Theater der Zeit 02/2021 - Vorwärts immer, rückwärts nimmer. Schwerpunkt Klassismus

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Alexander Kluge: Der Sturm auf das Kapitol / Marx-Brille: Édouard Louis und Thomas Ostermeier Fritz Göttler: Milo Raus Jesus-Film / Chinas Theater im Covid-Jahr / Angela Richter über Julian Assange

EUR 8,50 / CHF 10 / www.theaterderzeit.de

Februar 2021 • Heft Nr. 2

Vorwärts immer, rückwärts nimmer Schwerpunkt Klassismus


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editorial

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A

In eigener Sache Aufgrund der Corona-Pandemie kann es bei der Auslieferung von Theater der Zeit zu Ver­­zöge­rungen kommen. Wir bitten um Ihr Verständnis.

ls wir vergangenes Jahr das Novemberheft zuklappten, waren wir uns sicher, ihn endgültig los zu sein: Ja; über Donald Trump, der während seiner Amtszeit auch auf den Theaterbühnen überdurchschnittlich präsent gewesen war – als Karikatur vom Dienst mit gelber Perücke –, würden wir definitiv zum letzten Mal berichtet haben. Er war abgewählt! Dann kam der Januar – und mit ihm der bis dato undenkbare Sturm auf das Kapitol. „Das alles ist symbolisch aufgeladene, gefährliche Realität. Und vor den Fernsehern erleben wir es wie ein Stück Theater“, schreibt Alexander Kluge in diesem Heft über das gewaltsame Eindringen der Trump-­ Anhänger in das Parlamentsgebäude in Washington D. C. – und analysiert dessen dramatische ­Dimension in einem Bildessay sowie einem Brief an die Redaktion. Die Vereinigten Staaten – auch dieses Phänomen zeigte sich exemplarisch in Trumps Amtszeit – sind die Gesellschaft der großen Polarisierungen. In keinem anderen Industrieland ist das Geld so ungleich verteilt; Verschärfungstendenz steigend. Jetzt, während der Pandemie, wächst die Kluft ­zwischen Arm und Reich allerdings auch anderswo rasant. Die spezifische Stigmatisierung, die ­Menschen am unteren Ende der Einkommensskala erfahren, hat einen Namen: Klassismus. Während andere Formen der Diskriminierung wie Rassismus und Sexismus im öffentlichen Diskurs inzwischen reflektiert werden, ist von dieser Form der sozialen Benachteiligung bisher allerdings ­vergleichsweise selten die Rede. Das gilt auch – und vielleicht sogar in gesteigerter Form – für die Theater, mit denen viele Menschen nach wie vor die Hochkulturtempel par excellence assoziieren. Selbst in der freien Szene, die ihrem Selbstverständnis nach besonders stark für Inklusion und Diversität eintritt, stehe die Auseinandersetzung mit dem Thema noch „ganz am Anfang“, erklärt die Klassismusforscher*in Francis Seeck im Gespräch mit der Kuratorin Pirkko Husemann in unserem Schwerpunkt zum Thema Klassismus und ergänzt: „Erwerbslose werden im freien Theater gar nicht so anders dargestellt als in RTL-2-Dokus wie ,Hartz und herzlich‘.“ Der französische Schriftsteller und Soziologe Édouard Louis, der selbst aus dem Arbeitermilieu stammt, glaubt zwar nicht daran, „dass sich das Denken der Bourgeoisie über Nacht ändert, nur weil man ihr ein Stück über das Leiden der Arbeiterklasse vorführt“. Aber zumindest zwinge man sie „preiszugeben, wie sie wirklich über die Arbeiterklasse denkt“. Und genau darin liege für ihn die Kraft der Kunst, sagt Louis im Gespräch mit dem Regisseur und Intendanten der Berliner Schaubühne Thomas Ostermeier. Im Moment allerdings steht die „Distinktionsmaschine Theater“ bekanntermaßen pandemiebedingt still. Vielleicht sei das „eine Chance, die Routine der feinen Unterschiede zu hinterfragen“, hofft die Autorin und Drama­ tikerin Daniela Dröscher in ihrem Essay über das „Theater der 99 %“. Christoph Leibold hat diesen dramatischen Stillstand – am Beispiel der bayerischen Theater­ region – einmal ganz konkret unter die Lupe genommen und eine paradoxe Situation vorgefunden. Die Zuschauersäle sind leer, denn Aufführungen dürfen nirgends stattfinden – aber geprobt wird fleißig weiter: Wenn die Vorhänge irgendwann endlich wieder hochgehen, dürfte eine regelrechte Premierenschwemme folgen, prognostiziert er. In China sieht das anders aus. Dort sind die Theater geöffnet – jedenfalls für alle, die sich am Eingang die Temperatur messen lassen und Masken tragen. Drinnen werden in Propagandastücken die Heroen der Pandemie gefeiert – zumindest auf den staatlichen Bühnen. Die freien Theater, schreibt Chen Tian in ihrer Reportage, üben sich hingegen in leiser Subversion. Hierzulande schwingt sich unterdessen die Hybridkunst des Theater-Films zu neuen ästhe­ tischen Höhen auf – was dem Theater durchaus guttut, wie Fritz Göttler anhand von Milo Raus ­utopischer Dokumentation „Das neue Evangelium“ beobachtet. Auch unser Kolumnist Ralph ­Hammerthaler beschäftigt sich mit dem Verhältnis zwischen Zelluloid- und Live-Kunst. Der Videokünstler Sébastien Dupouey, dessen Arbeiten fürs Theater wir im Künstlerinsert vorstellen, fand den hiesigen Bühnenbetrieb stilistisch übrigens schon immer erfreulich „crossoverbereit“. Dennoch bleibt natürlich zu hoffen, dass die Theater bald wieder öffnen können. Schon allein deshalb, damit nicht in größerem Stil ein surreales Albtraumszenario droht wie in Michel Decars Stück „Nachts im Ozean“, das wir in dieser Ausgabe drucken. Dort reist der Autor Moskowitz zu seiner eigenen Uraufführung nach Montevideo – und findet trotz minutiöser Google-Maps-Koordinaten partout das Theater nicht. Nein, tatsächlich: Es ist einfach nicht da. // Die Redaktion

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Inhalt Februar 2021

thema klassismus

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Die Marx-Brille Der Schriftsteller Édouard Louis und der Regisseur Thomas Ostermeier über Herkunft, Väter und darüber, wer die Arbeiterklasse auf der Bühne repräsentieren darf, im Gespräch mit Patrick Wildermann

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Daniela Dröscher Ein Theater der 99 % Sexismus und Rassismus sind zentrale Themen auf der Bühne. Warum tut sich das Theater so schwer, auch über Klassismus zu sprechen?

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Feinripp-Theater Klassismusforscher*in Francis Seeck und Kuratorin Pirkko Husemann über Prekariatsklischees in der freien Szene im Gespräch mit Sabine Leucht

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künstlerinsert

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Videoarbeiten von Sébastien Dupouey

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Patrick Wildermann Im Zeitalter der Selbstdarstellung Der Videokünstler Sébastien Dupouey mag es, Dinge schnell entstehen und wieder verschwinden zu lassen – Ein Porträt

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kolumne

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Ralph Hammerthaler Na, wieder nüchtern? Wie der Regisseur Visar Morina von der Einsamkeit erzählt

protagonisten

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Alexander Kluge Unheimliches Zwielicht zwischen „wirklich“ und „unwirklich“ Ein Bildessay und ein Brief anlässlich der Erstürmung des Kapitols in Washington

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Chen Tian Chinas Theater im Jahr der Epidemie Während die Staatsbühnen des Landes die Helden der Pandemie in Propaganda-Stücken feiern, üben unabhängige Künstler leise Kritik – Eine Reportage

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Christoph Leibold Mal schauen, ob die Premiere stattfindet Landauf, landab proben die Bühnen im Lockdown auf Halde – Ein exemplarischer Corona-Theater-Report aus Bayern

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Barrie Kosky On Ecstasy Exklusiver Vorabdruck

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neuerscheinungen theater der zeitbuchverlag


inhalt

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look out

auftritt

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Theresa Schütz Der Sozialismus lebt – im Wiener Untergrund Das österreichische Performancekollektiv Nesterval verstrickt sein Publikum in kluge Mitbestimmungsspiele

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Sascha Westphal Eine Heilige der Ausschweifungen Die Bochumer Schauspielerin Jing Xiang übersetzt Emotionen in Bewegung

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Berlin „Woyzeck Interrupted“ von Mahin Sadri und Amir Reza Koohestani nach Georg Büchner in der Regie von Amir Reza Koohestani (Christine Wahl), „Vertigo“ von Max Edgar Freitag und Frank Schulz in der Regie von Gerd Hartmann sowie „Superforecast“ von Steffen Sünkel in der Regie von Jacob Höhne (Dorte Lena Eilers) Freiburg „Leonce und Lena“ von Georg Büchner in der Regie von Sascha Flocken (Bodo Blitz) Mannheim „Land ohne Worte“ von Dea Loher in der Regie von Dominic Friedel und Annemarie Brüntjen (Björn Hayer) Osnabrück „Die Nacht von Lissabon“ von Erich Maria Remarque in der Regie von Dominique Schnizer (Jens Fischer) Wien „Die Maschine in mir (Version 1.0)“ (DSE) von Dead Centre und Mark O’Connell in der Regie von Ben Kidd und Bush Moukarzel sowie „Am Ball. Wider erbliche Schwachsinnigkeit“ von Lydia Haider in der Regie von Evy Schubert (Margarete Affenzeller)

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Der Mann, der zu wenig wusste Michel Decar über sein Stück „Nachts im Ozean“ im Gespräch mit Jens Fischer

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Michel Decar Nachts im Ozean

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Klick und das Kreuz steht da Warum Milo Rau das Kino mit seiner Mischung aus Emotion und Analyse nicht nur für seine utopische Dokumentation „Das neue Evangelium“ besser brauchen kann als das Theater Das Prinzip Volksbühne Revolution und Zweifel – Die ­wunderbar anarchische Webserie „Rosa Kollektiv Oder: Aktiviere dein inneres Proletariat“ von Christian Filips und Luise Meier Stimmen aus der Ferne der Zeiten Der Podcast „Lost & Sound“ lädt dank wiedergefundener Magnettonbänder zu einer Reise in das heimlich-unheimliche Ton- und Geräuscharchiv des Düsseldorfer Schauspielhauses Meine Erinnerung an Herrn Schuch Über den langjährigen Leiter des Henschel Schauspiel Theaterverlags Der Nebenrollenmeister In Gedenken an den Schauspieler Harald Warmbrunn Bücher Annie Ernaux, Wolfgang Kröplin, Harald Metzkes, Gero Troike

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Meldungen

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Autoren, Impressum, Vorschau

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Angela Richter im Gespräch mit Tom Mustroph

40

stück

magazin 60

aktuell

was macht das theater?

Titelfoto (v.l.n.r.) Frank Castorf, Thomas Ostermeier und Milo Rau. Fotos Ruth Tromboukis / Deutsche Oper Berlin / dpa. Bearbeitung Gudrun Hommers

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Videoarbeiten von Sébastien Dupouey zu Inszenierungen von Thomas Ostermeier: Seite 4 „Dämonen“ von Lars Norén (Schaubühne Berlin, 2010), Seite 5 „Vor Sonnenaufgang“ von Gerhart Hauptmann (Münchner Kammerspiele, 2005), Seite 6/7 „Das Leben des Vernon Subutex 1“ von Virginie Despentes (Premiere demnächst an der Schaubühne Berlin). Fotos Sébastien Dupouey




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künstlerinsert

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Im Zeitalter der Selbstdarstellung Der Videokünstler Sébastien Dupouey mag es, Dinge schnell entstehen und wieder verschwinden zu lassen – Ein Porträt

von Patrick Wildermann

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as mit Impressionen von wogenden, seltsam künstlich erscheinenden Palmen beginnt, wächst sich schon bald zur veri­ tablen Neonhölle aus. Grellbunte Piktogramme ploppen über Bildern einer nächtlichen Megalopolis auf, mal ein Schuh, mal eine Stripperin, dazu erscheinen Statistiken aus der gründlich prekarisierten Arbeitsrealität in Fernost. Teils im Leuchtreklame-Stil, teils als Laufschrift wie im Börsenfernsehen: „In Bangladesch näht eine Arbeiterin 120 Hosen in der Stunde.“ „Eine Nike-Näherin ­verdient in China 17 Cent pro Stunde.“ Ein Diagramm weist den Anteil der Lohnkosten bei der Preiszusammensetzung eines T-Shirts aus: ein Prozent. Die animierten Sequenzen schaffen ein maximales Overkill-Gefühl bei gleichzeitig bestürmendem KitschAppeal. Entfremdungszusammenhänge, pointiert in Pink gefasst. Schöpfer dieser Arbeit ist der Videokünstler Sébastien ­Dupouey. Sie entstand 2005, für Thomas Ostermeiers GerhartHauptmann-Inszenierung „Vor Sonnenaufgang“ an den Münchner Kammerspielen, die das Drama einer zu Reichtum gekommenen, degenerierten Bauernfamilie in die Welt der asia­ tischen Sweatshops verlegte – inspiriert vom damals frischen Bestseller der Globalisierungskritik, Naomi Kleins „No Logo“. Deren Kern-­ Statistiken übersetzte Dupouey ins Cliphafte, Überzeichnete und ließ sie im Loop laufen. Was den Beginn einer ergiebigen Zusammenarbeit zwischen ihm und Ostermeier markierte, die bis heute andauert. Zwar war und ist der 1969 in Paris geborene Dupouey auch im Team mit anderen Regisseurinnen und Regisseuren ­tätig, darunter Christina Paulhofer, Stefan Pucher, Falk Richter, Marius von Mayenburg oder Mikaël Serre. Aber die bei Weitem größte Kontinuität pflegt er mit Ostermeier.

