräg zur Seite und wandte das Antlitz rückwärts. Gerne hätte die Jagdgöttin Pfeile zur Hand gehabt, wie die Metamorphosen zu erzählen wissen, sie konnte jedoch bloß Aktaions Haupt mit Wasser bespritzen, um die unheilbringenden Worte zu verkünden: »Jetzt darfst du gern erzählen, daß du mich unverhüllt gesehen hast – wenn du es noch erzählen kannst.«16 Auf seinem besprengten Haupt lässt sie ein Geweih wachsen; und Körperteil für Körperteil verwandelt sich Aktaion in einen stummen

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Hirsch, der unmittelbar nach seiner Verwandlung von den eigenen Jagdhunden zerrissen wird, wie ein weiteres Gemälde aus dem Poesiezyklus Tizians zeigt.17 Das literarische Schauspiel ist nach Klossowski an den Verlust der Sprache gebunden, wie auch Lacan in Anlehnung an den Aktaionmythos beschreibt: »Ein wilder Geruch strömt heraus, und am Horizont erscheint die Jagd der Artemis – deren Berührung sich mit jenem Moment tragischer Ohnmacht zu verbinden scheint, in dem wir den verloren haben, der spricht.« 18 Neben Kallimachos und Ovid sind weitere und frühere Fassungen des gejagten Jägers, der durch seine eigenen Hunde zerfleischt wurde, überliefert: Euripides und Diodoros sehen die Bestrafung in einer Rivalität auf dem Gebiet der Jagd begründet. Nach Pausanias fand Aktaion seinen grausamen Tod, nicht weil er Diana, sondern eine ihrer Nymphen, Semele, begehrte. In der Fassung des Apollodor war Aktaions Tod die Rache des eifersüchtigen Zeus, Vater Dianas, weil dieser um Semele geworben und mit ihr Dionysos gezeugt hatte. Somit geht es in der Legende auch um den Kampf zwischen dem Apollinischen, der Keuschheit Dianas, und dem Dionysischen, dem Begehren Aktaions. Frühe kunsthistorische Studien zu Tizians DIANA UND AKTAION bleiben zumeist der Fassung Ovids verhaftet, wenn sie davon sprechen, dass Aktaion gebannt vor dem entzückenden Bilde Dianas stehen bleibt und in Erstaunen über den Anblick seinen Bogen fallen lässt.19 Doch eröffnet dieses Bild eine eigentümliche Verschiebung des Schauplatzes, wie Harald Keller gezeigt hat, da »die Hauptlinien dieses Bildaufbaues nicht direkt auf den Schlüsselpunkt der antiken Fabel hinführen, sondern abgelenkt werden – das heißt, daß auf den beiden Bildern mit Umwegen, mit ritardandi erzählt wird. Genauer gesagt, zwischen den Hauptakteuren spielt sich die Handlung gar nicht direkt ab.«20 Seit Carl Nordenfalk21 stimmt die Forschung darin überein, dass Tizian sich in diesem Gemälde nicht an die ovidische Vorlage hält.22 Der Handlung nach geht es in dieser Legende um ein Sehen und Gesehen-Werden. Tizians Verschiebung des Schauplatzes beruht auf einer Blickkonstellation, innerhalb derer Aktaion Diana nicht sehen kann, da sein Kopf wie sein Arm sich vielmehr schräg ins Bildinnere wenden,23 in Richtung der Nymphe, die sich hinter dem Pfeiler versteckt, und die der Erzählung nach Semele sein könnte. Umgekehrt kann Diana Aktaion ebenfalls nicht sehen, da sie hinter ihrem Arm versteckt düster in Richtung des unteren Brunnenrandes blickt. Die Handlung von Sehen und GesehenWerden verschiebt sich auf einem Nebenschauplatz: Die Nymphen und Dienerinnen der Jagdgöttin sind es, die sehen und zugleich die Technik von Enthüllen und Verbergen buchstäblich in der Hand halten: Die am

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Brunnenrand auf blauem Tuch sitzende Nymphe, die den roten Vorhang am Zipfel hält, wendet ihren Kopf zu Diana hin, und die schwarze Dienerin in dem rot-weiß gestreiften Kleid sieht Aktaion direkt an. Dabei bleibt unklar, ob die Nymphe mit dem blauen Tuch den Vorhang hebt oder vielmehr senkt, ob sie die Jagdgöttin enthüllt oder vielmehr verhüllt; und ebenso bleibt unklar, ob die Dienerin, die mit dem roten und weißen Tuch sowie ihrem eigenen Körper die nackte Mondgöttin umfasst, die Göttin von Blicken abzuschirmen sucht oder sie nicht eher damit präsentiert. Ikonographisch gesehen vereint Tizian dadurch die verschiedenen Fassungen von Pausanias, Apollodor und Ovid in einem Bild. Er reduziert die Konstellation somit nicht auf ein duales imaginäres Verhältnis, sondern führt, wie im Folgenden gezeigt werden soll, eine dritte Instanz ein und bringt dadurch metonymische Verschiebungen auf Nebenschauplätzen hervor. Die überkreuzende Konstellation zwischen zufälligem Sehen und plötzlichem Gesehen-Werden lässt Klossowski in seinem Essay DAS BAD DER DIANA24 die Frage formulieren, in welcher Weise eine Gottheit überhaupt überrascht werden könne. Wie ist es möglich, dass Aktaion als Voyeur in der Lage ist, eine Jagdgöttin und eine ihrer Nymphen nackt zu beobachten, ohne dass sie es weiß? Denn was Götter doch auszeichnet, ist, dass sie stets alles sehen, dass sie in ihrem Blick omnipräsent sind und deswegen nicht überrascht werden können. Ausgehend von der Frage, ob Zufall oder unbestimmtes Begehren Aktaion zu dieser Tat bewogen haben, entwickelt Klossowski eine strukturelle Umkehrung der Ovidschen Erzählung: Aktaion, der Enkel des Kadmos, ist von der Lust getrieben, einen verbotenen Anblick erhaschen zu können, er wartet auf ein Ereignis, das indes auf Diana selbst zurückzuführen ist, nämlich auf ihr Verlangen, sich selbst zu sehen; ein Verlangen, das sie im Laufe der Jagd überkommen haben soll. Da Götter per se unsichtbar sind, kann sich Diana erst selbst sehen, wenn sie eine bestimmte Gestalt annimmt. Dies kann sie jedoch nur als Theophanie, als göttliche Erscheinung, wobei sie sich vor den Augen des Jägers weder in einen Goldregen noch in eine Bärin, sondern in eine sich ausruhende Jägerin verwandelt. In dem Maße, wie Aktaion in seiner imaginären Anschauung versinkt, nimmt Diana Gestalt an, so dass sie ihrerseits Aktaion dabei betrachten kann, wie er sich die nackte Göttin vorstellt. Zu diesem Zweck hätten die Götter auf Erden auch das Theaterspiel eingeführt, damit die Menschen sich selbst im Schauspiel betrachten können, so wie »die Götter sich selbst in der Einbildungskraft der Menschen betrachten«25. Nach Klossowski liebte Diana das Theater mehr als alle anderen Götter, sie liebte es, ihren eigenen Aben-

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teuern beizuwohnen, Abenteuern der Jagd, »bei denen ihre Keuschheit auf die Probe gestellt wird.«26 Folglich wird Diana nicht von Aktaion gejagt und überrascht, sondern umgekehrt einer Inszenierung ausgeliefert, damit die Göttin Gestalt annehmen kann, um sich zu sehen. Sehen und Gesehen-Werden sind dabei der Struktur des Imaginären unterworfen, das eines Anderen bedarf. Um in das Spiel von Sehen und Gesehen-Werden eintreten zu können, bedarf es nach Klossowski vermittelnder Dämonen, die »zur Einbildung des Aktaion und zum Spiegel der Diana« werden. »In diesem Sinne sind die Dämonen entweder Vermittler zwischen Göttern und Menschen, oder aber – und das ist meist der Fall – sie sind nur die Masken, die Mimen, die ihre Rolle spielen.«27 Die Dämonen sind die Spiegel und die Masken, derer sich die Götter behelfen, um sich den Verwandlungen unterwerfen und dadurch begehren zu können. Das ganze Schauspiel, das dazu dient, dass die Göttin sich selbst in der Vorstellung Aktaions sieht, bedient sich zunächst imaginärer Spiegelungen. Lacan zufolge produziert das virtuelle Bild des Spiegels ein Image, das ein einheitliches Selbstbild ermöglicht.

Blick

Bild / image Schirm

Subjekt der Vorstellung

Jacques Lacans Spiegelschema

In Tizians Gemälde liegen in Dianas Sehbereich Gegenstände, die Spiegelungen hervorbringen. Dazu zählt die transparente und in prägnanter Klarheit funkelnde Vase, der dunkel gerahmte Planspiegel sowie das Gewässer, das Diana und Aktaion trennt. Folgerichtig erwartet man an diesen Stellen deutliche Abbilder: Doch in dem planen Spiegel sieht man zunächst nichts, ebenso, wie man in der glasklaren und glänzenden Vase vergebens nach einem genauen und umgekehrten Spiegelbild sucht. Statt klare virtuelle Spiegelbilder wiederzugeben, lenken die spiegelnden Flächen die Aufmerksamkeit auf glitzernde Lichtpunkte und verhüllende Stoffe, sei es beim Haarschmuck Dianas, dem Perlmuttoder Korallenohrring oder im Glanz feuchter Augen und Zähne, der bei den Nymphen oder dem kleinen Hund gesetzt ist. Der »eigentümliche Glanz der Kostbarkeiten, der über diesen Bildern liegt und der dem

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Betrachter immer wieder die künstlich geformten Goldschmiedearbeiten der Zeit ins Gedächtnis ruft«28 erklärt Theodor Hetzer aus dem Manierismus heraus. Im Gemälde DIANA UND AKTAION ist sogar am Ort des Wasserkruges anstelle eines reflektierenden Abbildes lediglich ein glänzender opaker weißer Lichtfleck29 zu sehen, der als schwaches Echo wiederholt im Wasser gespiegelt erscheint. Nicht zuletzt werden in diesem Bild die glatten Spiegelbilder durch die weißen hervorblitzenden Lichtpunkte des plätschernden Wassers vernichtet, das aus einer dunklen Maske heraussprudelt. Das Sehen begnügt sich auf der Ebene des Begehrens nicht mit der Darstellung von Objekten, wie es in der geometralen Optik mittels der zentralperspektivischen Fixierung eines Augpunktes in Szene gesetzt wird, es begehrt vielmehr den Blick, und damit begehrt es stets etwas anderes: »Das was man sieht offenbart nicht etwas, sondern versteckt es«,30 heißt es in Lacans Seminar von 1966 zur Logik des Phantasmas. Diese Struktur der Augentäuschung wird in der Malerei zur Strategie. So kommentiert Lacan die Anekdote von Zeuxis und Parrhasios mit den Worten: Wenn »man einen Menschen täuschen will, braucht man ihm nur das Bild eines Vorhangs vor Augen zu halten, das heißt das Bild von etwas, jenseits dessen er zu sehen verlangt.«31 Dies lässt sich in Tizians Gemälde an zahlreichen Stellen nachweisen, an denen sich Spiegel in Vorhänge verwandeln: Das Blau im kleinen gerahmten Spiegel ist ein Reflex des um die Hüfte der Nymphe geschlungenen Stoffes; ebenso reflektiert die Vase die weißen Tücher der Göttin. Das einzige, was diese Gegenstände folglich spiegeln, sind verhüllende Stoffbahnen, die in der gleichen Funktion einer Augentäuschung mehr verdecken als zeigen; und sich in ihrer Opazität in einen Schirm verwandeln. Der Trieb des Halbversteckten, den Heinrich Wöllflin an die Malerei gebunden hat, des Versteckspiels, wie es mit der Nymphe hinter dem Pfeiler inszeniert wird, verbindet sich überdeutlich mit dem roten, zur Seite geschobenen Vorhang. Das Begehren hinter den Vorhang, hinter die verhüllenden Stoffbahnen zu sehen, ohne zu wissen, was sich dahinter verbirgt, führt zu einer anwesenden Abwesenheit im Bild. Lacan beschreibt diese Struktur in seinem vierten Seminar aus dem Jahre 1956 anhand eines Schemas wie folgt: »Man kann sogar sagen, daß mit der Anwesenheit des Vorhangs das, was jenseits ist als Mangel, danach strebt, sich zu realisieren als Bild. Auf dem Schleier malt sich die Abwesenheit. Es ist nichts anderes als die Funktion eines Vorhangs, woraus er auch bestehen mag. Der Vorhang erhält seinen Wert, sein Sein und seine Beständigkeit dadurch, daß er eben das ist, worauf die Abwesenheit projiziert und imaginiert wird.«32 In diesem Zusammenhang stellt

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Lacan die Frage, weshalb »der Schleier dem Menschen wertvoller als die Realität«33 sei.

Objekt

Subjekt

Nichts

Vorhang

Jacques Lacans Vorhangsschema

Es ist der Fetischist, der Auskunft geben kann über die illusorische Beziehung zum Objekt, wie nach Sigmund Freuds Bericht jener Herr aus England, der stets nach dem Glanz auf der Nase weiblicher Personen suchte. Der »Blick auf die Nase«34 führt die metonymische Verschiebung zwischen Subjekt, Objekt und dem Jenseits auf der imaginären Ebene vor: »Auf dem Schleier kann sich die Beziehung zu einem Jenseits, das grundlegend ist in jeder Einrichtung der symbolischen Beziehung, ein Bild geben, das heißt als imaginäre Gefangennahme und Platz des Begehrens einrichten.«35 Indem der Vorhang den Trieb des Halbversteckten inszeniert, führt er vor, dass auch in einem sich immer gleich zeigenden Bild plötzlich Unsichtbares zum Vorschein kommen könnte. Aufgrund seiner Struktur des plötzlichen Hervorbringens und Enthüllens unterhält der Vorhang eine Funktion, die im Wechsel von Verhüllung und Verwandlung nicht nur eine liebliche imaginäre Ansicht badender Nymphen eröffnet, sondern zugleich eine Ansammlung von blickenden Fratzen und Masken offenbart, die auf den ersten Blick kaum auszumachen sind. Zunächst ist der Vorhang selbst an eine Maske gebunden: Der dünne helle Faden, an dem der rote Stoffetzen hängt, wird von den glänzenden Zähnen einer steinernen Löwenmaske gehalten. Die herausstarrenden Pupillen des Raubtieres liegen gerade noch unterhalb des Bildrandes. Weiter zeichnet sich am Brunnenrand eine von Girlanden gerahmte Reliefmaske mit Bart und langem Haar ab, die sich, im Wasser gespiegelt, als schwaches Phantombild in eine weitere Fratze verwandelt. Der Trieb des Halbversteckten zeigt sich zusätzlich anhand der dunkelgrauen Speiermaske, die unter dem blauen Tuch der Nymphe mit hervorblitzenden Augäpfeln hervorlugt. In der Weise, wie sie aus einem Versteck heraus ihr Antlitz zeigt, erinnert sie an Phänomene der Mimikry, wie Roger Caillois sie in

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seinem Aufsatz MIMÉTISME ET PSYCHASTHÉNIE LÉGENDAIRE und in seinem Buch MÉDUSE ET CIE.36 beschrieben hat. Darin zeigt er, dass die Ozelle, also die augenförmige Zeichnung etwa auf Schmetterlingsflügeln oder auf Raupen – in diesem Fall der Papilio Troilus – kein schematisches Bild des Auges darstellt,37 sondern vielmehr als Schirm oder Maske funktioniert.38 Die Ozellen müssen dabei plötzlich sichtbar werden, damit sie ihren Träger zum Verschwinden bringen: »Es genügt nicht, daß sie existieren; es ist notwendig, dass sie in Erscheinung treten. Zuerst unsichtbar, zerspringen sie auf einen Schlag.«39 Gleich einem sich öffnenden Vorhang tritt in der Mimikry zuvor Unsichtbares hervor, das einen als »elektrische[n] Erschütterung«40 stocken lässt – aus diesem Grund funktioniert

Larve der Empusa Egena-Heuschrecke im Vergleich mit Tizians Gemälde.

die Mimikry als »Bildstörung«.41 Die auf den zweiten oder dritten Blick gesehenen Masken in Tizians Gemälde sind jedoch nicht die einzigen: Hinter den grünen Baumblättern versteckt, ist ein an den Pfeiler gelehnter Hirschschädel zu erkennen. In dem Maße, wie dieser Schädel gleich der Larve der Empusa Egena-Heuschrecke als Maske erscheint, erzeugt er einen Mimikryeffekt. »Auf jeden Fall erscheint die Maske, die gleichermaßen verbirgt und erschreckt, im höchsten Moment ihres Machtbereichs als ein zufällig eintretendes, monströses und grauenhaftes Gesicht: sie vereint und assoziiert dadurch zwei Funktionen, nämlich die der Tarnung und der Ozellen.«42 All diese Masken und Fratzen, die steinerne Löwenmaske und die Reliefmaske am Brunnenrand, deren verzerrtes Phantombild sich im Wasser spiegelt, der Speier, der hervorlugt sowie der Hirschschädel, sind Gestalten, die aus dem Bild heraus blicken. Der Blick, den Lacan zunächst analog der Konzeption Sartres als eine Begegnung des voyeuristischen Subjekts mit dem (imaginären) Anderen auffasste, kann dar-

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über hinausgehend sichtbar werden und sich als Blick im Bild manifestieren. »Allen voran waren es die Maler, die den Blick als solchen erfasst haben«,43 sagte Lacan, nämlich »in der Maske«.44 Auch der antike Maskengott Dionysos, der in den verschieden Dianalegenden keine unbedeutende Rolle spielte, wurde im Kult als eine mit Baumzweigen und Efeu gekrönte Maske dargestellt, »weil man ihn als den Anschauenden kannte.«45 Das Plötzlich-ertappt-Werden durch den inkarnierten und dadurch paranoischen Maskenblick ruft einen Moment des Schreckens hervor, der auf die Spaltung des Subjekts zurückzuführen ist, die besagt, dass der Andere, der Doppelgänger, das Spiegelbild, die Maske stets als erstes da ist. In welcher Weise sich das Objekt klein a materialisiert und als Paranoia funktioniert, wird anhand der Beobachtung Sartres, dass der Blick nicht notwendigerweise das Sehorgan betrifft, evidenter: »Jeder auf mich gerichtete Blick manifestiert sich in Verbindung mit dem Erscheinen einer sinnlichen Gestalt in unserem Wahrnehmungsfeld, aber im Gegensatz zu dem, was man glauben könnte, ist er an keine bestimmte Gestalt gebunden. Was am häufigsten einen Blick manifestiert, ist sicher das Sichrichten zweier Augäpfel auf mich. Aber er ist ebenso gut anlässlich eines Raschelns von Zweigen, eines von Stille gefolgten Geräuschs von Schritten, eines halboffenen Fensterladens, der leichten Bewegung eines Vorhangs gegeben.«46 Neben den blickenden Masken, Fratzen und Tierschädeln bilden in Tizians Gemälde die über die Äste geworfenen und zwischen den Baumstämmen herabhängenden Tierfelle ein Moment des Unheimlichen: Schwach zeichnet sich im Hintergrund die Haut eines erlegten Tieres mit dunkler Tatze und schemenhaft gezeichneten Gesichtszügen ab; während vorne das Fell eines Hirsches, mit seinen weißen Flecken am Rücken, besser erkennenbar ist, dessen Kopf sich wie die Löwenmaske an den Bildrand anschmiegt. Diese Felle erinnern an die Dianalegende von Pausanias, wonach die Keuschheit fordernde Göttin ein Hirschfell über die Schultern Aktaions warf, um seine Hunde, die ihn verkleidet nicht mehr erkannten, zu täuschen. »Das umgehängte Hirschfell als eine Verkleidung anzusehen,« erläutert Wolfgang Cziesla, »würde eine zusätzliche Bestätigung einer von mehreren antiken Mythographen notierten Beziehung Aktaions zum Kult des Dionysos bedeuten.«47 Der Hirschschädel und die abgelöste Haut des Hirsches kündigen in diesem Gemälde die verhängnisvolle Zukunft und den grausamen Tod Aktaions an. Steht der rote Vorhang, der an die düstere Maske gebundenen ist, farblich in starkem Kontrast zum sparsam gesetzten Blau und zum Gegenpol des roten Tuches Dianas, so vermischen sich die Farben der

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Architektur, des hautfarbenen Gewandes Aktaions, des mit Gras bewachsenen Bodens und der dürren Bäume miteinander, so dass sie die Varianten eines Inkarnats48 vorführen, die sich zwischen hell und dunkel bewegt. Dieser braungoldene Ton, der den Bildern Tizians um 1560 eigen ist, tritt an die Stelle satter Farben, um sich zu den »vielfältigen, aber auch bis zum warmen und tiefen Braun reichenden Farben des Inkarnats«49 zu gesellen. Die klare Absetzung zwischen Figur und Grund, wie sie durch das »leuchtende[s] Erdbeerrot«50 der in der Luft hängenden Stoffbahnen klar markiert ist, wird am Ort der hängenden, abgezogenen Haut gejagter Tiere in ihre lasierenden Schichten aufgelöst. Der extreme Zustand einer Ununterscheidbarkeit von Figur und Grund entspricht der Mimikryform der Camouflage, die sich dadurch

Disruptive, homochrome Zeichnung des Schmetterlings Agriopodes Fallax im Vergleich mit Tizians Gemälde.

auszeichnet, dass das Tier, in Caillois’ Beispiel ein Schmetterling, sich kaum von seinem Umfeld abhebt. Wie Caillois’ Schmetterling gleicht sich das verästelte Geweih des Hirschschädels camouflageartig den Baumzweigen an. In Bezug auf das zwischen Einschüchterung und Verkleidung angelegte Mimikry-Kampfspiel beschreibt Lacan die wesentliche Funktion der Täuschung wie folgt: »[D]as Wesen gibt von sich oder erhält vom anderen etwas, das Maske, Doppel, Hülle, abgelöste Haut, losgelöst zur Bedeckung eines Schildrahmens, ist.«51 Die herabhängenden Felle stehen im Bildganzen in einem metonymischen Zusammenhang mit den verschiedenen verhüllenden und enthüllenden Stoffen. Ihnen ist gemeinsam, dass sie, wie in der Mimikry, etwas Verborgenes zum Vorschein bringen, das aber auf derselben opaken Oberfläche angesiedelt ist. Es zeichnet, Lacan zufolge, die Kunst aus, dass sie, im Unterschied zur Mimikry der Tiere, mit dem Schirm bzw. der Maske spielen kann.

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Denn »nur das menschliche Subjekt« erläutert Lacan, »das Subjekt des Begehrens, welches das Wesen des Menschen ausmacht – unterliegt, im Gegensatz zum Tiere, nicht ganz diesem imaginären Befangensein. Es zeichnet sich aus. Wie das? In dem Maße, wie es die Funktion des Schirms herauslöst und mit ihr spielt. Tatsächlich vermag der Mensch mit der Maske zu spielen, ist er doch etwas, über dem jenseits der Blick ist. Der Schirm ist hier Ort der Vermittlung.«52 Das verhängnisvolle Spiel, das der rote Vorhang und die verhüllenden Stoffbahnen in den Spiegelungen eröffnen und in den Masken und Fratzen fortgeführt wird, zeigt sich im Gemälde als äußerst labile Situation: Der dünne weiße Faden, an dem der rote Vorhang hängt, könnte jeden Moment reißen. Sobald der Vorhang, »das Götzenbild der Abwesenheit«,53 seinen Platz einnimmt, ermöglicht er das Spiel der Malerei und des Theaters, das aus psychoanalytischer Sicht stets ein fetischistisches ist. Diese malerische und theatrale Ambiguität, »die sich als erlebte, als unterhaltene und als solche geliebte Illusion erweist, wird zugleich in einem zerbrechlichen Gleichgewicht«54 gehalten, »das in jedem Augenblick dem Herabfallen des Vorhangs oder seiner Lüftung« preisgegeben werden kann.55

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Wölfflin, Heinrich, Renaissance und Barock. Eine Untersuchung über Wesen und Entstehung des Barockstils in Italien, Basel, 1986, S. 33. Ebd. Ebd. Plinius der Ältere: Naturkunde/Naturalis Historia. Farben, Malerei, Plastik (Buch 35), München u. a. 1997, S. 59. Hetzer, Theodor: Tizian. Die Geschichte seiner Farbe. Der Stil der frühen Gemälde. Bildnisse, Stuttgart 1992, S. 154. Ebd. Zum historischen Kontext, Auftraggeber und möglicher Hängung des Poesiezyklus vgl. Keller, Harald: Tizians Poesie für König Philipp II. von Spanien, Wiesbaden 1969, S. 107 – 131. Cziesla, Wolfgang: Aktaion polypragmon. Variationen eines antiken Themas in der europäischen Renaissance, Frankfurt/M. 1989, S. 35. Vgl. dazu Kernodle, Georg R.: Form art to theatre. Form and convention in the Renaissance, Chicago 1944 und Jooss, Birgit: Lebende Bilder. Körperliche Nachahmung von Kunstwerken in der Goethezeit, Berlin 1999. Cziesla: Aktaion polypragmon, S. 33. Herrmann, Hans-Christian von: Das Archiv der Bühne. Eine Archäologie des Theaters und seiner Wissenschaft, München 2005, S. 62. Ebd. Ebd., S. 63. Tanner, Marie: »Chance and Coincidence in Titian’s Diana and Acteaon«, in: Art Bulletin, 56, 1977, S. 535 – 550. Ovid: Metamorphosen, Lateinisch/Deutsch, Stuttgart 1994, S. 136 – 137. Ebd. Das Gemälde Tod des Aktäon von 1560 misst 179 x 189 cm und befindet sich in der National Gallery (London). Lacan, Jacques: Die vier Grundbegriffe der Psychoanalyse. Seminar XI, Weinheim/Berlin 1996, S. 88. Crowe, Joseph Archer und Cavalcaselle, Giovanni Battista: Tizian. Leben und Werke, Leipzig 1877. Keller, Harald: Tizians Poesie für König Philipp II. von Spanien, Wiesbaden 1969, S. 160.

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21 Nordenfalk, Carl: Tizians Darstellung des Schauens, Nationalmusei Arsbok 1947/48,

1950.

22 Haen, Martin: »Tizians ›Diana und Acteon‹. Der offenbar gewordene Mythos im Geist

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der griechischen Religion«, in: Zeitschrift für Ästhetik und allgemeine Kunstwissenschaft, XL/1, 1995, S. 59 – 75 und Dittmann, Lorenz: Die Wiederkehr der antiken Götter im Bilde, Versuch einer neuen Deutung, Paderborn/München/Wien/Zürich, 2001, S. 129 – 136. Desweiteren sei auf Rosen, Valeska von: Mimesis und Selbstbezüglichkeit in Werken Tizians. Studien zum venezianischen Malereidiskurs, Emsdetten 2001 und Suthor, Nicola: Augenlust bei Tizian. Zur Konzeption sensueller Malerei in der Frühen Neuzeit, München 2004 verwiesen. Keller: Tizians Poesie für König Philipp II. von Spanien, S. 160. Klossowski, Pierre: Das Bad der Diana, Berlin 1982. Vgl. Pierre Klossowski – Anima, Wiener Secession (Hg), 4.5. – 9.7.1995, Wien. Klossowski: Das Bad der Diana, S. 32. Ebd., S. 37. Ebd., S. 36. Hetzer: Tizian, S. 155. Das Verhältnis sowie der Unterschied zwischen Blick und Glanz im Sinne Lacans hat Andreas Cremonini anhand der Malerei Vermeers genau erläutert. In welcher Weise der opake Fleck in der Malerei lacanianisch gedacht werden kann, hat Michael Lüthy gezeigt. Cremonini, Andreas: »Über den Glanz. Der Blick als Triebobjekt nach Lacan«, in: Blümle, Claudia/Heiden, Anne von: Blickzähmung und Augentäuschung. Zu Jacques Lacans Bildtheorie, Berlin/Zürich 2005, S. 217 – 248 und Lüthy, Michael: »Relationale Ästhetik. Über den ›Fleck‹ bei Cézanne und Lacan« in: Blümle/Heiden: Blickzähmung und Augentäuschung, S. 265 – 288. Lacan, Jacques: Seminarsitzung vom 4. Mai 1966, unveröffentlichtes Manuskript, S. 501. Lacan: Die vier Grundbegriffe der Psychoanalyse, S. 119. Lacan, Jacques: Die Objektbeziehung. Seminar IV, Wien 2003, S. 182. Ebd., S. 185. Ebd., S. 186. Vgl. Cremonini: »Über den Glanz. Der Blick als Triebobjekt nach Lacan«, S. 226 – 228. Lacan: Die Objektbeziehung, S. 183. Caillois, Roger: »Mimétisme et psychasthénie légendaire«, in: Minotaure. Revue artistique et littéraire 7 (1935), S. 5 – 10 und Ders.: Méduse et Cie, Paris 1960. Caillois: Méduse et Cie S. 127. Ebd., S. 132. Peter Berz hat den komplexen Zusammenhang zwischen Gestaltpsychologie, Philosophie, Zoologie und Ethnologie offen gelegt, um damit Lacans Begriffe von Schirm, Mimikry und Maske zu erläutern. Berz, Peter: »Die vier Verschiebungen des Blicks«, in: Blümle/Heiden: Blickzähmung und Augentäuschung, S. 183 – 216. Caillois: Méduse et Cie, S. 137. Ebd. Die on/off Bewegung zwischen repräsentationaler Mimesis und operativer Mimikry entwickelt Bernhard Siegert im Bezug zu den drei lacanianischen Registern: »Das Imaginäre der mimetischen Darstellung kann nicht nicht bezogen sein auf das Reale des Blicks, welche Form auch immer dieser Bezug annehmen mag: Verdrängung, Verbergung und Offenlegung. Bilder sind schon immer hybride oder besser gesagt komplexe Wirklichkeiten, in ihnen sind Darstellung und Schirm ineinander verschränkt.« Siegert, Bernhard: »Der Blick als Bildstörung. Zwischen Mimesis und Mimikry« in: Blümle/Heiden: Blickzähmung und Augentäuschung, S. 103 – 126, hier S. 104. Caillois: Méduse et Cie, S. 142. Lacan: Die vier Grundbegriffe der Psychoanalyse, S. 116. Die Malerei von James Ensor und Francisco José de Goya y Lucientes stehen paradigmatisch für den Maskenblick im Bild. Ebd. Otto, Walter F.: Dionysos. Mythos und Kultus, Frankfurt/M. 1933, S. 85. Sartre, Jean-Paul: Das Sein und das Nichts. Versuch einer phänomenologischen Ontologie, Hamburg 2002, S. 465. Bohde, Daniela: Haut, Fleisch und Farbe. Körperlichkeit und Materialität in den Gemälden Tizians, Emsdetten 2002. Cziesla: Aktaion polypragmon, S. 117. Hetzer: Tizian, S. 169. Ebd., S. 164. Lacan: Die vier Grundbegriffe der Psychoanalyse, S. 114. Ebd. Lacan: Die Objektbeziehung, S. 182. Ebd., S. 183. Ebd.