Dabei ist Dupouey eher durch Zufall zum Theater gestoßen. ­Studiert hat er Grafik, an der École nationale supérieure des Arts Décoratifs in Paris. Nebenher spielte er Schlagzeug in einer Band namens Malka Family, die mit ihrem Psychedelic Funk in Frankreich „ziemlich erfolgreich“ war, wie Dupouey sagt. Der visuell begabte Drummer entwarf die Plattencover und anderes Artwork für die Band, drehte später auch Musikvideos. Über seine dama­ lige Freundin (heute seine Frau) lernte er Christina Paulhofer kennen. Und dann Ostermeier. So fing seine persönliche ­ ­Theater-Video-Liaison an. Wobei der Franzose für das deutsche ­Stadttheatersystem – das er mit ehrlicher Bewunderung fürs professionelle Ineinandergreifen sämtlicher Abteilungen eine „Megamaschine“ nennt – vor allem deshalb entflammte, weil es sich permanent durchlässig für Menschen und Medien von ­außen zeige: „Immer auf der Suche nach hybriden Formen“, allzeit crossoverbereit . Dabei hatte Video in Dupoueys Anfangstagen weder auf der Bühne noch im Alltag die selbstverständliche Präsenz von heute. Gerade von Schauspielerseite wurde der Bilderkünstler nicht ­selten als Konkurrent im Aufmerksamkeitsrennen beargwöhnt – „es sei denn, ich habe sie in Großaufnahme projiziert“, wie er amüsiert erzählt. Spätestens mit Eintritt ins Smartphone-Zeitalter nebst seiner Selbstdarstellungspotenziale aber wuchs in seinen Augen rasant auch eine „organischere Beziehung zwischen Video und Theater“. Mittlerweile ist jeder Fotograf, pflegt seinen Instagram-Account, leuchtet sich gewohnheitsmäßig aus. Was für Dupouey wiederum nicht bedeutet, dass er das ­baldige Überflüssigwerden fürchten müsste. Schließlich erschöpft sich seine Kunst nicht in den Oberflächen-Währungen sozialer Netze. Video als bloßer „Plus-Effekt“ oder illustrative Fototapete – so hat er sein Medium nie verstanden. Stattdessen schafft er ­Erzählebenen, die sich zum Text, zur Bühne, auch zur Musik ins


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sébastien dupouey

die Kettenvorhänge rauschte, die Bühnenbildner Jan Pappelbaum Verhältnis setzen. Die entweder unmittelbar andocken oder ihre ganz eigene Sprache sprechen. fürs zerrissene Königreich entworfen hatte. „Mir ist es wichtig, dass das Video nicht nur eine narrative Ebene öffnet, sondern ein „Damönen“ von 2010 ist ein frühes und prägnantes Beispiel dafür, Thomas Ostermeiers Inszenierung von Lars Noréns ObserRaumgefühl schafft“, erläutert Dupouey. Er mag es deshalb auch nicht besonders, wenn auf der Bühne Screens aufgebaut sind und vation überschießender Paar-Neurosen. Inspiration war damals sich das Publikum von Beginn an fragt: Okay, und wann kommt unter anderem Jean-Luc GodardsKlassiker „Die Verachtung“, das Video? Die Bilder, die er für Ostermeiers Rainer Werner insbeson­dere jene Szene, in der Brigitte Bardot und Michel ­Piccoli Fassbinder-Adap­ tion „Die Ehe sich in ihrer Wohnung neben der Maria Braun“ fand, projizierder Cinecittà in die Selbstzerfleischung schrauben – was beim te er zumeist auf die Körper der Zuschauer das durchaus unbeSchauspielerinnen und Schauhagliche Gefühl auslöste, Beobspieler. Den technischen Aufwand achter eines allzu intimen Moments zu sein. Was auch im auf der Bühne gering zu halten – Stück „Dämonen“ oft der Fall ist. und den Protagonisten so viel Das brachte D ­upouey darauf, Gestaltungsfreiheit wie möglich mit sechs jener Überwachungszu geben –, das ist eine von kameras zu arbeiten, die in den Dupoueys Maximen. Im Falle ­ meisten Metro­ polen längst die der Schaubühnen-Version von Hauseingänge, Straßen und Plätze Didier Eribons „Rückkehr nach Reims“ hing daran ein durchaus scannen. Er richtete die CCTVTechnik schon bei den Proben komplexes Spiel mit Rhythmus und Tempo. Im Setting eines so ein, dass die Schauspieler sie nicht orten konnten und proSynchronstudios spricht (in der ursprünglichen Version) Nina jizierte die heimlichen Bilder dann – oft un­einsehbar für das Hoss den Text zu einem dokuvierköpfige Ensemble – an die mentarischen Film, der den Bühnenbildwände. „Eine Voyeur-­ ­Autor Eribon bei der Rückkehr Situation“, so der Videokünstler. in seine Geburtsstadt begleitet. „Als Metapher dessen, was sich Dieses Video wird – durch im Stück ereignet.“ Der Vorgang geschickt kaschierte Stopp­ ­ wurde bis zur Premiere noch sequen­ zen – auf die Sprech­ feinjustiert und in Storyboards geschwindigkeit der Schauspiefixiert. lerin abgestimmt: „Sonst müsste Nicht immer arbeitet Dusie 40 Minuten lang den Bildern pouey so vergleichsweise formhinterherlaufen.“ Dupouey will nicht den Takt vorgeben. Er streng. Wie viel Konzept gefragt Mit Eintritt ins Smartphone­-Zeitalter wuchs eine organischere Beziehung zwischen Video und Theater, sagt Sébastien Dupouey. ist, hängt natürlich auch von den sucht mit seiner Kunst den DiaFoto Shadi Lou Aimee jeweiligen Regisseurinnen und log: „Zwischen dem, was der Text Regisseuren ab. Falk Richter erzählt, was gespielt wird und etwa setze auf das Einbringen was die Bilder dazugeben.“ von Ideen aller Beteiligten, „auf Das gilt auch für zwei Kontexte von Parallelität und Improvisation“. Natürlich sei das ­seiner jüngsten Arbeiten mit Thomas Ostermeier, die pandemie­Videomedium „nicht so flexibel und schnell wie eine Improvisa­ bedingt noch nicht in Berlin gezeigt werden konnten. Für „Wer tion von zwei Schauspielern – aber mit neueren Software-­ hat meinen Vater umgebracht“ – von und mit dem jungen Star­ Entwicklungen holen wir auf“, so Dupouey. Bei Ostermeier hingesoziologen und Romancier Édouard Louis (siehe auch Interview S. 11) – hat er vor allem die Landschaft der Picardie gefilmt, woher gen sei es oft eine Mischung „aus Konzept, Prozessentwicklung, Zufall und den Vorgaben der Bühne“, die der gemeinsamen Louis stammt. Und vorwiegend Kontraste komponiert. Zwischen Romantik und Schwermut, Abstraktion und Konkretem. Mäankünstlerischen Reise die Richtung vorgibt. Im Falle der legen­ dären „Hamlet“-Inszenierung (2008) stand am Anfang etwa dernde Regenflecken wechseln etwa abrupt mit Aufnahmen eines Ostermeiers Frage, ob die Kamera nicht als eine Art Video-­ Arbeiterfriedhofs – direkt gegenüber der Fabrik. Für die Adaption ­ Tagebuch für den zergrübelten Dänen-Prinzen fungieren könne. der sarkastisch überschießenden Gesellschaftssatire „Das Leben des Vernon Subutex I“ von Virginie Despentes wiederum ist er Dazu komponierte Dupouey einen abstrakten Bilderflow – verfremdete Aufnahmen von den Anschlägen des 11. Septembers, zwischen zwei Lockdowns durch das nächtliche Paris gestreift und hat die krassen sozialen Gegensätze beobachtet. Hier die gemixt mit Aufnahmen vom zunehmend mit Papier, Konfetti oder Wasser vollgekübelten Matschbühnenboden – der zumeist über Hautevolee, dort die Junkies und Obdachlosen. //

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Warum bleibt das Kulturbürgertum im Theater weitestgehend unter sich? Wieso kommen Menschen aus prekären Verhältnissen auf der Bühne lediglich als K ­ lischees vor? Und wie steht es überhaupt um den guten alten Klassenkampf? In unserem Schwerpunkt zum Thema Klassismus sprechen wir mit dem Schriftsteller Édouard Louis, dem Regisseur Thomas Ostermeier, der Klassismusforscher*in Francis Seeck und der Kuratorin Pirkko Husemann. Die Autorin Daniela Dröscher klopft das Theatermilieu in einem Essay auf seine blinden Flecken ab.


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klassismus

Die Marx-Brille Der Schriftsteller Édouard Louis und der Regisseur Thomas Ostermeier über Herkunft, Väter und darüber, wer die Arbeiterklasse auf der Bühne repräsentieren darf, im Gespräch

mit Patrick Wildermann

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douard Louis, Thomas Ostermeier, Rassismus, Sexismus und Homophobie sind vergleichsweise offensichtliche Phänome­ ne. Aber wie zeigt sich Klassismus? Édouard Louis: Das ist eine komplizierte Frage, weil es keine organisierten kulturellen oder politischen Kämpfe rund um das ­Thema Klassismus gibt. Natürlich existiert eine Vielzahl von ­Analysen der sozialen Klasse, der Armut und Gewalt, auch der Scham, die mit der Herkunft einhergeht. Aber es gibt keine tragfähigen Denkgebäude zu Klassismus als sozialem Phänomen. ­Damit meine ich nicht ökonomische Aspekte oder die Frage nach Zugängen. Sondern Klassismus als alltägliches Verhalten gegenüber anderen. Michel Foucault spricht von den „Mikropraktiken der Macht“, die das Alltagsleben formen. Was bedeutet es vor diesem Hintergrund, aus der Arbeiterklasse zu kommen und so behandelt zu werden? Dafür brauchen wir eine ganz neue Sprache. Thomas Ostermeier: Ich hatte kürzlich ein Zoom-Meeting mit Regiestudierenden, die ich unterrichte. Wir haben zunächst über Gender-Gleichheit, Rassismus und Homophobie geredet – und dann habe ich den Begriff Klassismus aufgebracht. Eine der Studentinnen entgegnete, das sei ein typischer Diskurs von weißen männlichen Heteros, der letztlich nur die anderen Formen von Diskriminierung verwässern und ihnen die Gelegenheit geben solle, sich selbst auch als Opfer der Gesellschaft darzustel-

Allen Öffnungsversuchen zum Trotz ist das Theater bis heute ein Ort der bürgerlichen Distinktion und der bourgeoisen Rituale – Szene aus Luis Buñuels Filmklassiker „Der diskrete Charme der Bourgeoisie“ aus dem Jahr 1972. Foto dpa

len. Klassismus, meinte sie, würde nur von Menschen in Machtpositionen diskutiert. Stimmen Sie zu? Louis: Absolut nicht. Vor allem in Frankreich trifft das nicht zu, wo die jüngsten Debatten über Klassengewalt von einer Frau geschärft wurden, Annie Ernaux, und einem schwulen Mann, Didier Eribon. Solcher Widerstand erwächst daraus, dass die Diskussion komplett neu ist und die Kategorien erst noch ausgehandelt wer-

Édouard Louis wurde 1992 als Eddy Bellegueule in Hallencourt im Norden Frankreichs (Picardie) geboren. Er studierte Soziologie bei Didier Eribon an der École normale supérieure in Paris. Sein autobiogra­ fischer Debütroman „Das Ende von Eddy“ (2014), in dem Louis von seiner Kindheit und seiner Flucht aus prekären Verhältnissen erzählt, sorgte für nationales und internationales Aufsehen. Im Sommer 2018 war Louis SamuelFischer-Gastprofessor an der Freien Universität Berlin. Foto Arnaud Delrue Thomas Ostermeier wurde 1968 in Soltau geboren und wuchs in Landshut auf. Er studierte Regie an der Berliner Hochschule für Schauspielkunst „Ernst Busch“, war von 1996 bis 1999 Künstlerischer Leiter an der Baracke des Deutschen Theaters Berlin und ist seitdem Intendant der Schaubühne am Lehniner Platz. Dort brachte er Édouard Louis’ Werk „Im Herzen der Gewalt“ als deutschsprachige Erstaufführung auf die Bühne. Die Deutschlandpremiere von Louis’ „Wer hat meinen Vater umgebracht“, uraufgeführt im Sommer 2020 am Théâtre de la Ville Paris, musste aufgrund von Corona zunächst verschoben werden. Foto Brigitte Lacombe

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den müssen. Didier hat ja in „Rückkehr nach Reims“ beschrieben, wie schon der Begriff Klasse zwischen den späten 80er und ­frühen 2000er Jahren erfolgreich aus der öffentlichen Sphäre ­verbannt worden ist. Sogar für ihn – einen Sohn der Arbeiter­ klasse – war es unmöglich, die eigene Biografie in dieser Perspektive zu lesen. Stattdessen hat er sich seine Vergangenheit als schwule Vergangenheit erzählt. Aber um an Thomas anzuschließen: Ähnliche Erfahrungen wie er mit seinen Studierenden habe ich auch gemacht. Inwiefern? Louis: Als ich in den vergangenen Jahren in den USA unterrichtet habe, wurde dort viel über Intersektionalität diskutiert, über die Politiken von Gender und Sexualität – und am Ende hatte ich den Eindruck, dass Intersektionalität alles meint, nur nicht Klasse. Natürlich gibt es ein Zusammenspiel der verschiedenen Formen von Diskriminierung. Schon Sartre hat gesagt, die Frage von Rassismus sei fast immer auch eine Frage von Klasse. Das ist kein Automatismus. Aber nichtweiße Menschen haben ein größeres Armutsrisiko. Ich habe in „Wer hat meinen Vater umgebracht“ geschrieben, dass mein Vater sich selbst aus dem Schulsystem ausgeschlossen hat – aufgrund von Homophobie. Worin besteht der Zusammenhang? Louis: Gute Noten zu bekommen, den Ansagen der Lehrer und des Systems zu folgen, das erschien jemandem wie ihm als schwul. Als verweiblicht. Wer ein echter Mann sein wollte, musste das System herausfordern, sich den Regeln widersetzen. Sein Fall aus dem Schulsystem – der seine soziale Situation bedingt hat – hatte also mit der Dominanz von bestimmten Diskursen über Maskulinität zu tun. Das kann man nicht getrennt betrachten. Aber so, wie die Diskussion heute geführt wird, sind Klassen­ aspekte vollkommen entkoppelt von Fragen nach Diskriminierung und Hegemonie.

Eine perfekte Antwort auf die Frage, wer die Arbeiterklasse auf der Bühne repräsentieren darf – Édouard Louis, hier in Thomas Ostermeiers Inszenierung „Wer hat meinen Vater umgebracht” im Théâtre de la Ville Paris 2020. Foto Jean-Louis Fernandez

Ostermeier: In der Diskussion mit den Studierenden habe ich noch einen weiteren Begriff aufgebracht, der in diesem Zu­ sammenhang wichtig ist: Kreative der ersten Generation. Ich habe in die Runde gefragt, wer dazu zählt. Wenig überraschend kaum jemand. Die Eltern der meisten waren Filmemacherinnen, Drehbuchautoren, Journalistinnen. Wenn wir im Zusammenhang mit Theater über Klassismus sprechen, müssen wir auch fragen: Wer arbeitet im Theater? Und wen erreichen wir dort? Es gab kürzlich eine Umfrage der Stiftung Zukunftsfragen, wer überhaupt ins Theater geht, wer unser Publikum ist. Ostermeier zitiert aus der Studie „Freizeitmonitor 2019“ der ­gemeinnützigen BAT-Stiftung für Zukunftsfragen: „Die Frage, ob sie mindestens einmal im Jahr eine Oper, ein Klassikkonzert oder ein Theaterstück besucht haben, beantworteten nur 22 Prozent mit Ja. Mindestens einmal im Monat besuchten nur 4 Prozent der ­Befragten eine der genannten Veranstaltungen. Auf wöchentlicher Basis: 1 Prozent. 88 Prozent antworteten auf die Frage nach der Häufigkeit ihrer hochkulturellen Freizeitaktivitäten mit: seltener als einmal jährlich. Dazu kommt: die Gruppe ist höchst selektiv. Welche Faktoren über die Zugehörigkeit bestimmen, dürfte ­niemanden überraschen. Es sind formale Bildung und Einkommen. Es ist also eine sehr spezifische Gemeinschaft, die im Theater entsteht. Vielleicht erscheint uns diese als unbedingt schützenswert. Dann müssen wir uns aber auch klar darüber sein, wie ausschließend und gesamtgesellschaftlich nischenhaft diese geschützte ­Gemeinschaft ist.“


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klassismus

Louis: Das überrascht auch mich nicht. Die gesamte Theaterwelt lebt in diesem privilegierten Milieu, das von einer schon freudianischen Verdrängung jedes Klassendenkens bestimmt wird. Die gesamte bourgeoise Weltsicht, das Framing der Realität fußt auf diesem unbewussten Ausblenden. Als ich begonnen habe, Bücher über die soziale Umgebung meiner Kindheit zu schreiben, sind etliche Theatermacherinnen und Theatermacher auf mich zugekommen, die diese Texte für die Bühne adaptieren wollten. Nicht selten lautete der Vorschlag, die Aufführung in einer stillgelegten Fabrik oder auf einem Brachgelände stattfinden zu lassen. Und das waren sehr diverse Menschen. Männer, Frauen, Schwarze, Weiße, Osteuropäer, Südamerikaner …

liche Geschichte ein. Wer Geld hat, kann sich der Politik ent­ ziehen, wer arm ist oder keinen höheren Abschluss besitzt, sieht sich ihr viel ungeschützter ausgesetzt. Was auch für meinen Vater gilt. Er konnte sich notwendige Medikamente nicht mehr leisten, sein Körper ist ein Wrack, er kann kaum noch laufen. Ich habe ihn Thomas vorgestellt … Ostermeier: … Man muss dazu sagen: Édouards Vater und ich sind gleich alt. Louis: Und es war für mich traurig und erschütternd, diese beiden Körper nebeneinander zu sehen. Wie kann man behaupten, über Klasse zu sprechen, bedeute, über die Privilegien weißer Männer zu sprechen?

Und trotzdem dieselben Denkmuster? Louis: Teils aus nachvollziehbaren Gründen. Sie wollten eben nicht nur ein saturiertes Publikum erreichen. Aber wenn ich über die Aristokratie schreiben würde, wäre niemand auf den Gedanken gekommen, dass diese Körper nicht in ein zeitgenössisches Theater passen, dass man die Geschichte nur in einem ausgedienten Palast aufführen kann. Von Pierre Bourdieu wissen wir, dass es gerade für Menschen aus der Arbeiterklasse viel einschüchternder ist, Hipster-Orte wie stillgelegte Fabriken zu besuchen, als ein reguläres Theater oder Museum. Dorthin sind sie zumindest mit der Schule gegangen, es ist institutionalisiert, jeder versteht die Abläufe – selbst wenn am Ende die Zugangshürden hoch bleiben. Was sich hier abbildet, ist dieses fehlende Bewusstsein für soziale Klassen.

Um auf die von Thomas Ostermeier zitierte Studie zurück­ zukommen: Was bedeutet es, dass man im Theater Geschichten aus der Arbeiterklasse einem fast ausschließlich bürgerlichen ­Publikum erzählt? Louis: Ich glaube nicht daran, dass sich das Denken der Bourgeoisie über Nacht ändert, nur weil man ihr ein Stück über das Leiden der Arbeiterklasse vorführt. Aber zumindest zwingt man sie preiszugeben, wie sie wirklich über die Arbeiterklasse denkt. Darin liegt für mich die Kraft eines Kunstwerks, ähnlich der einer sozialen Bewegung: die Herrschenden dazu zu bringen, die Maske abzulegen. Als in Frankreich die Gelbwesten demonstriert haben, kam in den Medien eine Vielzahl von bourgeoisen Diskursen über diese Menschen auf: Sie seien schmutzig, vulgär, homophob,

Wie werden diese Diskurse im fran­ zösischen Feuilleton geführt? Wel­ che Reaktionen gab es auf Ihre ge­ meinsame Arbeit „Wer hat meinen Vater umgebracht“ in Paris? Louis: Überwiegend kam eine sehr bourgeoise Kritik, die bemängelte, das sei kein Theater, das sei Politik. Weil wir auf der Bühne über ­Macron, Chirac und andere reden. Der Kern meines Buches ist aber gerade, dass die Körper der Arbeiterklasse durch die Politik geformt werden. Wenn Chirac oder Macron entscheiden, dass die staatliche Unterstützung gekürzt oder der ­ Zugang zu medizinischer Versor­ gung erschwert wird, schreibt sich dasin die Körper und die persön­

Inszenierungsarbeit aus persönlicher Leidenschaft – Thomas Ostermeiers Édouard-Louis-Adaption „Im Herzen der Gewalt“ an der Berliner Schaubühne 2018, hier mit Christoph Gawenda, Laurenz Laufenberg und Renato Schuch (v. l.). Foto Arno Declair

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thema

dumm. Damit wurde ein Denken entlarvt, das sich sonst hinter Lügen und ideologischen Diskursen versteckt. Ostermeier: Die Frage nach dem Publikum ist für meine Arbeit wesentlich. Als ich an die Schaubühne kam, habe ich als erste Inszenierung Lars Noréns „Personenkreis 3.1“ gemacht. Der ­Titel bezieht sich auf eine offizielle Kategorie für Obdachlose, Sex-Arbeiterinnen und Drogenabhängige in Schweden. Über diese Ausgeschlossenen der Gesellschaft wollte ich reden. Von heute aus betrachtet war das sicher eine meiner wichtigsten, vielleicht sogar eine meiner besten Arbeiten. Fünf Stunden Elend auf der Bühne, aber auch Wut und Kraft, der Drang, dieses Elend zu bekämpfen. Das Resultat war, dass wir bestimmt 60 Prozent des alten Schaubühnen-Publikums verloren haben. Etliche sind türenknallend aus dem Saal gestürmt. Auch damals hieß es: Das ist doch kein Theater, warum soll ich mir ein Ticket für etwas kaufen, was ich auch umsonst am Bahnhof Zoo sehen kann? Was war die Konsequenz daraus? Ostermeier: Einer der nächsten Schritte für mich war, Henrik ­Ibsen durch die marxistische Brille zu lesen. Mir wurde klar, wie präsent in Ibsens Stücken die Angst des Bürgertums vor dem ­sozialen Abstieg ist. Eine Angst, die sich auch in unserer gegenwärtigen Gesellschaft durch den Siegeszug des Neoliberalismus verfestigt hat. Neoliberalismus ist ja eine Politik der Angst. Man nimmt einen mies bezahlten, prekären Job an, aus Angst, auf der

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Prominentes Selfie – Édouard Louis (2. v. l.) mit Thomas Ostermeier (r.), Didier Eribon (2.v.r.) und dem Philosophen Geoffroy de Lagasnerie (l.). Foto Édouard Louis

Straße zu landen. Zu Beginn der 2000er Jahre hatte auch die ­Mittelklasse – bedingt durch verschiedene ökonomische Krisen – verstanden, dass sie nicht ewig zu den happy few zählen wird. ­Darüber wollte ich reden, mit meinem bürgerlichen Publikum. Als jemand, der selbst bürgerlich geworden ist. Ende 2016 kam dann das, was ich die Didier-Eribon-Wende nenne. Wie sah die aus? Ostermeier: Durch „Rückkehr nach Reims“ habe ich verstanden, dass ich nicht allein bin. Dass ich die Erfahrung teile, aus bescheidenen Verhältnissen zu stammen, aber plötzlich zur kulturellen Elite zu gehören. Und dass ich mich dem stellen muss. Ab diesem Punkt war es mir egal, ob ich zu einem bürgerlichen Publikum spreche oder nicht. Ich hatte das Gefühl, ich könnte mühelos noch einen Ibsen, noch einen Shakespeare machen – aber aus persön­ licher Leidenschaft wollte ich „Rückkehr nach Reims“, „Im Herzen der Gewalt“ und „Wer hat meinen Vater umgebracht“ auf die Bühne bringen. Das war ein Gefühl der Befreiung. Mittlerweile ist es populär geworden, in Büchern, Theaterstücken und Filmen zu erklären, wie die Arbeiterklasse tickt und weshalb


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sie sich den Rechtspopulisten zuwendet. Muss man sich hüten, allzu simple Erklärungen anzubieten? Ostermeier: Wir müssen vor allem aufpassen, nicht in die Falle zu tappen. Die extreme Rechte ist im Begriff, den Diskurs über Klasse zu stehlen. Sie kapert die Terminologie der progressiven Linken und versucht den Anschein zu erwecken, einzig ihr liege das Wohl der Ausgebeuteten am Herzen. Deswegen müssen wir sehr vorsichtig sein, wie wir über Klassismus reden. Wir dürfen nicht den Eindruck erwecken, es sei eine Verschwörung des deep state im Gange, eines globalen Finanzsystems, das nur den Reichen zu­ arbeitet. Das ist rechtsextreme Ideologie. Louis: Aber wenn wir von der Linken das Thema Klassismus nicht adressieren, machen wir uns zu Komplizen des Aufstiegs der Rechten. Genau darin liegt eine unserer Hauptverantwor­ tungen. Was im Diskurs über Klasse auch immer wieder aufkommt, ist die Frage nach der Schicksalhaftigkeit der Verhältnisse. Sie ­beide geben ja ein Beispiel dafür, dass man nicht notwendiger­ weise ein gewalttätiger Trinker wird, obwohl der eigene Vater einer war. Louis: Aber zu behaupten, dass jeder eine Wahl hätte, ist für mich wiederum ein Ausweis bourgeoisen Denkens. Implizit beschimpft man damit diejenigen, die es nicht geschafft haben, ihrer Klasse zu entkommen: Sie seien faul, hätten sich nicht genug angestrengt. Statt die Verantwortung auf die Prekarisierten abzuwälzen, muss man aber aufzeigen, in welchen Zwängen sie stecken. Die Gesellschaft ist eine Mischung sozialer Konfigura­ tionen. Und nur in diesen Konfigurationen hat man eine Wahl. Festzustellen, dass soziale Muster reproduziert werden, genügt nicht, denn diese Muster sind nie linear. Und noch etwas ist mir wichtig: Ich bin nicht meinem sozialen Milieu entkommen, weil ich besonders frei gewesen wäre, sondern weil ich es musste in meiner besonderen Situation als schwuler Sohn der Arbeiterklasse. Ostermeier: Mir ist noch etwas anderes wichtig. Im Theater wird ja viel darüber diskutiert, wer für wen sprechen, wer wen repräsentieren darf. Wer darf eine Person of Colour spielen, wer eine transgender Person? Wir sollten auch darüber sprechen, wer ­Arbeiterklasse auf der Bühne repräsentieren darf. Und was wäre die Antwort? Ostermeier: Édouard Louis. Darum habe ich ihn gefragt, ob er selbst in „Wer hat meinen Vater umgebracht“ auftreten möchte. Ich behaupte nicht, dass kein anderer Schauspieler dafür infrage gekommen wäre. Aber die Kraft der Inszenierung ist, dass diese Frage nach Legitimität sich erübrigt. Louis: Ich bin anderer Meinung als Thomas. Legitimiert sind alle, die den richtigen Kampf kämpfen. Wenn Thomas aus der Aristokratie stammen und Herr von Ostermeier heißen, aber für die Arbeiterklasse streiten würde, wäre mir seine Herkunft egal. Für mich ist die Frage nie: Wer spricht? Sondern: Was wird gesagt? Hilft es den Menschen, zerstört es sie, befreit oder demütigt es sie? Das Ziel von sozialen Bewegungen ist in meinen Augen, dass sie Türen öffnen – und nicht noch mehr Menschen zum Verstummen bringen, die vermeintlich nicht mitreden dürfen. //