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FREUD LIEST SOPHOKLES Zur Theatralität der Psychoanalyse

Freuds metapsychologische Theorie greift bekanntlich in einem entscheidenden Moment ihrer Formierung auf ein antikes Drama zurück, wodurch es ihr gelingt, das Schicksal des modernen Menschen in die Form einer anthropologischen Tragödie zu kleiden. Im Folgenden soll, auf der Basis von Biographie und Werk Sigmund Freuds, die Transformation der Tragödie ÖDIPUS TYRANNOS des Sophokles in ein Basiskonzept der Psychoanalyse nachgezeichnet werden, das sowohl für ihre individualpsychologischen als auch für ihre kulturtheoretischen Überlegungen von zentraler Bedeutung ist. Dabei soll der Frage nachgegangen werden, unter welchen historischen Rezeptionsbedingungen Freud dem antiken Theaterstück begegnet ist und welchen strukturellen Stellenwert das Drama in seinen theoretischen Texten erlangt hat. Das bedeutet zugleich, dass hier nicht eigentlich vom Ödipuskomplex die Rede sein wird, zumal Freud diesen Begriff erst recht spät, nämlich ab 1910, verwendet, sondern vor allem vom Einbau eines antiken Mythenund Tragödienstoffs in die psychoanalytische Theoriebildung, wodurch diese zuletzt selbst eine tragisch-poetische Form erlangt hat.1

1. Freud als Leser: die Ödipus-Lektüre als Erkennungsszene Freuds Vater Jacob war ein eher armer Wollhändler, der aus Galizien stammte und selten längere Zeit an einem Ort verbrachte. Zu seinen zahlreichen Aufenthaltsorten in Österreich-Ungarn und Deutschland gehörte auch Freiberg in Mähren, der Geburtsort seines Sohnes Sigmund, wo er vermutlich vier Jahre blieb. Er war in zweiter, eventuell auch dritter Ehe mit der zwanzig Jahre jüngeren und aus Wien stammenden Amalia Nathanson verheiratet. Der 1856 geborene Sigmund war das älteste von sieben Kindern. Der Niedergang der handwerklichen Weberindustrie in Freiberg durch die Einführung maschineller Webstühle zwang die Familie, im Jahr 1860 die Stadt zu verlassen. Sie begab sich zunächst für einige Monate nach Leipzig, um dann nach Wien überzusiedeln, in die Heimatstadt von Sigmund Freuds Mutter, wo der spätere Begründer der Psychoanalyse bis zu seiner Emigration 1938, also 78 Jahre lang, seinen Wohnsitz behalten sollte.

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Nachdem er wohl zunächst eine Privatschule besucht hatte, wechselte Sigmund Freud im Alter von neun Jahren auf das LeopoldtstädterCommunal-Realgymnasium, das er acht Jahre später mit der Note »vorzüglich« in der Abiturprüfung verließ. Schon sehr früh gehörte das Büchersammeln und Bücherbesitzen zu seinen Leidenschaften. Als Schüler besaß Freud das Privileg eines eigenen Zimmers in der verhältnismäßig kleinen elterlichen Wohnung, in dem er ungestört arbeiten konnte, das so genannte »Kabinett«. Es war ein »langer, schmaler, von der übrigen Wohnung getrennter Raum mit einem Fenster auf die Straße hinaus«, und es »enthielt ein Bett, Stühle, ein Bücherregal und ein Schreibpult. Dort lebte und arbeitete er, bis er als Sekundärarzt ins Allgemeine Krankenhaus übersiedelte. Das einzige, was im Laufe seines Schul- und Universitätslebens hinzukam, war eine wachsende Zahl von überfüllten Büchergestellen. Als Gymnasiast pflegte er sogar sein Abendessen dort einzunehmen, um seine Studien nicht unterbrechen zu müssen. Er besaß eine eigene Petroleumlampe; die andern Schlafzimmer hatten nur Kerzenbeleuchtung.«2 Unter den Prüfungsfächern zum Abitur waren auch Latein und Griechisch, und man kann sagen, dass Freud, als er im Alter von 17 Jahren die Schule verließ, eine solide humanistische Bildung erfahren hatte. Die Griechischprüfung, die 44 Verse aus dem ÖDIPUS TYRANNOS des Sophokles umfasste, ist die erste biographisch nachweisbare Begegnung mit diesem Text, die zumindest schon einmal belegt, dass Freuds Rückgriff auf die antike Tragödie am Ende des 19. Jahrhunderts alles andere als ungewöhnlich war, gehört sie doch in dieser Zeit zu den durch das humanistische Gymnasium kanonisierten Texten. Freuds Abituraufgabe umfasste die Verse 14 bis 57 des Stücks und damit die Rede des Priesters, in der dieser Ödipus gleich zu Beginn um Hilfe gegen die furchtbare Plage anfleht, die das ganze Land erfasst und ins Elend gestürzt hat. Die Tatsache, dass Freud Sophokles zur Übersetzung erhielt, ist selbst bereits als Auszeichnung zu werten, die nur den besten Schülern zuteil wurde, während die übrigen sich mit Platon begnügen mussten.3 Den Stolz, den Freud darüber empfand, belegen die Briefe an seinen Freiberger Jugendfreund Emil Fluss aus der Zeit der Prüfungsvorbereitung.4 Es liegt in der Natur der Sache, dass man immer wieder versucht hat, Freuds besonderes Verhältnis zum Ödipusstoff aus seinen familiären Verhältnissen abzuleiten, wobei man aber keineswegs auf einfache Parallelen trifft. So war Freuds Mutter Amalia jünger als Emanuel, der eine der beiden Söhne Jacob Freuds aus erster Ehe, der bereits verheiratet war und seinerseits Kinder hatte. Für Sigmund »muß es verwirrend gewesen sein, daß seine beiden Halbbrüder der Mutter irgend-

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wie näherstanden als der Vater, daß dieser ohne weiteres sein Großvater hätte sein können und daß einer der Söhne Emanuels, John, Freuds erster Spielgefährte, ein Jahr älter war als er, der Onkel.«5 Von einer kleinfamilialen Dreieckstruktur, wie sie der Ödipuskomplex später voraussetzen sollte, kann also in Freuds eigener Kindheit keine Rede sein. Eher könnte man versucht sein, die Beschreibung der Darwinschen Urhorde in TOTEM UND TABU – »ein gewalttätiger, eifersüchtiger Vater, der alle Weibchen für sich behält und die heranwachsenden Söhne vertreibt«6 – auf die Freiberger, Leipziger und Wiener Kinderjahre anzuwenden. Ein konstitutives Element der griechischen Tragödie ist, der POETIK des Aristoteles zufolge, die (Wieder-)Erkennung, griechisch anagnorisis, also ein »Wissens-Umschwung, der vor allem das wechselseitige Verhältnis der beteiligten Personen betrifft«.7 Im Fall des ÖDIPUS TYRANNOS ist dies die Einsicht des Helden in seine zuvor dunkle Herkunft, und Freuds Rückgriff auf die antike Tragödie trägt ganz deutlich selbst die Züge einer solchen Szene. Die einschlägige Passage aus Freuds Brief vom 15. Oktober 1897 an seinen Berliner Freund und Kollegen Wilhelm Fließ lautet: Teurer Wilhelm! Meine Selbstanalyse ist in der Tat das Wesentlichste, was ich jetzt habe, und verspricht von höchstem Wert für mich zu werden, wenn sie bis zu Ende geht. […] Wenn die Analyse hält, was ich von ihr erwarte, werde ich sie systematisch bearbeiten und Dir dann vorlegen. Ich habe nichts völlig Neues bis jetzt gefunden, alle Komplikationen, die ich sonst gewohnt bin. Ganz leicht ist es nicht. Ganz ehrlich mit sich sein ist eine gute Übung. Ein einziger Gedanke von allgemeinem Wert ist mir aufgegangen. Ich habe die Verliebtheit in die Mutter und die Eifersucht gegen den Vater auch bei mir gefunden und halte sie jetzt für ein allgemeines Ereignis früher Kindheit, wenn auch nicht immer so früher wie bei den hysterisch gemachten Kindern. (Ähnlich wie den Abkunftsroman der Paranoia – Heroen, Religionsstifter.) Wenn das so ist, so versteht man die packende Macht des Königs Ödipus trotz aller Einwendungen, die der Verstand gegen die Fatumsvoraussetzung erhebt, und versteht, warum das spätere Schicksalsdrama so elend scheitern mußte. Gegen jeden willkürlichen Einzelzwang, wie er in der Ahnfrau [von Grillparzer] etc. Voraussetzung ist, bäumt sich unsere Empfindung, aber die griechische Sage greift einen Zwang auf, den jeder anerkennt, weil er dessen Existenz in sich verspürt hat. Jeder der Hörer war einmal im Keime und in der Phantasie ein solcher Ödipus, und vor der hier in

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die Realität gezogenen Traumerfüllung schaudert jeder zurück mit dem ganzen Betrag der Verdrängung, der seinen infantilen Zustand von seinem heutigen trennt.8 Im Juli desselben Jahres hatte Freud mit seiner Selbstanalyse begonnen, die in der folgenden Zeit den Schwerpunkt seiner wissenschaftlichen Arbeit ausmachen und damit zugleich der Kern seiner 1899 veröffentlichten TRAUMDEUTUNG werden sollte. Ernest Jones, Freuds Statthalter in England und späterer Biograph, schreibt dementsprechend, die »beiden Projekte« seien »so sehr Hand in Hand durchgeführt« worden, »daß man sie fast als eine Einheit betrachten kann.«9 Freud selbst begründet dies in der Einleitung zur ersten Auflage der TRAUMDEUTUNG mit der Vermeidung »einer unerwünschten Komplikation durch die Einmengung neurotischer Charaktere«, sollte das Buch doch den »theoretische[n] Wert« des Traumes »als Paradigma« erweisen, und das heißt als »erste[s] Glied in der Reihe abnormer psychischer Gebilde, von deren weiteren Gliedern die hysterische Phobie, die Zwangs- und die Wahnvorstellungen den Arzt aus praktischen Gründen beschäftigen müssen.«10 Selbstanalyse und Traumdeutung stehen somit am Anfang der Psychoanalyse nicht als medizinische Kur, sondern als Theorie oder, wie Freud es nannte, als Metapsychologie. Die TRAUMDEUTUNG ist das Buch, in dem die ödipale Erkennungsszene Freuds ihre klassische Formulierung gefunden hat. Die mehrseitige Passage, die sich im Abschnitt D (»Typische Träume«) des Kapitels V (»Das Traummaterial und die Traumquellen«) findet, geht von der Annahme einer funktionellen Verwandtschaft von Traum, Neurose, Kinderpsychologie und Mythos aus. Indem sich die Tragödie bei Sophokles auf die »Enthüllung« einer zunächst verborgenen Vorgeschichte konzentriere, sei, so Freud, ihr Handlungsverlauf »der Arbeit einer Psychoanalyse vergleichbar«. Weiter heißt es dann: König Ödipus ist eine Schicksalstragödie; ihre tragische Wirkung soll auf dem Gegensatz zwischen dem übermächtigen Willen der Götter und dem vergeblichen Sträuben der vom Unheil bedrohten Menschen beruhen; Ergebung in den Willen der Gottheit, Einsicht in die eigene Ohnmacht soll der tief ergriffene Zuschauer aus dem Trauerspiele lernen. Folgerichtig haben moderne Dichter es versucht, eine ähnliche tragische Wirkung zu erzielen, indem sie den nämlichen Gegensatz mit einer selbsterfundenen Fabel verwoben. Allein die Zuschauer haben ungerührt zugesehen, wie trotz alles Sträubens schuldloser Menschen ein Fluch oder Orakelspruch sich

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an ihnen vollzog; die späteren Schicksalstragödien sind ohne Wirkung geblieben. Wenn der König Ödipus den modernen Menschen nicht minder zu erschüttern weiß als den zeitgenössischen Griechen, so kann die Lösung wohl nur darin liegen, daß die Wirkung der griechischen Tragödie nicht auf dem Gegensatz zwischen Schicksal und Menschenwillen ruht, sondern in der Besonderheit des Stoffes zu suchen ist, an welchem dieser Gegensatz erwiesen wird. Es muß eine Stimme in unserem Innern geben, welche die zwingende Gewalt des Schicksals im Ödipus anzuerkennen bereit ist, während wir Verfügungen wie in der Ahnfrau oder in anderen Schicksalstragödien als willkürliche zurückzuweisen vermögen. Und ein solches Moment ist in der Tat in der Geschichte des Königs Ödipus enthalten. Sein Schicksal ergreift uns nur darum, weil es auch das unsrige hätte werden können, weil das Orakel vor unserer Geburt denselben Fluch über uns verhängt hat wie über ihn. Uns allen vielleicht war es beschieden, die erste sexuelle Regung auf die Mutter, den ersten Haß und gewalttätigen Wunsch gegen den Vater zu richten; unsere Träume überzeugen uns davon. König Ödipus, der seinen Vater Laios erschlagen und seine Mutter Jokaste geheiratet hat, ist nur die Wunscherfüllung unserer Kindheit. […] Wie Ödipus leben wir in Unwissenheit der die Moral beleidigenden Wünsche, welche die Natur uns aufgenötigt hat, und nach deren Enthüllung möchten wir wohl alle den Blick abwenden von den Szenen unserer Kindheit.11 Im Anschluss an diese Ausführungen wendet sich Freud, wie im übrigen schon in seinem Brief an Fließ, in einer längeren Passage Shakespeares Hamlet zu, in dem er aufgrund seiner Handlungshemmung einen modernen Neurotiker erkennt.12 Festzuhalten bleibt, dass die Erkennungsszene, in der Ödipus die Bühne der Freudschen Theorie betritt, im Dreieck von Selbstanalyse, TRAUMDEUTUNG und Sophokles-Lektüre spielt. Durch sie wird zugleich das Ungeheuer der weiblichen Hysterie, an deren Rätsel sich die Psychoanalyse in den achtziger Jahren als medizinische Kur formiert hatte, in den Abgrund gestürzt, um an ihre Stelle das universale Drama eines männlichen Helden zu setzen, innerhalb dessen den Frauen von Anfang an nur eine Rolle am Rande zukommt. »Die schicksalhafte Beziehung von gleichzeitiger Liebe zu dem einen und Rivalitätshass gegen den anderen Elternteil«, wird Freud 1931 schreiben, »stellt sich nur für das männliche Kind her.«13 Die »Weiblichkeit« hingegen bleibt für die Psychoanalyse ein »Rätsel«, das sie »nicht lösen«, sondern nur von der Position der Männlichkeit aus

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»studieren«14 kann. So lenkt die Selbstanalyse, als Kern der TRAUMDEUTUNG und Gründungsakt der psychoanalytischen Theorie, Freuds psychopathologisch geschulten Blick, der Aufforderung des Delphischen Orakels gemäß, auf seine eigene Person. Zum Schauplatz und Schlüssel dieser Selbsterkenntnis wird die Ödipus-Tragödie, die es erlaubt, das gesammelte Material aus Träumen und Erinnerungen als Spuren einer verborgenen Herkunft zu lesen und damit den Sohn eines armen jüdischen Kaufmanns auch biographisch in den Horizont der griechischen Mythologie zu versetzen. Als Freud 1914 anlässlich des fünfzigjährigen Bestehens seiner alten Schule einen kleinen Aufsatz »Zur Psychologie des Gymnasiasten« verfasste, war dieser der Vaterrolle gewidmet, in die die Lehrer im Anschluss an das unvermeidliche Schwinden der Hochschätzung für den leiblichen Vater eintreten. »Wir verstehen jetzt unser Verhältnis zu unseren Gymnasialprofessoren. Diese Männer, die nicht einmal alle selbst Väter waren, wurden uns zum Vaterersatz. Darum kamen sie uns, auch wenn sie noch sehr jung waren, so gereift, so unerreichbar erwachsen vor. Wir übertrugen auf sie den Respekt und die Erwartungen von dem allwissenden Vater unserer Kindheitsjahre, und dann begannen wir, sie zu behandeln, wie unsere Väter zu Hause.«15 So beschreibt Freud im Rückblick auf seine eigene Gymnasialzeit diese als Ersetzung einer Herkunft durch eine andere, über die das Kind alle natürlichen Bindungen hinter sich lässt und in den Raum staatlicher Bildungsinstitutionen gelangt, der ein Raum des Wissens und rein symbolischer Väter ist.16

2. Freuds Antike: die Quellen der Psychoanalyse Was beide zitierten Textstellen, Freuds Brief an Wilhelm Fließ und die entsprechende Passage aus der TRAUMDEUTUNG, miteinander verbindet, ist der Vergleich des antiken Tragödienstoffs mit Grillparzers dramatischem Erstling, dem Trauerspiel DIE AHNFRAU, das 1817 im Theater an der Wien uraufgeführt worden war.17 Es gehört in die Reihe der sogenannten Schicksalsdramen, die zu Beginn des 19. Jahrhunderts, ausgelöst durch Schillers BRAUT VON MESSINA, eine kurzlebige Modeform bildeten und in denen es zumeist zur Aufdeckung inzestuöser Verbindungen zwischen Geschwistern kommt. Schillers »Trauerspiel mit Chören«, dessen Uraufführung am 19. März 1803 in Weimar stattfand, war, trotz dieses schauerromantischen Motivs, der wichtigste Versuch der Weimarer Klassik, die antike Tragödienform für das Theater der Gegenwart wiederzubeleben. Am Wiener Burgtheater wurde es zwischen 1810 und 1837 nicht weniger als 52 Mal gespielt.18 Wenn

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Freud nun die Tragödie des Sophokles der Gattung des Schicksalsdramas bzw. der Schicksalstragödie zurechnet, so macht dies deutlich, dass seine literaturhistorische Klassifizierung hier von der dramaturgischen Diskussion des 19. Jahrhunderts geleitet ist. Dass er dabei aber das antike Drama gegen die modernen Schicksalsdramen ausspielt, indem er die darin zu beobachtenden fatalen »Verfügungen« als »willkürliche« der »zwingende[n] Gewalt des Schicksals im Ödipus« entgegenstellt, mag einem humanistisch gebildeten Akademiker zwar gut anstehen, muss jedoch im Blick auf spätere Schriften Freuds eher erstaunen, scheint sich im Fall von Grillparzers AHNFRAU eine psychoanalytische Deutung im Sinne einer unheimlichen Wiederkehr des Verdrängten oder eines Wiederholungszwanges19 doch geradezu anzubieten. Festzustellen ist zudem, dass Freuds Bemerkung, die modernen Schicksalstragödien seien »ohne Wirkung geblieben«, denn die Zuschauer hätten »ungerührt zugesehen, wie trotz alles Sträubens schuldloser Menschen ein Fluch oder Orakelspruch sich an ihnen vollzog«, theaterhistorisch schlichtweg falsch ist. So ist Grillparzers AHNFRAU zweifellos einer der ganz großen Theatererfolge des 19. Jahrhunderts, der 1817 im Theater an der Wien begann20 und sich neben zahlreichen anderen Inszenierungen ab dem 21. August 1824 auch am Wiener Burgtheater fortsetzte. Dort blieb das Stück in eben dieser Inszenierung bis zum 19. Januar 1902 auf dem Spielplan und wurde in diesem Zeitraum 124 Mal aufgeführt. Man darf annehmen, dass vor allem die Verehrung für den Autor und sein Erstlingswerk für diese selbst für Burgtheaterverhältnisse ungewöhnlich lange Verweildauer einer Inszenierung im Repertoire verantwortlich war. Wenn Freud nun der AHNFRAU, die motivisch (etwa im abschließenden Vatermord) sehr starke Ähnlichkeiten mit der Tragödie des Sophokles aufweist, ausdrücklich jede Wirkung auf das Publikum abspricht, kann man dies nicht als theaterhistorisches Urteil werten, sondern nur als Äußerung eines Wiener Theatergängers aus dem letzten Drittel des Jahrhunderts, dessen nachweisliche Vorliebe zudem ganz dem humanistischen Kanon der Weltliteratur von Sophokles über Shakespeare bis zu Goethe galt. Der große Theatererfolg, der der Gattung des Schicksalsdramas zu Beginn des 19. Jahrhunderts beschieden war, und der – ein seltener Fall – gleichermaßen das literarische Kunst- wie das Volkstheater betraf, war zu Freuds Zeit lange Vergangenheit, er lässt sich aber nicht zuletzt durch die Parodien belegen, die ebenso schnell wie ihre ernsten Vorlagen die Bühne eroberten. Zu nennen wären hier beispielsweise DER SCHICKSALSSTRUMPF (1818) von Alois Jeitteles und Ignaz Franz Castelli sowie August von Platens DIE VERHÄNGNISVOLLE GABEL (1826). Adolf Müllners DER 29. FEBRUAR,

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1812 in Leipzig uraufgeführt, brachte das Wiener Burgtheater 1815 unter dem Titel DER WAHN heraus. DIE SCHULD, ein anderes Werk Müllners, war schon 1813 am Burgtheater auf die Bühne gekommen und erlebte dort bis 1853 in nicht weniger als 87 Aufführungen einen sensationellen Erfolg. Was Freuds Verhältnis zum Wiener Theater betrifft, gibt das vorhandene biographische Material leider nur sehr lückenhaft Auskunft. Ernest Jones schreibt zwar: »Freud müßte kein Wiener gewesen sein, wenn er nicht häufig das Theater besucht hätte, das in Wien oft dem Essen vorging.«21 Eine genauere Chronologie dieser Besuche findet sich aber auch bei ihm nicht. Dennoch lassen Freuds Bemerkungen zur Wirkung der AHNFRAU auf das Publikum der Gegenwart den Schluss gerechtfertigt erscheinen, dass hier nicht der gedruckte Text, sondern eben das Theater den Bezugspunkt seiner Einschätzung bildet. Entsprechendes gilt auch und gerade für den KÖNIG ÖDIPUS, von dem es in der TRAUMDEUTUNG heißt, er wisse im Gegensatz zur AHNFRAU »den modernen Menschen nicht minder zu erschüttern […] als den zeitgenössischen Griechen«. Freuds Briefe aus seinem letzten Schuljahr belegen, wie gesagt, seinen Stolz angesichts der ihm übertragenen Sophokles-Übersetzung, der sich tatsächlich auch mit einer gewissen Erschütterung verband. Aber wenn sich der Neuropathologe und Neuropsychiater Freud vierundzwanzig Jahre später wiederum emphatisch auf die antike Tragödie bezieht, kann dies wohl nicht allein in Erinnerung an die eigene Schulzeit geschehen sein. Vielmehr dürfte Freud, wie man vermuten kann, zwischenzeitlich zu den begeisterten Zuschauern der berühmten ÖDIPUS-Aufführung im Burgtheater gehört haben, die am 29. Dezember 1886 Premiere hatte und in den folgenden zwölf Jahren auf dreißig Vorstellungen kam (bis zum 5. März 1899). Helmuth Flashar hat in seinem Buch INSZENIERUNG DER ANTIKE. DAS GRIECHISCHE DRAMA AUF DER BÜHNE DER NEUZEIT den Erfolg dieser vom Intendanten Adolf Wilbrandt selbst in einer eigenen Übersetzung herausgebrachten Aufführung eindrücklich beschrieben. Es war, so Flashar, ein grandioser Erfolg für Wilbrandt. Wie bei der Aufführung der Elektra [fünf Jahre zuvor] wurden in der Bühnenfassung […] alle Stellen gestrichen, die dem durchschnittlichen Bildungsbürger unverständlich hätten sein können. Alle Härte wurde zurückgenommen zugunsten ruhiger und vornehmer Erhabenheit. […] Oedipus […] spielte rührend und herzbezwingend gemäß einem weichen und gefühlsbetonten Spielstil. […] [D]en Chor der sophokleischen Tragödie [hatte Wilbrandt] ganz gestrichen und Teile sei-

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nes Textes auf drei thebanische Bürger verteilt […]. Wilbrandt selbst verstand seine Konzeption als szenische Realisierung einer Schicksalstragödie, »mit ehernen Schritten auf die vernichtende Enthüllung eines dunklen Rätsels unaufhaltsam zuschreitend, bis das Schicksalstor aufspringt«. […] Vielleicht hat der Kritiker vom Illustrierten Wiener Extrablatt (30.12.1886) die ambivalente Situation mit der ein wenig ironischen Formulierung treffend durchschaut: »Den Premieren-Abonnenten ging das traurige Schicksal der Labdakiden-Familie so sehr zu Herzen, daß sie zu den Schnupftüchern griffen und die Tränen auffingen, als ob der König Ödipus der nachgelassene Sohn der Cameliendame wäre …« Jedenfalls war der Beifall enthusiastisch; der König Oedipus wurde das meistgespielte Stück am Burgtheater bis zum Ende des Jahrhunderts.22 An die erfolgreiche KÖNIG ÖDIPUS-Inszenierung von Wilbrandt schloss sich schon zweieinhalb Monate später der ÖDIPUS AUF KOLONOS an. Flashar nennt diese Inszenierungen »Marksteine auf dem Weg der Einbürgerung des antiken Dramas auf der Bühne der eigenen Zeit. Die zuvor geäußerte Skepsis, ob die griechische Tragödie überhaupt auf dem modernen Theater ein Existenzrecht habe, ist damit ein für alle Male beseitigt, jedenfalls was Sophokles betrifft.« »Es bleibt« aber, fügt er hinzu, »eine seltsame Erfahrung, daß dieser Durchbruch nur erreicht werden konnte durch eine Dämpfung der antiken Tragik und eine Anpassung der Tragödie an den Geschmack des Bildungsbürgertums.«23

3. Freud als Dichter: die Psychoanalyse als letzte Tragödie Dass Freud sowohl im Brief an Wilhelm Fließ als auch in der entsprechenden Passage der TRAUMDEUTUNG den ÖDIPUS TYRANNOS des Sophokles, unter Hinweis auf seine Wirkung auf das Publikum der Gegenwart, der AHNFRAU von Franz Grillparzer gegenüberstellt, erscheint also nur im Blick auf das Wiener Theater der achtziger und neunziger Jahre des 19. Jahrhunderts plausibel. Damit aber wird Freuds vehemente Ablehnung des modernen Schicksalsdramas sogleich wieder fragwürdig, insofern Wilbrandts ÖDIPUS-Inszenierung, wenn man den Quellen glauben darf, ganz vom Geist Grillparzers durchdrungen war. Dies zeigt sich insbesondere in der Behandlung des Chors, den Wilbrandt in einzelne Sprecher aufgelöst hatte. Damit war er sehr genau der Antwort Grillparzers auf Schillers Aufsatz ÜBER DEN GEBRAUCH DES CHORES IN DER TRAGÖDIE gefolgt, den dieser seiner BRAUT VON MESSINA in der Druckfassung vorangestellt hatte.24 Der Chor, so Grillpar-

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zer, »war da, ehe eine Tragödie da war, und keinem der Dichter aus der älteren Zeit stand es frei, sich seiner zu bedienen oder nicht. Er war ein feststehender, von seinem Willen unabhängiger Teil seines Vorwurfs. Ein Teil, der schon vor der Tragödie bestand, zu dem diese nur zufällig hinzukam, und in dem an sich eine dramatische Bedeutendheit zu suchen offenbar Unsinn wäre.«25 Freud folgt dieser nachklassizistischen Rezeption der antiken Tragödie zunächst darin, dass er den ÖDIPUS TYRANNOS von allem Chorischen befreit und das Drama damit vom öffentlichen Raum der Polis in den privaten Raum der Familie verlegt. Zugleich aber »bäumt sich«, wie es im Brief an Fließ heißt, seine »Empfindung« gegen den »willkürlichen Einzelzwang, wie er in der Ahnfrau etc. Voraussetzung ist«, während er den »Zwang« in der »griechische[n] Sage« als etwas Allgemeines »anerkennt«, dessen »Existenz« er »in sich verspürt«.26 Im Vorwort zur zweiten Auflage der TRAUMDEUTUNG hat Freud selbst darauf hingewiesen, dass das ganze Buch »ein Stück meiner Selbstanalyse« darstelle und dass es sich ihm im nachhinein als »meine Reaktion auf den Tod meines Vaters, als auf das bedeutsamste Ereignis, den einschneidendsten Verlust im Leben eines Mannes«27 erwiesen habe. (Freuds Vater war im Oktober 1896 und damit genau ein Jahr vor dem zitierten Brief an Wilhelm Fließ gestorben.) Die Geburt der Psychoanalyse als Theorie antwortet also auf einen realen Tod mit einem mythischen Mord. »Im Anfang war die Tat«28, lautet, Goethes FAUST I zitierend, der letzte Satz von TOTEM UND TABU, der noch einmal in nuce die These der gesamten Schrift enthält: die Kultur als Manifestation eines unaufhebbaren, durch den Mord am Urvater bewirkten Schuldverhältnisses. Auch als »Prothesengott«,29 zu dem der Mensch durch Wissenschaft und Technik geworden ist, ist er dem Schatten dieser Tat, mit der er sich einst von seinem natürlichen Ursprung losriss, nicht entkommen. Vielmehr wiederholt sie sich in den Phantasien der Kinder immer aufs Neue. Einen »Sturz aller Werte«30 hat Freud in einem Brief an Fließ vom 21. September 1897 seine Einsicht genannt, »daß es im Unbewußten ein Realitätszeichen nicht gibt, so daß man die Wahrheit und die mit Affekt besetzte Fiktion nicht unterscheiden kann«.31 Verbunden ist dieser Satz mit Freuds vieldiskutierter Verwerfung seiner realistischen Verführungstheorie für die Ätiologie der weiblichen Hysterie, an deren Stelle in eben dieser Zeit das Konzept der »sexuelle[n] Phantasie[en]«32 tritt, gegenüber denen alle realen Ereignisse von untergeordneter Bedeutung sind. Gerade dadurch nun, dass dem Kind die Befriedigung dieser sexuellen Bestrebungen im Rahmen der Familie verwehrt wird, gelangt es in den symbolischen Raum von