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Ein Theater der 99 % Sexismus und Rassismus sind zentrale Themen auf der Bühne. Warum tut sich das Theater so schwer, auch über Klassismus zu sprechen?

von Daniela Dröscher

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as Theater hat ein Klassenproblem. Ich habe lange gebraucht, um diesen Befund so klar formulieren zu können. Gespürt habe ich meinen class trouble immer. Nur war „Klasse“ lange Zeit keine Kategorie im öffentlichen Diskurs. Also dachte ich: Ich bin falsch, nicht das System. Meine Liebe zum Theater ist eine späte Liebe, sie beginnt in den neunziger Jahren mit der Berliner Volksbühne. Andere wachsen in einer Theaterfamilie auf oder sind schon mit zehn Mitglied im Jugendclub. Ich nicht. In meinem kleinbürgerlich geprägten Elternhaus der westdeutschen Provinz der achtziger Jahre war Theater kein Thema (da hieß es höchstens: „Mach nicht so ein Theater“). Dass ich mich in der Volksbühne und ihrem jungen akademischen Publikum trotzdem heimisch gefühlt habe, lag sicher auch daran, dass dem Gefühl nach damals alle dorthin gingen. Erst als ich die Seiten wechselte und anfing, selbst für die Bühne zu schreiben, begann ich zu hadern und meine kleinbürgerliche Herkunft noch verschämter zu verschleiern. Ich fühlte mich fehl am Platz. Heute weiß ich, dass das mehr als ein Gefühl war. Mir fehlte das soziale Selbstbewusstsein sowie das berühmte hot knowledge, um mich in diesem komplexen sozialen Feld zu orientieren, geschweige denn zu professionalisieren. Auch kollidierte das ­Theatermilieu gewaltig mit meinem Habitus. Zu meiner anerzogenen Grammatik gehörte es, nicht auffallen zu wollen; was angesichts der herausgehobenen Position, die einem als Dramatikerin zukommt, einigermaßen unmöglich ist; denn es geht ja genau darum: das Wort zu ergreifen, die Stimme zu erheben – gesehen und gehört zu werden. Wogegen sich mein Habitus ebenfalls sträubte, war der ­hierarchisch organisierte Theaterraum. Ich hatte es schon immer seltsam gefunden, dass die einen auf der hell erleuchteten Bühne stehen, während die anderen reglos und still dasitzen. Nun, da meine eigenen Stücke auf der Bühne aufgeführt wurden, befremdete mich die Hierarchie umso mehr. Der digitale Raum baut inzwischen vielen Menschen eine Plattform. Wer senden will, kann senden. Trotzdem bedeuten die Bühnen des Theaters als protegierte und begehrte Orte der Hochkultur noch immer ein ungeheures Privileg.

Inzwischen bin ich ganz selbstverständlich Autorin. Anders als früher empfinde ich das, was Pierre Bourdieu den „gespaltenen Habitus“ nennt, immer weniger als Drama. Ich arbeite damit. Ich ­mache ihn produktiv, indem ich über meine Scham schreibe und mit anderen darüber diskutiere. Was dadurch passiert, ist interessant. Wer öffentlich über seine soziale Herkunft spricht, reißt ­nahezu automatisch die Grenzen zwischen Bühne und Publikum – wie auch die zwischen den Zuschauerinnen und Zuschauern untereinander – ein. Eine Herkunft haben wir nämlich alle. Auch weiße westdeutsche Menschen mit Mittelklasse-Eltern. Die Logik, der zufolge diese Herkunft als unsichtbare Norm gilt, während die Herkunft von Menschen mit ostdeutschen, migrantischen und/ oder erwerbslosen Eltern unentwegt als „Herkunft“ markiert wird, hat einen wesentlichen Anteil an der Klassenproblematik.

Wer spricht? Dafür, wie weiß und patriarchal das Theater strukturiert ist, gibt es ein immer größeres Bewusstsein, und ich habe Hoffnung, dass kulturelle und geschlechtliche Diversität eines Tages die „neue Selbstverständlichkeit“ sein wird, die der Performer Tucké Royale in einem gleichnamigen Manifest reklamiert. Auch für soziale Herkunft wird das Theater wieder wacher. In den Spielplänen finden sich Stoffe wie die von Annie Ernaux, Didier Eribon oder Manja Präkels, die dieses Thema autobiografisch beleuchten. Ich wünsche mir und dem Theater noch viele solcher Texte – und ich wünsche mir, dass sie dabei nicht exotisiert und/oder wiederum zum neuen feinen Unterschied stilisiert und angeeignet werden. Auch im Hinblick auf Klassenstoffe stellt sich nämlich die Frage: Wer spricht? Und in welchen Resonanzraum hinein? Das Theater ist ein von der Mittel-, wenn nicht gar Oberklasse dominierter Raum. Das zeigt sich bei der sozialen Herkunft ­ beziehungsweise dem sozialen Status der Akteurinnen und Akteure, schreibt sich fort in den Themen und Formen der Programme und resultiert in einem sozial tendenziell homogenen Zuschauersaal. Wer spricht auf den Theaterbühnen? Arbeiter- und Bauernchöre, so viel steht fest, sind es jedenfalls selten – Szene aus Tom Kühnels und Jürgen Kuttners Heiner-Müller-Inszenierung „Die Umsiedlerin oder Das Leben auf dem Lande“ mit Jörg Pose (r.) am Deutschen Theater Berlin (2019). Foto Arno Declair


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Seit einiger Zeit sorgt das audience development durch Publikumsakquise für mehr Diversität in den Zuschauersälen. Auch soziale Unterschiede rücken zunehmend in den Fokus. Man ­versucht, Menschen ins Theater zu kriegen, die sonst nicht ins Theater gehen. Ein interessantes Ergebnis der sogenannten „NichtBesucher-Forschung“ zeigt: Am effektivsten ist das Graswurzelprinzip des „Sagt es allen weiter“. Menschen, die sonst nie Kulturveranstaltungen besuchen, lassen sich durch Empfehlungen aus dem nahen Umfeld überzeugen. Durch Einladungen von Freunden, Kolleginnen, Familienmitgliedern, Nachbarn etc. Ich kann das bestätigen: In dem Mehrfamilienhaus, in dem ich lebe, haben die Menschen sehr verschiedene Bildungsgrade, Einkommen und Berufe. Wenn ich sie zu einer Veranstaltung einlade, kommen sie. Nicht alle, nicht immer, aber sehr viele sehr oft. Ein solches ­Zusammenkommen von sozial Unterschiedlichen tut dem T ­ heater unbedingt gut, ist aber nur ein erster Schritt.

In der Bredouille Wer über Klassen spricht, will Klassen abschaffen. Wichtig ist ­dabei, die eigene soziale Position nicht zu transzendieren. Und genau an diesem Punkt gerät das Theater in die Bredouille. Die Klassenfrage mag gewissermaßen zu seinem festen Kanon ge­ hören – Brecht ist ja zum Beispiel ein Evergreen. Ungeachtet ­dessen sind die Strukturen des Theaters im Kern bis heute zutiefst ­höfisch geprägt. Intendanten (sic!) gelten nicht ohne Grund hinter vorgehaltener Hand als „Sonnenkönige“. Eine Referentin der 2020 von Maxi Obexer veranstalteten Summer School sagte so treffend: Es gibt in unserer Gesellschaft gegenwärtig noch exakt drei Institutionen, die so streng hierarchisch organisiert sind, dass sie als höfisch gelten können, nämlich Krankenhäuser, Universitäten und das Theater. Das gilt vor allem für das Stadttheater. Festangestellte eines städtischen Hauses gehören der Mittel-, die Intendanten großer Häuser der Oberklasse an. Zugleich basiert das Stadttheatersystem auf (Selbst-)Ausbeutung – von der Theaterkritik über Assistentinnen und Assistenten bis zu freischaffenden Künstlerinnen und Künstlern arbeiten die meisten unter prekärsten Produk­ tionsbedingungen. Langfristig kann in diesem Feld nur über­ leben, wer entweder a) zügig in der Hierarchie aufsteigt, sprich, sehr schnell sehr erfolgreich ist, b) mit einem gut verdienenden Partner oder einer gut verdienenden Partnerin zusammenlebt, c) ein Erbe zu erwarten hat, d) mietfrei wohnt, e) keine Kinder oder pflegebedürftigen Nächsten zu versorgen hat. Zudem basiert das System auf einer enormen persönlichen Abhängigkeit. Alle, bis auf die gewerkschaftlich abgesicherten Gewerke, sind der ­Intendanz sowie dem Karussell des Intendanzwechsels und damit dem Wohlwollen einzelner Personen unterworfen. Interessant ist: Außerhalb des Theaters wollen die meisten Menschen (auch die reichen) Umfragen zufolge sehr gerne Mittelklasse beziehungsweise Mittelschicht sein. Im Theater, würde ich wetten, ­wären das eher wenige; obwohl, wie gesagt, viele Festangestellte ­faktisch dazuzählen (zur Orientierung: ein Single gehört ab 1560 Euro netto zur Mitte). Die Freien schwanken in dieser Einschätzung genauso wie ihre Gehälter, mal leben sie über Monate prekär, mal über Monate mit Mittelklassen-Gehalt.

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Dieses Schwanken (das ökonomische und auch das in der Selbsteinschätzung) ist konstitutiv für die Mittelklasse und macht es so schwierig, sie als Klasse zu erzählen. Wer das Wort in die Suchmaschine eingibt, erfährt allenfalls etwas über schnittige Fahrzeugmodelle; noch immer lehnen einige Sozialwissenschaft­ lerinnen und Sozialwissenschaftler die Kategorie ab, weil sie zu heterogen ist. Richtig ist, dass die Mittelklasse nach Marx keine Klasse „für sich selbst“ ist. Sie verfügt über kein verbindendes Klassenbewusstsein – oder allenfalls über ein negatives, das sich durch die (oftmals unbewusste) Orientierung nach oben und die Abgrenzung nach unten auszeichnet, weshalb man von einer „nivellierenden Mittelstandsgesellschaft“ spricht. Die Mitte ­federt also den Antagonismus zwischen Arm und Reich ab, statt ihn zu bekämpfen. Dabei schwebt gerade der lohnabhängige Teil der Mittelklasse selbst oft über dem existenziellen Abgrund, da er kein Kapital besitzt, um im Falle eines Jobverlusts langfristig zu überleben. Für das Theater ist die Mittelklasse gleich aus mehreren Gründen relevant. Zum einen ist sie als prozentual größte Klasse kulturell tonangebend, insofern sie durch immer neue feine Unterschiede Abgrenzungen, symbolische Ordnungen und ­ Wert­ vorstellungen produziert. Auch das Theater, „die große Distink­tionsmaschine“, wie die Regisseurin und Performerin Sahar Rahimi es einmal genannt hat, glaubt sich abhängig von diesen Unterschieden und produziert ständig Neues; neue ­Namen, neue Hypes. Relevant ist die Mittelklasse für das Theater zum anderen, weil in dieser Mitte gegenwärtig ein Kulturkampf tobt. Dem ­Soziologen Andreas Reckwitz zufolge hat sich seit den 1990er Jahren neben der alten eine neue Mittelklasse herausgebildet. Letz­tere vereint urban lebende, akademisch und progressiv geprägte Menschen (wie zum Beispiel mich), die alte dagegen besteht aus ­Menschen mit mittlerer Bildung, die zumeist in kleinstädtischländlichen Regionen verwurzelt und dem Habitus nach eher materialistisch und traditionell sind (wie zum Beispiel meine ­ Eltern); wobei der Konflikt nicht einfach einer zwischen den ­ ­Generationen ist. Für Reckwitz liegt in dieser gespaltenen Mitte der größte gesellschaftliche Antagonismus; auch deshalb, weil sie nicht selten in eine politische Differenz konservativ/rechts versus links zu übersetzen ist; wenn auch nicht immer eins zu eins. (Wenn das kein dramatisches Potenzial birgt, weiß ich auch nicht …).

Paradox aus Revolte und Bürgerlichkeit Als Drittes beschenkt gerade die Unterscheidung alte/neue Mittelklasse das Theater mit einer Selbstreflexion: Die Mitte, das sind nicht die anderen. Die Mitte – und der Riss, der durch sie hindurchgeht – ist das Theater selbst. Als Angehörige der neuen Mittelklasse leben Künstlerinnen und Kulturschaffende ein ­ ­Paradox aus Revolte und Bürgerlichkeit; viele sind nicht zuletzt durch ihre Herkunft mit der alten Mittelklasse verbunden. Auch das hat Tradition. „Kleinbürger waren es, die das Abziehbild vom Spießer entwarfen“, schrieb Hans Magnus Enzensberger einmal, „und aus Klein­bürgern hat sich ganz überwiegend die Boheme rekrutiert, deren Spezialität es war, andere Kleinbürger zu erschrecken.“