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Kultur und Gesellschaft. Freud wird später das ödipale Drama in die zwei Akte oder Entwicklungsphasen des Ödipuskomplexes und des Kastrationskomplexes unterteilen. Letzterer ist, wie Freud schreibt, »die Katastrophe des Ödipuskomplexes«, oder auch seine »Zertrümmerung«, in der sich »die Abwendung vom Inzest, die Einsetzung von Gewissen und Moral« vollzieht.33 So wie die Kultur im Ganzen im Schatten eines anfänglichen Mordes steht, so formiert sich auch die individuelle Psyche in einem gleichsam vorgeschichtlichen Geschehen, das dem Bewusstsein des Erwachsenen entzogen bleibt und höchstens nachträglich im Laufe einer Psychoanalyse enthüllt werden kann. Und es ist diese irreduzible Nachträglichkeit, die den ÖDIPUS TYRANNOS in seinem Handlungsverlauf zum Modell des Dramas macht, das in den Reden des Analysanden auf der Couch des Analytikers zur Aufführung gelangt. In eben der Zeit, in der das Theater gerade beginnt, sich in seinen avancierten Positionen radikal vom literarischen Text zu lösen, trifft auch Freud in seinem Behandlungszimmer in der Wiener Berggasse im neurotischen Symptom auf eine Dissoziation von Bewegungen und Worten. Ganz anders aber als die antiliterarischen Theaterreformer der Zeit der Jahrhundertwende stellt Freud die stumme Theatralität des (hysterischen) Leibes still, um ihn auf die symbolische Bühne der Sprache zu zwingen. Was im Verlaufe einer psychoanalytischen Kur als sinnloses Gestammel zur Sprache kommt, ist eine Folge von insistierenden Bildern und Szenen, die über den Alltag des Einzelnen herrschen, weshalb sich ein Neurotiker auch sehr gut als Protagonist eines Schicksalsdramas begreifen lässt. Was Grillparzers AHNFRAU aber grundsätzlich von der Tragödie des Sophokles unterscheidet, ist der Versuch, das unbewusste und verhängnisvolle Andauern der Vergangenheit in der Gegenwart in einem untoten Gespenst (der Ahnfrau) und einem toten Objekt (dem verrosteten Dolch, mit dem ihr Mann sie einst als Ehebrecherin erstach) sichtbar zu machen. Während im ÖDIPUS TYRANNOS die Tat (der Vatermord, der Inzest) bereits geschehen ist, steuert das Trauerspiel des österreichischen Nationaldichters in durchaus barocker Manier auf sein schauerliches Ende zu, an dem sich die Bühne mit Leichen füllt. Dabei geht es Grillparzer, wie man formelhaft sagen kann, um das nachmetaphysische Zwielicht eines dramatischen Geschehens, das zwischen blindem Zufall und mechanischer Wiederholung changiert. Die psychoanalytische Theorie hingegen schickt sich im Namen des Ödipus an, dieses keineswegs antike, sondern gänzlich moderne Rätsel zu lösen und dem von neurotischen Ängsten und Zwängen geplagten Subjekt in der sprachlich-symbolisierenden Wiederholung vergangener traumati-

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scher Ereignisse den Leitfaden für die Verwindung der Zufälligkeit des eigenen Geschicks in die Hand zu geben. Es sei, so hatte Schiller in seiner Vorbemerkung zur BRAUT VON MESSINA geschrieben, das »Recht der Poesie, die verschiedenen Religionen als ein kollektives Ganzes [!] für die Einbildungskraft zu behandeln«.34 Ebenso hat Freud sich das Recht genommen, in seinen kulturtheoretischen Schriften (TOTEM UND TABU, DIE ZUKUNFT EINER ILLUSION, DAS UNBEHAGEN IN DER KULTUR, DER MANN MOSES UND DIE MONOTHEISTISCHE RELIGION) James George Frazers Anthropologie, Charles Darwins Evolutionstheorie und die Religionsgeschichte von William Robertson Smith und Salomon Reinach als ein kollektives Ganzes zu behandeln und sie zu einer modernen Mythologie zu überblenden, in der sich das Schicksal des (europäischen) Menschen nach dem Ende seiner religiösen und geschichtsphilosophischen Illusionen artikuliert. Der Schauplatz, auf dem dies geschieht, ist immer wieder die Tragödie des Ödipus, die auf diese Weise die Kulturgeschichte von ihrem Anfang bis zu ihrem Ende umgreift und über die das Grundproblem psychoanalytischer Theorie – das Verhältnis von biologischer Energetik und sprachlicher Symbolik35 – eine Lösung erfährt. Indem sich das Tragische dabei aber zum individuellen Schicksal verengt und so, ganz gegen seine poetologischen Bestimmungen, im Privaten sein letztes Refugium findet, ist die psychoanalytische Tragödie, wie Freuds eigene Schriften zeigen, von einer Komödie nicht mehr zu unterscheiden.

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Vgl. Schlesier, Renate: »Auf den Spuren von Freuds Ödipus«, in: Hoffmann, Heinz (Hrsg.): Antike Mythen in der europäischen Tradition, Tübingen 1999, S. 281 – 295, hier: S. 291 – 295; vgl. auch dies., »Mehr Kult als Mythos: Freuds Dionysos«, in: Aurnhammer, Achim/Pittrof, Thomas (Hrsg.): »Mehr Dionysos als Apoll«. Antiklassizistische Antike-Rezeption um 1900 (= Das Abendland. Forschungen zur Geschichte der europäischen Geisteslebens, Bd. – Neue Folge 30) Frankfurt/M. 2002, S. 181 – 204. 2 Jones, Ernest: Das Leben und Werk von Sigmund Freud, 3. Aufl. Bern; Stuttgart; Wien 1982, Bd. 1, S. 36 f. 3 Vgl. Cassirer-Bernfeld, Suzanne: »Freud und die Archäologie«, in: Bernfeld, Siegfried/Cassirer-Bernfeld, Suzanne: Bausteine der Freud-Biographik, eingel., hrsg. und übers. von Ilse Grubrich-Simitis, Frankfurt/M. 1981, S. 237 – 259, hier: S. 243, Anm. 14. 4 Vgl. Schlesier: »Auf den Spuren von Freuds Ödipus«, S. 282 – 286. 5 Lohmann, Hans-Martin: Sigmund Freud, Hamburg 1998, S. 8. 6 Freud, Sigmund: Totem und Tabu. Einige Übereinstimmungen im Seelenleben der Wilden und der Neurotiker, in: ders.: Studienausgabe, Bd. IX: Fragen der Gesellschaft, Ursprünge der Religion, Frankfurt/M. 1982, S. 425. 7 Fuhrmann, Manfred: Die Dichtungstheorie der Antike. Aristoteles, Horaz, ‚Longin’, Düsseldorf; Zürich 2003, S. 37. 8 Freud, Sigmund: Briefe an Wilhelm Fliess 1887 – 1904. Ungekürzte Ausgabe, hrsg. von Jeffrey Moussaieff Masson, Frankfurt/M. 1986, S. 293. 9 Jones: Das Leben und Werk von Sigmund Freud, Bd. 1, S. 412. 10 Freud, Sigmund: Die Traumdeutung (= Studienausgabe, Bd. 2), 10. Aufl. Frankfurt/M. 1996, S. 21. 11 Ebd., S. 266 f.

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Inszenierung von Heinrich Laube (Intendant von 1849 – 1867) in der Übersetzung von August Wilhelm Schlegel. Premiere war am 13. Februar 1851. Die Inszenierung blieb bis zum 11.12.1909 im Repertoire und wurde in dieser Zeit 139 Mal gespielt. Vgl. Burgtheater 1776 – 1976. Aufführungen und Besetzungen von zweihundert Jahren. Bearb. von Minna von Alth, hrsg. vom Österreichischen Bundestheaterverband. Wien [1979], 2 Bde; sowie Burgtheater Wien 1776 – 1986. Ebenbild und Widerspruch. Zweihundert und zehn Jahre, hrsg. von Reinhard Urbach, Achim Benning, Wien 1986, S. 35 – 41 (»Hamlet. Exkurs über die begehrteste Rolle«). Freud, Sigmund: »Über die weibliche Sexualität«, in: ders.: Drei Abhandlungen zur Sexualtheorie und verwandte Schriften, Frankfurt/M. 1984, S. 169 – 186, hier: S. 172. Freud, Sigmund: »Die Weiblichkeit«, in: Neue Folge der Vorlesungen zur Einführung in die Psychoanalyse. Frankfurt/M. 1981, S. 91 – 110, hier: S. 95. Freud, Sigmund: »Zur Psychologie des Gymnasiasten«, in: ders.: Studienausgabe, Bd. IV: Psychologische Schriften, Frankfurt/M. 1982, S. 237 – 240, hier: S. 240. Durch seine Heirat mit Martha Bernays im Jahr 1886 verband sich Freud mit einer alten und angesehenen jüdischen Akademikerfamilie aus Hamburg. Zwei Brüder von Marthas Vater – Jacob und Michael Bernays – gehörten zu den bedeutendsten Philologen ihrer Zeit: Jacob Bernays war Professor für Klassische Philologie und AristotelesSpezialist in Bonn, Michael Bernays Mitbegründer der Neuen deutschen Literaturwissenschaft und Goethe- sowie Shakespeare-Forscher in München. Vgl. Sophokles: König Oidipus. Studienausgabe griechisch/deutsch, übers. von Wilhelm Willige, hrsg. von Bernhard Zimmermann, Düsseldorf, Zürich 1999; Grillparzer, Franz: Die Ahnfrau. Trauerspiel in fünf Aufzügen. Stuttgart 1997. Die dritte Inszenierung blieb von 1866 bis 1886 im Repertoire und kam auf achtzehn Aufführungen, die vierte zwischen 1893 – 1898 nur auf 5. Vgl. Freud, Sigmund: »Das Unheimliche« (1919), in: ders.: Studienausgabe, Bd. IV: Psychologische Schriften, Frankfurt/M. 1982, S. 243 – 274; sowie ders., »Jenseits des Lustprinzips«, in: ders.: Das Ich und das Es und andere metapsychologische Schriften, Frankfurt/M, S. 121 – 169. »Ich habe mancherlei Vorstellungen gesehen, aber nie eine, die das Publikum so durch und durch gepackt hätte, wie diese (…) Wie vom Entsetzen der Geisterwelt ergriffen, verließ man das Haus. (…) Es gab keinen Freigeist mehr, ein jeder hatte die schreckliche Erscheinung mit seinen Augen gesehen; in dieser Nacht gab es keinen ruhigen Schlaf. (…) Es ging ein Rausch des Beifalls, aber auch des Entsetzens durch Wien.« (von Binzer, Emilie, in: Fürst, Norbert: Grillparzer auf der Bühne. Eine fragmentarische Geschichte, Wien; München 1958, S. 28; vgl. auch Kraft, Herbert: Das Schicksalsdrama. Interpretation und Kritik einer literarischen Reihe.,Tübingen 1974, S. 83). Jones, Das Leben und Werk von Sigmund Freud, Bd. 1, S. 213. Flashar, Hellmut: Inszenierung der Antike. Das griechische Drama auf der Bühne der Neuzeit 1585 – 1990, München 1991, S. 101f. Ebd., S. 103. Zu Schillers autonomieästhetischer Bestimmung des Chors als »lebendige Mauer«, die den Zuschauer in eine reflektierende Distanz zum Bühnengeschehen versetzt und zugleich der Wiederherstellung einer in der modernen gegenüber der antiken Welt verlorenen »natürlichen Öffentlichkeit« dient, vgl. Wild, Christopher J.: Theater der Keuschheit – Keuschheit des Theaters. Zu einer Geschichte der (Anti-)Theatralität von Gryphius bis Kleist, Freiburg/Br. 2003, S. 407 – 419. Grillparzer: »Über die Bedeutung des Chors in der alten Tragödie«, in: Dramaturgische Schriften des 19. Jahrhunderts, hrsg von Klaus Hammer, Berlin 1987, Bd. 1, S. 257 – 259, hier: S. 258. Freud: Briefe an Wilhelm Fliess, S. 293. Freud: Die Traumdeutung, S. 24. Freud: Totem und Tabu, S. 444. Freud, Sigmund: Das Unbehagen in der Kultur, in: ders: Studienausgabe, Bd. IX: Fragen der Gesellschaft, Ursprünge der Religion, S. 193 – 270, hier: S. 222. Freud: Briefe an Wilhelm Fliess, S. 286. Ebd., S. 284. Ebd. Freud, Sigmund: »Einige Folgen des anatomischen Geschlechtsunterschieds«, in: ders.: Drei Abhandlungen zur Sexualtheorie, S. 159 – 168, hier: S. 167. Schiller, Friedrich: »Über den Gebrauch des Chores in der Tragödie«, in: ders.: Werke in drei Bänden, hrsg. von Herbert G. Göpfert, München 1976, Bd. 3, S. 471 – 477, hier: S. 477. Vgl. Ricoeur, Paul: Die Interpretation. Ein Versuch über Freud, Frankfurt/M. 1969, S. 79 – 161.

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KAPITEL IV: PRAXIS

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DIE BÜHNE DER KLASSIK: PERSPEKTIVEN AUF DIE PRAXIS

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SCHILLERS TRAGIK AUFGEFÜHRT

Für den bedeutendsten Dramatiker des 20. Jahrhunderts, Bertolt Brecht, waren Tragik und Tragödie Anathema, nach Heiner Müllers Einschätzung »fast gleichbedeutend mit Faschismus«.1 Im DREIGESPRÄCH ÜBER DAS TRAGISCHE (1938) benennt Brecht Dauer und Unveränderbarkeit der gesellschaftlichen Umstände, die das Schicksal des tragischen Helden ausmachen, als Voraussetzung von Tragik. Sobald die vermeintlich unabänderlichen Zustände im Theater für die »Kinder des wissenschaftlichen Zeitalters« als von Menschen gemachte und von Menschen veränderbare gezeigt würden, verschwände »die tragische Stimmung der Alten«.2 Brechts konsequente theoretische Ablehnung der Tragik, die, inkonsequent, von der heimlichen Tragödienstruktur seiner besten Stücke begleitet wird, beharrt auf der Zäsur der Aufklärung, des »wissenschaftlichen Zeitalters«. In aufgeklärten Zeiten ist die Behauptung einer überzeitlichen, metaphysischen Verfasstheit von Tragik apologetisch, weil sie das geschichtlich von Menschen Gemachte in die überhistorische, unabdingbare Notwendigkeit des Weltlaufs, die Affirmation des »So und nicht anders« verkehrt. Brechts Position erhält vor dem grassierenden Pantragismus seiner Zeit besonderes Gewicht. Angesichts der tragischen Opfer für die Schicksalsgemeinschaft, die Faschismus und Stalinismus vehement verlangen, ist die Frage nach dem Verhältnis von Tragik und Aufklärung mehr als berechtigt. Neu ist diese Frage allerdings nicht. Zum ersten Mal stellt sie sich bereits der über die Aufklärung aufgeklärten Zeit um 1800. Die damals mit Schelling, Hölderlin und Hegel einsetzende Philosophie des Tragischen ist das Resultat einer Krise der Tragödie und des sie fundierenden »Weltzustands«.3 Die Emanzipation des Individuums aus jeder vorgegebenen und als substantiell erachteten Gemeinschaft »schöner Sittlichkeit« (Hegel) und die Unmöglichkeit der Versöhnung des Allgemeinen und Besonderen, von den Zeitgenossen gerade exemplarisch erfahren in der Französischen Revolution, verbieten es, den Untergang des Einzelnen als tragisches Schicksal mit der dialektisch-optimistischen Volte hin auf eine bessere zukünftige Gemeinschaft zu feiern. Gleichwohl ist damals wie heute an der andauernden Erfahrung tragischen Handelns nicht zu zweifeln. »Handeln, das stets auf sein Gelin-

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gen aus ist, bringt allein durch sich selbst, daher notwendig, sein Misslingen, dadurch das Unglück des Handelnden hervor.«4 Der tragische Erfahrungsgehalt (in) der Moderne impliziert die Gegenwärtigkeit der Tragödie. Aus dieser doppelten Erfahrung in und mit der Aufklärung – der der unabdingbaren Aufgabe eines unbefragt hingenommenen Schicksals wie der der Fortdauer tragischen Handelns – erwächst die Forderung nach einer gleichsam »vernünftigen« Tragödie, entsteht der Anspruch auf aufgeklärte Tragik. Dazu hat Schiller einiges zu sagen. Einiges meint Unterschiedliches und Unterschiedenes. Gegensätzliche Kräfte und Energien sind in seinem Schreiben am Werk, arbeiten gegeneinander und zersplittern die Einheit des Werks. Im Folgenden wird dieser Text immer wieder die Bewegung »Schiller gegen Schiller« sichtbar machen: die idealistische Intention und ihr Double. Schiller hat keine Philosophie des Tragischen ausgearbeitet. Aber er hat (1) in den neunziger Jahren des 18. Jahrhunderts in seinen Abhandlungen ÜBER DEN GRUND DES VERGNÜGENS AN TRAGISCHEN GEGENSTÄNDEN5 (1792), ÜBER DAS PATHETISCHE (1793) und ÜBER DAS ERHABENE (1794/95) eine Theorie der tragischen Haltung, d. h. eine Theorie des Umgangs mit tragischer Erfahrung umrissen. (2) Das Feld, auf dem diese zu machen ist, hat Schiller in seinen Dramen vom DON CARLOS (1787) bis zur BRAUT VON MESSINA (1803) als das des politischen Handelns ausgebreitet. Im Vorwort zur BRAUT VON MESSINA wird dieses Feld näher als der zu füllende Leerraum zwischen dem Privaten und dem abstrakten Gemeinwesen, als Raum der öffentlichen Auseinandersetzung bestimmt. Und Schiller hat (3) den Spielraum des Theaters als den (einzigen) Ort ausgewiesen, an dem die ästhetische Erfahrung des Tragischen in politische Einsicht umschlagen kann. Dazu hat er zusammen mit Goethe gegen den »Naturalism« auf dem Theater seiner Zeit an einer Erneuerung der Verstragödie gearbeitet und mit dem Direktor des Weimarer Hoftheaters um 1800 eine Theaterästhetik der Aufführung entwickelt, zu der er mit seiner Abhandlung ÜBER ANMUT UND WÜRDE (1793) die Grundlagen geschaffen hat. Ich möchte im Folgenden versuchen, die drei Stränge, die in Schillers Beschäftigung mit dem Tragischen unverbunden nebeneinander stehen – den Strang der tragischen Haltung, den des Gegenstands und des Feldes und den der Aufführung – zueinander in Beziehung zu setzen. Und ich möchte am Ende am Beispiel einer heutigen Inszenierung einen Ausblick geben auf die Möglichkeit, Schillers Tragik gegenwärtig angemessen aufzuführen.

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Tragische Haltung »Das erste Gesetz der tragischen Kunst war Darstellung der leidenden Natur. Das zweite ist Darstellung des moralischen Widerstands gegen das Leiden«,6 deklariert Schiller in seiner Schrift ÜBER DAS PATHETISCHE (1793). Anerkannt ist darin zunächst das Leiden als ein durch keine vernünftige Anstrengung aufhebbare Ingredienz menschlicher Existenz. Kaum zwei Jahrzehnte nachdem im bürgerlichen Trauerspiel mit der Propagierung der sozialverträglichen moralischen Empfindung des Mitleids die ethisch-emotionalen Grundlagen für eine aufgeklärte bürgerliche Gesellschaft geschaffen werden sollten, bricht das verdrängte Pathos Ende des 18. Jahrhunderts in die durch Ethos gezähmten Künste ein. Die Wiederkehr des Pathos ist ein markantes Indiz für den Einspruch der leidenden Natur gegen den Versuch ihrer Verharmlosung und Leugnung durch die programmatische Verbindung von Aufklärung und Empfindsamkeit. Aber die Anerkennung des Leidens bedeutet für Schiller und dessen Zeitgenossen nicht seine Hinnahme. Weit eher ließe sich von einer Einvernahme sprechen: Dem Leiden wird nämlich ein fester Platz zugewiesen in einer Ethik des Widerstands, die der Logik des Erhabenen folgt. Darin weckt die Erfahrung des Erhabenen – Überwältigung, Ohnmacht und Leiden des Naturwesens – die Einsicht in die moralische Energie und Überlegenheit des Vernunftwesens gegenüber allen Kräften der Natur. Unter diesen will Schiller alles begriffen wissen, was nicht moralisch ist, alles, was nicht unter der höchsten Gesetzgebung der Vernunft stehet; also Empfindungen, Triebe, Affekte, Leidenschaften so gut als die physische Notwendigkeit und das Schicksal.7 Die unterschiedslose Aufzählung kommt einer Abwertung gleich. Unter der Hand, so hat es den Anschein, hat sich bei Schiller die Annahme des Leidens in seine Indienstnahme verkehrt. Die leidende Natur wird zum Mittel für den Zweck, das moralische Bewusstsein zu stärkerem Widerstand anzuspornen. Aus dem anerkannten Partner wird der Gegner, um nicht zu sagen der Feind, den es immer erneut zu bekämpfen gilt: Je furchtbarer der Gegner, desto glorreicher der Sieg; der Widerstand allein kann die Kraft sichtbar machen. Aus diesem folgt, daß das höchste Bewußtsein unserer moralischen Natur nur in einem gewaltsamen Zustande, im Kampfe, erhalten werden kann.8

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Martialische Formulierungen wie diese haben, um in diesem Sprachspiel zu bleiben, eine offene Flanke geboten für das ideologische Konstrukt eines nationalsozialistischen Schiller als Vorkämpfer einer stählernen Romantik und eines »heroischen Pauperimus« (H. Marcuse). Aber, Schiller gegen Schiller, die tragische Haltung, um die Schillers Abhandlungen kreisen, lässt sich nicht auf die Turnlehrerphrase von der Überwindung des inneren Schweinhunds reduzieren. Die Haltung des Widerstands, als die wir die tragische bei Schiller bezeichnen können, ist nicht die des faschistischen tragischen Wollens, sondern die einer freien ästhetischen Vergnügung. Über zwei Seiten hin ist es Schiller am Beginn des Aufsatzes ÜBER DEN GRUND DES VERGNÜGENS AN TRAGISCHEN GEGENSTÄNDEN (1792) darum zu tun, das Ansinnen der aufgeklärten Zeitgenossen, die Kunst auf die Moral zu gründen, abzuwehren und sie als Raum eines freien ästhetischen Vergnügens zu behaupten. »Frei aber«, so Schiller, nenne ich dasjenige Vergnügen, wobei die geistigen Kräfte, Vernunft und Einbildungskraft, tätig sind und wo die Empfindung durch eine Vorstellung erzeugt wird; im Gegensatz von dem physischen oder sinnlichen Vergnügen, wobei […] die Empfindung unmittelbar auf ihre physische Ursache erfolgt.9 Was lässt sich daraus für die nähere Beschreibung der tragischen Haltung des Widerstands gewinnen? Zunächst dies, dass reale Leiden und die Anstrengungen zu ihrer Überwindung nicht mit deren ästhetischer Darstellung und Erfahrung in eins gesetzt werden können. Das schließt die politische Ästhetisierung und Instrumentalisierung von realem Leid und Opfer aus. Und weiter, dass der von Schiller an der zitierten Stelle beschworene Sieg des moralischen Bewusstseins über die Natur bezogen auf das Ganze seines Denkens und Schreibens nicht als garantiert und festgeschrieben betrachtet werden kann. Hier wäre Schiller gegen Schiller zu verteidigen. Schiller ist schwerlich »der Moraltrompeter von Säckingen«, als den ihn Nietzsche apostrophiert hat, und seine tragische Haltung des Widerstands erstarrt nicht in der Geste eines über Leichen gehenden »Trotz alledem«. Was aber dann? Was wäre dann unter Widerstand zu verstehen? Das Widerstandsmoment in der tragischen Haltung gegenüber der leidenden Natur, dies meine These, zielt im Letzten nicht auf deren Überwindung, Abschaffung und Auslöschung, sondern, bei voller Anerkennung ihrer andauernden Existenz, zugleich auf den Einspruch dagegen, dass

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menschliches Leid und Schicksal das letzte Wort haben sollen. Schiller widersteht dem fortdauernden Status quo des »So und nie anders«, den er in dem theaterästhetischen »Naturalism« seiner Zeit inkorporiert sieht, ohne dass er zu einer Politik der Entgegensetzung greift, greifen kann. Das ist seine, das ist unsere Chance. Indem er die tragische Haltung als die eines freien ästhetischen Vergnügens bestimmt, öffnet er einen Spiel- und Möglichkeitsraum – einen Spielraum als Möglichkeitsraum – gegenüber dem Bestehenden. In ihm transformiert sich die Haltung des Widerstands in eine Haltung, die den unaufhebbaren Widerstreit von Leiden, Schmerz und moralischer Lust erträgt, die die Elemente dieses Widerstreits ins Spiel bringt, d. h. sie von der Schwere des Alltags löst und damit Freiheit gegenüber dem Hier und Jetzt gewinnt. So folgt Schillers Tragik der Erfahrung des Erhabenen, ohne dass sich die Geste der Sublimierung zur Souveränität einer vernünftig gewordenen Gattung hin schließt. Tragisch mag diese Haltung heißen, weil sie keine Besserung des Zustands der Gattung verspricht. Auf der Höhe einer aufgeklärten Gegenwart ist sie gleichwohl.