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Überwände sie einmal ihr fehlendes Klassenbewusstsein,­ könnte die neue Mittelklasse ein wichtiger Ally im Klassenkampf sein. Im 21. Jahrhundert ist dieser nicht länger allein, wie Marx noch dachte, „das Werk der Arbeiterklasse selbst.“ Die neue ­Mit­telklasse ist um so vieles queerfeministischer, postmigran­ tischer und aktivistischer als die alte. Sie partizipiert bereits jetzt an so großartigen Bündnissen wie #unteilbar, Fridays for Future oder Black Lives Matter. Warum sollte es ihr nicht gelingen, sich auch in transnationalen Klassenkämpfen zu organisieren, wie sie etwa Cinzia Arruza, Nancy Fraser und Tithi Bhattacharya in ihrem Buch „Feminismus für die 99  %“ fordern? (Die These: Ein Feminismus, der nicht intersektional denkt, ist kein ­Feminismus; er muss notwendig den Kampf gegen Ausbeutung mitmeinen). Auch das Theater müsste ein Theater der 99 % sein wollen. Das würde auch veränderte Produktionsbedingungen bedeuten. Es würde bedeuten, die Macht im eigenen Haus umzuverteilen, Verdienstobergrenzen für Starregisseurinnen und -regisseure ein­ zuführen und dafür die Mindestlöhne sämtlicher unterbezahlter Instanzen anzuheben, inklusive der Reinigungskräfte im Haus. Vor allem aber würde es bedeuten, die Distinktion aus dem Maschinenraum des Theaters zu verbannen. Die „Distinktionsmaschine“ stillzustellen. Die Frage ist: Will das Theater überhaupt ein Theater der 99 % sein? Oder will es im Grunde exklusiv sein und bleiben? Wessen Applaus erträumt es sich insgeheim? Den der Theaterkritik? Der Kulturpolitik? Oder den der anderen professionals? Hand aufs Herz: Wen will man überhaupt zu Gast haben? All die, die nicht kommen, die noch nie gekommen sind – lädt man die aus Versehen nicht ein, oder ist man eigentlich ganz gern unter sich? Es ist produktiv, das Theater aus der Perspektive derjenigen zu betrachten, die es durch unsichtbare, ungewollte Barrieren auf Abstand hält. Zumeist sind diese Barrieren nämlich ästhetischer Natur. In dem Stück „Café Populaire“ von Nora Abdel-Maksoud heißt es einmal sarkastisch: „Sozialhilfegesetze und Sanktions­ paragraphen gegen teiggesichtige Rentner beleidigen uns ästhetisch. Auch mit wem man sich verbrüdert, ist eine Frage der ­Distinktion.“ Oft fängt die Abgrenzung ja schon bei den eigenen Eltern an, bei ihrem Dialekt oder ihren unbedarften Sehgewohnheiten. (Vor ein paar Jahren noch wäre ich vor Scham gestorben, meinen Vater bei einer Premiere dabeizuhaben …)

Wozu lade ich ein? Neben diesen Distinktionsängsten gibt es zugleich die narzisstische Urangst, dass gar niemand kommt. Ohne Publikum ist ein Theaterabend so trostlos wie eine Papstpredigt im leeren Petersdom. Wie wäre es, diese Ängste einmal beiseitezulassen und ­Theater konsequent von der Gastgeberschaft her zu denken? Ich meine damit nicht, das Publikum servil zu bedienen oder es in vorauseilenden (Fehl-)Annahmen „abholen“ zu wollen. Es hieße nur, es konzeptionell in den Mittelpunkt zu stellen. Dann wäre der Gast König, nicht der Sonnenkönig. In ihrem Buch „The Art of Gathering. How We Meet and Why It Matters“ erklärt die Autorin Prya Barker, wieso es als Gastgeberin oder Gastgeber elementar ist, Zusammenkünfte ­

von e­ingefahrenen Routinen zu befreien. Ganz gleich, ob ich eine ­Geburtstagsparty feiere, ein Podium kuratiere oder zu einer Performance einlade: Als Gastgeberin, sagt sie, muss ich stets ­genau wissen, wozu ich Leute einlade. Ich darf nicht in tautolo­ gische Wünsche verfallen wie: „Ich will vor Publikum spielen, weil ich vor Publikum spielen will.“ Nein, beharrt Barker, was genau ist mein Wunsch? Wozu lade ich ein? Und wen? Ein Beispiel: Wer Didier Eribon für die Bühne adaptiert, der in dem autobiografisch geprägten Buch „Rückkehr nach Reims“ seine Herkunft aus dem französischen Arbeitermilieu thematisiert, verschenkt etwas, wenn er oder sie den sozialen Status des Publikums nicht konzeptionell mitdenkt. Will man Eribon denjenigen zeigen, die immer kommen? Also der in sich gespaltenen Mittelklasse samt akademischer Eribon-­ Fangemeinde? Oder aber denen, von denen Eribons Buch handelt, nämlich den ehemals linken Arbeitern und jetzt rechts wählenden Erwerbslosen und arbeitenden Armen (ein in der Mittelklasse sehr beliebtes Narrativ, das den Rechtsruck aus der Mitte auslagert)? Beides ist okay. Nur sind es kategorisch ­verschiedene Resonanzräume. In der Filmkomödie „The Death of Stalin“ von Armando Iannucci gibt es eine ­Szene, in der ein Intendant sein Opernhaus, aus dem gerade ein Mozart-Konzert übertragen wurde, hektisch mit einem improvisierten Publikum füllen muss. Stalin, der das Konzert im Radio gehört hat, ­fordert eine Kopie an, doch ist die Aufführung aufgrund eines technischen Fehlers nicht mit­ geschnitten worden, und der Intendant sieht sich gezwungen, das Ganze zu wieder­holen. Die Zuschauer aber sind längst in alle Winde verstreut. Da er zwingend eine akustische Kulisse braucht, lässt er Soldaten P ­ assanten von der Straße rekrutieren: Angestellte, Blumenmädchen, Schuhputzer, Drehorgelspieler, Bettler; sie alle, die sonst nie kommen (können/wollen), strömen in den ­Sendesaal. Als das ­Orchester zu spielen beginnt und die Kamera die zwischen Protest, Verzauberung und Ungläubigkeit schillernden Gesichter einfängt, wird klar: Wow, jetzt ist es ein völlig anderes, ein unfrei­willig ­revolutionäres Mozart-Konzert … Im Moment steht die Distinktionsmaschine Theater ­weitestgehend still. Vielleicht ist das eine Chance, die Routine der feinen Unterschiede zu hinterfragen. Unterschiede müssen nämlich nicht automatisch Abgrenzung bedeuten. Die Berliner Künstlerin Marina Naprushkina hat beispielsweise mit der ­Neuen Nachbarschaft in Berlin Moabit einen Ort geschaffen, der null mit Distinktion zu tun hat. Dabei hat er, auch wenn er kein Theater ist, sehr große Ähnlichkeit mit einem Theater, insofern darin Theater stattfindet. Geflüchtete, Nachbarn und professionelle Künstlerinnen und Künstler kommen dort zusammen, um selbst kuratierte Räume zu bespielen. Was daraus entsteht, ist ein Theater, das – so paradox es klingt – kein Publikum braucht. Die Akteurinnen und Akteure sind selbst das Publikum, und umgekehrt. Niemand ist König, alle sind König. Übrigens: Der Raum lebt vom Weitersagen. //

Daniela Dröscher ist Autorin und Dramatikerin. Von ihr erschien 2018 im Verlag Hoffmann und Campe „Zeige deine Klasse. Die Geschichte meiner sozialen Herkunft“.

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Feinripp-Theater Klassismusforscher*in Francis Seeck und Kuratorin Pirkko Husemann über Prekariatsklischees in der freien Szene im Gespräch mit Sabine Leucht

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rancis Seeck, Sie sind Klassismusforscher*in. Womit be­ schäftigen Sie sich konkret? Francis Seeck: Klassismus beschreibt die Diskriminierung aufgrund der Klassenherkunft oder -zugehörigkeit, der sozialen Herkunft oder des sozialen Status, also zum Beispiel die ­ Diskriminierung von Arbeiterkindern im Bildungssystem, ­ Erwerbs­ losenfeindlichkeit, Vorurteile gegenüber Arbeiterin-

nen und Arbeitern oder Menschen mit nichtakademischen Hintergründen. Im Sommer haben Sie im Auftrag des Impulse Theater Festivals die Programme der freien Szene auf Ausgrenzungsmechanismen hin durchgesehen. Mit welchem Ergebnis? Seeck: Es wurden viele englische Begriffe verwendet, die nur ein akademisches Milieu ansprechen, und bei Streaming-Angeboten haben sich die kulturellen Einrichtungen explizit abgegrenzt von denen, die jetzt angeblich den ganzen Tag in der Jogginghose herumsitzen und schlechtes Privatfernsehen gucken. Das Zuhause


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„Brauchse Jobb?“ – Szene aus Thomas Lehmens „Arbeitslosenballett“ beim Dortmunder Favoriten Festival 2020. Foto Didi Stahlschmidt

der Zuschauerinnen und Zuschauer wurde dabei oft selbstverständlich so imaginiert, dass mindestens ein zweites Zimmer zur Verfügung steht, in dem sie ihre Cocktailecke für die Pause aufbauen können. Und auch das Online-Publikum selbst hat sich auffällig oft mit Bücherregalen, teuren Bildern und Objekten vor der Kamera inszeniert, die zeigen: Ich habe Geld und einen gewissen Status. Auch in Inszenierungen, die sich mit Menschen aus der Arbeiterklasse beschäftigten, gab es klassistische Klischees: Neben der Jogginghose zum Beispiel Feinripp-Achselshirts und Alkohol. Erwerbslose werden im freien Theater gar nicht so anders dargestellt als in RTL2-Dokus wie „Hartz und herzlich“. Dabei ist das deutsche Theater ja von seinem Selbstverständnis her sehr auf Inklusion und Diversität bedacht. Hat es dennoch ein Klassismusproblem? Seeck: Ich habe das Gefühl, dass das Thema Klassismus noch ganz am Anfang ist. Auch wo es um Inklusion, Diversität und ­Antidiskriminierung geht, wird es sehr selten mitgedacht. Ich gebe viele Fortbildungen im Kulturbereich, und natürlich gibt es Versuche, auch Leute zu erreichen, die nicht aus dem Kultur­ bürgertum und aus akademischen Kontexten kommen, aber eine wirkliche Antidiskriminierungspolitik, was Stellenbesetzungen oder eine Mitbestimmung über Inhalte in Bezug auf Klasse ­angeht, habe ich bisher kaum erlebt. Pirkko Husemann, Sie haben 2015 in Ihrem ersten Jahr als Künstle­ rische Leiterin der Schwankhalle in Bremen ebenfalls kritische Rück­ meldungen zur Verständlichkeit ihres Programms bekommen. Pirkko Husemann: Ich möchte vorausschicken, dass ich mich nicht als Klassismus-Expertin begreife und deshalb überrascht war, für dieses Gespräch angefragt zu werden. Weil ich aber auch glaube, dass es sich dabei um eine Form der Diskriminierung handelt, die im Theater total unterbelichtet ist, habe ich versucht, meine Erfahrungen aus 22 Theaterjahren auf dieses Thema hin zu lesen. Das, was wir anfangs in Bremen erfahren haben, hatte vielleicht auch mit Klassismus zu tun, aber es war nicht das Kernproblem. Bremen ist eine sehr kulturaffine Stadt und stark durch dramatisches Theater und Schauspiel geprägt. Wir standen eher vor der Problematik, dass wir ganz andere Theaterformen dort hingebracht und in der Ankündigung nicht über Narrative gesprochen haben, sondern über Erfahrungen, die man machen kann, über politische Themen und Formate. Dennoch kamen Sie selbst zu dem Schluss: „Postdramatisches Theater ist nicht selbsterklärend“ – und haben dann einiges getan. Husemann: Wir haben nach einem Jahr, in dem wir schlicht zu wenige Zuschauer hatten, wieder ein solidarisches Preissystem eingeführt, angelehnt an das taz-Abomodell mit drei Stufen. Um eine günstigere Karte zu bekommen, musste man sich nicht a­ usweisen als Studierende oder Rentner, sondern konnte nach ­eigenem Ermessen bezahlen. Außerdem haben wir einen Zu­schauer*innen­ beirat gegründet, um zu verstehen, was wir in der Kommunikation

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falsch machen. Der war allerdings sehr homogen besetzt mit Menschen, die Zeit haben, abends ins Theater zu gehen und mit uns zu reden, ohne dafür eine monetäre Gegenleistung zu brauchen. Dennoch haben wir ein paar Sachen vom Beirat gelernt. Zum Beispiel? Husemann: Ich habe einen Kurs in Einfacher Sprache besucht, weil mir nicht klar war, dass das Wort „Kontext“ nicht selbstverständlich ist. Und es gab Antworten auf die Frage, warum Einzelne nicht ins Theater gehen, für die ich heute noch dankbar bin: „Weil ich nicht weiß, was ich anziehen soll“, „weil ich Kinder habe und abends nicht kann“ – oder weil es im betreuten Wohnen nebenan um 18 Uhr Abendbrot gab. Später haben wir dann auch sonntagnachmittags gespielt, was sehr gut angenommen wurde. Stadtraumprojekte hingegen waren von Anfang an Teil unseres Konzeptes. Wenn ich heute noch einmal an einem neuen Ort versuchen würde, für möglichst viele – ich sage nie: für alle – Theater zu machen, dann wäre das die erste Geste: rausgehen aus dem Haus, in das man sich vielleicht nicht hineintraut, ­etwas umsonst anbieten und Themen wählen, die jedermann betreffen. Sei es Kommunikation, Essen oder Müll. Das sind dann zwar oft Projekte, die nicht nach Kunst aussehen, sondern nach dem Besuch eines Postboten oder nach WG, sie sind aber erst mal nahbar. Francis Seeck, sind da Ihrer Meinung nach schon ein paar wichtige Hebel gezogen worden, oder braucht es andere Veränderungen? Seeck: Ich finde die Ängste gut aufgezeigt und halte es für wichtig, ehrlich darauf zu schauen, aus welchen Gründen Leute ins Theater gehen oder eben nicht. Auch das Preissystem – und dass man sich nicht ausweisen muss – gefällt mir, weil es sehr schambesetzt ist und teilweise auch zu klassistischen Sprüchen kommt, wenn man den ALG-2-Bescheid zeigt. Ich weiß aus der Erwerbslosen­ bewegung, dass Leute dann lieber gar nicht hingehen. Mit Aussagen wie: „Das sieht dann nicht mehr nach Kunst aus, sondern nach WG“ sind wir allerdings schon ganz tief im Thema drin; nämlich dass Kultureinrichtungen, wie auch Pierre Bourdieu gezeigt hat, eine machtvolle Stellung im Klassenver­ hältnis haben. Sie entscheiden darüber, was als Kultur gilt, wer als gebildet oder ungebildet angesehen wird oder gar als unzivilisiert. Diese Spannung erlebe ich oft auch in meinen Fortbildungen: Man will sich öffnen und hat zugleich Angst davor, seinen Status zu verlieren. Wenn wir Schlager spielen, um ein anderes Publikum zu erreichen, überschreiten wir dann eine Grenze? Die Frage ist ja auch: Wann endet das Gut-Gemeinte, und wo fängt die Herablassung an? Ich selbst habe vor Jahren in einem Artikel über ein Münchner Jugend-Tanzprojekt geschrieben, wie toll es ist, dass hier auch Jugendliche aus „bildungsfernen“ M ­ ilieus zeigen können, was in ihnen steckt. Dass sich davon ein Kind ver­ letzt fühlte, hat mich sehr beschämt. Husemann: Da kann man immer nur weiter dazulernen. Das betrifft ja auch alle anderen Formen von Diskriminierung. Wer sich wenig oder gar nicht diskriminiert fühlt, weiß nicht, was er tut mit Sprache. Da hilft nur Klappe halten, zuhören und anerkennen, dass man jemandem zu nahe getreten ist.

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Seeck: Da würde ich nie den einzelnen Menschen die Schuld ­geben, weil das teils auch institutionell vorgegeben wird. Oft gibt es gerade für Schulprojekte mehr Fördergelder, wenn mit einer marginalisierten Zielgruppe gearbeitet wird, der man auch mal ein bisschen Kultur nahebringen muss. Und dieser Annahme ­liegen nicht selten klassistische Stereotype zugrunde. Da müsste sich auch etwas im System ändern. Was schlagen Sie konkret vor? Seeck: Was ich immer befürworte, ist Selbstermächtigung, wenn etwa Arbeiterkinder ihre eigenen Projekte entwickeln können. Und natürlich muss sich viel tun in Sachen Arbeitsbedingungen. Denn es bleibt die Frage, wer überhaupt in diesem Bereich arbeiten kann, wo man es ja auch mit Einkommensarmut zu tun hat. Außerdem fehlt mir die statusübergreifende Organisation. Wenn es derzeit um Corona-Soforthilfen geht, kommen die nichtakademischen Berufe am Theater wie Techniker und Kassenmitarbeiter kaum vor. Gerade in der freien Szene ist die Situation für alle prekär: Man muss es sich leisten können, in diesem Bereich zu arbeiten. Gibt es auch deshalb so wenige Leuchtturmprojekte – oder fallen Ihnen spontan welche ein? Husemann: Die meisten Vorstöße werden tatsächlich im Bereich kulturelle Bildung gemacht, weil man in Schulen automatisch mit heterogenen Gruppen zu tun hat. Aber dann hört es ganz schnell auf. Ich muss tatsächlich passen, ich kenne kein Best-Practice-­ Modell. Ich habe begeisterte Berichte über Thomas Lehmens Kunsthaus Oberhausen gehört, über das ich mir allerdings kein ­Urteil erlauben kann. Der Choreograf hat mit seinem „Arbeits­ losen-Ballett“ unter anderem das Stück „Brauchse Jobb?“ ent­ wickelt, das darin bestand, auf der Straße einen Laden aufzumachen und sozialversicherungsfähige Jobs zu vermitteln. Das hieß also Theater, aber de facto wurde Arbeit vergeben, und das haben scheinbar sehr unterschiedliche Menschen in Anspruch genommen. Seeck: Bei Impulse gab es das Jugendtheaterstück „Unterscheidet euch!“ von Turbo Pascal, das sich mit Klassenverhältnissen, Vermögensverteilung und sozialer Ungleichheit beschäftigte und darüber ganz konkret mit dem Publikum ins Sprechen kam: Wie würdet ihr eure soziale Herkunft beschreiben? Welcher Job wird warum wie bezahlt, und findet ihr das gerecht? Ich halte das für einen sehr interessanten partizipativen Ansatz, von dem ich mir wünschen würde, dass man ihn auch mal mit Erwachsenen ausprobiert: Warum nicht darüber sprechen, wer wie viel verdient und welches Vermögen hat? Man könnte ja auch mal darüber nachdenken, wie man sehr reiche Menschen erreichen und vielleicht sogar verstören kann. Derzeit sehen vor allem viele Festivalmacher die coronabedingt aus dem Boden schießenden Online-Formate als Heilsbringer, gerade wenn sie auf offenen Plattformen wie Youtube verbreitet werden. Husemann: Ich bin da skeptisch und würde eher auf Teilhabe und Kooperationen setzen als auf andere mediale Kanäle. Auf Gamer-Plattformen bekommen vielleicht andere Leute Zugang zum Theater, aber ob sie das dann auch proaktiv rezipieren oder doch nur vorbeiwischen, ist die Frage. Seeck: Ich sehe das anders. Ich habe mitten in der Pandemie mit meiner Kollegin Brigitte Theißl einen Sammelband zum Thema

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Klassismus herausgebracht, weshalb wir komplett auf Online-­ Lesungen umgestellt haben, an denen viele teilgenommen haben, die sonst keinen Zugang gehabt hätten. Zum Beispiel Leute mit schweren chronischen Erkrankungen, von denen Ärmere oft betroffen sind. Viele haben auch erzählt, dass sie sich nicht getraut hätten zu kommen, weil sie nicht gewusst hätten, wie sich die Leute verhalten und ob sie vielleicht bald wieder gehen wollen. Man sollte die Hemmschwelle zu so einem regelbasierten Ort wie dem Theater nie unterschätzen, das dem Publikum auch körperlich ganz schön viel abverlangt. Ich würde mir persönlich oft kürzere Stücke wünschen oder mehr Gedanken darüber, wie viel Menschen aufnehmen können, die einen total anstrengenden Vollzeitjob haben. Etwas provokativ gefragt: Gibt es in diesem Fall nicht vielleicht ohnehin ganz andere Bedürfnisse als einen Theaterbesuch? Oder ist das schon eine kulturimperialistische Unterstellung? Seeck: Ich komme aus der DDR, wo mein Vater als Dreher in der Fabrik gearbeitet hat, aber auch als Erntehelfer und Friedhofs­ gräber. Meine Familie war sehr viel im Theater, das dort auch sehr stark verknüpft war mit der politischen Opposition. Da hat sich leider etwas verschoben. Nach wie vor aber gibt es Arbeiterinnen und Arbeiter, die kulturnah sind, und Akademikerinnen oder Akademiker, die es nicht sind. Aus soziologischer Perspektive gelten ohnehin nur wenige soziale Milieus als kulturinteressiert. Die berühmten zwei bis drei Prozent, die ins Theater gehen … Husemann: Martin Clausen und seine Kollegen haben vor ein paar Jahren ein Stück gemacht, das „Come Together“ hieß und O-Töne aus Interviews mit sehr reichen und sehr armen Menschen zu einer Art Stammtischdialog verschnitten hat. Ich glaube, es ist ein wichtiger Hinweis, dass man kulturfern und arm nicht gleichsetzen sollte. Seeck: Ohnehin würde ich mir wünschen, dass man wegkommt von der Frage, wie man immer mehr Milieus erreichen kann, hin zu derjenigen, wie Klassenverhältnisse thematisiert werden können. /­/

Francis Seeck arbeitet als Kulturanthropolog*in, Geschlechterforscher*in und Antidiskriminierungs­ trainer*in und ist Vertretungsprofessor*in (Sozio­ logie und Sozialarbeitswissenschaft) an der Hochschule Neubrandenburg im Fachbereich Soziale Arbeit, Bildung und Erziehung. 2020 erschien der gemeinsam mit Brigitte Theißl herausgegebene Band „Solidarisch gegen Klassismus. Intervenieren, organisieren, umverteilen“ im Unrast Verlag. Foto Lotte Ostermann Pirkko Husemann war von 2008 bis 2012 als Kuratorin für Tanz am HAU Hebbel am Ufer Berlin ­tätig, wo sie unter anderem die Festivals Tanz im August und Context mitkonzipierte. Von 2015 bis 2020 hatte Husemann die Künstlerische Leitung der Schwankhalle in Bremen inne. Seit August 2020 ist sie als Vorstandsvorsitzende der Berliner Stiftung Stadtkultur für die Verbindung von Kultur und Stadtgesellschaft zuständig. Foto Till Budde


kolumne

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Ralph Hammerthaler

Na, wieder nüchtern? Wie der Regisseur Visar Morina von der Einsamkeit erzählt

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pplaus tut gut, aber nicht immer. Die demütigendste Art des Applaudierens habe ich in Visar Morinas Film „Exil“ gesehen, als der Beifall von Kollegen über den aus Kosovo stammenden Ingenieur Xhafer niedergeht. Seit einiger Zeit schon hat Xhafer den Eindruck, dass in der Firma alles gegen ihn läuft, ja, dass er gemobbt wird. Woher kommen Sie, aus Kroatien?, fragen sie immer wieder. Und auch der Chef fragt ihn danach, ehe er seine selbstgefällig weltläufige Rede mit einer Pointe versieht. Die Pointe heißt Xhafer. Darauf klatschen sie alle, ganz so, als würden sie ihn trocken schnalzend auspeitschen. Geht es Ihnen gut? Geht es Ihnen wirklich gut? Nach und nach befallen Xhafer Zweifel. Einmal, auf einem Filmfestival, sagt Visar, hat ein mächtiger Fernsehmensch einen Schauspieler mit den Worten begrüßt: Na, wieder nüchtern? Der Schauspieler wusste nicht, was das sollte. Und jetzt stell dir vor, du würdest dasselbe dreimal am Tag gefragt. Na, wieder nüchtern? Da würdest auch du anfangen zu zweifeln, und zwar an dir selbst. Eigentlich wollte ich Visar zu einem Spaziergang überreden. Weil sich so das Gespräch von selbst ergeben hätte. Aber dann stellte sich heraus, dass er bereits in München war, um in den Kammerspielen die Uraufführung von „Flüstern in stehenden Zügen“ zu inszenieren, das neue Stück von Clemens J. Setz. Jetzt haben sie sich also, sag ich mir, einen Filmregisseur geangelt, obwohl ich weiß, dass ihm das Theater nicht fremd ist. An der Berliner Volksbühne assistierte er bei René Pollesch. Ohne Spaziergang bleibt nur eine Videoschalte, so machen es alle und heute auch wir. Als er in seiner Theaterwohnung auf dem Bildschirm erscheint, frag ich ihn, ob etwas Bayerisches zur Ausstattung gehört. Kurz überlegt er, dann schweift sein Blick herum, bevor er aufsteht und nach einem Buch greift. „Fünfzig Dinge“, heißt es, „die erst ab fünfzig richtig Spaß machen“. Ein Maßkrug wäre mir lieber. Spaß wollen auch Polizisten haben, serbische Polizisten zum Beispiel in Kosovo. In den Neunzigern schikanierten und misshandelten sie die albanische Bevölkerung. Ein Polizist zückt die Trillerpfeife, damit das Auto stehen bleibt, und als der Fahrer aussteigt, um zu hören, worum es geht, dreht er sich weg. Der Fahrer steigt wieder ein und fährt langsam an, als die Trillerpfeife erneut ertönt. Wieder steigt der Fahrer aus, und der Polizist dreht sich weg ... Das ist eine der wenigen Szenen, die in „Babai“ den zeithistorischen Hintergrund markiert. Recht viel mehr braucht Visar nicht, um Flucht zu begründen. Babai bedeutet Vater. Sein

erster Spielfilm erzählt vom zehnjährigen Nori, der seinen Vater erst an der Flucht zu hindern versucht, sich einmal sogar vor den Bus wirft, und dann, als der Vater entkommt, ebenfalls flieht, um ihn in Deutschland aufzuspüren. Das dramatische Geschehen wird in ruhigen Bildern und langen Einstellungen erzählt, die Kamera vertraut den Gesichtern. Unterschwellig aber vibriert ­ ­dieser Film. Rette sich, wer kann. Im Kern geht es um den Verlust des Urvertrauens. Lässt sich Urvertrauen zurückgewinnen? Visar sagt: Das musst du dir selbst beantworten. Nein, lässt es sich nicht. Zwar findet Nori seinen Vater, aber das Urvertrauen ist hin. Du kannst deine Unschuld auf ganz unterschiedliche Weise verlieren. Auch durch Erkenntnis. Als ich im Deutschen Theater in Berlin „Einsame Menschen“ gesehen hatte, war nichts mehr wie vorher. Visar wurde in Prishtina geboren, und er wuchs in der Provinz von Drenicë auf, in einer typischen kosovarischen Familie, also fünf Kinder. Als die Serben eine Ausgangssperre verhängten, klimperten sie mit ihren Schlüsseln, schlugen auf Blech, machten Radau, um zu verkünden, dass sie gefangen waren. Mit fünfzehn verließ auch Visar das Land, mit zwei Brüdern und seiner Mutter, so wie Nori übers Meer nach Italien; der Vater war längst weg. In Kosovo wird er seinen nächsten Film drehen, über eine Bauernfamilie, die in die Stadt zieht. Der Vater sucht einen Job und findet ihn bei der Security einer Gated Community. In einem armen Land sind einige wenige reich geworden. Meine These ist: Die paramilitärische UÇK war erst nach dem Krieg wirklich erfolgreich. Man kann auch Seilschaft dazu sagen. Im Februar wird die Münchner Setz-Uraufführung als LiveStream zu sehen sein, in einer einzigen Kamera-Einstellung durch Patrick Orth, der schon „Toni Erdmann“ verfilmt hat. Der verschwiegene Filmregisseur Visar Morina, der vom Urvertrauen erzählt und, wie in „Exil“, von der Urangst des Menschen, nicht dazuzugehören, trifft auf einen geschwätzigen Protagonisten, der Abzocker mit Anrufen nervt. Aber letztlich hat Setz ein Stück über die Einsamkeit geschrieben, und Einsamkeit findet sich auch in Visars Filmen. Selbst der Ingenieur Xhafer, immerhin mit einer von Sandra Hüller gespielten Frau verheiratet und Vater von drei Kindern, wirkt wie eingesponnen, überall einsame Menschen. Einmal lässt Setz seine Figur zwar nicht in Kosovo, aber in Albanien anrufen: „Die sind echt locker drauf, da unten.“ Stimmt das? Weißt du, sagt Visar, was mich fast zur Verzweiflung bringt? Dass mein Vater immer wieder sagt: Mal schauen. //

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Unheimliches

zwischen

„wirklich“ und „unwirklich“


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Zwielicht

von Alexander Kluge

Angesichts der Bilder aus Washington vom Januar fragten wir Alexander Kluge, was er über die Erstürmung des Kapitols und dessen dramatische Dimension denkt. Er antwortete uns mit einem Bildessay – und einem Brief.