Das tragische Feld Die tragische Haltung, die Schiller beschäftigt, ist die des Zuschauers im Spiel- und Möglichkeitsraum des Theaters. Damit hat sich die Bestimmung dessen, was Tragik sei, verlagert weg von tragischen Stoffen und Gegenständen eines Weltzustands hinein ins rezipierende Individuum. Auf den ersten Blick scheint es sich dabei um eine Steigerung jener Subjektivierung des Tragischen zu handeln, die Hegel wenige Jahre später an der modernen Tragödie beklagt. Deren Ausgang, so Hegel, »stellt sich gewöhnlich so dar, daß die Individuen an einer vorhandenen Macht, der zum Trotz sie ihren besonderen Zweck ausführen wollen, zerschellen.«10 Mit diesem bloß subjektiven Scheitern, herbeigeführt – wiederum Hegel – durch die »Wirkung unglücklicher Umstände und äußerer Zufälligkeiten«11 ist kein Staat zu machen. Ist schon der zufällige Untergang des modernen tragischen Helden nicht in der Lage, das Gemeinwesen ernsthaft herauszufordern, um wieviel bedeutungsloser muss dann aus Hegels Sicht die tragische Haltung des Theaterzuschauers für die Gemeinschaft sein. Hegels Ansicht im Falle Schillers nicht zuzustimmen, heißt die Frage nach dem politischen Implikat der tragischen Haltung des Zuschauers zu stellen. Hier wäre zunächst daran zu erinnern, dass der Widerstreit von Natur und Vernunft bei Schiller zwar auch im Innern des Subjekts als Auseinandersetzung zwischen Leiden und Leidenschaften einerseits,

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moralischer Bestimmung und Vernunft andererseits ausgetragen wird, dass dieser Widerstreit sich aber nicht auf die Innerlichkeit des Individuums begrenzen lässt. In den Briefen über DIE ÄSTHETISCHE ERZIEHUNG DES MENSCHEN (1795) spricht Schiller vom »Naturstaat«12 und vom »Vernunftstaat«.13 Damit kehrt das Gegensatzpaar, das wir in Schillers Wirkungsästhetik vorgefunden haben, im Bereich des Politischen wieder, ohne dass eines als ursprünglich angenommen, oder aus dem andern abgeleitet werden könnte. (Wir können bei Schiller von unterschiedlichen Medien sprechen – tragische Haltung, tragisches Feld, tragische Aufführung –, Medien im Sinne Walter Benjamins als reine Mittel ohne Zweck, in denen der gleiche Konflikt mit-geteilt, geteilt wird.) Der Naturstaat leitet seine politische Einrichtung von willkürlichen Kräften, der Vernunftstaat von moralischen Gesetzen ab. Jener, der feudalabsolutistische Staat, ist die Realität, dieser, der Vernunftstaat, ist die Idealität zu Schillers Zeit. Die in der Französischen Revolution erfahrene Unmöglichkeit, vom einen zum anderen überzugehen, ist der Anlass für die BRIEFE ÜBER DIE ÄSTHETISCHE ERZIEHUNG (1795). Mit ihnen, die im Jahr der terreur begonnen werden, setzt die Wende zur Ästhetik, die Wende zum Spielraum des Theaters als eines politischen Möglichkeitsraums ein. Mit welchem Recht lässt sich davon sprechen? Wie wäre im Spielund Möglichkeitsraum des von Schillers Theater, wie in der tragischen Haltung des Zuschauers eine Politik des Theaters und der Tragödie zu entdecken? Dass es Schiller darum zu tun gewesen sei, wird unter Berufung auf den Aufsatz von 1785 Die SCHAUBÜHNE ALS EINE MORALISCHE ANSTALT BETRACHTET gerne gesagt. »Die Gerichtsbarkeit der Bühne fängt an, wo das Gebiet der weltlichen Gesetze sich endigt«,14 lautet das einschlägige Zitat dieser Abhandlung, die das Politische und Ästhetische unter das Moralische stellt. Differenzierter als in diesem Bewerbungsvortrag vor der Kurpfälzischen Deutschen Gesellschaft, der zögernde Geldgeber vom sittlichen Nutzen des Theaters überzeugen sollte, umreißt Schiller den politisch-ästhetischen Ort des Theaters im Vorwort zu DIE BRAUT VON MESSINA von 1803. Dort beklagt Schiller den, am Vorbild einer idealisierten Antike gemessenen, Zerfall und Verlust des öffentlichen Lebens. Der Palast der Könige ist jetzt geschlossen, die Gerichte haben sich von den Toren der Städte in das Innere der Häuser zurückgezogen, das Volk selbst, die sinnlich lebendige Masse, ist, wo sie nicht als rohe Gewalt wirkt, zum Staat, folglich zu einem abgezogenen Begriff geworden, die Götter sind in die Brust des Menschen zurückgekehrt.15

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Privatisierung und Individualisierung auf der einen, das abstrakt gewordene Gemeinwesen auf der anderen Seite zerreißen nach Schiller das öffentliche Leben der modernen Gesellschaft. Scheinbar ganz auf sich und seinen häuslichen Kreis zurückgeworfen, ist der Einzelne gleichwohl der Abstraktion, dem »abgezogenen Begriff«16 staatlicher Macht ausgesetzt. Für Schiller ist es Aufgabe der Poesie, genauer: des Dichters der Verstragödie und ihrer Aufführung, die Leere des öffentlichen Raums wieder mit Leben zu füllen: Der Dichter muß die Paläste wieder auftun, er muß die Gerichte unter freien Himmel herausführen, er muß die Götter wieder aufstellen, er muß alles Unmittelbare, das durch die künstliche Einrichtung des wirklichen Lebens aufgehoben ist, wieder herstellen und alles künstliche Machwerk an dem Menschen und um denselben […] abwerfen.17 Das klingt nach Ursprungssehnsucht und Harmoniestreben, kurz: nach Restauration. Wie kann diesem Wunsch nach Rückkehr begegnet werden? Wie kann die Spannung zwischen dem Verlorenen und dem Zukünftigen aufrechterhalten werden? Wie soll die Restitution des Öffentlichen vonstatten gehen, ohne dass sie umschlägt in die Substantialisierung und Ontologisierung des Ästhetischen, umschlägt in die ästhetische Restauration der verlorenen »poetischen Gestalt des wirklichen Lebens«?18 Gegen die Sehnsucht nach Restauration von verlorener Einheit wirkt in Schillers Dramen der unaufhebbare Konflikt, der Widerstreit, zwischen privatem und politischem Handeln. In diesen Widerstreit übersetzt sich in Schillers dramatischem Schaffen der Gegensatz des Natürlichen und des Vernünftigen. Dieser Widerstreit ist die stoffliche Quintessenz seiner tragischen Stücke. Sie alle kreisen um die Frage, wie vernünftiges Handeln für ein Allgemeines, gleichsam für einen Vernunftstaat also, überhaupt möglich ist, ohne dass es von den natürlichen privaten Interessen und Wünschen konterkariert wird. Nehmen wir exemplarisch DON CARLOS, um hier zu sehen, wie das Handeln für die politische Allgemeinheit und die privaten Interessenslagen auseinandertreten und sich unheilvoll überschneiden. Carlos liebt Elisabeth, seine ehemalige Braut, nun seine Stiefmutter. Posa versucht, diese Liebe politisch zu sublimieren, sie zu läutern und emporzuheben zur gemeinsamen abstrakten Liebe zu den unterdrückten flandrischen Provinzen. Das geht bekanntlich schief. Nicht anders ergeht es den genuinen Politikern des Dramas, Philipp und Posa. Philipp, der absolute Herrscher

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von Spanien, erlebt an sich selbst die Spaltung in die zwei Körper des Königs, den Körper des politischen Machterhalts und den von Eifersucht geschüttelten. Der Marquis wiederum ist aufgespannt zwischen Vernunftideen, deren Realisierung der ganzen Menschheit dienen sollen und den Anforderungen, die die konkrete Freundschaft zwischen zwei Menschen stellt. Je hartnäckiger er die ersteren verfolgt, umso unausweichlicher hat er die letzteren zu opfern. Der verschriene Idealist Schiller offenbart in seinen Stücken kein Quentchen Idealismus. Im Gegenteil: Konsequenter Idealismus, das zeigt das Handeln des Marquis Posa, führt zur Praxis des Terrorismus. Bei Schiller scheitern alle, die versuchen, ihre privaten Natur zu leben und zugleich dem vernünftigen Handeln für ein Allgemeines gerecht zu werden. Und strebt man wie Isabella in DIE BRAUT VON MESSINA danach, das Private, sprich Beatrice, ängstlich und säuberlich vom Politischen abzutrennen und im Geheimen zu halten, dann bricht es sich, als das geheime Objekt der Begierde beider rivalisierender Fürstenbrüder, die nach politischer Versöhnung streben, am Ende um so katastrophaler Bahn. So stark hat Schiller in seinen Dramen die menschliche Natur gegen die Vernunft gemacht, dass viele Regisseure gegenwärtig dazu tendieren, die Spannung zwischen den Polen des politischen und des privaten Handelns aufzulösen und das Politische zu privatisieren und zu psychologisieren. Das widerspiegelt zwar die aktuelle Praxis des »Politainment« in der Mediendemokratie, schließt aber den Schauplatz der Auseinandersetzung zwischen dem Politischen und Privaten, den Schiller aufgemacht hat. Es ist hier die entgegengesetzte, aber komplementäre Tendenz zu erkennen zur Heroisierung der tragischen Haltung des Widerstands, die wir im ersten Teil angesprochen haben. Auf deren ruchlos-voluntaristischen Idealismus antwortet nach dem Untergang des politischen Kollektivismus die bornierte Verteidigung des Individuums und seines psychischen Innenlebens. Beide Tendenzen zeugen von der Unfähigkeit, mit Konflikt zu leben. Eben darum geht es aber in dem Konfliktfeld des Tragischen, in dem Schillers Figuren ohne Hoffnung auf (Er)Lösung stehen. Angesichts der unversöhnlichen Statuarik seiner dramaturgischen Handlungskonstellationen scheint es kaum übertrieben, Schiller Heiner Müllers Bekenntnis in den Mund zu legen: »Ich glaube an Konflikt, sonst glaube ich an nichts«.19 Die dramaturgische Exposition des tragischen Felds ist eine Sache. Die andere ist, wie mit dem ausgestellten Widerstreit zwischen Natur und Vernunft im politischen Handeln so umzugehen sei, dass es nicht beim zähneknirschenden Akzeptieren der Unmöglichkeit von Auflösung und Versöhnung bleibt, sondern dass Freiheit ins Spiel kommt, die

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das Feld der bloßen Konstatierung in ein Möglichkeitsfeld verwandelt. Das ist eine Frage der Aufführung.

Tragische Aufführung Die Aufführung des Tragischen ist für Schiller und Goethe nicht etwas, das nachträglich in der Inszenierung zum bereits fertigen Drama hinzukommt, sondern konstitutiver Bestandteil der Dramenproduktion selbst. Ihr Kernstück ist die Vorstellung und Aufführung der poetischen Sprache in der Deklamation und die Haltung, die jene verlangt. Dazu betreiben Schiller und Goethe seit den neunziger Jahren des 18. Jahrhunderts in ihren eigenen Worten eine »Verschwörung gegen das Publikum« und seinen Geschmack an den bürgerlichen Familiengemälden der Ifflands und Kotzebues. Die Wendung zur Verstragödie ist der zentrale Versuch, den schicksalsgläubig hingenommenen Ablauf der dramatischen Handlung auszusetzen und einen poetisch-theaterästhetischen Erfahrungs- und Reflexionsraum einzurichten. Die Wiedereinführung des Chors, so Schiller im Vorwort zu Die BRAUT VON MESSINA, »wäre dabei der letzte, der entscheidende Schritt – und wenn derselbe auch nur dazu diente, dem Naturalismus in der Kunst offen und ehrlich den Krieg zu erklären«.20 Ich kann an dieser Stelle nicht ausführlicher auf den Chor und speziell auf die Problematik seiner malerischen Gegenwart in den Tableaus des Weimarer Theaterdirektors Goethe eingehen. Von Bedeutung ist Schillers Chorbeschwörung hier für mich, weil sie gleichsam das Summum seiner Auffassung zur Aufführung der poetischen Sprache im Theater verkörpert. Die Deklamation der poetischen Sprache leistet für Schiller zweierlei: Sie wirkt (1) wie »eine lebendige Mauer […], die die Tragödie um sich herumzieht, um sich von der wirklichen Welt rein abzuschließen und sich […] ihre poetische Freiheit zu bewahren«21. Und sie löst (2) die Sprache von den Figuren und ihren Intentionen und erzeugt einen Sprachraum, indem das Individuelle und das Allgemeine aufeinandertreffen, einen Raum der öffentlichen Auseinandersetzung innerhalb der poetischen Sprache. Wie dieses Aufeinandertreffen sich gestaltet (oder auch: nicht gestaltet), darauf kommt es an. Bekannt ist, wie es sich in der Aufführungspraxis des Weimarer Hoftheaters abgespielt hat. Der Regisseur Goethe liest die Stimmen der Schauspieler wie ein Dirigent die Stimmen der Partitur. Im Fortgang der Proben geht er weniger von Ausdruck und Sinn aus, sondern vom Zusammenhang aller Stimmen, ihrer Ab- und Aufeinanderfolge und ihrem Zusammenklang. Die Konzertierung der Stimmen, vermittelt über die Metapher des

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Orchesters, führt die Sprache der einzelnen Personen zu einem vielfältig differenzierten Ganzen zusammen. Keine Frage: Das Aufeinandertreffen des Besonderen und des Allgemeinen steht in der Aufführungspraxis von Goethe und Schiller, der ihn unterstützt, ganz im Zeichen der Integration. Jede singuläre Äußerung, jede eigentümliche Intention der einzelnen Figur soll aufgehoben, soll eingewoben sein ins Ganze und versöhnt mit ihm. Das setzt ein Abstandnehmen von der rohen, ungezügelten Natur, das setzt ihre Veredelung voraus. Veredelung der menschlichen Natur ist ein Strang, eine manifeste Intention Schillers in seinen Abhandlungen über das Ästhetische, namentlich über die ästhetische Erziehung, eine Intention allerdings, die, wie wir gleich sehen werden, ebenfalls durchkreuzt und erschüttert werden wird. Aber bleiben wir für einen Moment noch beim Bedürfnis nach Veredelung: Nur als veredeltes kann das Begehren der Natur Eingang ins öffentliche Konzert prinzipiell konfligierender Stimmen finden. Ganz in diesem Sinne bezeichnet Schiller im Vorwort zu DIE BRAUT VON MESSINA die poetische Deklamation als lyrisches Prachtgewebe, in welchem sich, als wie in einem weit gefalteten Purpurgewand, die handelnden Personen frei und edel mit einer gehaltenen Würde und hoher Ruhe bewegen.22 Ausdrücklich betont Schiller, dass der Künstler die Nacktheit seiner Figuren mit diesem Prachtgewand der poetischen Deklamation zu bedecken habe. Nicht zumutbar scheint also die Nacktheit der in den Katastrophen der Handlung entblößten dramatis personae zu sein. Hier nun scheint Schiller den auf dem Feld der Dramaturgie entfachten Widerstreit selbst nicht ausgehalten und dem Drang nach Versöhnung erlegen zu sein. Und zweifelsohne kommt Goethes und Schillers Aufführungspraxis am Weimarer Hoftheater dem Wunsch nach klassizistischem Faltenwurf und Marmorpose entgegen. Aber ehe wir Schiller der ästhetischen Restauration und Substantialisierung der verlorenen natürlichen Poesie des öffentlichen Lebens beschuldigen, wollen wir noch einen näheren Blick werfen auf die Herleitung jener Haltung der Würde, der nicht nur in dem angeführten Zitat, sondern für den Begriff der Aufführung insgesamt eine entscheidende Bedeutung zukommt. In seiner Abhandlung ÜBER ANMUT UND WÜRDE von 1793 hat Schiller Würde, der Haltung des tragischen Widerstands entsprechend, als den »Ausdruck einer erhabenen Gesinnung«23 benannt. Sie äußert sich als »Ruhe im Leiden«.24 Dabei ist das Verhältnis von Anmut und Würde, die der Titel des Aufsatzes anspricht, keinesfalls ein ausgewo-

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genes. Denn die zwanglose ästhetische Versöhnung von Sinn und Sinnlichkeit im Stande der Anmut ist äußerst prekär und fragil, keinesfalls ein dauerhafter ästhetischer Zustand. Anmut ist stets bedroht durch die Überwältigung durch die Natur, ist z. B. bedroht durch den Affekt. Im Affekt aber, so Schiller, muss Anmut in Würde übergehen. Würde ist die Kompromisshaltung – Artikulation des Konflikts, nicht dessen Lösung –, die die Sinnlichkeit zu ihrem Recht kommen lässt, ohne ihr zu unterliegen. Zwar führt sich dabei »der Geist in dem Körper als Herrscher auf, denn hier hat er seine Selbständigkeit gegen den gebieterischen Trieb zu behaupten«,25 aber Würde zeigt uns die Herrschaft fast zugleich mit dem Zustand der Überwältigung durch die Sinnlichkeit und der Auslieferung ans Leiden. Auch wenn Schiller die erhabene Geste triumphieren lassen will, so bleibt ihr doch die Erinnerung an die momentane Übermacht des Affekts und die Ohnmacht der Vernunft eingeschrieben. Erst mit Verzögerung und Anstrengung stellt sich die Souveränität des Geistes ein. Deshalb ist Würde eine Frage der Zeit. Würdevolle Bewegungen sind langsame Bewegungen. Sie brauchen Zeit, um den Affekt zu bemeistern und die Wiederkehr der Selbstbeherrschung zu bewerkstelligen. Aber auch in der würdevollen, souverän gesetzten Bewegung zeichnet sich noch der Affekt als auslaufender ab. So beansprucht Würde weniger, vom Sieg über das Leiden der Natur zu künden – ein solcher Anspruch wäre immer eine Anmaßung, angemaßte Würde – sondern die Unentschiedenheit des Kampfes von beiden vor Augen und Ohren zu stellen: Ausgang offen. Offenheit aber schafft Raum, Spielraum für ein freies ästhetisches Vergnügen aller Kräfte des Geistes und der Natur, schafft Raum auch für die politische Frage: »Was wäre wenn?« und den Satz aus Alexander Kluges DIE MACHT DER GEFÜHLE: »Könnte aber doch!«26 Ich möchte nun abschließend auf eine Inszenierung eingehen, die Schillers Aufführung des Tragischen ernst nimmt und seine Ausführungen zur Bedeutung der poetischen Sprache und zur Haltung der Würde auf eindringliche Weise ins Theater unserer Zeit übersetzt. Die Rede ist von Laurent Chétouanes Inszenierung von DON KARLOS am Deutschen Schauspielhaus Hamburg, Premiere März 2004. Die Aufführung erstreckt sich über fünf Stunden. Eine Zeit, in der es vieles zu erfahren und zu denken gibt. Von manchem der Kritiker wurde sie nicht genutzt. Bemängelt wurde von vielen, dass es nichts zu sehen, nur zu hören gibt. Dem möchte ich nicht zustimmen. Denn aufgeführt wird hier die Würde im Kampf mit dem Affekt, der sich in der Sprache, ihrem Duktus und Rhythmus, niedergeschlagen hat. Der Schauplatz dieser Auseinandersetzung ist der Körper der Akteure. Nur als ein mühsam still-

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Schillers Tragik aufgeführt

gestellter, zur Skulptur erstarrter kann er der affektiven Bewegung Herr werden und dem Gedanken Raum geben, der die Welt verändern soll. Zu sehen und zu hören ist hier, wie Schillers Jamben weder zum Schwungrad enthusiastischer Selbstelevation noch aufs Maß der psychologischen Selbstexplikation und Verständlichkeit des Individuums heruntergezogen und verkleinert werden. Vielmehr drückt sich das fortlaufende Metrum als sprachliche Strukturierung und Ordnung des politischen Diskurses schwer in die Artikulation des Affektkörpers der Akteure ein. Das Resultat ist ein kurzes Zögern, ein Stocken, das die Einheit des Sprachkörpers zerreißt und die Geste der Sublimierung erzittern lässt. In der Spanne, die sich auftut zwischen Affektartikulation und Diskurs wird der Anspruch auf ein mögliches (anderes) politisches Handeln gewahrt; entgegen dem wohlfeilen Vorwurf, Schillers Figuren seien nur Sprachrohr von Ideen, wird bei Chétouane der Sprach/Körper der Akteure, die erschütterte Skulptur der Würde, zum tragischen Statthalter des Widerstands gegen die bestehende Ordnung. 1 2 3 4 5

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Müller, Heiner: Krieg ohne Schlacht. Leben in zwei Diktaturen. Eine Autobiographie, Köln 1992, S. 205. Brecht, Bertolt: V-Effekte, Dreigespräch, in: ders.: Werke Bd. 22, Frankfurt/M. 1993, S. 398ff. Hegel, Georg Wilhelm Friedrich: Vorlesungen über die Ästhetik, in: ders.: Werke in zwanzig Bänden, Bde. XIII – XV, Frankfurt/M. 1970. Menke, Christoph: Die Gegenwart der Tragödie. Versuch über Urteil und Spiel, Frankfurt/M. 2005, S. 7. Schiller, Friedrich: Werke in drei Bänden. Unter Mitw. von Gerhard Fricke hrsg. von Herbert G. Göpfert, München u. Wien 1966. Im Weiteren beziehen sich alle genannten Titel auf diese Ausgabe. Schiller, Friedrich: Über das Pathetische, S. 427. Schiller, Friedrich: Über den Grund des Vergnügens an tragischen Gegenständen, in: Ders.: a.a.O., S. 345. Ebd. Schiller: Über den Grund des Vergnügens an tragischen Gegenständen, S. 342ff. Hegel: Vorlesungen über die Ästhetik, S. 580. Ebd. Schiller: Über die ästhetische Erziehung des Menschen in einer Reihe von Briefen, in: Ders.: a.a.O., S. 448f. Ebd. Schiller, Friedrich: Die Schaubühne als moralische Anstalt betrachtet, in: Ders.: a.a.O., S. 722. Schiller, Friedrich: Vorwort zu die Braut von Messina, in: Ders.: a.a.O., S. 474f. Ebd. Ebd., S. 475. Ebd., S. 474. Müller, Heiner: Gesammelte Irrtümer 1. Interviews und Gespräche, Frankfurt/M. 1986, S. 69. Schiller: Vorwort zu die Braut von Messina, S. 474. Ebd. Schiller: Vorwort zu Die Braut von Messina, S. 475. Schiller: Über Anmut und Würde, S. 410. Ebd., in: Ders.: a.a.O., S. 415. Ebd. Kluge, Alexander: »Die Macht der Gefühle«, in: ders.: Herzblut trifft Kunstblut. Erster imaginärer Opernführer. Fakts & Fakes, hg. v. Christian Schulte/Reinald Gußmann, Berlin 2001.

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ENTSTALTUNG DER MORALISCHEN ANSTALT1 Zur Ausstellung der Sprachbildung im Trailer von Einer Schleefs Inszenierung WESSIS IN WEIMAR

Was heißt es, zur Sprache zu kommen? Wie bildet sich Sprache und unter welchen Umständen kann gesprochen werden? Das, so scheint mir, ist die Frage, mit der das politische Theater endet und das politisch gemachte Theater beginnt.2 Zumindest gilt dies mit Bezug auf Einar Schleefs Inszenierung von Rolf Hochhuths Stück WESSIS IN WEIMAR. SZENEN AUS EINEM BESETZTEN LAND,3 eine Theaterarbeit, die im Februar 1993 am Berliner Ensemble nach einem öffentlich ausgetragenen Streit zwischen Autor und Regisseur zur Aufführung kam4 und, wie ich glaube, als beispielhafter und noch immer lehrreicher Zusammenprall zweier Verständnisse des Verhältnisses von Theater und Politik gelten kann, als Konflikt zwischen der Konzeption eines Theaters als moralischer Anstalt auf der einen Seite und einer theatralen Praxis auf der anderen, die ich hier vorläufig als Entstaltung der moralischen Anstalt begreifen möchte, als Versuch, in der Ausstellung der Anstalt Theater wie ihrer moralischen Metaphern danach zu fragen, was Theater überhaupt5 sein könnte, nach Theater als einem Ort des zur Sprache kommens. Ausgehend von den ersten zwanzig Minuten der Inszenierung und einigen Passagen des Essays DROGE FAUST PARSIFAL,6 in dem Schleef nicht zuletzt über diese Inszenierung nachdenkt, möchte ich zeigen, dass der Entstaltung der moralischen Anstalt die von Schleef im Essay in vielen Anläufen eindrucksvoll dokumentierte und entfaltete Erfahrung mit der Sprache zugrundeliegt, genauer: sein Interesse an dem, was er die »Art der Sprachbildung«7 nennt, am Moment, der dem Sprechen, so es ihm denn folgt, vorausgegangen sein wird.

1. Ouverture – auf der Schwelle Der Anfang lässt auf sich warten. Bevor die Vorstellung beginnt, hört man von einem der Ränge, in der sehr eigenen und eigenartigen Diktion des Regisseurs die barock anmutenden Verse des Baccalaureus aus Goethes zweitem FAUST: »Tor und Türe find ich offen! / Nun da läßt sich endlich hoffen / Daß nicht, wie bisher, im Moder / Der Lebendige

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wie ein Toter / Sich verkümmere, sich verderbe / Und am Leben selber sterbe.«8 Wir erfahren aus dem Mund eines Zurückgekehrten von den Gefühlen eines Zurückgekehrten. Jahre zuvor war er schon einmal hier, jetzt betrachtet und beschreibt er mit Argwohn die Szene des eigenen Vertrauens in die Autorität derer, die hier wirken, zugleich die Hinfälligkeit der alten Gemäuer. Wenn sich der eiserne Vorhang hebt, fällt der Blick der ausverkauften Ränge auf eine Bühne, die durch nichts als zwei große Rahmen strukturiert wird, zwei Torbögen. Der eine, unterhalb des Bühnenportals, dieses in nur wenig kleinerer Größe verdoppelnd, ist mit Metall verkleidet. Der zweite, im hinteren Teil der Bühne, ist in weiß gehalten. Durch das Geviert in seiner Mitte fällt der Blick auf die Brandmauer im Hintergrund, den Ort, an dem die Grenze der Bühne mit derjenigen des Theaters zusammentrifft. Von dort fällt etwas Licht in den unbeleuchteten Raum zwischen den Portalen. In seinem Halbdunkel singt ein Frauenchor das HEIMATLIED aus der Kantate KINDER DER WELT: »[…] Kind, ob du vom Rheine bist / oder von der Elbe / unsre deutsche Sprache ist / überall diesselbe.«9 Zum Frauenchor tritt ein Männerchor, die Gruppe stellt sich in einer Reihe parallel zur Brandmauer im Hintergrund auf, meistens mit Blick zur Wand. Die Männer und Frauen sprechen, teils in Wechselrede, teils ineinander, teils aufeinander folgend, die siebente Szene des fünften Akts von Schillers KABALE UND LIEBE, die Vergiftung des von den Hofintrigen auseinanderdividierten Liebespaars aus Offizierssohn und Bürgerstochter.10 Der Chor spricht die Szene mit unterschiedlicher Diktion, die Frauen eher zart, leichthin, die Männer eher hart, militant, die Rhythmen wechseln, zu Zeiten läuft der Chor vor und zurück, rennt dann wieder nach vorn. Er wird dirigiert von einem in der Mitte stehenden, durch seine Armbewegungen als solcher erkennbaren Chorführer. Schließlich rennt der gesamte Männer-Chor aus dem Halbdunkel des Raumes zwischen den Toren vor die Brandmauer. Die Männer haben ihre Mäntel abgeworfen und sind darunter in ihren schweren Stiefeln nackt. Sie fallen an der Wand zu Boden, bleiben, gekrümmte Körper, zum Teil aufeinandergetürmt, im gleißenden Neonlicht der Scheinwerfer liegen und singen Schuberts Vertonung von Heines ICH STAND IN DUNKELN TRÄUMEN aus dem BUCH DER LIEDER.11 Der Vorhang fällt und hebt sich wieder. Ungefähr zwanzig Minuten sind vergangen. Nun ist Pause. Der Platz zwischen den Portalen liegt jetzt hinter einer durchsichtigen Gaze und ist zum Bolzplatz mutiert, auf dem die Jugendmannschaft des »SV Blau-Weiß Berolina Mitte 49 e.V.« in altertümlicher Sportkleidung Fußball spielt. Die Portalöffnung zur Brandmauer ist ihr Tor.

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Nach der Pause betritt ein Chor in einer langen Kolonne aus Zweiergrüppchen die erneut dunkle Bühne und geht im Kreis herum. Es ist von ihm nichts zu hören außer den im Gleichschritt auftretenden Stiefeln. Kein Marsch, sondern ein unaufgeregter, ruhiger geordneter Gang – als sollte die Bühne vermessen, ein Weg zurückgelegt werden. Im selben Maß, wie sich die Eintönigkeit, ja Ereignislosigkeit auf der Bühne erhält, löst sich das einförmige, gebannte, ja formierte Publikum in voneinander unterscheidbare Einzelpersonen auf, die sich mit Kommentaren ins Spiel einmischen: »Rechts um!«, »Wo ist der Regisseur?« oder »Weiter« ist zu hören. Irgendwann beginnt der Chor mit Vehemenz Sätze aus dem Stück zu sprechen, das an diesem Abend uraufgeführt wird. Schleef bezeichnete diesen Anfang als Trailer, den er aus dem Kino übernommen habe, bzw. als Ouverture, die wie im Musiktheater, »die Hauptthemen des Abends anstimmt«.12 Diese von Schleef nicht weiter präzisierten Hauptthemen werden dabei wie in einem poetischen Text über die angesprochenen Inhalte hinaus vor allem in ihrer Gestaltung und ihrer Komposition angestimmt. Schleef fragt, was es heißt, Hochhuths SZENEN AUS EINEM BESETZTEN LAND in diesem Theater, unter den spezifischen Umständen des Jahres 1993, mit der besonderen Geschichte von Haus, Regisseur und Darstellern, zu inszenieren. Vor dem Sprechen der Sätze des Stückes präsentieren die Schauspieler dessen Gesten oder, wie man mit Schleefs eigener Terminologie wohl sagen müsste, dessen »Sprachbildung«, das, was das Stück in seiner Eigenart hervorgebracht hat, ohne in ihm aufzutauchen. In, mit und vor der Inszenierung von Hochhuths politischem Theaterstück inszeniert Schleef insofern die Politik, die Hochhuth im Schreiben seines Stückes wissentlich oder unwissentlich betreibt und jene, die im Moment des Aufführungsbeginns bereits am Werk ist. Politisch kann Schleefs Art, Theater zu machen, in diesem Fall vor allem genannt werden, weil er weder den Apparat des Theaters noch den Text, den er darin und damit umsetzen soll, als fixe Konstanten akzeptiert und deshalb zu allererst dazu animiert, über die Voraussetzungen der an diesem Abend vorgeführten Szenen nachzudenken. Diese Voraussetzungen sind, wie die emblematische Ouverture mit ihren Goethe-, Schiller- und Heine-Zitaten nahelegt, in theaterhistorischer Sicht zunächst einmal in Schillers und Goethes Grenzziehung zu suchen, mit deren Hilfe sich am Ende des 18. Jahrhunderts in Weimar und Jena ein »in mehr als einem Sinn geschichtsfremder Klassizismus« (Szondi) etabliert, durch den »Tendenzen« »für immer oder doch für Jahrzehnte« abgebrochen werden.13 Dieser einschneidende Moment ist

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in Schleefs Arbeit der neunziger Jahre einer der beständigen Bezugspunkte: Das Projekt einer zweiten FAUST-Inszenierung und ein umfangreicher Teil seines großen Essays DROGE FAUST PARSIFAL zeugen von seiner intensiven Beschäftigung mit Goethe, in dessen Werk ihn nicht zuletzt die Verluste beschäftigen, die durch die Überarbeitung und Zensur des jungen durch den alten Goethe entstehen. Schiller interessiert Schleef dem Anschein nach auf dem Theater nur ein einziges Mal – eben in der WESSIS IN WEIMAR-Inszenierung. Tatsächlich aber ist eben deshalb, weil Schillers programmatische Arbeit so erfolgreich war, Schleefs gesamte Arbeit auch lesbar als Auseinandersetzung mit deren Folgen, als, wie man frei nach einem niemals realisierten Projekt Walter Benjamins und Bertolt Brechts sagen könnte, »Prozeß gegen Friedrich Schiller«14 – vertreten durch Rolf Hochhuth.