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protagonisten

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ir haben alle dieselben Bilder gesehen: wie das Kapitol gestürmt wird. Wie ein Anführer in einem teuren Mantel, Chef der Supermacht USA, zweideutige Worte gebraucht und gerade durch die Zweideutigkeit die „Rioters“ anspornt. Sie sollen das „Haus der Gesetzgeber“, das Kapitol, stürmen. Wir sehen, wie ­einer der wenigen „Verteidiger der Republik vor Ort“, ein Wach­ beamter, seinen Schlagstock verliert, ihn geistesgegenwärtig wieder zur Hand nimmt und damit einige Sekunden droht, dann flüchtet er vor der andrängenden Masse ein Stockwerk höher – das alles ist symbolisch aufgeladene, gefährliche Realität. Und vor den Fernsehern erleben wir es wie ein Stück Theater. Ich möchte, liebe Frau Wahl, liebe Frau Eilers, Ihnen auf Ihre kurzfristige Anfrage spontan im Dialog, also als Brief, antworten, nicht ­ mit einem Artikel. Bedarf ist weniger an Urteil und Meinung als ­vielmehr an gemein­ samer Beobachtung. Das Kapitol in Washington verkörpert reale Macht. Es steht in einem gewissen Gleichgewicht mit dem ebenfalls symbolträch­ tigen Weißen Haus. Das ­ Weiße Haus war am 11.9.2001 durch ein Flugzeugattentat bedroht – durch einen Tunnel wurden der damalige Vizepräsident und die Spitzenbeamten dieses Hauses evakuiert, ganz ähnlich wie jetzt die „Lawmakers“, die über die Kellergänge des Regierungszentrums in Sicherheit gebracht wurden. Diese Fluchtbilder, die nicht in den Medien zu sehen waren, also nur vorgestellte Bilder, haben mich am stärksten beeindruckt. Zu solcher gefährlichen Realität gehören auch die Zukunftspotenziale. Was wäre, wenn nicht bloß Milizen, sondern ausgebildete Spezialtruppen einen solchen Putsch versucht hätten? Tom Clancy hat das in einem ­Roman beschrieben. Das Irritierende ist, dass solche Faktizität verbunden ist mit Eindrücken, die an Bühnenwirkung, an „Theater“ erinnern. Die Kulisse des Kapitols, in Nachahmung antiker Bauten errichtet, „Autorität als umbauter Raum“! Das hat etwas von einem Theater von langer Dauer (longue durée): Mehr als 300 Jahre Bühne mit einem Drama namens Verfassung der USA. Jetzt werden Fenster dieses Gebäudes eingeschlagen – wie man Fenster eines Adventskalenders als Kind gierig öffnet – und die „Rioters“ klettern hinein. Lassen sich häuslich nieder, nehmen ­Inventar in Besitz, zeigen sich als Herren des Hauses. An den weißen Außenwänden der Gebäude klettern Menschen wie Fas­ sadenkletterer empor. Sie sind kostümiert, als kämen sie direkt aus Cartoons oder aus Gemälden früherer, triumphaler Jahrhunderte. Der Putschversuch ist offensichtlich auch in Netzwerken und medial vorbereitet. Das ist keine direkte Empörung, sondern

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eine vorbereitete. Das gibt den Eindruck von einem Theater im ­Theater und ist doch bittere Tatsache und kann vor allem an anderen Orten, zum Beispiel auch bei uns in Europa, bei Wieder­holung disruptiv und für das Gemeinwesen zerstörerisch sein. Wir sehen eine mehrstöckige Spukhaftigkeit mit Kellergeschoss und Dach. Wenn die Realität unvermittelt ins Theater übergreift, entsteht ein Schock. Der Sirenenton, der 1944 für ein Opernhaus ein angreifendes Bombergeschwader ankündigt, in dem gerade das Musikdrama „Tosca“ von Puccini im 2. Akt, der Folterszene, ­seinem Höhepunkt zustrebt, beendet die Vorstellung abrupt. Das Publikum wird in die Luftschutzkeller evakuiert. Ein ganz andersartiger Einbruch in die Welt der Bühne ereignete sich in der Antike am Hofe des Königs der Parther. Der König hatte ein römisches Heer besiegt. Jetzt wird der Sieg dadurch gefeiert, dass eine ­griechische Theatertruppe „Die Bakchen“ von Euripides vor dem König aufführt. Am Ende des Stücks wird der soeben real ab­ geschlagene Kopf des römischen Feldherrn Crassus auf die Bühne getragen. Eine äußerste Demütigung Roms und die gewalttätige Vernichtung aller theatra­ lischen, spielerischen Freiheit. Der Gegenpol zu Spiel ist hier nicht Ernst, sondern Terror. Terror durch Schock. Man stelle sich vor, dass in Paris 1794 eine Enthauptung durch die Guillotine statt auf dem Hinrichtungsplatz auf dem Theater durchgeführt worden wäre. Wie würde ein empfindendes Publikum ­reagieren? Stürmt es die Bühne? Sturm auf die Bühne durch ein empörtes Publikum hat Pier Paolo Pasolini in einem Film, der ein Marionettenspiel wiedergibt, beschrieben: Wieder wurde die schöne, unschuldige Desdemona in Shakespeares „Othello“ ­ ­erwürgt. Die Zuschauer stürmen die Puppenbühne, zerreißen die Marionetten und verscharren sie in einer Grube. Wir sollten uns vor Augen führen, liebe Frau Wahl und liebe Frau Eilers, was Heiner Müller, stünde er uns zur Verfügung, an Forderungen an das professionelle Theater richten würde, Forderungen, die adäquat auf den Auftritt der „Rioters“ in Washington antworten. Er würde sagen, es ist nötig, die Unterschiede zwischen Fantastik und Realität in der Öffentlichkeit neu zu justieren. Was können Theater beitragen, „wenn eine Öffentlichkeit entgleist“? Ich glaube, Müller würde die Antwort auf dem Theater wichtiger finden als die Bestrafung individueller Täter. Nachträg­ liche Bestrafung richtet sich immer nur gegen individuelle Täter. Tatsächlich geht es aber – und sich damit auseinanderzusetzen ist Sache der professionellen Bühnen – um gesellschaftliche Topo­ grafie. Besichtigung unheimlicher Verhältnisse. Es geht um die Kartierung kollektiver Unfälle, und das fordert die Übersicht über ihre Gründe.


alexander kluge

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Bert Brecht entwickelt seine Theorie des Realismus aus ganz elementaren Beobachtungen. Realismus ist für ihn eine Sache der Bodenhaftung und der robusten Konkretion. Wie ich sitze, stehe oder liege, so denke ich. Und die Richtung, in der ich mich bewege, setzt Kenntnis der Horizonte und ein festes Zentrum in meinem Herzen voraus. Das ist die Dreidimensionalität. Zusätzlich kommt der exakte Umgang mit der Zeit hinzu, die Chronik, das weite Feld zwischen Sekunde und Äon. Brecht fügt hinzu, dass die gesellschaftliche Realität diese „realistischen Dimensionen“ bereits verlassen hat und die Welt längst „in die Funktionale gerutscht“ sei. Da Menschen Lebewesen sind, die nicht bloß funktionieren, ist dies ein seelischer und öffentlicher Kerker. Menschen, die sich gegen die Funktionalisierung wehren – nur Zwecken, Märkten, der Disruption und dem Niedergang von Industrien und Produktionsmitteln, dem Raub an der Lebenswelt wollen sie nicht unterworfen sein – werden sich empören. Und diese Em­pörung wird, wenn es keinen revolutionären Ausweg gibt, so Brecht, die Menschen in die Imaginäre führen, die politische Fantastik. Von daher kommt, so Brecht, in Übereinstimmung mit Walter Benjamin, das Thea­ tralische im Auftritt z­unächst des italienischen Faschismus, des Futurismus und dann die Vermischung von Theatralik und realer Barbarei im Natio­n al­s ozialismus. Das Brenn­­material, das diese ­Feuer nährt, ist die Hochbauweise der Abstraktionen, die gesellschaftliche Natur, die keine Natur mehr ist. Abstraktion von der soliden Bodenhaftung der menschlichen Erfahrung bringt die Gemeinwesen zur Entgleisung. Der Gegenpol zur Aufklärung heißt Verrücktheit. Ver­ rücken heißt, von seinem ursprünglichen Ort etwas entfernen. Eine emotionale Struktur mag an ihrem Ort, an dem sie gewachsen ist, realistisch und vernünftig sein und dann, wenn sie von diesem Ursprungsort an eine fremde Stelle gerückt wird, wird sie destruktiv und zum Spuk. Ähnlich übrigens wie Covid-19. In der Lunge von Fledermäusen war das Virus vermutlich für Millionen Jahre angepasst und für den Wirt unschädlich. Dann, auf die ­Lunge von Menschen übergesprungen, also in der Evolutionsbahn „verrückt“, wird das Virus zum Alien, zum immer neue Gefährlich­keiten hervorbringenden Mutanten, zu einem Spuk.

Das professionelle Theater hat die Möglichkeit, etwas sichtbar zu machen, zu „zeigen“, was im Alltag nicht sichtbar ist. Das Theater vermag auch etwas, was als Minengelände noch ruht und wartet, was erst in Zukunft explodieren wird, rechtzeitig vor unser Auge zu bringen und so Aufmerksamkeit, Beobachtungsfähigkeit und Gegenwirkung zu generieren. Heiner Müller und Bert Brecht (und auch Walter Benjamin) würden dringend dazu raten, auf den Theatern nicht nur die Warnerin Kassandra nachzuspielen, sondern gleich zur Gegenarbeit überzugehen, das heißt dem ­ ­Verhängnis das Wasser abzugraben. Liebe Frau Wahl, liebe Frau Eilers, wir merken gemeinsam, wie leer diese Worte bleiben, wenn sie nicht durch Versuche und praktische Theaterarbeit unterfüttert sind. Wie aber soll man ­anfangen, wenn man nicht mit Dialog beginnt, dann plant und – sobald wir aus der Quarantäne wieder stärker in die unmittelbare Öffentlichkeit gelangen – mit der Entwicklung neuer Formen, vor allem von Kom­ mentarformen, auf dem ­Theater beginnt, die das Dramatische, außerdem die Lust an der Bühne, mit der Herstellung von Übersichten verbindet. Der Konvent in der Großen Franzö­ sischen Revolution nahm seinen Sitz in einer ­gerade fertiggestellten Anatomie, einem „anato­ mischen Theater“. Daher kommt das theaterähn­ liche Rund der Parlamente. Links sitzen in der Runde die radikalen Jakobiner, rechts eher die Reaktionäre. Die Runde insgesamt blickt auf einen Untersuchungsgegenstand. Es sollten also im Theater die intelligente Neugier ebenso wie die Lust am Schauspiel und an der Musik zu ihrem Recht kommen. Der Sturm auf das Kapitol, der glücklicherweise wie der „wahnhafte ­Tumult“ am Ende des 2. Akts der „Meistersinger“ von Richard Wagner oder wie in Shakespeares „Sommernachtstraum“ am Ende verweht, löst, wie ein Gegengift das Gift ­bekämpft, wie ein Impfstoff neuerdings dem Körper die ­Informationen gibt, Gegenkräfte gegen das ­Virus zu ent­w ickeln, in uns den Impuls aus, im Interesse unserer Kinder und Kindeskinder und als Patrioten unserer Repu­bliken ­künftigen Attentaten auf das Gemeinwesen die Luft abzuschneiden. Harte Tage für authentisches Theater! //

Filmstills aus dem „Pandemischen Geflüster“ vom 9. Januar 2021. Zoom-Fernverbindung zwischen dem Studio Helge Schneiders in Mülheim mit Alexander Kluge in München. Die beiden haben sich am Tag nach dem Riot spontan zu einem Quarantäne-Gespräch versammelt. Die Debatte ist durch Bilder unterbrochen. Fotos Seite 28 bis 31 Alexander Kluge

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Chinas Theater im Jahr der Epidemie Während die Staatsbühnen des Landes die Helden der Pandemie in Propaganda-Stücken feiern, üben unabhängige Künstler leise Kritik – Eine Reportage von Chen Tian