2. Wessis in Weimar Rolf Hochhuths Stück versammelt auf 260 Seiten Geschichten zur Geschichte der Treuhandanstalt, Fallgeschichten über die Umstände der Vereinigung beider deutscher Staaten, die Hochhuth zum Teil qua Zeitungsartikel dokumentiert, indem er zunächst in kursiver Schrift das darin zu entdeckende Unrecht anprangert, um es danach durch eine Szene zu bebildern.15 Wer das Stück liest, begreift schnell, weshalb Alexander Kluge und Einar Schleef in ihrem Gespräch über die Inszenierung in Hochhuth den Schiller ihrer Zeit, ja ihres Jahrhunderts zu lesen glaubten,16 Schleef neben der Szene aus KABALE UND LIEBE noch Passagen aus den RÄUBERN sowie aus MARIA STUART in die Inszenierung integrierte, um so die Hochhuthschen Motive des Bruderzwists und des Bürgerkriegs in die literarische Tradition zu stellen, die Hochhuths Darstellungsweise geprägt hat. In der langen poetologischen Vorrede wird das Recht des Autors verfochten, die Umstände der Ermordung des Treuhandchefs entsprechend der Logik des Dramas zu verändern: »Es wäre absurd«, so Hochhuth, »ein Gespräch mit ihm zu erfinden, ohne dem Tod das letzte Wort zu geben. Erst seine Ermordung hat diesen Mann zur Dramenfigur gemacht«.17 Er fügt hinzu, dass das »Wirken dieses Mannes von erstrangiger, ja schicksalhafter Bedeutung für sechzehn Millionen«18 gewesen sei. Eine doppelte Geste verbindet Hochhuth mit seinem Schillerschen Vorbild: Einerseits beruft er sich auf ein antikes oder antikisierendes Modell der Literatur und des Theaters, auf die mit den Begriffen von Schicksal und Charakter operierende Form der klassizistischen Opfertragödie, die er voraussetzt, um in ihr die Vorgänge seiner Zeit zu

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erzählen. Wie sein Vorbild unternimmt er den Versuch, die Tragödie statt auf den Mythos auf Geschichte19 zu fundieren, er beruft sich dabei auch explizit auf Schillers Heldenstücke, imitiert deren Logik von Freund und Feind, Opfer und Gemeinschaftsstiftung, und überträgt in seinen Stoff deren zentrale Züge. Politik, anders gesagt, ist ihm wie Schiller Fortsetzung des Krieges mit anderen Mitteln. Andererseits deutet aber bereits die lange, in kursiver Schrift gehaltene Vorrede, das, was die Literaturtheorie mitunter als »Para-« oder »Nebentext« bezeichnet, darauf hin, dass mit der vermeintlich bloß äußerlichen Form der OpferTragödie etwas passiert ist, was durch keine voluntaristische Setzung eines Autors mehr rückgängig gemacht werden kann: Sie gehört – zu Schillers Zeit ist dies die Erkenntnis Hölderlins – unweigerlich einer vergangenen Zeit an,20 die man vielleicht insofern als kultisch21 bezeichnen könnte, als in ihr eine Beziehung der Unmittelbarkeit zwischen Göttern und Menschen noch Begriffe wie den der »schicksalhaften« Bedeutung erlaubte, den Hochhuth hier verwendet. Hochhuths eigener Text zeugt so von Beginn an gegen die in ihm postulierte klassizistische oder idealistische Form. Hochhuths Nachahmung Schillers reicht über die postulierten Intentionen des Autors weit hinaus: Einer ganzen Reihe von SchillerStücken folgend übernimmt er die Geste der gleichzeitigen realen Ausgrenzung und idealistischen Überhöhung der Frau aus dem öffentlichen Leben: Für die Ermordungsszene erfindet er ein Gespräch mit einer Juristin, das den Ermordeten, wie man liest, charakterisiert, »als habe er sich mit geradezu königlicher Toleranz die Fragen, ja Anwürfe dieser ›Marquise von Posa‹ gefallen lassen, […]. Wir idealisieren also diesen Mann, …«22 Idealisierung bedeutet aber nicht nur, dass der Einzelne, der klassizistischen Folie entsprechend, der Gemeinschaft, die sich in seinem Ausschluss konstituiert, geopfert wird, sondern darüber hinaus auch, dass seine im Moment der Ermordung anwesende Frau – wie Hochhuth beteuert: um der Schonung des Privatlebens willen23 – verschwindet und durch eine beredte Juristin ersetzt wird. An der Stelle der privaten Ehefrau, die als gleichrangige Antagonistin eines SchillerDramas nicht zu taugen scheint, erscheint auf der Szene ein gemäß dem Schema der Schillerschen Tragödie gezeichneter Posa in weiblicher Pose, die öffentliche Frau, ein Mann in Frauenkleidern, eine Juraprofessorin, die, wie Hochhuth über sie schreibt, »ihrem Beruf leidenschaftlich und mit Klugheit ergeben ist […] weil sie diesem Beruf zuliebe ein bißchen zu lange damit gewartet hat, schwanger zu werden; so lange, bis das nicht mehr ging«.24 Ich überlasse es dem Urteil der LeserInnen, die in diesen Sätzen implizite Gender-Politik zu bewerten,

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weise allerdings auf die Affinität der in solchen Sätzen süffisant vorgetragenen Gedankenwelt mit derjenigen jener rechtsradikalen Postille hin, in der Hochhuth vor einigen Monaten die Ehrenrettung des Holocaust-Leugners David Irving versuchte – wofür er sich allerdings mittlerweile entschuldigt hat.

3. Schleef + Hochhuth Schleefs Inszenierung zeugt zunächst einmal vom Versuch, das spezifische Sprachbild25 des Autors erscheinen zu lassen. Schleef bleibt Hochhuths Text so weit wie nur irgend möglich treu, begreift ihn deshalb nicht als simple Anweisung zum Spiel mit verteilten Rollen, sondern vielmehr als eine in sich widersprüchliche Anordnung, die nur in Gestalt der Inszenierung ihrer inhärenten, immanenten Widersprüche adäquat auf eine Bühne übersetzt werden kann. Anders gesagt: Schleef setzt den Konflikt, die Widersprüchlichkeit in Szene, die sich aus der Wahl einer der Tragödie verpflichteten Dramaturgie für die Auseinandersetzung mit einer nicht im Schema der Tragödie begreifbaren prosaischen Wirklichkeit ergibt. Diese Grundidee seiner Inszenierung kann mit dem Begriff der Entstaltung der moralischen Anstalt bezeichnet werden, wobei hinzuzufügen ist, dass diese Entstaltung nicht erst das Werk der Inszenierung ist, sondern bereits in Hochhuths eigenem Text gleichsam mit ihm gegen ihn arbeitet. Wo Hochhuth im Theater Politik machen will, ohne dabei nach der Politik zu fragen, die solche Agitation gleichsam contre coeur betreibt, da interessiert Schleef der Widerstreit zwischen Hochhuths politischem Handeln und dessen politischen Forderungen. Sein Blick gilt den Mechanismen, durch die aus dem Protest gegen die Übernahme eines wirtschaftlich schwächeren durch ein wirtschaftlich überlegenes Land mit allen Folgen des Kolonialismus, der Entwürdigung, Ausgrenzung, Verachtung und Vernichtung selbst eine Form der Okkupation wird – zunächst die eines Theaters, seines Ensembles und eines Regisseurs, die die eigene Geschichte, die eigenen Haltungen und Überzeugungen zugunsten des Dienstes für die mit juristischen wie publizistischen Mitteln unterstützte Position des Autors aufgeben sollen.26 Korrespondierend zum Anfang stellt er in der gesamten Inszenierung die schillerschen Gesten des Hochhuth-Textes aus: So führt er in zwei Szenenfolgen die Opfer des Hochhuthschen Stückes vor. Dabei stellt er Abstand zu Hochhuths Logik des Opfers her, indem er die Opfer als solche bezeichnet erscheinen lässt, ihre Szenen mitunter auf die nicht fürs Sprechen gedachten Paratexte beschränkt, deren Vortrag die Aufmerksamkeit vom Opfer auf den Vorgang der Opferung

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lenkt. Die Figuren Hochhuths verlieren durch Streichungen ihre psychologisierende Ausmalung, erhalten Namen, die sie von ihrer Funktion her bezeichnen – als Bauern, Beschließerin, Schauspieler oder Ministerin. Ihre Künstlichkeit wird darüber hinaus durch die Auflösung des naturalistisch anmutenden Sprechens bei Hochhuth zugunsten einer durchkomponierten Sprechmelodie aufgelöst, die ein beständiges Bewusstsein des Sprechens aufrechterhält, den Sprechakt ausstellt. Finstere Gestalten Hochhuths bleiben dabei Sprechrollen einzelner Sprecher, die durchgängig grundguten Opfer dagegen erscheinen als Chöre. Auf den ersten Blick macht Schleef in seiner Inszenierung kaum anderes als in den vorangegangenen Frankfurter Arbeiten, in deren Verlauf er entwickelte, was er selbst als »Formenkanon«27 beschreibt: Zu ihm sind neben der Übertragung großer Sprechpartien auf Chöre zu zählen, der »Bühnengrundbau mit nur wenigen Veränderungen während der Vorstellung«,28 die spärlichen Grundkostüme,29 in diesem Fall Militärmäntel sowie später an klassizistische Kostüme erinnernde Umhänge, wenige Requisiten,30 darunter statt naturalistischer Mordwaffen anachronistisch wirkende Äxte, mit denen der Männerchor in einer Szene auftritt,31 der spärliche Einsatz von Lichteffekten, die wiederkehrende Nacktheit der Darsteller, der Irokesenschnitt der Männer, der Aufbau des Stücks als Abfolge einzelner, auch heraustrennbarer Nummern, das ohne weitergehende Begründung neben Textpassagen gesetzte Volks-, Agitprop- oder Kirchenlied, ein durchgängig nach vorn ausgerichtetes Spielen und Sprechen, das über die Rampe ins Publikum gerichtet ist. Doch der erste Blick täuscht: Schleefs Hinweis, dass Formmittel, »unterschiedlich gehandhabt, stets etwas anderes ergeben«,32 wird bei genauerem Hinsehen anschaulich. Der Formenkanon gleicht auf der Ebene der Inszenierung dem Chor auf der Ebene des Sprechens: Am chorischen Theater fällt hier wie in allen Arbeiten Schleefs auf, dass es in ihm eine Erfahrung der Singularität jenseits von Allgemeinem und Besonderem gibt, die gebunden ist an die Beobachtung der vorgeblich insignifikanten Unterschiede, die den einzelnen Sprecher im gemeinsam gesprochenen Chortext von der Masse unterscheiden – seine Mimik, seine Zuckungen, seine Körpersprache. Entsprechend lässt die Verarmung und Kanonisierung der Mittel, die Schleef zum Zeitpunkt der WESSIS-Arbeit nicht zuletzt auf seine Vorbilder »Brechttheater und Ausdruckstanz«33 bezieht, wie in Brechts »Modellinszenierungen«34 die je spezifische Eigenart von Text, Sprechern, Körpern und Orten, kurz das sich jeder Konzeption und jeder Inszenierungsidee widersetzende Material umso deutlicher erkennbar werden, den Rest, der nicht aufgeht im Plan, oder, allgemeiner gesprochen, im Kalkül der Souverä-

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ne. Man begreift, dass der Chor so wenig existiert wie die Nacktheit oder der Rhythmus. Statt lediglich Situationen im Stück lernt man auch die Situation zu beachten, die im Moment der Inszenierung gegeben ist, ihre je spezifische Besonderheit, ihren Ort und ihre Zeit – deren KoPräsenz zum Vorgestellten im Ereignis der Inszenierung.35 Im Falle der WESSIS-Inszenierung stellt dabei der von mir nacherzählte Vorspann eine szenisch entwickelte Form jener massiven und dabei gleichwohl unendlich differenzierten Kritik an Brecht und Schiller und nicht zuletzt an den von Brecht in den Stücken ab der MUTTER wieder adaptierten schillerschen Züge dar, die Schleef in DROGE FAUST PARSIFAL diskursiv ausführen wird. Bevor die Vorstellung beginnt, erzählen die Platzierung der Sprechenden in Bühne und Zuschauerraum, das Freilegen der die Freiheit der Gestaltung begrenzenden Brandmauer im Hintergrund und die Überschreitung der Rampe in der Ansprache ans Publikum oder in dessen demonstrativer Ignorierung im Moment des stummen im Kreis Laufens wie auch das die Codes des Raumes gänzlich verändernde Fußballspiel etwas über das Theater am Schiffbauerdamm. Es ist für Schleef der Ort, an dem durch den Erfolg der DREIGROSCHENOPER Brechts Theatervorstellung geprägt wurde. Sie bleibt der Raumkonzeption und dem Figurenaufbau des Stadttheaters verhaftet und leistet dadurch der Musealisierung sowie der Umwandlung der Brechtschen Arbeit zum exportierbaren Erfolgsmodell Vorschub.36 Brechts Bühne gleicht einem jener durch die Zentralperspektive des Leonardoschen Abendmahls geprägten »Rattenlöcher«,37 die das Geschehen so verfolgbar werden lassen wie das Intimleben von Tieren, die durch eine in die Erde gerammte Glasscheibe hindurch gefilmt werden. Unübersehbar hält Schleef gegen diese Theatervorstellung mit dem Fußballspiel der Knaben im Look der zwanziger Jahre jene andere Vorstellung vom Theater, die Brecht postulierte, als er das Vorbild des zu schaffenden Theaters seiner »Großen Pädagogik«38 im Fußballstadion oder Boxring zu finden glaubte, wo jeder Zuschauer bekanntlich bis heute Experte ist – und alles besser weiß. Paradigmatisch stellt Schleef mit der Todesszene aus KABALE UND LIEBE Grundzüge, Gesten der Schillerschen Logik aus: Das Frauenopfer im Dienste der Idee, die in der Opposition Adel/Bürgertum angelegte Verkürzung des Politischen auf die Ordnung von Freund und Feind oder die Militarisierung der Literatur in Figuren wie dem Offizier Ferdinand.39 Wenn Schleef die Todesszene Schillers im Massensterben der nackten, Heine singenden Männer an der Brandmauer enden lässt, so stellt er in diesem Moment ein vielfach überdeterminiertes Bild der deutschen

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Theatergeschichte her: Sie begründet sich und ihren Individualisierungsprozess, wie er im Essay ausführen wird, zur Zeit der deutschen Klassik mit der Besiegung der Frau – hier der von Ferdinand getöteten Luise – die, kaum tot, von einer selbst todgeweihten Gemeinschaft der Männer in romantisierend verkitschter Weise besungen wird.40 Dabei deutet Schleef an, dass die in dieser Gründungsgeste angelegte Politik der Helden, die als erstes ihre Frau und später sich opfern, nicht abgelöst werden kann vom modernen Verhältnis von Staat und Individuum. Er beschreibt es, wenn er die Nacktheit seiner Darsteller unterm Soldatenmantel41 erklärt: »Bei diesem Stück habe ich zum ersten Mal darauf gedrungen, daß die Darsteller unter der Uniform nichts anhaben. Wenn man diese Uniform auszieht, dann hat man bloß diesen Kadaver, den man dem Staat zur Verfügung stellt, und obendrauf gibt es dann das Parteiabzeichen oder die Uniform.«42 Was in dieser Schleefschen Formulierung einer Theorie der modernen Biopolitik, wie sie etwa von Foucault und Agamben geschrieben wurde,43 hinzugefügt wird, ist der Verweis auf die Rolle des Ästhetischen. Schleef scheint anzudeuten, was Benjamin in den vielzitierten Schlusssätzen von DAS KUNSTWERK IM ZEITALTER SEINER TECHNISCHEN REPRODUZIERBARKEIT auf die Formulierung brachte: »Die Menschheit, die einst bei Homer ein Schauobjekt für die olympischen Götter war, ist es nun für sich selbst geworden. Ihre Selbstentfremdung hat jenen Grad erreicht, der sie ihre eigene Vernichtung als ästhetischen Genuß ersten Ranges erleben läßt. So steht es um die Ästhetisierung der Politik, welche der Faschismus betreibt.«44 Schleefs DROGE FAUST PARSIFAL fügt hinzu, was die Inszenierung im BE anders vor Augen führt: dass die im Theater am Schiffbauerdamm begründete Bühne Brechts durch ihre Zentralperspektive »im Dienst der herrschenden politischen Anschauung«45 stand, einer Anschauung, deren in Aussicht gestellte Überwindung der kapitalistischen Staatssysteme »nicht gesellschaftliche Utopie, sondern ziviler Faschismus, eine Weiterführung des Zweiten Weltkriegs mit »friedlichen Mitteln« war: »Für die Kapitalisten definierte Brecht richtig, daß deren Frieden das vernichtet, was deren Krieg übrig gelassen hat. Daß seine Formulierung genauso für die Verhältnisse im 1. Arbeiter- und Bauernstaat auf deutschem Boden zutrifft, wagte er nicht zu begreifen.«46

4. ›Sprachbildung‹ – Schleefs Politik der Vorstellung Wenn in gewisser Hinsicht Schiller wie Brecht, wie auch noch Hochhuths Stück in Schleefs Inszenierung auf ihre Komplizenschaft mit den Faschismen des 20. Jahrhunderts hin untersucht und aufgrund von ihr

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mit Distanz betrachtet werden, so verfällt Schleef selbst dabei doch an keiner Stelle in den Gestus des moralischen Anklägers. Der auffallendste Zug seines Theaters wie seiner Theorie ist vielmehr, dass ihnen vor der Verfestigung zu These und (Feind-)Bild im entscheidenden Moment in jedem Fall etwas dazwischenkommt. Sein Theater wie seine Theorie vertragen sich weder mit einer vorab gefertigten Moral noch mit Thesentheater und vielleicht auch nicht mit dem, was man Theatertheorie nennt. Eine in DROGE FAUST PARSIFAL unter dem Stichwort Zerstörung I 47 gesammelte Folge kurzer Überlegungen, die, wie mehrere Hinweise nahe legen, im Zusammenhang der Arbeit an den WESSIS entstand, verrät etwas über die Haltung, bzw. den Ethos, der in solchem Theater und solcher Theorie am Werk ist, legen ihren schon erwähnten Fluchtpunkt in Schleefs sehr spezifischem Interesse an Sprache und speziell am sprechenden Körper offen. Ausgehend von der Erfahrung mit Menschen, die eine Fremdsprache sprechen, schreibt Schleef über deren »Fremdheit, die die Gesichter schärft, die Mundpartien, die Augen verändert, Kiefer und Hals. Die Sprache scheint sich in den Fremden viel heftiger auszudrücken, als umspanne ihre Körper eine samtweiche, dünne Haut, die voll von Schweiß, trocknendem Schweiß ist, als sei ›Wildleder‹ vorübergehend blind, sei nach dem Trocknen wieder weich und anschmiegsam. […] Das Sich-ausdrücken-Wollen arbeitet in dieser Haut, bringt sie in Bewegung. Vielleicht ist die von mir angenommene Haut eher eine Fruchtblase, in der sich der Mensch bewegt, atmet und strampelt, sein Ausdrucksvermögen trainiert.«48 Ausdruck erweist sich dieser Passage zufolge als untrennbar von einem zweiten, das gleichwohl selbst nur annäherungsweise auf den Begriff zu bringen ist. Ausdruck ist gebunden an eine Grenze des Ausdrucks, die ihn überhaupt erst zum Vorschein kommen lässt, die ihn zugleich aber auch am Hervortreten hindert, ihn im Moment seiner Verhinderung erscheinen lässt, als von einer Membran verborgenen, umspannten, in die er sich überträgt und zugleich verliert. Diese Haut, das buchstäbliche Medium zwischen dem Ausdruck und seinem Erscheinen, ermöglichend wie aufhaltend, kann ganz offensichtlich selbst nur in Annäherungen, durch die in ihr unzureichend beschriebene Grenze des Ausdrucks hindurch, von ihr neuerlich begrenzt, beschrieben werden: Ist sie eine Haut, so ist sie im nächsten Moment doch als Haut bereits »Wildleder«, die vom Körper abgelöste, gegerbte und bearbeitete Haut, das nicht länger und letztlich niemals natürliche Leder, ein vom Menschen bearbeitetes Tierisches am Menschlichen, durch das und in dem sich das Menschliche als Menschliches differie-

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rend, aber ohne Maß der Differenz artikuliert, manifestiert.49 Und wiederum erscheint diese künstliche, wenngleich von allem nicht-künstlichen unabtrennbare Haut ein paar Sätze weiter viel eher als »Fruchtblase«, als vorsprachliches, pränatales, mütterliches Erbteil, als ein aller Rede und allem Ausdruck, aller Sprache und jedem Sprechen entgegenlaufendes passives Vorbereiten des Sprechens, als dessen Training, als seine Potenz, als das am Sprechen und an der Sprache, was noch nicht und vielleicht niemals zur Sprache kommt, bloßes Vermögen, das noch nichts vermag, Passivität, niemals restlos beschreibbarer Träger oder Mittler.50 »Sicher«, fügt Schleef einige Sätze später hinzu, »man gewöhnt sich mit der Zeit, die Art der Sprachbildung fällt weniger auf, aber die Andersartigkeit bleibt. Sie ist es, die mich vom Anderen unterscheidet. Die Haut, die den Sprechenden umgibt, müßte man darstellen können.«51 Aus der Haut oder Fruchtblase, deren Beschreibung sich Schleef in der Beobachtung der Differenz einer fremden zur eigenen Sprache aufdrängte, ist in dieser neuerlichen Umschreibung die »Art der Sprachbildung« geworden. Die Art der Sprachbildung wahrzunehmen heißt, eine bleibende Andersartigkeit zu bemerken, eine Fremdartigkeit der Sprache, die sich nicht auf die Fremdsprache beschränkt. Sie ist das, was vom Anderen unterscheidet, gleichwohl scheint sie selbst nicht wirklich unterscheidbar, nicht trennbar von der Sprache, die in und mit ihr gebildet wird. Man »müsste« sie »darstellen können« schreibt Schleef. Man müsste, das heißt: Sie entzieht sich zumindest seiner Darstellung. Von solchem Entzug handelt auch der unmittelbar folgende Absatz, der von der Erfahrung der fremden Sprache zu einem Eindruck bei den Aufführungen von WESSIS IN WEIMAR überspringt: »Die Erregung«, so Schleef, »die mich bei den WESSIS IN WEIMAR-Aufführungen ergriff, weder bei der Proben- noch bei der eigentlichen Regiearbeit, war, daß ich hier neben nackten, sprechenden Darstellern stand.«52 Vermutlich lässt die Rede von der Erregung zunächst an die libidinöse Erregung denken. Doch diese naheliegende Vermutung geht zumindest zum Teil in die Irre, denn, der hier von seiner Erregung schreibt, weiß nicht, was ihn da eigentlich erregt: »In jeder Vorstellung versuchte ich mir darüber klar zu werden, worin der Unterschied zu bekleideten Darstellern bestand, warum z.B. der Chor nackter Darsteller soviel stimmiger klang, sowohl in der technischen Ausführung als auch in seiner inhaltlichen Aufladung. Meine Bewegungen isolierten mich, statt auf meine Einsätze, konzentrierte ich mich auf den Sprechvorgang nackter Menschen, deren Geruch ich wahrnahm, deren Rückenbewegungen ich verfolgte: Wie entsteht Sprache? Wie bilde ich Sprache ab? Wie verän-

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dert Sprache den Körper?«53 Was an dieser Beschreibung vor allem auffällt, ist das gänzliche Fehlen der Rede von dem, was die Sprechenden sagen. Es scheint, dass Schleef im beschriebenen Moment so sehr auf das Wie, die Art und Andersartigkeit der Sprachbildung und des Sprechvorgangs achtet, dass ihm darüber das Was entgleitet. Es taucht nur noch als »inhaltliche Aufladung« auf, ohne dass wir erfahren, mit welchen Inhalten hier etwas aufgeladen wird. Das Was, »der Sinn«, erscheint als Strom oder Kraftquelle, die unsichtbar das Sichtbare bewegt, doch nicht in der Art einer Intention oder eines Ursprungs, sondern als Aufladung, als zusätzliches. Das Wie aber, der »Sprechvorgang«, der aufgeladen wird und durch die Aufladung neuerlich in Gang gesetzt wird, spricht alle Sinne an, das Gehör, dem es um die Stimmigkeit zu tun scheint, die Nase, die Augen, das mimetische Vermögen. Unter der Bekleidung taucht, im Moment der Nacktheit, die Unmöglichkeit jenes Zugangs zum Anderen auf, den das Ablegen der Kleidung zu versprechen scheint. Statt der Sprachquelle zeigen sich die Bewegungen des Rückens, die Gerüche, die Körper, die durch etwas verändert werden, das Schleef mit Hilflosigkeit nicht aufhört »Sprache« zu nennen, das er gleichwohl, wie seine Beschreibungsvariationen wie auch die letzten Sätze dieses Absatzes nahelegen, immer verfehlt: »Unabhängig davon erlebte ich an vielen Abenden die Diskrepanz zwischen dem, was für mich als Regieziel anzuvisieren war, und dem, was aus meiner praktischen Arbeit herauskam, das Ergebnis war vernichtend.«54 Schleef schildert wenig später, dass er gerne »die Körper im Sprechen fotografiert«55 hätte, vergleicht dies mit seiner Angwohnheit, während der Studienzeit die Nachbarinnen in ihren Bewegungsabläufen aufzunehmen. »Über Jahre nahm ich ihre Bewegungsabläufe auf, jede Veränderung auf dem Stuhl, jede im Bett. Ich erweiterte meine Aufnahmen, beschrieb ihre Treppengänge, ihre Einkäufe, ihre Geschäfte, die sie aufsuchten. Obwohl mir damals nicht bewußt war, wie eng diese Bewegungsabläufe mit der Sprachbildung zusammenhängen, scheint das Problem schon damals für mich existiert zu haben.«56 Was Schleef an den Nachbarinnen interessiert zu haben scheint, ist erneut im wörtlichen Sinne die ihm unverständlich bleibende, ihn genau aus diesem Grund immer wieder neu als Problem beschäftigende »Sprachbildung«. Der Moment, in dem Sprache aus dem Körper, als Körperbewegung entsteht, ohne bereits da zu sein, ein Vor-sprachliches, das noch nicht einmal Vor-sprachliches genannt werden kann, weil nicht sicher ist, ob an seinem Ende Sprache erscheinen wird oder nicht. Angesichts des Fehlens der Sprache, ihres noch ausstehenden Erscheines, ihres Verzugs, wandert der Blick zu den Vorbereitungen des Sprechens, ihrer Ankunft,

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dem, worin sie sich ankündigt, zu Gesten, die in sich keine Bedeutung haben als den Verweis, und die als Verweis buchstäblich auf nichts verweisen. Was Schleef also festzuhalten versucht, scheint anders gesagt das Verweisen als Verweisen zu sein, Bildung, die nicht Ausbildung noch Formierung ist, nicht auf ein Ziel gerichtet, nicht Bild, sondern dessen Vorbereitung. Und es scheint, dass eben die Unmöglichkeit, diese Bildung festzuhalten, sein Vorhaben immer neu über jedes gefundene Resultat hinaustreibt, zu neuen Bildern, neuen Abdrücken, Spuren dessen, was sich, einmal im Bild fixiert, immer schon entzogen haben wird. Das Vorbild solcher Abbildung des Nicht-Abbildbaren in der Vervielfältigung seiner Verfehlungen scheint Muybridge zu sein, der Pionier der Bewegungsphotographie, über den Schleef schreibt: »Muybridge ›stottert‹ im Fotografieren, er segmentiert«.57

5. Ein anderes Theater Was die Theaterarbeit Schleefs mit der kommentierten Passage über das Sprechen aus DROGE FAUST PARSIFAL verbindet, ist ein unaufhörliches Interesse an der Art der Sprachbildung, den Umständen, unter denen gesprochen wird oder das Sprechen versiegt. Es führt Schleef dazu, an Orten und in Momenten politisch zu intervenieren, an, bzw. in denen es vermeintlich nur darum geht, die technischen Voraussetzungen dafür zur Verfügung zu stellen, dass das Eigentliche beginnen kann, zum Beispiel am Beginn der Inszenierung eines politischen Theaterstücks, noch bevor dessen erster Satz gesprochen wird. Es führt ihn nicht zuletzt zur Entstaltung der moralischen Anstalt, zu einem Theater, das den Anspruch dieser Anstalt und ihren Impetus nicht denunziert, das aber auch nicht die Augen verschließt vor den Kosten, den Ausschlussmechanismen aller Art, die mit der Einrichtung jeder Anstalt einhergehen und vor der Freund/Feind-Ordnung, die sich etabliert, wo die moralische Metapher das an Interessen orientierte politische Handeln ersetzt und verdrängt. Was Schleef durch seine Art des Umgangs mit jeder Institution, und letztlich mit der Sprache selbst in ihr eröffnet hat, könnte abstrakt als Raum der Möglichkeiten beschrieben werden, von Möglichkeiten, die über jede Realisierung hinausweisen. Mit der spätestens nach 1989 paradigmatisch gewordenen komischen Fundierung und Verabgründung des Gegenwartstheaters,58 auf die er in anderen Inszenierungen durch die Wiedereinführung des Stegreifspiels reagierte, verbindet seine Inszenierungspraxis, dass hier wie da mit und gegen die seit dem 18. Jahrhundert dominante Theaterpraxis der moralischen Anstalt und des zen-

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tralperspektivisch angeordneten Guckkastentheaters eine andere Theatertradition und letztlich ein anderes Theater eingefordert wird, ein in der Gegenwart stotterndes Theater der Sprachbildung, der immer noch kommenden Sprache, ein Theater der Potentialität.

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Die folgende Vorstellung einiger Ergebnisse meiner noch nicht abgeschlossenen Auseinandersetzung mit Schleefs Wessis in Weimar-Inszenierung wurde zunächst vorgetragen im Rahmen der Veranstaltung »Politik der Vorstellung« in Bochum. Für Informationen und die Hilfe bei der Suche nach Dokumentationsmaterial zur Inszenierung danke ich der »Theaterdokumentation« und dem »Einar Schleef-Archiv« der Akademie der Künste in Berlin, namentlich Susan Todd, der dctp, außerdem Ulrike Haß, Günther Heeg und Christina Schmidt. Vgl. zu dieser Entgegensetzung Müller-Schöll, Nikolaus: »Theatre of Potentiality. Communicability and the Political in Contemporary Performance Practice«, in: Theatre Research International, vol. 29, Nr. 1, S. 42 – 56. Hochhuth, Rolf: Wessis in Weimar. Szenen aus einem besetzten Land, Berlin, 3. Aufl., 1993. Vgl. zum Streit um das Stück und zur journalistischen Kritik der Aufführung: Jenny, Urs: »›So läppisch wie rätselhaft‹«, in: Der Spiegel, 15. Februar 1993, S. 220 – 222. Höbel, Wolfgang: »Treuhandland ist abgebrannt. Statt einer Ur- eine grandiose Unaufführung von Hochhuths ›Wessis in Weimar‹«, in: Süddeutsche Zeitung, 12. Februar 1993. Michaelis, Rolf: »Oratorium vom Bruderkrieg«, in: Die Zeit, 19. Februar 1993. Rühle, Günther: »Krieg in Deutschland. Die Uraufführung am Berliner Ensemble: Hochhuth/Schleefs ›Wessis in Weimar‹, in: Der Tagesspiegel, 12. Februar 1993. Stadelmaier, Gerhard: »Ein Volk, ein Reich, zwei Rührer. Das ideale Paar: Schleef und Hochhuth – ›Wessis in Weimar‹ kongenial uraufgeführt«, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 12. Februar 1993. Wiegenstein, Roland H.: »Das Stück, der Stunk und die Trostlosigkeit. Berserker trifft Buchhalter: Einar Schleef inszeniert Rolf Hochhuths ›Wessis in Weimar‹, in: Frankfurter Rundschau, 12. Februar 1993. Wille, Franz: »Kriegstagebuch. Einar Schleefs ›Wessis in Weimar‹ im Berliner Ensemble«, in: Theater Heute 3 (1993), S. 1f. Vgl. zu dieser Formulierung Benjamin, Walter: »Was ist das epische Theater?« (1), in: ders.: Gesammelte Schriften, Frankfurt/M. 1980, Bd. II, 2, S. 59 – 531, hier insb. S. 529. Schleef, Einar: Droge Faust Parsifal, Frankfurt/M. 1997. Ebd, S. 364. Vgl. Goethe, Johann Wolfgang: Faust. Zweiter Teil, in: ders.: Werke, Bd. 3, hrsg. v. Erich Trunz, München, 12. Auflage, 1982, S. 146 – 364, hier S. 205. Vgl. zu den barocken Zügen Goethes Benjamin: »Was ist das epische Theater?«, S. 523. Vgl. hierzu wie zu den Streichungen und Kompilationen des verwendeten Textmaterials die in der Berliner Akademie der Künste einsehbare Transkription der in Schleefs Inszenierung verwendeten Texte. Vgl. Schiller, Friedrich: Kabale und Liebe. Ein bürgerliches Trauerspiel, Stuttgart 2001, S. 112 – 119. Auf die Streichungen in der Strichfassung Schleefs kann ich hier nicht weiter eingehen. Vgl. dazu ebenfalls die bereits erwähnte Transkription. (Anmerkung 9) Vgl. Schleef, Einar u. Kluge, Alexander: »›Veränderung ist das Salz des Vergnügens‹. Einar Schleef inszeniert Wessis in Weimar im Berliner Ensemble«, in: Schulte, Christian u. Reinald Gußmann (Hrsg.): Alexander Kluge: Facts + Fakes. Einar Schleef – der Feuerkopf spricht, Fernseh-Nachschriften 5, Berlin 2003, S. 32 – 36, hier S. 32. (Transkription der Sendung »News & Stories« vom 7. Juni 1993.) Szondi, Peter: »Das Naive ist das Sentimentalische. Zur Begriffsdialektik in Schillers Abhandlung«, in: ders.: Schriften II, S. 59 – 105; S. 69. Szondi nennt dabei als Beispiele der abgeschnittenen Tendenzen neben Herders Entwurf einer historischen Dramentheorie Lenzens Hofmeister, »dessen diskordante Stimme erst mehr als ein halbes Jahrhundert später in Büchners Woyzeck (1837) ein Echo findet.« Vgl. dazu Walter Benjamins Notiz über die Begegnung mit Bertolt Brecht vom 3. Juni 1931 in: Benjamin: Gesammelte Schriften VI, Frankfurt/M. 1985, S. 430 – 432, hier 431. Auf die verstreuten Spuren des so benannten Plans in den Arbeiten Brechts wie Benjamins wird an anderer Stelle ausführlicher zurückzukommen sein. Vgl. etwa die »Szene« mit dem Titel »Die Apfelbäume«, in: Hochhuth: Wessis, S. 33 – 49. Vgl. Schleef/Kluge: Veränderung, S. 32f. Vgl. Hochhuth: Wessis, S. 13.

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18 Ebd. 19 Vgl. dazu kritisch Benjamin, Walter: »Ursprung des deutschen Trauerspiels«, in: ders.:

Gesammelte Schriften I, Frankfurt/M. 1980, S. 203 – 430, hier S. 299 – 302.

20 Vgl. Hölderlin, Friedrich: »An Casimir Ulrich Böhlendorff«, in: ders.: Werke und 21

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Briefe, hrsg. von Friedrich Beißner und Jochen Schmidt, Bd. 2, Frankfurt/M. 1969, S. 940 – 942. Vgl. Nancy, Jean-Luc: »Theatereignis«, in: Müller-Schöll, Nikolaus: Ereignis. Eine fundamentale Kategorie der Zeiterfahrung. Anspruch und Aporien, Bielefeld 2003, S. 323 – 330. Hochhuth: Wessis, S. 14. Ebd., S. 13. Ebd., S. 15. Vgl. zu diesem Begriff ebd., S. 92. Vgl. dazu auch die entsprechenden Passagen in Schleef: Droge, S. 383, 410 u. 441f. Schleefs Ausstellung der Verstrickung des Anklägers in die Mechanismen, die er anzuklagen beabsichtigte, gleicht jener, die Adorno versucht, als er, selbst nicht frei von den beschriebenen Gefahren, unter dem Titel »Schwabenstreiche« Schillers Programm mit den Worten beschreibt: »In den unendlichen und unerbittlichen Forderungen spielt der Kleinbürger sich auf, der mit der Macht sich identifiziert, die er nicht hat, und durch Arroganz sie überbietet bis in den absoluten Geist und das absolute Grauen hinein. […] Die Welt in Worten aus einem Prinzip ableiten wollen, ist die Verhaltensweise dessen, der die Macht usurpieren möchte, anstatt ihr zu widersprechen. Usurpatoren haben denn auch Schiller am meisten beschäftigt.« Vgl. Adorno, Theodor W.: »Schwabenstreiche«, in: ders.: Minima Moralia, Frankfurt/M., 20. Aufl., 1991, S. 110f. Vgl. Schleef: Droge, S. 465 – 476, insb. 470 – 472. Ebd. S. 470. Ebd. S. 471. Ebd. Vgl. ebd. Vgl. ebd. S. 472. Vgl. dazu Baer-Bogenschütz, Dorothee: »Aufmarschtheater für einen Regisseur«, in: Frankfurter Rundschau, 19. Mai 1993. Modifiziert taucht diese Definition der eigenen Theaterarbeit auch auf in Schleef: Droge, S. 468ff. Vgl. Brecht, Bertolt: »Vorwort zum Antigonemodell 1948«, in: ders.: Gesammelte Werke 17, Frankfurt/M. 1967, S. 1211 – 1220; »Anmerkungen zur Aufführung 1949«, ebd. S. 1134 – 1138 (zu »Mutter Courage und ihre Kinder«). Vgl. zum Prinzip des »Modells« bei Brecht: Müller-Schöll, Nikolaus: »Das Modell des Modells«, in: ders.: Das Theater des ›konstruktiven Defaitismus‹. Lektüren zur Theorie eines Theaters der A-Identität bei Walter Benjamin, Bertolt Brecht und Heiner Müller, Frankfurt/M. u. Basel 2002, S. 307 – 324. Vgl. zu dieser Thematik: Müller-Schöll, Nikolaus: »Theater of potentiality«, außerdem ders.: »Im Zeichen der Teilung. Wanda Golonkas An Antigone und Lars von Triers Dogville«, in: Kruschkova, Krassimira (Hrsg.): Ob?scene. Zur Präsenz der Absenz im zeitgenössischen Tanz, Theater und Film, Wien, Köln, Weimar 2005, S. 143 – 161. Vgl. Schleef: Droge, insb. S. 182 – 186. Ebd., S. 74. Vgl. zur politischen Dimension der Zentralperspektive auch ebd. S. 268f. und S. 272. Eine systematische Auseinandersetzung mit den Ursprüngen der Zentralperspektive in ihrem Zusammenhang mit der Entwicklung der neuzeitlichen Bühnenform findet sich bei Haß, Ulrike: Das Drama des Sehens, München 2005. Im Licht dieser Studie erscheint die bei Schleef zunächst eher unvermittelt wirkende politische Lektüre der Frage der Perspektive als geradezu zwingend. Vgl. zu Brechts Überlegungen über die Frage eines Theaters, das im Zuge einer sogenannten »Großen Pädagogik« das »system spieler und zuschauer« aufhebt die verstreuten Äußerungen zur Spielweise der »Lehrstücke«, die nach wie vor am kompaktesten und mit der größten Sorgfalt präsentiert werden in: Steinweg, Reiner: Brechts Modell der Lehrstücke. Zeugnisse, Diskussion, Erfahrungen, Frankfurt 1976, hier insb. S. 51, 54, 59, 70f. Brechts Interesse an Fußball und Boxen, in diesem Zusammenhang nicht explizit erwähnt, kann in ihn gestellt werden, weil der Sportplatz einer der Orte war, an denen das System von Spielern und Zuschauern bereits zu Brechts Lebzeiten anderen Gesetzen folgte als im Theater. Vgl. zu Schleefs Lesart von Kabale und Liebe ebd. S. 393. Vgl. ebd. S. 7 – 22. Die Soldatenmäntel der Darsteller greifen in Schleefs Inszenierung nicht zuletzt eine Beobachtung auf, die er in Droge Faust Parsifal festhält: Daß die Deutsche Klassik ihrem »Zurück zur Natur« zum trotz den »aktiven Offizier« zum »Helden des Sprechtheaters« mache. (Vgl. Schleef: Droge, S. 382, vgl. auch ebd., S. 441)

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42 Schleef u. Kluge: Veränderung, S. 34. 43 Vgl. Agamben, Giorgio: Homo sacer. Die souveräne Macht und das nackte Leben. Aus

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dem Italienischen übersetzt von Hubert Thüring. Frankfurt/M. 2002; Foucault, Michel: Der Wille zum Wissen. Sexualität und Wahrheit I, Frankfurt/M., 2. Aufl, 1988, insb. S. 161 – 190. Ders.: »Il faut défendre la société«, Cours au Collège de France. 1976, Paris 1997. Benjamin, Walter: »Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit«, in: ders.: Gesammelte Schriften VII, 1, S. 350 – 384, hier S. 384. Angesichts der jüngsten Renaissance der Valorisierung des »Ästhetischen« – etwa bei Jacques Rancière oder in den verschiedenen Sammelbänden zum ästhetischen Denken oder zur sogenannten »ästhetischen Erfahrung« – erscheint es nicht überflüssig in diesem Zusammenhang auf die mit Schleefs szenischer Auseinandersetzung vergleichbare theoretische Auseinandersetzung mit dem Ästhetischen als einer Ideologie bei Paul de Man sowie bei Nancy, Jean-Luc und Lacoue-Labarthe, Philippe hinzuweisen: Vgl. de Man, Paul: Aesthetic Ideology, Minneapolis, London 1996; ders.: »Ästhetische Formalisierung. Kleists Über das Marionettentheater«, in: ders.: Allegorien des Lesens, Frankfurt/M. 1988, S. 205 – 233; Philippe Lacoue-Labarthe u. Jean-Luc Nancy: »Der NaziMythos«, in: Weber, Elisabeth, Tholen, Georg Christoph (Hrsg.): Das Vergessene, Wien 1997, S. 158 – 190. Schleef: Droge, S. 78. Ebd. Ebd., S. 363 – 366. Ebd. S. 364. Vgl. zum Thema und Motiv der Sprach-Haut bei Schleef: Haß, Ulrike: »Entortung und Sprache. Vom Sprechen, das der Chor ist. Eine kleine Theorie der Stimme.« (Noch unpublizierter Vortrag im Rahmen der Schleef-Tagung vom 25. – 28.11.2004 im Mülheimer Ringlokschuppen.) Das Menschliche, wie es hier auftaucht, ist nicht länger im Sinne des Humanismus zu begreifen, dem es eher als in-human erscheinen müßte. Es wäre in Beziehung zu setzen zu Schleefs radikaler Kritik des Humanismus in Droge Faust Parsifal, wo man als Kommentar der Behauptung, Faust und Margarethe seien »höchste Ausformungen des Humanismus« liest: »Sicher! Margarethe bringt ihre ganze Familie um, Fausts Vater experimentiert mit Menschen, sein Sohn errichtet einen Sklavenstaat. Das ist Humanismus.« (Schleef: Droge, S. 304). Die Frage des Trägers oder Mittlers der Sprache steht im Zentrum einer ganzen Reihe theoretischer Arbeiten, die sich in Auseinandersetzung mit Martin Heideggers Nachdenken über die Sprache entwickelt haben – etwa. Die Nähe, die sich zwischen Überlegungen Schleefs zur »Sprachbildung« und dem Denken der différance bei Jacques Derridas, des A-fformativ bei Werner Hamacher oder der Passivität bei Giorgio Agamben entdecken läßt, entspringt, wie mir scheint, einem gemeinsamen Fragehorizont. Dies wird an anderer Stelle weiterzuverfolgen sein. Schleef: Droge, S. 364. Ebd. Ebd. Ebd. Ebd., S. 366. Ebd. Ebd., S. 366. Vgl. Müller-Schöll, Nikolaus: »Theater der Potentialität. Zum Enden der Geschichte im Theater der neunziger Jahre«, in: Fiebach, Joachim: Theater der Welt 1999 in Berlin, Berlin 1999, S. 69 – 74.

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KUNST, THEATER UND KONTEXT HEUTE

Kunst stellt gewisse grundsätzliche Fragen: Öffnet sich Ihr Leben gerade oder verschließt es sich? Sind Sie wach? Tun Sie mehr, als nur zu überleben? Oder verweigert sich Ihnen die Welt? Im Theater geht es immer darum, welche Bedeutung es hat, gerade jetzt zu leben, gerade jetzt zu diesem bestimmten Moment im Theater zu sein. Unabhängig davon, in welchem Jahrhundert das Stück entstanden ist, es betrifft immer die gegenwärtige Welt – eine Lupe, durch die wir unsere eigene Zeit, unser Leben, unsere Probleme und unsere Annahmen betrachten. Die Bedeutung von HAMLET ist diejenige, die HAMLET heute hat. Die Themen, die in HAMLET verhandelt werden, spiegeln die Rahmenbedingungen und die Landschaft der gegenwärtigen Situation. Im Theater geht es letztlich auch immer um Gemeinschaft. Das Bewegende einer geteilten Erfahrung schweißt das Publikum tatsächlich zu einer Art Gesellschaft zusammen. Sie befinden sich in der Gegenwart zahlreicher anderer Menschen. Halten Sie das aus? Wir, das Publikum, sind eine Gemeinschaft von Personen, die miteinander umgehen, die einander herausfordern. Das Theater dreht sich um soziale Zusammenhänge und darum, wie Individuen als Gemeinschaft funktionieren. Kann man diesen Planeten teilen oder gehört er nur mir? Kunst erfindet Zeit und Raum nochmals neu. Ihr Erfolg kann daran gemessen werden, in welchem Maß das Publikum nicht nur Zugang zu dieser Welt erhält, sondern sich so weit involvieren lässt, dass es etwas Neues über sich erfährt. Während den schlimmsten Stunden des Jugoslawien-Kriegs wurde in der kriegszerrütteten Stadt Sarajewo eine bosnische Produktion des amerikanischen Musicals HAIR zu einem Publikumsrenner. Jede Nacht kämpften sich Zuschauer durch die gefährlichen, ausgebombten Straßen, um in ein beschädigtes Theater zu gelangen und sich dort die jugoslawische Fassung einer Hymne von einem Stück aus den 1960er Jahren anzusehen. Ein Journalist der New York Times reiste nach Sarajevo, um über diese Produktion und ihre außergewöhnliche Wirkung auf das Publikum zu berichten. Er beschrieb die greifbare Notwendigkeit eines solchen Musicals innerhalb des kriegsgeschüttelten Landes. Ein besonderer Höhepunkt der Show war das Lied LET THE SUN SHINE IN. Die

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Leute sangen mit, die Emotionen schlugen hoch, und offensichtlich waren alle von der Botschaft begeistert. In einer Umgebung des täglichen Kampfes bedeutete den Zuschauern dieses Lied immens viel. Am Ende des Artikels bemerkte jener Journalist, dass ein Broadwayproduzent die Aufführung gesehen hat und darüber nachdenkt, sie unverändert nach New York an ein Musicaltheater zu holen. Als ich das las, war ich sehr erstaunt über den Mangel an Vorstellungskraft seitens des amerikanischen Produzenten. Er hatte nichts von der Situation begriffen. Man stelle sich vor, in den späten 1990er Jahren, vor dem Anschlag auf das Word Trade Center, im Zuschauerraum eines Musicaltheaters in New York City zu sitzen. Die Aufführung hätte nicht im Geringsten die Bedeutung, die sie für die Zuschauer in Sarajevo zu jenem historischen Zeitpunkt hatte. Die fiktionale Welt eines bestimmten Stücks ist normalerweise von dem Kontext, in dem das Stück aufgeführt wird, sehr verschieden. Jedes Mal, wenn man an einer neuen Produktion arbeitet, versucht man, sich möglichst genau vorzustellen, welches die fiktionalen Rahmenbedingungen sein könnten, damit sich das Stück am besten entfalten kann. Genau dieser fiktionale Kontext wird schließlich auf den aktuellen Kontext treffen, in dem die Aufführung tatsächlich stattfindet. Eine Buchseite auf die Bühne zu übertragen bedeutet, die Logik von Ideen und Worten in die Logik von Zeit und Raum zu übersetzen. Sich diese fiktionale Welt oder den Kontext des Stücks vorzustellen und ihn dann umzusetzen, ist wichtig für alle am Prozess Beteiligten: Bühnenund Kostümbildner, Produzenten, Schauspieler oder die Öffentlichkeitsarbeit. In welchem Rahmen fängt das Stück an zu leben? Der Kontext eines gänzlich neuen Stücks ist die Welt, in die es hineingeboren wird. Mit neuen Stücken verhält es sich relativ einfach: Man muss nur dafür sorgen, dass sie deutlich vernommen werden, dann braucht man auch keinen Kontext innerhalb eines Kontextes zu schaffen. Klassische Stücke hingegen kommen mit dem Gepäck ihrer eigenen Geschichte daher, und es entsteht ein innerer Kontext, der mitverhandelt werden muss. Wenn man sich einem klassischen Stück nähert, stellen sich zwei zentrale Fragen: »Welche Wirkung hatte die aller erste Aufführung?« und »Für wen ist es heute notwendig, das Stück aufzuführen?« Die aller erste New Yorker Aufführung von HAIR zum Beispiel kanalisierte die revolutionäre Energie der aufkommenden sexuellen Befreiungs- und Friedensbewegung der 1960er Jahre. Bei HAIR in Sarajevo, 25 Jahre später, sorgten die Rahmenbedingungen des kriegszerrütteten Landes dafür, dass sich jene Energie und Lebendigkeit herstellte, die auf wundersame Weise die erste amerikanische Fassung spiegelte. Die Frage, für

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wen die Aufführung notwendig ist, ist im Falle der Produktion in Sarajevo mit den Bosniern und Bosnierinnen leicht zu beantworten. Jegliche fiktionale Unterfütterung, um die ursprüngliche Energie des Stückes freizusetzen, wäre überflüssig gewesen. Wenn ich mich einem klassischen Stück nähere, stelle ich mir diese beiden Fragen. Ich schaue mir die Rahmenbedingungen der aller ersten Produktion an. Sie sind wie Schlüssel bei der Suche nach einem entsprechenden aktuellen Kontext, in dem das Stück spielen könnte. Zum Beispiel habe ich 1984 SOUTH PACIFIC von Rogers und Hammerstein inszeniert. Die ursprüngliche Fassung von SOUTH PACIFIC erschien 1949, als sich die Vereinigten Staaten noch nicht von der Erfahrung des Zweiten Weltkrieges erholt hatten. Die Rahmenbedingungen des Musicals, die Themen und Situationen, waren dem damaligen Publikum sehr vertraut. Entsprechend enthusiastisch haben sie auf das Stück reagiert – teils aufgrund der hervorragenden Musik und des ebenso hervorragenden Buches, aber auch, weil das Stück die Unsicherheiten und Hoffnungen dieser Zeit ansprach. Wie nun also diese ursprüngliche Energie der ersten Produktion von SOUTH PACIFIC kanalisieren? Was besagt dieses Musical in einem jeweils aktuellen Moment und was würde es bedeuten, es jetzt zu spielen? Hat man einmal diese ursprüngliche Kraft erkannt, die in der Uraufführung des Musicals freigesetzt worden war, dann stellt sich die Frage, wie man möglichst direkt zu dieser Energie gelangt. Im selben Jahr, 1984, schickten die USA Truppen nach Beirut und Granada. Es folgte eine internationale Krise. Was würde geschehen, fragten wir uns, wenn wir unsere Produktion von SOUTH PACIFIC als Abschlussfeier in einem Krankenhaus für junge kriegsverwundete Männer und Frauen inszenieren würden? Was wäre, wenn dieses Krankenhaus den Männern und Frauen, die in Beirut und Granada Traumatisches erlebt haben, helfen könnte, sich in die amerikanische Gesellschaft zu reintegrieren? Und wie wäre es, wenn sie anlässlich des Abschieds von der Klinik das Musical SOUTH PACIFIC aufführen würden? Die Rollen könnten entsprechend der traumatischen Erfahrungen jedes Einzelnen aufgeteilt werden. Ein junger Mann, der seinen besten Freund im Schützengraben verloren hat, könnte AIN’T NOTHING LIKE A DAME singen, da es in erster Linie ein Lied über Männerfreundschaft ist. Es auf der Bühne zu singen, hätte einen therapeutischen Sinn. Die Schauspieler würden jeweils einen »Auftraggeber« spielen, der oder die dann von der fiktionalen Klinik dazu bestimmt werden würde, eine oder mehrere Figuren des Musicals SOUTH PACIFIC als Teil der Abschlussfeier zu spielen. Die Resonanz auf unsere Produktion war erstaunlich. Es

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hat funktioniert. Das Stück hat ein zeitgenössisches Publikum angesprochen und ich hatte den Eindruck, dass es auch dem Geist von Rogers’ und Hammersteins Meisterstück entsprach. An der Musik, der Geschichte oder den Figuren haben wir nichts verändert – nur den fiktionalen Kontext, in dem sich die Geschichte entfaltet. Es ist uns vermutlich gelungen, etwas von der ursprünglichen Energie der aller ersten Aufführung zu bewahren. Wir haben die erste Fassung gerade nicht imitiert, sondern, durch die sorgfältige Analyse der Rahmenbedingungen, etwas Wahrhaftiges gefunden. Ich hatte beschlossen Maxim Gorkis NACHTASYL zu inszenieren, da ich die ganze Art des Stücks liebte und mich sein Entstehungszusammenhang interessierte. Mitten in einem brutalen Winter des vorrevolutionären Russland, in einer von Armut und Problemen gezeichneten Umgebung, vermögen die Charaktere Liebe nur durch Gewalt auszudrücken. Diese Leidenschaften und die Geschichte haben mich gefesselt und ich wollte mit dem Stück eine Weile leben und diese Reise mit dem Publikum teilen. Die Schwierigkeiten, die sich dabei ergaben, waren sehr spezieller Natur. Ich hatte bei dieser Regie die Gelegenheit, mit Schauspielstudenten und -studentinnen der New York University zusammen zu arbeiten. Wie sollten diese jungen Studenten das Brutale aber auch das Schöne dieses Stücks und die Kraft der Situationen erfassen können? Ist es überhaupt möglich, dass diese etwas verzärtelten jungen Leute zur notwendigen Reife und expressiven Grausamkeit finden würden? Im New Yorker East Village verbreitete sich damals eine ziemlich brutale Skinhead-Punk-Szene, mit allem, was dazu gehört: Hardcore Rock Clubs, Slam Dance, Piercing und Trinken bis in den Morgen. Auch hier wurde, meiner Meinung nach, Liebe durch Gewalt ausgedrückt. Was wäre wenn, so fragte ich mich, eine Gruppe von Skinheads ein Exemplar von Maxim Gorkis NACHTASYL finden und davon ergriffen sein würde? Was wäre, wenn sie beschließen würden, die Szenen draußen, auf einem verlassenen Basketballplatz im East Village während der Wintermonate nachzuspielen? Was, wenn jeder Skinhead seine Lieblingsfigur bestimmen würde und sie sich jeweils solche Kostüme anziehen würden, die ihren Vorstellungen von einem vorrevolutionären Russland/East Village-Look entsprechen? Und was, wenn sich beim Nachspielen der Szenen ein paar Momente von Anmut entdecken ließen? Ein Stück ist ein poetisches und assoziatives Erzeugnis und ein Nachdenken über Probleme, die im realen Leben unlösbar scheinen. Ein Stück kann diese unlösbaren Themen auf eine andere Ebene bringen, wo das Publikum beginnt, sie objektiv zu betrachten und auf je persönliche Weise mit ihnen umzugehen. Mit Hilfe von Erfahrung kann

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für diese persönliche Quelle des Unbehagens ein Raum geschaffen werden, in dem sie eine geistige und metaphysische Bedeutung erhält. Solche experimentellen sozialen Anordnungen können ein Anfang sein, um die größeren Fragen über die Verfasstheit unserer Gesellschaft zu stellen. Da diese Themen zwar persönlich sind, dem täglichen Leben entnommen, aber in ihrer Erscheinungsweise neu und revolutionär, hört man dem Stück gespannt zu. Man lauscht. Man widmet dem Stück seine gesamte Aufmerksamkeit. Das Stück öffnet einen weiten Raum, in dem sich diese Themen spiegeln. Aber dieser neue, komplexe und offene Raum fordert von uns Geduld und Phantasie. Wir neigen dazu, einen Text von unserer eigenen Denkweise her in Angriff zu nehmen, und möglichst sofort zu entscheiden, was er aus unserer Warte bedeutet. Wir überstürzen uns, wenn es darum geht, sich auf bestimmte Bedeutungen festzulegen, sie zu teilen oder abzulehnen, so dass wir überhaupt nicht wahrnehmen, was die Sätze selbst besagen könnten. Wir urteilen und interpretieren völlig übereilt. Verlangsamung dient dazu, Platz zu schaffen, einen Raum zu öffnen, in dem man wie jemand anderes denken kann, zum Beispiel wie der Autor. Zunächst wird man vermutlich auf seine eigenen Gewohnheiten und Annahmen zurückgeworfen. Aber mit Geduld entwickelt man die Fähigkeit, sich auf die Präsenz der Worte auf einer Buchseite einzulassen und den Worten zu erlauben, schlicht und einfach da zu sein, bevor man über ihre Bedeutung entscheidet. In unserer Konsumkultur sind die Augen darauf trainiert, Begierde zu wecken. Wir wollen Dinge, die wir sehen. Mit glänzenden Augen hetzen wir zu Resultaten und Eigentum. Begierde, Ungeduld, Angst und Unsicherheit lassen uns vorschnelle Schlüsse ziehen. Ist es überhaupt möglich, ohne Begierde zu schauen? Wenn man vor einem Gemälde steht, merkt man die Schwierigkeit, das Gemälde einfach nur anzuschauen, ohne der Versuchung zu erliegen, gleich seine Bedeutung festzulegen. Kultivieren Sie eine Sehweise, die frei von Begierde ist, die ohne vorgefasste Ideen und Begriffe auskommt. Üben Sie täglich. Lassen Sie die Dinge sein und lassen Sie sie sprechen. Die Südamerikanische Schriftstellerin Antjie Krog erzählte mir von ihrer Begegnung mit einem nomadischen Dichter, der im Senegal in der Wüste lebt und die Rolle der Dichter in seiner Kultur beschrieb. Er erklärte, die Aufgabe des Dichters sei es, sich an die Wasserstellen zu erinnern. Das Überleben der gesamten Gruppe hängt von den wenigen Wasserlöchern ab, die über die Wüste verstreut sind. Wenn seine Gruppe vergisst, wo das Wasser ist, kann er sie dort hinführen. Diese Metapher beschreibt hervorragend die Rolle des Künstlers in jeder Gesell-

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schaft. Das Wasser ist die Geschichte, das Gedächtnis, die Gerechtigkeit und das Lebenselixier der geteilten Erfahrung. Ich behalte diese Wendung im Kopf, wenn ich nun die Rolle des Künstlers in unserer gegenwärtigen Situation untersuche. Am Morgen nach dem 11. September erwachten die Leute in den Vereinigten Staaten in einer tiefen und greifbaren Stille. Dieses Gefühl lässt sich am besten mit Betroffenheit beschreiben. Betroffenheit bedeutet so viel wie Schock, Verwirrung, Ratlosigkeit oder Wucht. Betroffenheit ist für mich der Schock des Getroffenseins, wenn man angesichts eines bestimmten Ereignisses abrupt innehält. Don Saliers, Theologieprofessor an der Emory University, vergleicht die Stille, die auf ein gewaltsames Ereignis folgt, mit der Sprachlosigkeit, die von einer mächtigen ästhetischen Erfahrung her rührt. Er beschreibt, wie der Schock des Ereignisses einen Raum und eine Zeit schafft, in dem die Sprache versagt. Das einzige, was uns bleibt, ist die Grenze der Sprache und ihrer Ausdrucksfähigkeit zu erkennen – die Lücke, in der Definitionen verschwinden und Gewissheiten sich auflösen. Alles ist möglich – jede Antwort, jede Tätigkeit oder Untätigkeit –, nichts ist vorgeschrieben. Nichts ist sicher. Alles ist zu haben. In der Zeit nach dem 11. September hat der Patriotismus rasch diese Lücke der fruchtbaren und greifbaren Stille geschlossen. Er ersetzte Desorientierung und Betroffenheit durch Sicherheit. Führt man Sicherheit ins Extrem, mündet sie immer in Gewalt. Wie sich nun herausstellt, hat diese hergestellte Sicherheit tatsächlich zu Gewalt und zu noch mehr Gewalt geführt. Die einzige Existenzberechtigung dieser Sicherheit ist eine sich selbst perpetuierende Aggression. Der Kampf ist weltweit, hässlich und kaum aufzuhalten. U.S.-Bürgern und Bürgerinnen wurde gesagt, dass jede Kritik am Krieg gegen den Terror unpatriotisch sei. Das Konzept einer offenen Gesellschaft beruht allerdings auf der Anerkennung der Tatsache, dass niemand im Besitz der ultimativen Wahrheit ist. Wenn man mit komplexen Dingen in Berührung kommt, schwindet jede Gewissheit. Wenn wir es nicht schaffen zuzugeben, dass wir auch falsch liegen könnten, bleibt uns nur noch, jede Handlung auf dieser Welt zu untergraben. Die Aufgabe des Künstlers ist es, in diesem Zwischenraum, zwischen den Überzeugungen und Sicherheiten, zu überleben und wach zu bleiben. Die Wahrheit in der Kunst existiert nicht als etwas. Es handelt sich vielmehr um eine Spannung, die entsteht, wenn man mit einander entgegengesetzten Realitäten jongliert. Man versucht Formen für die aktuellen Ambivalenzen und Unsicherheiten zu finden. Man sollte versuchen, so klarsichtig und genau wie möglich zu sein, wenn man Gewiss-

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heiten widersteht und aus einer Position der Instabilität und Unsicherheit heraus handelt, die sich dann ergibt, wenn man sich seinem Umfeld direkt aussetzt. Bedeutsame Ereignisse sind wie ein Vergrößerungsglas, das sich zwischen das Umfeld und die eigene Wahrnehmung schiebt. Generationen sehen die Welt immer nur durch das jeweils vorherrschende Glas. So hat die Große Depression dauerhaft die Sicht vieler Amerikaner auf ihr Leben und ihre Zukunft verändert. Die McCarthy-Ära brachte eine heimtückische Paranoia hervor und stellte linke politische Überzeugungen unter Generalverdacht. Auch der 11. September hat die Sichtweisen vieler Menschen geändert, indem das Gefühl, von der Welt isoliert zu sein, durch eine akute Druckempfindlichkeit gegenüber dem Weltgeschehen ersetzt wurde. Wenn, wie Buddhisten behaupten, die Kunst des Lebens die Kunst des Ausgleichs ist, welche Form des Ausgleichs könnten dann gegenwärtig die Künstler vollbringen? Was muss sich angesichts dieser neuen Brille ändern? Wie kann man mit der eigenen Kultur verbunden bleiben und sich an die Wasserstellen erinnern? Wie ist es möglich, im Theater innerhalb einer von Angst und Feindseligkeit geprägten Atmosphäre zu arbeiten und beständig zu versuchen, auf die Wasserstelle unserer Menschlichkeit hinzuweisen? Wie können wir angesichts des Elends den notwendigen Mut, Ausdruck und die notwendige Energie aufbringen? Ich schaue mir Geschichte, Literatur, Wissenschaft und Kunst darauf hin an, welche positiven Wirkungen sie innerhalb unserer aktuellen Umgebung entfalten könnten. Ich bin dabei auf viele praktische Ideen und anregende Unterstützung gestoßen. Die Recherche war nützlich und sie gibt mir Mut für die tägliche Herausforderung, ein Theaterensemble zu leiten und neue Stücke zu inszenieren. Leonard Bernstein, Komponist und Dirigent, meinte, dass ein Musiker Gewalt damit beantworten solle, dass er »die Musik intensiviert«. Das ist mein Ziel: Musik intensivieren; nicht nur einfach laut, sondern eloquent, expressiv, magnetisierend und kraftvoll. Wenn ich mich in der amerikanischen Theaterszene umschaue, sehe ich fast nur eine altmodische Ästhetik und Aufführungen mit weichen Knien. Meine Vorstellung von Theater ist das Gegenteil: gestärkt, ermutigt, unbändig, überzeugend und im Hinblick auf aktuelle Themen relevant. Diese Kunstform benötigt Mut und Hingabe. Energie geladene Theaterproduktionen, mutige Stücke und eine Schauspielerei, die Ausstrahlung besitzt, können wachrütteln und die Erwartungshaltungen bezüglich der Bandbreite des Lebens fundamental ändern. In einer Kultur, in der die menschlichen Hoffnungen auf die unzähligen Betäubungsmittel

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selbstzentrierter Befriedigung geschrumpft sind, ist Kunst notwendiger und wirksamer denn je. Eines Tages, als ich angesichts des Zustands der Welt besonders entmutigt war, habe ich meinen Freund und Bühnenautor Charles Mee gefragt: »Wie sollen wir in diesen schwierigen Zeiten überhaupt arbeiten? Wie können wir in diesem Klima noch irgendetwas Nützliches tun?« Er antwortete: »Du hast die Wahl. Entweder du überzeugst dich selbst davon, dass die Zeiten schrecklich sind und die Dinge niemals besser werden, – du gibst also auf –, oder du beschließt daran zu glauben, dass es in Zukunft besser wird. In diesem Fall musst du in diesen politisch und sozial düsteren Zeiten alles, was du schätzt, versammeln und zu einer Transportbrücke werden. Pack dir alles, was dir lieb und teuer ist, auf die Schultern und trag es in die Zukunft.« Kurz vor Ende des 20. Jahrhunderts wurde der Dalai Lama gefragt, ob er in einem anderen Jahrhundert auf die Erde zurückkehren würde, obwohl es sicher sein wird, dass die Lebensbedingungen auf der Erde aufgrund von Armut, Verschmutzung und Überbevölkerung katastrophal sein werden. Er antwortete: »Es könnte nützlich sein«. In einer gewaltsamen Kultur, die von der Anziehungskraft des Ruhmes, des Erfolgs und der Individualität abgelenkt wird, hört sich diese Bemerkung über Nützlichkeit radikal an. Kann Kunst tatsächlich beabsichtigen, nützlich zu sein? Kunst ist eine ausgezeichnete und außergewöhnliche Verschwendung von Raum und Zeit und eine in sich geschlossene Welt. In ihrem Erzeugnis ist der Prozess, sich für etwas zu engagieren, mit etwas zu ringen und etwas zu leisten – der Prozess also, der das Erzeugnis überhaupt ins Leben gerufen hat – aufgehoben. Das Paradox der Kunst besteht darin, dass sie gleichwohl auf tiefgehende und dauerhafte Weise nützlich ist. Nach dem Schriftsteller Joseph Brodsky ist Kunst der Sauerstoff, der einem nach dem letzten Atemzug zugeführt wird. Ein großer Schriftsteller ist jemand, der die Bandbreite des menschlichen Empfindungsvermögens ausweitet, der einem Menschen, der mit seiner Weisheit am Ende ist, einen Ausweg zeigt, ein Muster, dem man folgen kann … Kunst ist keine bessere, sondern eine alternative Weise der Existenz; sie ist kein Versuch, der Realität zu entkommen, sondern genau das Gegenteil, ein Versuch, sie zu beseelen. Der erste Schritt, um »Musik zu intensivieren« besteht darin, die eigenen Beweggründe zu erforschen. Wenn die Motive des eigenen Handelns nicht über Ruhm- und Erfolgssucht hinauskommen, wird die Qualität der Resultate immer beeinträchtigt sein. Wenn aber das Ziel ernsthaft darin besteht, sich intensiv mit einem Thema auseinander zu

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setzen, wird das Ergebnis reicher, dichter und kraftvoller sein. Das Ergebnis eines künstlerischen Prozesses enthält die Energie, die man in ihn investiert hat. Der zweite Schritt ist: das Notwendige erkennen. Die klassischen drei Zutaten für ein wirkungsvolles Theater sind: 1. Man muss etwas zu sagen haben. 2. Man braucht Fertigkeiten und 3. Leidenschaft. Es ist wie bei einem Melkschemel: fehlt eines der drei Beine, fällt er um und ist zu nichts nütze. So einfach ist das. Wie groß die Hindernisse, seien sie politischer, finanzieller oder geistiger Art, auch sein mögen: Was wir uns nicht leisten können, ist Hoffnungslosigkeit. Kunst kann die Definitionen dessen, was es bedeutet menschlich zu sein, erweitern. Wenn wir uns an einem hohen Standard orientieren und uns selbst ernsthaft herausfordern, können wir bezüglich unserer Arbeit sagen: »Wir haben uns diese Fragen gestellt und wir versuchen sie zu beantworten und unsere Anstrengungen geben uns das Recht, auch Sie, das Publikum, aufzufordern, sich damit zu beschäftigen.« Kunst schafft einen Raum, in dem etwas wachsen kann. Eine der grundsätzlichen Aufgaben von Kunst ist das, was die Griechen Katharsis nannten. Nach Aristoteles reinigt Katharsis die Affekte, die beim Publikum durch Furcht und Mitleid hervorgerufen werden. Die Etymologie von Katharsis verweist auf die Bedeutung »an einem dunklen Ort hell leuchten«. Bedeutsame Theaterereignisse erleuchten die dunklen Orte der Seele. Um einen kathartischen Effekt zu erzielen, muss man ein Gespür dafür haben, wo sich zu jeder Zeit diese dunklen Orte befinden könnten. Dies verlangt, dass man sehr empfänglich für seine Umwelt ist. Jeder schöpferische Mensch versucht, diese dunklen Orte der Seele aufzuspüren und sie zu erleuchten. Es geht darum, diesen Prozess mit anderen zu teilen. In unserem aktuellen Kontext, der Zeit nach dem Kalten Krieg, nach dem 11. September, ist es sehr viel wert, wenn jemand Licht an jüngst entstandene schwarze Orte bringt. Die dunklen Orte der Seele, die in unseren Träumen spuken, entsprechen der Tendenz, solche Themen durch die tagtägliche Betriebsamkeit auszublenden. Aber wenn wir nicht auf diese dunklen Orte schauen, verlieren wir, so C.G. Jung, den Kontakt zu unserem menschlichen Wesen. Die Verantwortung unserer Zeit liegt darin, den Kontext zu berücksichtigen, jenen Kontext, in dem wir heute Theater machen. Er kann sich langsam verändern oder plötzlich kippen. Wo liegen derzeit die dunklen Orte der Seele, jene unerforschten Gänge, von denen wir nachts träumen aber zu feige sind, um über sie während des Tages nachzudenken? Aus dem Englischen von Susanne Leeb.

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ÜBER DAS INSZENIEREN KLASSISCHER DRAMEN IN DEN VEREINIGTEN STAATEN … sanftlächelnde Vergangenheit … Schiller, DIE RÄUBER

Als Hamlet über das Verhältnis zwischen dem Player und einer Rolle grübelt, stellt er die berühmte Frage »Was ist ihm Hekuba, was ist er ihr?« Hamlets Frage gilt eigentlich der Psychologie des Schauspielens, aber sie könnte sich auch auf den Ort der so genannten Klassiker innerhalb der zeitgenössischen Kultur beziehen. Hamlet zweifelte niemals an der Relevanz klassischer Texte. Für Hamlet, also für Shakespeare, gab es eine direkte Verbindung von der klassischen Vergangenheit zur aktuellen Gegenwart. Die Vergangenheit war ein Spiegel, in dem sich die Elisabethanische Gesellschaft betrachten konnte. Dasselbe gilt für die Griechen, die die alten Mythen wieder erfanden, aufführten und darstellten. Wenn wir allerdings nach dem Ort des klassischen Dramas in der gegenwärtigen Gesellschaft Ausschau halten, liegt es nahe, Hamlets Frage zu paraphrasieren: Was ist uns HAMLET? Oder PHÄDRA? Oder MARIA STUART oder FAUST? Diese Frage stellt sich im Kontext des amerikanischen Theaters und der amerikanischen Gesellschaft besonders dringlich. Keines der Dramen gilt als klassischer Teilhaber an der Amerikanischen Geschichte, Literatur, Mythologie oder etwa am amerikanischen Selbstverständnis. Wenn ich mich als Amerikaner frage, »Was ist mir Hekuba?«, muss die unvermeidliche Antwort lauten: »Nichts«. Die Vereinigten Staaten, so meine ich, sind ein Land ohne Geschichte. Anders als die späteren europäischen Revolutionen, die darauf zielten, eine Regierungsform durch eine andere zu ersetzen, stellte die amerikanische Revolution – zumindest gemäß der Erzählung, die unmittelbar nach ihr geschaffen wurde – einen Bruch mit der Vergangenheit dar. Das europäische Erbe aus der Zeit der Post-Renaissance wurde verworfen und damit auch die klassischen Fundamente der Renaissance. Der amerikanische Mythos stellt eine neue Gesellschaft vor, die, unkorrumpiert durch das Alte, aus dem Rohmaterial der Neuen Welt hervorgegangen ist. Die Geschichte der amerikanischen Kultur kann bis heute als fortwährender Kampf zwischen Umarmung und Zurückweisung von Europäischen Formen

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angesehen werden. Aber weil diejenigen, die die Vergangenheit verwerfen, unentrinnbar an sie gebunden sind, ist die amerikanische Kulturerzählung verwirrend – bestehend aus einem Pastiche aus Anleihen von anderen, für gewöhnlich älteren Gesellschaften. Bis auf die indigenen Amerikaner, die fast gänzlich ausgelöscht oder marginalisiert wurden, sind wir ein Einwanderungsland. Wir haben keine alten Mythen außer jenen aus der Heimat unserer Vorfahren. Bestenfalls reichen unsere Verbindungen zu diesem Land ein paar hundert Jahre zurück – und für die meisten sind es weniger. Zudem sind wir ein Land, das sich ständig neu erfindet und das insofern ein Geschichtsverständnis entwickelt hat, nach dem Geschichte schlichtweg alles von uns aus gesehen Ältere ist. Das Repertoire der amerikanischen Theater scheint diesen Mangel an Verbundenheit zu verstärken, das Fehlen der Vergangenheit, das Fehlen eines historischen Bewusstseins. Die Ursprünge der amerikanischen Nation haben jedenfalls kein überdauerndes Drama hervorgebracht. Lassen Sie mich mit einigen alarmierenden Statistiken beginnen. Ein Überblick über das institutionalisierte amerikanische Theater der letzten zehn Jahre lässt einen erstaunlichen Mangel an »klassischem« Theater erkennen. Ausnahmen sind Shakespeare, der gelegentliche Altgrieche und dann und wann ein Molière. Es gibt ungefähr vierhundert non profit-Theater in den Vereinigten Staaten – Theater, die größtenteils mit Geldern des Staates, von Firmen oder privaten Mäzenen finanziert werden. Sie reichen von sehr kleinen Gruppen im Rahmen des Stadtviertels oder der Gemeinde bis hin zu großen Theaterinstitutionen, die einen Ring der Regionaltheater bilden und die in den meisten größeren Städten existieren. Diese schließen auch viele der Ensembles ein, die zusammen den Off Broadway bilden. (Von diesen vierhundert können nicht mehr als ungefähr dreißig als wichtige kulturelle Einrichtungen erachtet werden.) Diese Theater bestehen im Gegensatz zu rein kommerziellen Theatern – in erster Linie die Broadway-Theater von New York City, die nur aus Profitgründen Unterhaltung produzieren. Der Hauptteil des ernsthaften, literaturgeschichtlichen Theaters und sicherlich die meisten klassischen Theaterstücke werden in den Vereinigten Staaten an den nichtkommerziellen Theatern inszeniert. Während der letzten zehn Spielzeiten wurden an diesen vierhundert Theatern 540 ShakespeareStücke gespielt, 26 griechische Tragödien (allerdings keine einzige Komödie) und eher überraschende 43 Inszenierungen einiger weniger Molière-Stücke.1 Nur handelt es sich bei all diesen um Autoren, denen ein mittelmäßig gebildeter Amerikaner an der Universität in einem Dramenseminar begegnet sein könnte. Fast jeder, der nur über einen gewissen Grad kultureller Bildung verfügt, wird mit diesen Namen und eini-

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gen der Stücke vorübergehende Bekanntschaft gemacht haben. Wer kennt nicht Ödipus, oder wenigstens seinen Komplex, oder Hamlet und seine Unentschiedenheit oder vielleicht die Hypokrisie des Tartuffe? Aber wenn man über die Klassiker der Klassiker hinausgeht, werden die Statistiken ernüchternd. So zeigt sich, dass etwa deutsche Klassiker in den Vereinigten Staaten nahezu unbekannt sind. Schiller mag zwar Opernbegeisterten und Liebhabern von Beethovens NEUNTER SYMPHONIE vertraut sein, aber nicht den Theatergängern. In den letzten zehn Jahren gab es an diesen vierhundert amerikanischen Theatern ganze sechs Schiller-Stücke zu sehen – fünf mal MARIA STUART und einen DON CARLOS. (Amerikanische Regionaltheater haben die Tendenz, sich gegenseitig zu kopieren. Wenn ein Theater MARIA STUART auf dem Programm hat, ist es sehr wahrscheinlich, dass andere folgen.) Aber Goethe oder immerhin FAUST werden doch sicherlich bekannt sein? Ein Überblick über die nämlichen Theater bringt eine kaum wahrgenommene, postmoderne Fassung von FAUST an einem Off-OffBroadway-Theater. Mehr nicht. Es gab noch eine Aufführung von Kleists PENTHESILEA an einem kleineren Theater und überraschenderweise nur eine Inszenierung von Büchners WOYZECK, ebenfalls an einem kleinen Haus. Von Lessing nichts. Bei einem schnellen Rundblick über den europäischen Kanon finden wir noch drei mal Racine (einschließlich der hervorragenden, aber extrem idiosynkratischen Fassung von PHÄDRA von der avantgardistischen Wooster Group), zwei Inszenierungen von Corneille (beides Adaptationen von Tony Kushners THE ILLUSION), sieben Calderóns und kein Lope de Vega. (Wohlgemerkt gibt es ein kleines Off-Off-Broadway-Theater in New York City, das Spanische Klassiker und jüngere spanischsprachige Stücke für ein relativ begrenztes Publikum produziert.) Der Schluss liegt nahe, dass dies etwas mit der Sprache zu tun hat. Aber schaut man jenseits von Shakespeare auf das elisabethanische und jakobinische Repertoire, entdeckt man vier Marlowes, jeweils einen Webster und Jonson, keinen Kyd, Ford oder sonst noch jemand aus diesem an Wunder grenzenden Zeitalter. (Angemerkt sei, dass ich mich für diesen Überblick auf prämoderne Klassiker beziehe. Ibsen, Strindberg oder Tschechow bringen es auf eine beträchtliche Anzahl von Theaterproduktionen seitens amerikanischer Ensembles). So verführerisch es sein mag, Tiraden über die amerikanische Kultur, Bildung und den Theatergeschmack zu schwingen – ein leichter Gegner –, denke ich doch, dass es hier um etwas anderes geht. In der Geschichte des westlichen Theaters meint »klassisches Theater« streng genommen antikes griechisches und römisches Theater. Weiter gefasst,

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schließt »klassisches Theater« in Europa und Asien jene Dramen ein, die als das Gründungsdrama einer Gesellschaft gelten (etwa Nô in Japan, Sanskrit in Indien) oder als der literarische Höhepunkt der jeweiligen Kultur (Marlowe, Shakespeare, Jonson in England, Corneille, Racine und Molière in Frankreich, Lope de Vega und Calderón in Spanien und natürlich Goethe und Schiller in Deutschland). Viele dieser Dramen entstanden zu einer Zeit, als sich einzelne Gesellschaften aus dem Chaos erhoben haben oder zu einer Nation verschmolzen sind. Das klassische griechische Drama entwickelte sich erst, als im 5. Jahrhundert Athen Weltmacht wurde. Das Drama in England im späten 16. Jahrhundert und in Frankreich Mitte des 17. Jahrhunderts konnte nur entstehen, als sich die Gesellschaft aus dem Mittelalter hin zu einer starken, zentralisierten und prosperierenden Nation entwickelte. Mit anderen Worten: Das Theater ist eng mit der Gründung eines Staates oder dem Aufbau einer gefestigten Gesellschaft verbunden, oft einhergehend mit der Entwicklung einer wirtschaftlich oder beruflich florierenden Klasse. Das Theater benötigt eine kritische Menge an Betrachtern, die Zeit und Geld haben, sich dem Theater zu widmen. Um diese Menge zu gewinnen, muss das Theater nicht nur unterhalten (das ist die Aufgabe von Darbietungen auf dem Rummel- und dem Marktplatz), sondern versuchen, das Publikum einzuwickeln, indem es als Medium für einen wirkungsvollen und der offiziellen Ideologie entsprechenden Diskurs funktioniert. Zwar mag in einigen Fällen das Theater den Status Quo herausgefordert haben, etwa wenn es zum Sprachrohr einer Minderheit wurde oder gegen die herrschende Autorität opponierte – man denke an Beaumarchais HOCHZEIT DES FIGARO oder die Stücke von Tschechow und Gorki. In solchen Fällen spielte das Theater eine wesentliche Rolle für den politisch-philosophischen Diskurs, da es aktiv zur Errichtung einer neuen Gesellschaft beitrug. Meist aber diente das Theater als Ort, um zeitgenössische Politik und soziale Kämpfe zu reinszenieren und bestätigte dabei ebenso den Status Quo wie es die herrschenden Ideologien verteidigte. Man braucht in diesem Zusammenhang nur an Shakespeare zu denken. Fast könnte man dies für eine Version von Jacques Lacans »parle-être« halten – in diesem Fall ein »Theater-Sein«: Unser Wissen von uns selbst und unser Verständnis von der Welt hängen von der Art und Weise ab, wie wir und sie auf der Bühne präsentiert werden. Die Stücke, die unter solchen Bedingungen entstanden, sind zu kulturellen Monumenten geworden, die auf derselben Stufe wie die großen politischen und militärischen Figuren aus der Vergangenheit eines Landes stehen, und sie fungieren als Indikatoren für den Wert einer Nation. Ein Engländer könnte argumentieren, dass England ein

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großartiges Land ist, da es Shakespeare hervorbringen konnte. Und da Shakespeare nicht nur vier Jahrhunderte überdauert hat, sondern überall auf der Welt gelesen und gespielt wird, ist er allen Königen und Königinnen, über die er schrieb und denen er gedient hat, ebenbürtig, wenn nicht sogar überlegen. Kultur übertrifft militärische oder sogar auch ökonomische Macht. Die Franzosen erheben Anspruch auf die gleiche Großartigkeit für Racine oder Molière, während die Deutschen für Goethe, Schiller und Lessing eintreten. Diese Stücke zu inszenieren bedeutet, die kulturelle Überlegenheit, die sie hervorgebracht hat, zu stärken. Ihre Inszenierung ermöglicht darüber hinaus, sich – also die zeitgenössische Gesellschaft – in eine historische Linie mit einem goldenen Zeitalter und einer ruhmreichen Vergangenheit zu stellen. Gleichzeitig führen wechselnde politische Realitäten, unvermeidliche Veränderungen innerhalb der Kultur und Ästhetik sowie der fundamentale menschliche Impuls, die Strukturen der Vergangenheit in Frage zu stellen, zu einer Problematisierung dieser klassischen Stücke. Wenn also ein deutsches Ensemble MARIA STUART oder FAUST inszeniert, feiert es einerseits Geschichte, Kultur und Sprache, während es andererseits und gleichzeitig genau jene Vorstellungen – und damit auch alle aktuellen Manifestationen dieser Ideologien – kritisiert, die von diesen Stücken verkörpert werden. Nationale Identität und kulturelle Großerzählung werden dabei meistens in den Vordergrund gerückt. So vermittelt sich der Eindruck, an einem nach wie vor bestehenden Diskurs teilzunehmen, der nicht nur zum Leben des deutschen Theaters beiträgt, sondern auch zur Entwicklung einer spezifischen nationalen oder ethnischen Kultur. In den USA jedenfalls gelten die meisten dieser Stücke als direkter Verweis auf die Vergangenheit – was auch immer darunter verstanden wird. Nur umfasst unsere Vergangenheit weder die Aristokratien und militärischen Helden noch die mythologischen Götter, wie sie sich im klassischen Kanon wieder finden. Vielmehr stehen die als »amerikanisch« produzierte Mythologie und Identität solchen Elementen entgegen. Wenn es ein klassisches Drama in den Vereinigten Staaten gibt, dann das Melodrama des 19. Jahrhunderts. Trotz starker Einflüsse von kontinentalen Modellen – namentlich die Werke von Pixèrécourt, Kotzebue und insbesondere von Dion Boucicault – nahm dieses schnell eine resistente amerikanische Qualität an. Die Betonung auf extrovertierten Gefühlen und vor allem der Fokus auf einem vereinfachten Verständnis von richtig und falsch, wie es für das Melodrama kennzeichnend ist, trugen zu dem sich entwickelnden amerikanischen Narrativ des frühen 19. Jahrhunderts bei: dem Selbstverständnis einer Nation, die aus einem

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einfachen, ländlichen und unschuldigen Volk besteht, dessen Reinheit des Herzens es ihm erlaubt, alle Übel des städtischen und adligen Europa zu überwinden. Die Form des Melodramas liegt damit allen uramerikanischen Kunstformen zugrunde: dem Kino und später dem Fernsehen. Obwohl ein beträchtlicher Teil des klassischen Theaters auch melodramatische Elemente enthält (Euripides und Schiller sind hierfür hervorragende Beispiele), sind die Themen und Strukturen eines Großteils des klassischen Theaters nicht mit den Erzählungen und Strukturen des Melodramas zu vereinbaren. Die thematische und erzähltechnische Einfachheit der meisten Melodramen, ihre lokale Verwurzeltheit und die Zeitgebundenheit der Charaktere haben dazu geführt, dass die meisten Stücke ihre eigene Zeit nicht überdauert haben. Obwohl die Zentralität des Melodramas innerhalb der amerikanischen Theatergeschichte und die enge Verbindung zwischen der thematischen Struktur des Melodramas und dem Aufkommen einer amerikanischen Großerzählung diese Form als amerikanische Klassik ausweisen, ist es für gewöhnlich problematisch, sie heute zu inszenieren. Bei den seltenen Gelegenheiten, in denen ein klassisches Melodrama gespielt wird, geben Herablassung, Ironie, Unernsthaftigkeit oder Kitsch den Ton an. Die Stücke gelten als erheiternd, schräg und anachronistisch und die ihnen entgegen gebrachte Haltung ist von jener belächelnden Nachsicht geprägt, mit der wir auch das Theaterspiel von Kindern betrachten. Die Rezeption des Melodramas wird zudem durch ihre Bezeichnung als populäre Kunstform verkompliziert, da so die kulturelle Elite veranlasst wird, das Melodrama, unabhängig von seiner Erscheinungsform, gering zu schätzen. (Obwohl die Postmoderne mit ihrem Versuch, die Unterschiede zwischen hoher und niedriger Kultur aufzuheben, eine qualitätvolle Auferstehung populärer Formen erlaubte, waren diese Unternehmungen in den seltensten Fällen frei von einer gewissen intellektuellen Arroganz.) Dem Melodrama den Stellenwert des klassischen Dramas zuzubilligen, hieße demnach zu behaupten, Amerika gründe auf einer der niedrigsten Manifestationsformen von Kultur – auf ungehobelter und vereinfachender Unterhaltung statt auf seriöser Kunst, die sich mit der Vergangenheit auseinander setzt. Da in den Vereinigten Staaten bis nach dem Ersten Weltkrieg kein ernst zu nehmendes Drama entstanden ist, wurde der Drang und das Bedürfnis nach klassischen Dramen durch Anleihen von anderen – vornehmlich europäischen – Kulturen befriedigt. Aber geborgte Klassiker haben bestenfalls ein ambivalentes Verhältnis zu ihrem Publikum. Das, was am Original mimetisch ist, kann in der entlehnten Form nur noch als ritualhafte Wiederholung verstanden werden.

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Das »Klassische« wird so in den Vereinigten Staaten zu einem leeren Genre – eine Bezugnahme auf eine Gruppe von Stücken eines bestimmten Alters, einer bestimmten Herkunft und einer bestimmten kulturellen Statur. Diese Stücke zu inszenieren, in ihnen aufzutreten oder sie als Zuschauer anzusehen, bedeutet nicht, die Verbundenheit mit einer gemeinsamen Vergangenheit zu teilen. Vielmehr verleiht es denen, die daran teilnehmen, ein gewisses kulturelles Prestige. Es impliziert die intellektuelle Beschäftigung mit Geschichte und eine Verbindung zur Weltkultur. Die Teilhabenden werden von der Aura der Respektabilität umweht und bilden zusammen die rar gewordene Bruderschaft der kulturellen Elite. Wenn zudem die Produktion klassischer Dramen in bestimmten europäischen und asiatischen Kulturen eine Form von Mimesis ist – ein Wiedererschaffen der Vergangenheit –, dann kann ihre Produktion in den Vereinigten Staaten nur als ritualhafte Wiederholung verstanden werden, die die kulturelle Bedeutung des Theaters durch eine mögliche Einflussnahme auf sozio-historische Faktoren wenig oder kaum verstärkt. Die Vereinigten Staaten, die de facto aus der britischen Kolonialherrschaft hervorgegangen sind, wurden sofort und in erster Linie von der britischen Kultur beeinflusst. Während des gesamten 19. und, strittiger, während eines Großteils des 20. Jahrhunderts sahen sich die Gebildeten, die Eliten und die ökonomisch und politisch Mächtigen als die direkten Nachkommen des britischen Feingefühls – oder waren wenigstens willentlich davon beeinflusst. In den sprachbasierten Künsten der Literatur und des Theaters wurden die Standards durch die britische Kultur gesetzt. Ein bedeutender Anteil der kolonialen Bevölkerung bestand allerdings auch aus den Ausgegrenzten – aus jenen, die der alten Welt und ihrer Ordnung zu entkommen suchten oder die gewaltsam aus ihr entfernt worden sind. Fasst man die gewaltigen Immigrationswellen zusammen, die mit den Iren und den Deutschen im frühen 19. Jahrhundert begannen, und zu denen natürlich auch die Zwangsimmigration der AfrikanerInnen gehört, erzählt man eine Bevölkerungsmehrheit, die ein abweichendes Kulturmodell vertritt oder sich wenigstens im Widerstand in Bezug auf alles, was mit dem dominierenden, vornehmlich britischen Archetyp von Hochkultur verbunden ist, artikuliert. So überrascht es nicht, dass sich Mitte des 19. Jahrhunderts ein radikaler Bruch zwischen hoher und niedriger Kunst und gleichermaßen eine Spaltung zwischen importierten europäischen Modellen und eigen angebauter amerikanischer Kultur vollziehen. Europa erlebte seine 1848er Revolutionen, aber auch die Vereinigten Staaten hatten ungefähr zur selben Zeit ihre kleine, aber bedeutsame »Revolution«. Im Mai 1849 fand der berüchtigte Astor-Place-Aufstand statt, bei dem

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ungefähr 20.000 Demonstranten gegen das Auftreten des englischen Schauspielers William Charles Macready protestierten und den ersten großen amerikanischen Star Edwin Forrest bejubelten. 31 Personen wurden getötet und hunderte verletzt. Viele Faktoren trugen zu diesem fatalen Aufstand bei, aber einer seiner Hauptbeweggründe war die Rebellion gegen die Tyrannei der europäischen und vor allem englischen Kultur und der Versuch, an ihrer statt eine volkstümlich amerikanische, und das heißt populäre Kultur zu errichten. Ab diesem Moment stieg die Trennung zwischen hoher (elitärer) und niedriger (populärer) Kunst sprunghaft an.

Erinnerung Theater ist sowohl eine Aufführung als auch eine Wieder-Aufführung. Es vollzieht sich im aktuellen Moment in Anwesenheit eines zeitgenössischen Publikums, ist also unmittelbar und geht direkt in den Bauch. Aufgeführt wird aber auch immer ein Stück Vergangenheit. Auf der Ebene der des Textes ist Theater eine Wiederaufführung von Proben, die selbst wiederum die Verkörperungen des Textes eines Autors sind. Der Text der meisten klassischen Theaterstücke – und ich spreche hier natürlich über eine traditionelle Form des Theaters – ist selbst wiederum eine Wiederaufführung eines historischen oder mythologischen Augenblicks. Theater ist eine Form von Erinnerung. Wie jede Erinnerung kann es leicht verdreht und falsch erinnert werden. Rein technisch gesehen, kann nur derjenige, der etwas erlebt hat, sich daran erinnern. Aber es gibt ein menschliches Begehren oder Bedürfnis, an der Vergangenheit teilzunehmen und sich daher Erinnerungen aus zweiter Hand anzueignen und einzuverleiben. In unserem eigenen Leben werden Familiengeschichten von einer Generation zur nächsten weiter gegeben, so dass selbst noch die Personen, die weit vom tatsächlichen Ereignis entfernt sind, sich an es »erinnern«. Daneben »erinnern« wir uns an öffentliche Ereignisse, selbst wenn wir nicht dabei waren. Das gleiche gilt für Gesellschaften und Nationen. Wir erinnern nationale Triumphe oder Niederlagen und fatalerweise kann sich auch eine Gemeinschaft daran erinnern, wie schlecht sie von ihren Nachbarn behandelt wurde und trägt diese Erinnerung über Generationen, selbst über Jahrhunderte mit sich. Vergleichbar mit der Weise, wie Fotografien bei der Überlieferung von persönlichen und familiären Erinnerungen helfen, fungiert das Theater zur Erhaltung eines nationalen und ethnischen Gedächtnisses. Das wirft folgende Frage auf: Wenn ein klassisches europäisches oder asiatisches Stück in Amerika aufgeführt wird, was wird dann über-

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»Mary Stuart«, American Conservatory Theatre San Francisco 1998, Caroline Lagerfelt und Marco Barricelli als Elizabeth und Robert Dudley. Foto Ken Friedman

haupt erinnert? Was wird überliefert? Ich würde behaupten, dass klassisches Theater in den Vereinigten Staaten vor allem deshalb produziert wird, um amerikanisches Theater – amerikanische Kultur – mit den Wurzeln des Theaters und mit älteren Traditionen zu verbinden, um dadurch diesem Unternehmen Respekt zu verschaffen und zeitgenössische amerikanische Produktionen in eine kulturelle Linie zu stellen, die bis zu Aischylos zurück verfolgt werden kann. Während einige Immigranten-Communities noch die kulturellen Erinnerungen ihres Herkunftsortes aufrecht erhalten, erleben die meisten ZuschauerInnen eines

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klassischen Dramas ein fundamentaleres, allerdings auch generischeres Verständnis von Geschichte – nicht das spezifisch historische Ereignis des Stückes selbst oder seiner Bedeutung für eine bestimmte Gesellschaft, sondern einfach nur die Idee von Geschichte oder dem, was ich »Damaligkeit« nennen würde. Die Aufnahme einer MARIA STUARTProduktion von 1998 am American Conservatory Theatre in San Francisco zeigt die Figuren Elisabeth I und Robert Dudley. Die Kostüme von Deborah Dryden beruhen auf gründlicher Recherche und sind prachtvoll gestaltet. Die Rezensionen lassen erkennen, dass die Kritiker und vor allem das Publikum entsprechend beeindruckt waren. Aber im gleichen Maße wie die Kostüme einen spezifischen historischen Moment repräsentieren, sind sie für die meisten ZuschauerInnen ein unbestimmtes Zeichen für Vergangenheit und vielleicht auch für das Verständnis von Theater überhaupt. Die ZuschauerInnen und vor allem die Leiter kultureller Institutionen erwarten, dass bestimmte Formen von Theater, Oper und Film mit solchen Kostümen aufwarten. Demgemäß heißen solche Produktionen auch »Kostümdramen«. Daraus ergibt sich eine Tautologie: Als Klassiker muss das Stück solche Kostüme aufweisen und da es solche Kostüme aufweist, muss es sich um klassisches Theater handeln. Die Kostüme auf dieser Fotografie sind für ein Publikum, das mit den Details bestimmter zeitgenössischer Kleidung nicht vertraut ist, der ultimative semiotische Code für historische Genauigkeit. Wie viele ZuschauerInnen wissen oder kümmert es, ob die Kragengröße, die Textur und das Muster des Stoffes, die Details des Schmucks oder der Stil der Frisur genau die Art der Kleidung der 1850er Jahre darstellen? Für die ZuschauerInnen könnten sich diese Indikatoren ebenso gut auf Katherine Hepburn in der filmischen Version dieser Geschichte von 1936 oder auf Vanessa Redgrave in derjenigen von 1971 beziehen, wie auf jede andere historische Figur. Unser Verständnis von Geschichte ist durch Hollywood geprägt. Gleichermaßen rufen die Kostüme eine Reihe historischer Epen auf, die vom Britischen Fernsehen produziert und ihn den Vereinigten Staaten als Gegengewicht zum Schmalspurprogramm des meisten kommerziellen Fernsehens gesendet wurden. Kaum zufällig lautet der Oberbegriff für diese Serien, die für erstklassiges britisches Fernsehen stehen, in den USA »Masterpiece Theatre« – mit allen Implikationen von hoher Kunst und kultureller Bedeutungshaftigkeit. Schon allein die Kostüme strahlen eine hochkulturelle Aura obersten Niveaus aus. Dieses Foto von einer Produktion desselben Stücks von 2001, inszeniert von JoAnne Akalaitis am Court Theatre in Chicago, lässt einen moderneren Ansatz erkennen. Das von Kaye Voyce entworfene

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Kostüm korrespondiert von der Silhouette her mit der Epoche und hat einen historischen Touch, ist aber mit seiner Selbstreferenzialität und seinem Selbstbewusstsein von Grund auf modern. Es erkennt Geschichtlichkeit an, während es gleichzeitig für sich absolute Zeitgenossenschaft beansprucht. Es sagt im Wesentlichen folgendes: »Ich erkenne die Vorgänger dieses Stücks an – die historischen wie literarischen –, aber ich bin mir gleichermaßen über meine Stellung im Heute bewusst.« Daneben gibt es natürlich auch noch den Ansatz des postmodernen Pastiches, wie man es in einer Produktion von PHÄDRA sehen konnte, ebenfalls von Akalaitis und Voyce am Court Theatre. Diese Produktion würde gerne vermitteln, dass es keinen Unterschied zwischen Gegenwart und Vergangenheit gibt. Das Pastiche der zeitgenössischen Kostüme – einige sind prosaisch, einige formaler gehalten inklusive einer Andeutung von Bezugnahme auf Vergangenheit – verkündet die Modernität des Stücks und damit seine Relevanz. Die Vergangenheit ist Gegenwart und die Gegenwart Vergangenheit. Dennoch veranschaulicht insbesondere dieses Bild die Probleme, mit denen die amerikanischen Produktionen sogenannter Klassiker konfrontiert sind. Bei uns gibt es kein historisches Gedächtnis für Monarchen. Ungeachtet der wankelmütigen und tödlichen Ergebnisse der Politik neigen wir dazu, eine niedrige Meinung von unseren Führern zu haben und sie als Anlässe für Pointen zu behandeln; der angeblich egalitäre Geist der amerikanischen Demokratie vermeidet gesellschaftliche Klassen und das damit einher gehende Staatsgeschirr. So werden die dem Stück impliziten Hierarchien und Machtstrukturen vom Publikum kaum verstanden oder wahrgenommen. Obwohl das Kleid von Phädra über eine gewisse Eleganz verfügt, ist es gleichermaßen parodistisch. Kostüm, Frisur und Körperhaltung evozieren sinnliche Begierde, Herabwürdigung, Wahnsinn und Erniedrigung, machen sich aber gleichzeitig über diese Emotionen und über die sozialen Indikatoren lustig. Hippolyt kann mit seinem T-Shirt offensichtlich nicht anders als ein rebellischer Teenager verstanden werden. Fast scheint es, als könnten wir die dargestellten Charaktere nur noch als zeitgenössische Partygänger, als Besucher der schicken Clubs oder Bewohner der hippen Gegenden von New York, London oder Paris verstehen. Interessant daran ist, dass die Regisseurin und die Kostümbildnerin, als sie Hippolyt in dieses Kostüm steckten, wohl ein ikonisch gewordenes Bild des amerikanischen Theaters aufrufen wollten: Marlon Brando als Stanley Kowalski in Tennessee Williams’ ENDSTATION SEHNSUCHT. Aber wenn das tatsächlich ihre Intention gewesen sein sollte, was folgt daraus? Die Inszenierung ist der Inbegriff des missgeleiteten Amerikanischen Post-

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modernismus mit seinem scheinbar zufälligen Nebeneinander von Bildern, deren Aussagekraft bestenfalls minimal ist. Sie vermittelt entweder, dass alle Bilder gleichbedeutend sind oder den Glauben, dass die Spannung oder Energie, die aus dem Zusammenfügen ikonischer Bilder resultiert, zu etwas Neuem und Bedeutsamem führt. Es gibt noch einen weiteren Faktor zu berücksichtigen, wenn man die amerikanische Herangehensweise an Klassiker untersucht. Das amerikanische Drama, das grundlegend für unser Theater – für unsere Klassiker – wurde, ist psychologisch ausgerichtet: Die Stücke von Clifford Odets, Tennessee Williams, Arthur Miller, William Inge, selbst Edward Albee, bis hin zu Sam Shepard und David Mamet – alle gingen aus der psychologischen Auslotung von Charakteren hervor, die wenigstens an der Oberfläche prosaische Individuen sind. Dieses Paradigma wird natürlich durch Fernsehen und Film verstärkt. Annäherungen an die Klassiker zielen dementsprechend oft auf eine Art psychologischen Realismus, etwa wenn sie die psychologische und emotionale Realität von Clytemnestra, Lear oder Mary Stuart zu finden versuchen – und sie dabei auf Figuren aus Action-Filmen oder Seifenopern reduzieren. Während die meisten Charaktere des klassischen Dramas zwar über eine psychologische Dimension verfügen – schließlich ist das Teil ihrer Anziehungskraft –, weisen diese Stücke meist eine formalistische oder opernhafte Qualität auf, die einer realistischen Herangehensweise, die in völliger Trivialität münden kann, entgegen steht. Steckt man Bühnencharaktere in Alltagskleidung, wie es in so vielen postmodernen Umsetzungen geschieht, ist das Ergebnis, dass sie von theatralischen Geschöpfen auf Avatare unserer selbst reduziert werden. Die Bühne hat jedenfalls jeden Versuch bildlichen Realismus aufgegeben. Diese Herangehensweise ist zu eng mit dem Realismus und dem Melodrama des späten 19. Jahrhunderts verknüpft und vom Film mit seinen viel realitätsnäheren Darstellungsmitteln übernommen worden. So wird die Bühne zu einem emblematischen Ort, der sich gleichermaßen auf die Vergangenheit wie auf sich selbst bezieht. Wenn das Theater seine Bühnenhaftigkeit anerkennt, verkündet es seine Theatralität, gleichwohl bezieht es sich durch den Gebrauch von emblematischen Bildern auf Geschichte wie in Ming Cho Lees strengem Bühnenbild für DON CARLOS am Shakespeare Theatre in Washington. Meine Erörterung scheint nahe zu legen, dass AmerikanerInnen besser kein klassisches Theater machen sollten. Sofern es als Kostümdrama und psychologische Untersuchung auftritt, würde ich das auch tatsächlich empfehlen. Eine solche Form von Theater ist der Inbegriff dessen, was Peter Brook zu Recht als »tödliches Theater« bezeichnet hat. Es ist

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»Don Carlos«, Shakespeare Theatre in Washington D.C. 2000/2001, Enid Graham, Naomi Jacobsen, Michelle Shupe und Alicia Atkins. Foto Carol Rosegg

in seinem Bezug auf Vergangenheit und Hochkultur nichts als eine leere Geste. Dasselbe gilt auch für viele postmoderne Produktionen. Sie behalten den Originaltext bei, aber problematisieren ihn durch zeitgenössische Kostüme und eine pastichehafte Szenengestaltung. Ich behaupte nicht, dass klassisches Theater uns nichts zu sagen hat. Aber was es uns zu sagen hat, ist thematisch weiter zu fassen und betrifft die Verbindung zur Theatralität insgesamt. Es gibt eine fruchtbare Herangehensweise, eine, die am erfolgreichsten von der Wooster Group mit ihren Umsetzungen von amerikanischen und europäischen Klassikern, wie Tschechows DREI SCHWESTERN und Racines PHÄDRA, realisiert worden ist. Ausschlaggebend ist, dass die Gruppe unter der Regie von Elizabeth LeCompte den Werken einen neuen Rahmen gegeben hat. Die Originalrahmen des französischen oder russischen Theaters aus dem 17. oder 19. Jahrhundert sind für das Amerikanische Theater des späten 20. oder frühen 21. Jahrhundert bedeutungslos. Zu sagen, dass sie bedeutungslos sind, meint tatsächlich, dass das Vokabular des älteren Theaters weitestgehend unverständlich ist. Die Stücke sind in ihrer heute obsoleten Theatersprache unlesbar. Bestenfalls verstehen wir sie auf einer Zeichenebene als klassische Stücke. Indem wir neue physische, erzählerische und selbst technische Rahmen finden, in denen die Originaltexte, -charaktere und -themen ausgelotet werden können, ist es möglich, dass die den Stücken zugrunde liegenden Impulse und Bedeutungen wieder auftauchen. Dieser Prozess ist schwierig und Theatergruppen, die versucht haben, den Stil und die Herangehensweise der Wooster Group zu kopieren, endeten in Resultaten, die so leblos wie

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Kostümdramen sind. Aber in einem Land ohne Geschichte, in einem Land, das heute über zahlreiche historische Narrative verfügt, die auf der diversesten Bevölkerung der Welt beruhen, sind direkte Umsetzungen klassischer Dramen anderer Kulturen und Gesellschaften günstigstenfalls nur problematisch. Zum Abschluss komme ich nochmals auf Shakespeare zurück. Während ich soeben verfochten habe, dass man in den Vereinigten Staaten kein klassisches Theater machen kann, habe ich gleichfalls die Statistik mit 540 Shakespeare-Stücken zitiert. Ich biete zwei Erklärungen an. Die erste betrifft die Erziehung. Shakespeare ist einer der Verfasser klassischer Dramen, die höchst regelmäßig unterrichtet werden. SchülerInnnen werden im Laufe ihrer Schulzeit mit einigen seiner Stücke wiederholt konfrontiert, bisweilen werden seine Stücke in High Schools gespielt und SchülerInnen werden oft ins Theater gelotst, um sich professionelle Inszenierungen (unterschiedlichster Qualität) anzuschauen. Shakespeare wird daher weniger als staubiges Relikt der Vergangenheit denn als Zeitgenosse angesehen, wenn auch mit einer schwierigen Sprache. Der zweite Punkt ist der Gegensatz von high und low. Schon in seiner eigenen Zeit beruhte ein Teil von Shakespeares Erfolg auf seiner Fähigkeit, gleichzeitig unterschiedliche Publikumsschichten und Rezeptionsebenen zu adressieren. Während des 19. Jahrhunderts setzte sich diese breite Publikumswirksamkeit in Wanderproduktionen fort, die ebenso in den Salons und Goldgräbersiedlungen im Westen gespielt wurden wie in institutionellen Theatern. Entsprechend wird Shakespeare auch heute noch gleichzeitig als populäre Unterhaltung und als Hochkunst verkauft. Auf einer gewissen Ebene halten viele amerikanische ZuschauerInnen Shakespeare für einen amerikanischen Bühnenschriftsteller. Es gibt dutzende über das ganze Land verteilte Shakespeare-Festivals, von denen die meisten als Sommertheater für Touristen veranstaltet werden. Die Stücke, die nicht von Shakespeare stammen, halten sich auf vielen dieser Festivals mit denjenigen von Shakespeare die Waage, so dass Shakespeare fast zum Synonym für Sommertheater geworden ist. Wenn nun, so stellt sich die Frage, Goethe an amerikanischen Schulen unterrichtet werden würde und wenn es dutzende Goethe-Festivals im ganz Land geben würde, würde er – oder jeder andere Klassiker – im selben Maße amerikanisiert werden? Aus dem Englischen von Susanne Leeb. 1

Die Statistiken sind den »Theatre Profiles« entnommen, die von der Theatre Communications Group veröffentlicht werden. http://www.tcg.org/frames/member_profiles/fs_thprofiles.htm

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Autorinnen und Autoren

Arnold Aronson Professor an der Columbia University New York, Herausgeber und Autor. Jüngste Publikationen: Architect of Dreams: The Theatrical Vision of Joseph Urban (2001), Looking into the Abyss: Essays on Scenography (2005). Suzanne Barnard Professorin für Psychologie an der Duquesne University Pittsburgh. Videokünstlerin. Jüngste Publikation: Lacan’s Major Work on Love, Knowledge and Feminine Sexuality (mit Bruce Fink, 2002). Claudia Blümle Kunstwissenschaftlerin am kunsthistorischen Seminar der Universität Basel. Jüngste Publikation: Blickzähmung und Augentäuschung. Zu Jacques Lacans Bildtheorie (Hg. mit Anne von Heiden, 2005). Anne Bogart Regisseurin, Autorin, Essayistin und Theaterpädagogin. Künstlerische Leiterin der SITI Company. Jüngste Publikation: Viewpoints Book: A Practical Guide to Viewpoints and Composition (2004). Gabriele Brandstetter Professorin für Theater- und Tanzwissenschaft an der Freien Universität Berlin. Forschungsschwerpunkte: Theorie der Darstellung, Körper- und Bewegungskonzepte in Schrift, Bild und Performance. Jüngste Publikation: Bild-Sprung. TanzTheaterBewegung im Wechsel der Medien (2005). Marcus Coelen Literaturwissenschaftler, Juniorprofessor am Institut für Romanische Philologie der Universität München. Jüngste Publikation: Die Tyrannei des Partikularen. Lektüren Prousts (2006). Simon Critchley Professor für Philosophie an der Graduate Faculty der New School of University New York, an der University of Essex. Jüngste Publikation: Things Merely Are – Philosophy in the Poetry of Wallace Stevens (2005). Felix Ensslin Freier Dramaturg, Regisseur und Kurator. Jüngste Publikation: Untote an Unorten: Zur Psychischen Ökonomie der Ökonomisierung (in: Polar, 2005). Dorothea von Hantelmann Kunsthistorikerin und freie Kuratorin in Berlin. Kuratorin mehrerer Kunst- und Theaterprojekte. Jüngste Publikation: I promise it’s performative (in: Tanja Schwan, Medien, Avantgarde, Performativität (2005). Günther Heeg Professor für Theaterwissenschaft an der Universität Leipzig. Herausgeber des E-journals »thewis« der Gesellschaft für Theaterwissenschaft. Publikationen u. a.: Stillstand und Bewegung. Intermediale Studien zur Theatralität von Text – Bild – Musik (Hg. mit Anno Mungen, 2004). Hans-Christian von Herrmann Hochschuldozent für Kulturtheorien digitaler Medien an der Friedrich-Schiller-Universität Jena, Mitherausgeber von Kaleidoskopien. Jüngste Publikation: Das Archiv der Bühne. Eine Archäologie des Theaters und seiner Wissenschaft (2006).

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Autorinnen und Autoren

Hans-Thies Lehmann Universitätsprofessor für Theaterwissenschaft an der Johann Wolfgang Goethe-Universität Frankfurt/M.; Präsident der Internationalen Brecht Gesellschaft; Vorstandsmitglied der Heiner Müller Gesellschaft; zahlreiche internationale Lehrtätigkeiten. Jüngste Publikation: Heiner Müller Handbuch (Hg. zus. mit Patrick Primavesi, 2004). Christoph Menke Professor für Philosophie an der Universität Potsdam, Mitherausgeber und Redakteur verschiedener philosophischer Zeitschriften, Vorstandsmitglied der Deutschen Gesellschaft für Ästhetik. Jüngste Publikation: Die Gegenwart der Tragödie (2005). Nikolaus Müller-Schöll freier Dramaturg, Wissenschaftsjournalist, Übersetzer und Kritiker, Wissenschaftlicher Assistent am Institut für Theaterwissenschaft der Ruhr-Universität Bochum. Jüngste Publikation: Aisthesis. Zur Erfahrung von Zeit, Raum, Text und Kunst (Hg. mit Saskia Reither, 2005). Barbara Piatti Freischaffende Literatur- und Kunsthistorikerin in Basel. Forschungsschwerpunkt Schweizer Landschaften im Spiegel von Kunst und Literatur. Jüngste Publikation: Tells Theater. Eine Kulturgeschichte in fünf Akten zu Friedrich Schillers Wilhelm Tell (2004). Jacques Rancière Philosoph und emeritierter Professor für Philosophie an der Universität von Paris VIII. Forschungsschwerpunkte zum Verhältnis von Politik und Ästhetik und zu Globalisierungsdiskursen. Jüngste Publikation (in dt. Sprache): Das ästhetische Unbewusste (2006). Juliane Rebentisch Philosophin und Kunstkritikerin, lehrt am Institut für Philosophie der Universität Potsdam, Mitarbeiterin im Sonderforschungsbereich »Ästhetische Erfahrung im Zeichen der Entgrenzung der Künste«. Jüngste Publikation: Ästhetik der Installation (2003). Howard Rouse Promotion an der University of Essex. Buchprojekte zur Verknüpfung von marxistischen und psychoanalytischen Konzepten des Subjekts und der Vorherrschaft des Bildes als ideologisches Spektakel und als ästhetisch-politischer Widerstand. Jüngste Publikation: Michael Moore and Jean-Luc Godard: the Janus-Face of the Contemporary Left (2006). Joseph Vogl Philosoph und Medienwissenschaftler, Professor für Theorie und Geschichte künstlicher Welten an der Medien-Fakultät der Bauhaus-Universität Weimar. Jüngste Publikation: Archiv für Mediengeschichte Bd. 5: Wolken (Hg. mit Lorenz Engell, Bernhard Siegert, 2005). Alenka Zupanc̀´ic̀´ Forschungstätigkeit am philosophischen Institut der Slowenischen Akademie für Wissenschaften und Künste sowie an der Gesellschaft für Theoretische Psychoanalyse in Ljubljana. Jüngste Publikation: Poetika. Druga knjiga (2004).

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RECHERCHEN 1

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MASSNEHMEN Brecht / Eislers Lehrstück „Die Maßnahme“

Hans-Thies Lehmann DAS POLITISCHE SCHREIBEN

3

Joachim Fiebach MANIFESTE EUROPÄISCHEN THEATERS

13 Adolf Dresen WIEVIEL FREIHEIT BRAUCHT DIE KUNST? Reden Briefe Verse Spiele

4 ROT GLEICH BRAUN? Brecht-Dialog 2000

7 Martin Linzer „ICH WAR IMMER EIN OPPORTUNIST …“

14 JEANS, ROCK UND VIETNAM Amerikanische Kultur in der DDR

15 Christel Weiler / Hans-Thies Lehmann SZENARIEN VON THEATER(UND)WISSENSCHAFT

16

8 Jost Hermand „DAS EWIG-BÜRGERLICHE WIDERT MICH AN“ Brecht-Aufsätze

9 Jochen Gerz / Ester Shalev-Gerz BERLINER ERMITTLUNG

BRECHT PLUS MINUS FILM Brecht-Dialog 2003

17 Hajo Kurzenberger / Annemarie Matzke THEORIE THEATER PRAXIS

18

10 Friedrich Dieckmann DIE FREIHEIT EIN AUGENBLICK

Erika Fischer-Lichte / Clemens Risi / Jens Roselt KUNST DER AUFFÜHRUNG – AUFFÜHRUNG DER KUNST

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BRECHTS GLAUBE Brecht-Dialog 2002

Michael Opitz DIE INSEL VOR AUGEN

Theater der Zeit www.theaterderzeit.de


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RECHERCHEN 24

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Klaudia Ruschkowski / Wolfgang Storch DIE LÜCKE IM SYSTEM Philoktet Heiner Müller

Ulrike Haß HEINER MÜLLER: BILDBESCHREIBUNG Ende der Vorstellung

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26 Gabriele Brandstetter BILD-SPRUNG

VOLKSPALAST Zwischen Aktivismus und Kunst

27 Johannes Odenthal TANZ KÖRPER POLITIK

31 Sebastian Kleinschmidt / Therese Hörnigk BRECHT UND DER SPORT

28 Sandra Umathum CARL HEGEMANN – PLÄDOYER FÜR DIE UNGLÜCKLICHE LIEBE Texte über Paradoxien des Theaters 1980 – 2005

32 Tomasz Plata ÖFFENTLICHE STRATEGIEN, PRIVATE STRATEGIEN Das polnische Theater 1990 – 2005

DEMNÄCHST:

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WEGE DER WAHRNEHMUNG Herausgegeben von Erika Fischer-Lichte, Barbara Gronau, Sabine Schouten und Christel Weiler

B. K. Tragelehn ROTER STERN IN DEN WOLKEN Nachlass zu Lebzeiten

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SPIELTRIEB Was bringt die Klassik auf die Bühne? Herausgegeben von Felix Ensslin

POLITIK DER VORSTELLUNG, THEATER UND THEORIE Herausgegeben von Joachim Gerstmeier und Nikolaus Müller-Schöll

Theater der Zeit www.theaterderzeit.de


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Arnold Aronson . Suzanne Barnard . Claudia Blümle . Anne Bogart . Gabriele Brandstetter . Marcus Coelen . Simon Critchley . Felix Ensslin . Dorothea von Hantelmann . Günther Heeg . Hans-Christian von Herrmann . Hans-Thies Lehmann . Christoph Menke . Nikolaus Müller-Schöll . Barbara Piatti . Jacques Rancière . Juliane Rebentisch . Howard Rouse . Joseph Vogl . Alenka Zupan_i_

cher aktueller Ansätze und Perspektiven aus den Theater-, Kunst- und Kulturwissenschaften, der Philosophie wie der Germanistik. Die Auseinandersetzung mit zeitgenössischer künstlerischer, theatralischer und kritischer Praxis bildet einen weiteren Schwerpunkt.

ISBN 3-934344-66-6

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Der Band dokumentiert die gleichnamige Konferenz am Deutschen Nationaltheater Weimar im November 2005. Die versammelten Vorträge kreisen um das Verhältnis von Politik und Ästhetik. Schillers „ästhetische Erziehung des Menschen“, sein „Spieltrieb“-Begriff dienen als Ausgangs- und Bezugspunkt unterschiedli-

Spieltrieb. Was bringt die Klassik auf die Bühne?

Theater der Zeit

Recherchen_34_Spieltrieb_cover

Felix Ensslin (Hg.)

Schillers Ästhetik heute

Theater der Zeit


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