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ch beginne den Text mit diesem Titel am 30. Dezember 2020. Genau vor einem Jahr sah Li Wenliang, ein Augenarzt am Zentralkrankenhaus der Stadt Wuhan, einige Krankenberichte, die ihn veranlassten, seine Kollegen auf WeChat vor einer „Lungenkrankheit mit ungeklärter Ursache“ zu warnen. Schnell wurde er von den Sicherheitsbehörden verwarnt, weil er „unwahre Aussagen im Internet verbreitet“ habe. Der Warnruf des später als „Whistle­ blower“ bezeichneten Dr. Li verbreitete sich allerdings nicht sehr weit. In der etwa 600 Kilometer von Wuhan entfernten Stadt ­Nanjing feierte das von meinem Freund Gao Ziwen geschriebene Stück „Meine alte Heimat“ Premiere, und ich ging nach der ­Aufführung mit den Redaktionskollegen der Zeitschrift Stage and Screen Reviews noch einen Feuertopf mit Lammfleisch essen. In dampfender Hitze diskutierten wir die Tourpläne des Stückes und die Themenwahl der Zeitschrift für das kommende Jahr. Auf ­WeChat posteten Kritiker und Theaterliebhaber ihre im vergan­ genen Jahr gemachten Theatererfahrungen und wählten ihre persönliche Top Ten. Das hatte sich zu einer Art Ritual für den Jahresübergang entwickelt, das sowohl den Wettbewerbsgeist als auch die schönsten Erwartungen für das neue Jahr weckte. Wir ahnten nicht, dass die Theater schon bald ihre Türen schließen und für lange Zeit geschlossen halten würden. 2020 war sicherlich überall ein unerwartet düsteres Jahr für die Theater, allerdings sah man sich nicht überall vor dieselben Probleme gestellt. In China hatte man die Epidemie bereits im März im Wesentlichen unter Kontrolle gebracht und danach keinen größeren Ausbruch mehr zu verzeichnen. Im Mai durften die Theater unter Auflagen wieder öffnen, aber zunächst nur 30 Prozent der Sitze belegen, später dann 50 Prozent und inzwischen wieder 75 Prozent. Um Kosten zu sparen, ließen die Theater allerdings keine Plätze zwischen den Sitzen frei, sondern verkauften nur Tickets für das Parkett und sperrten Ränge und Logen. Einige Aufführungen fanden großen Anklang, darunter auch in HD-Qualität projizierte Stücke aus dem Ausland (beispielsweise die für das Berliner Theatertreffen 2015 beziehungsweise 2017 ausgewählten Produktionen „Tyrannis“ von Ersan Mondtag und „Five Easy Pieces“ von Milo Rau), und wurden vor ausverkauften Reihen und in lebhafter Atmosphäre gezeigt. In der zweiten Jahreshälfte fanden auch wieder einige kleine Theaterfestivals und Kunstschauen in Beijing, Schanghai, Xi’an, Hangzhou, Nanjing und Shenzhen statt. Das konnte den Eindruck vermitteln, man sei wieder zur „Normalität zurückgekehrt“. Nun ja. Es hat sich einiges verändert und verändert sich auch weiterhin. Beim Betreten des Theaters muss sich das Publikum die Temperatur messen lassen, die Hände desinfizieren und einen „Gesundheitscode“ vorzeigen, der in der Epidemie zum obligatorischen Passagierschein für alle Chinesen geworden ist. Die entsprechende App im Handy überwacht die Bewegungsdaten und muss bestätigen, dass man sich nicht in einem Risikogebiet aufgehalten hat. Außerdem muss natürlich die gesamte Zeit eine

Becketts Figuren als pandemiebedingt getrenntes Ehepaar – Szene aus Wang Chongs Online-Inszenierung „Warten auf Godot“. Foto Théâtre du Rêve Expérimental

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Maske getragen werden, was bei Aufführungen, die länger als zwei Stunden dauern, nicht sonderlich angenehm ist. Aber die Maske schützt natürlich, und das sogar nicht nur in Bezug auf die Gesundheit. Kürzlich besuchte ich eine Aufführung in Schanghai, die der Regisseur mit einem interaktiven Teil enden lassen wollte. Eigentlich mag ich solche Einbindungen des Publikums nicht besonders und ziehe es vor, weiter still zuzuschauen. Aber mit der Maske wandte ich mich einer Sitznachbarin zu und blickte in ein Paar sanfter Augen. Statt mich – den Anweisungen folgend – zu schlagen, nahm sie mich in den Arm. Die Umarmung berührte mich sehr. Ich bin gar nicht sicher, ob mich nur die Maske vor Verlegenheit bewahrte oder ob nicht auch die lange Isolation mein Verlangen nach menschlichen Kontakten gesteigert hatte. Als ich einem Freund in New York von dieser Sache erzählte, erregte ein ganz anderer Aspekt seine Aufmerksamkeit: „Du hast eine Fremde umarmt?! Was ist mit social distancing?“ Da fiel mir ein, dass die Theater am Broadway gerade verkündet hatten, bis Ende Mai 2021 zu schließen. An vielen Orten der Welt mussten Theater aufgrund der Pandemie schließen; dass sie in China überhaupt geöffnet sind, ist also schon eine Ausnahme, eine beson­dere Leistung. Ungeachtet der oberflächlichen „Rückkehr zur Normalität“ sind die Zahlen von Aufführungen und Zuschauern stark gesunken, was sämtliche Theaterhäuser und Theaterkompagnien vor betriebswirtschaftliche Probleme stellt. Verglichen mit Europa sind die Möglichkeiten, finanzielle Unterstützung vonseiten der Regierung oder der Gesellschaft zu bekommen, sehr beschränkt. Die Stadt Beijing etwa subventioniert Aufführungen in der derzeitigen Epidemiepräventions- und Kontrollperiode folgendermaßen: Kleine Theater erhalten für jedes verkaufte Ticket einen Zuschuss von 80 Yuan (ca. 10 Euro), mittlere und große Theater für jedes verkaufte Ticket zu normalen Aufführungen einen Zuschuss von 100 Yuan (ca. 13 Euro), große Opern, Ballette und Sinfoniekonzerte pro verkauftem Ticket 200 Yuan (ca. 25 Euro); diese Zuschüsse werden für maximal 30 Prozent der verfügbaren Sitze gezahlt. Das ist leider nicht mehr als ein Tropfen auf den heißen Stein. Auf der im Dezember in Chengdu eröffneten Konferenz für Theaterinnovation und -entwicklung, zu der Vertreter von über hundert Veranstaltungsorten zusammenkamen, wurden nicht künstlerische Fragen diskutiert, sondern wirtschaftliche: Wie können die Theater mit neuen Technologien, neuen Plattformen und neuen Betriebsmodellen ihre wirtschaftlichen Schwierigkeiten überwinden? Der Generaldirektor des Opernhauses von Guang­ zhou He Ying berichtete, dass man an seinem Haus aufgrund fehlender Unterstützung von der Regierung gezwungen war, allerlei neue Veranstaltungsformen wie Cloud-Meetings, kommerzielles Livestreaming und Online-Theater auszuprobieren. Die noch fragileren und weniger widerstandsfähigen privaten Theaterhäuser und unabhängigen Künstler können erst recht nicht auf Zuschüsse und Mietverringerungen zählen, um die schwierige Lage zu überstehen, sondern müssen sich selbst helfen. Als die Bank dem Trommelturm West-Theater in Beijing keinen Kredit mehr einräumen wollte, dachte man sich eine Aktion aus, die zugleich einer anderen Gruppe aus dem Volk zugutekam: Das Theater nutzte seine Kanäle, um Kirschen zu verkaufen, die Bauern aufgrund der Pandemie nicht mehr an den Mann bringen konnten.

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Sie wurden zwar mehr als 3000 Pfund Kirschen los, aber besonders viel Gewinn machten sie nicht. Ich verstand das vor allem als symbolische Produktionspraxis, die eine positive Haltung zeigte: Das Theater reagierte außerhalb des Theaters auf die Realität. Im chinesischen Kontext ist die Reaktion auf die Realität nicht nur eine ästhetische Frage, sondern auch eine Prüfung von Mut und Verstand. Die allgemeine Gemütslage, die 2020 mit sich brachte, ist Beklommenheit in Bezug auf die Wirklichkeit und Unsicherheit in Bezug auf die Zukunft. Das Jahr veranlasste die Menschen, noch einmal neu über die Welt und über sich selbst nachzudenken. Bedauerlicherweise konnten diese Gefühle und Gedanken auf den chinesischen Bühnen kaum zur rechten Zeit und in vollem Umfang Ausdruck finden. Das erste Onlinetheaterstück nach der Pandemie war „Warten auf Godot“ in der Inszenierung von Wang Chong. Es wurde am 5. und 6. April aufgeführt, also noch vor Öffnung der Theater und der Aufhebung des Lockdowns von Wuhan; insgesamt 290 000 Menschen sahen die live übertragene Aufzeichnung. Wang Chong machte aus Becketts ­Figuren Didi und Gogo ein durch die Pandemie an unterschied­ lichen Orten festsitzendes Ehepaar, dessen Warten zwischen Onlinegewalt, Spam und kommerziellem Livestreaming kein ­ Ende findet. Auch wenn das Thema sehr direkt umgesetzt wurde, erkundete es noch kaum das ästhetische und politische Potenzial der Form des Onlinetheaters. Die vorgeführte Langeweile und Hoffnungslosigkeit trafen dennoch einen Nerv, schließlich befanden sich die Zuschauer genau in der gleichen Situation wie die Figuren im Stück. Diese verließen am Ende ihre Zimmer und fuhren mit dem Auto auf die Pagode des gelben Kranichs zu, des wichtigsten architektonischen Wahrzeichens Wuhans, womit die tatsächliche Öffnung dieser Stadt zwei Tage später vorweggenommen wurde. Viele Zuschauer hinterließen im Kommentarbereich die Worte: „Tränen in den Augen“.

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Theater der passiven Strategie – Großer Andrang vor der Vorstellung „Infection, State of Emergency, Beethoven“ vom freien Kollektiv Paper Tiger in Shenzhen. Foto Shenzhen OCAT

Zwei weitere Stücke haben einen bleibenden Eindruck bei mir hinterlassen. Im Juli sah ich in Shenzhen „Infection, State of Emergency, Beethoven“, ein „Theater der passiven Strategie“ des Kollektivs Paper Tiger. Mit den Mitteln des Tanztheaters zeigten sie den durch das Virus hervorgerufenen körperlichen Schrecken der Menschen und die in der Epidemie herrschenden Zustände der ­Isolation, des Verbotes, der Untersuchung, der Infektion, des Schreiens und des Kampfes mit dem Tode, bevor sich alles im tragischen Pathos der „Ode an die Freude“ auflöste. Im Oktober besuchte ich in Beijing eine Aufführung von „A Poem About the Unknown“, inszeniert und choreografiert von Lian Guodong und Lei Yan. Dieses Stück nahm die Epidemie als Anlass, um über die Zukunft nachzudenken, und stützte sich dabei auf Antonin Artauds „Das Theater und die Pest“. Es versuchte zu zeigen, wie sich über längere Zeiträume hinweg die Körper, das Denken und die Kunst weiter­entwickeln und wie sie immer wieder neu definiert werden. Die beiden Stücke hatten einige Gemeinsamkeiten: Sie stammten von unabhängigen Theatergruppen und Künstlern, sie wurden in Ausstellungsräumen und Kunstgalerien statt in regulären Theaterhäusern aufgeführt, sie griffen vor allem auf den Körper und nicht auf die Sprache zurück, sie nutzten klassische Texte und keine eigens verfassten, sie drückten die von der Epidemie ausgelösten Empfindungen in höchst abstrakter Form aus, und sie berührten keinerlei spezifische gesellschaftliche oder politische Themen. Die Wahl dieser Mittel war natürlich kein Zufall und hing nicht nur von den ästhetischen Vorlieben der Künstler ab, sondern war auch das Ergebnis der von ihnen entwickelten


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Selbstschutzmechanismen vor der Zensur, die es ihnen erlauben, sich auszudrücken, ohne allzu große Risiken einzugehen. Wenn man betrachtet, wie das chinesische Theater im Jahr der Epidemie auf die Wirklichkeit reagierte, lässt sich in der Tat ein tiefer Bruch entdecken: Die besondere Realität des Jahres 2020 fand nur in äußerst wenigen, mit nicht realistischen Mitteln ­arbeitenden Werken unabhängiger Theater statt, während im Mainstream-Theater mit den Mitteln des „Realismus“ eine „Unwirklichkeit“ erfunden wurde, deren vorgebliche „Normalität“ nichts mit 2020 zu tun hat. Chinas Mainstream-Theater sind keine kommerziellen ­Bühnen wie die am Broadway in New York oder in Londons West End, sondern verstaatlichte Theater, die Auftragsarbeiten zugeteilt bekommen. Das ursprünglich für 2020 vorgesehene Hauptthema war die „Armutsbekämpfung“, aber dann wurde der „Widerstand gegen die Epidemie“ zu einem weiteren Fokus, der eine ganze R­eihe sogenannter „Anti-Epidemie-Theaterstücke“ hervorbrachte. Die Stücke „Der Krieg gegen die Epidemie 2020“ der Provinz ­Guangdong Performance GmbH und „Tagebuch einer Krankenschwester“ der Schanghaier Theaterakademie bestanden vor a­ llem aus Lobgesängen auf das Gesundheitspersonal und behaupteten beide, das erste Stück zum Krieg gegen die Pandemie zu sein. ­Etwas später folgten „Gegen die Richtung“ des Volkskunsttheaters Wuhan, „Das Volk über alles“ des Staatlichen Sprech­theaters und „Das Nachbarschaftskommitee“ des Volkskunsttheaters Beijing, die auch noch die Leistungen der Ärzte, Reporter, Basiskader und ­Freiwilligen in der Pandemie besangen. Das „Anti-Epidemie-Theater“ blieb nicht nur auf das Sprechtheater ­beschränkt, auch das ­formal streng begrenzte traditionelle chinesische Singspiel kam seiner Pflicht nach, „mit der Zeit zu gehen“. So sah ich zwei mitein­ ander konkurrierende „Anti-Epidemie-­ Stücke“ in der Form des Kun-Singspiels, und in diesem Moment wurde mir klar, dass die Mechanismen der staatlichen Auftrags­arbeiten in diesem Land bereits so tief verankert sind, dass die befehlsempfangenden Künstler sie nicht nur nicht als Fremdbestimmung wahrnehmen, sondern sie auch noch als Ehre betrachten, um die es sich zu kämpfen lohnt. Das „Anti-Epidemie-Theater“ hat mit der Macht zu tun, Geschichte zu schreiben – damit, von wem sie und wie sie geschrieben wird. In diesem groß produzierten, groß besetzten und in großen Häusern spielenden Theater wird das Jahr 2020 als Sieg dargestellt. Seine Werke bringen viele warme Emotionen auf die Bühne, aber nur wenig Düsternis; viele Tränen, aber nur wenig Besinnung. Ironischerweise, vielleicht weil die Epidemie jeden Menschen betrifft, muss das „Anti-Epidemie-Theater“ in bestimmtem Maß die üblichen Großnarrative verlassen und ver­ suchen, die Perspektive der einfachen Menschen einzunehmen. Dennoch ist in ihnen für die echten einfachen Menschen kein Platz. Ihre Stimmen lassen sich vielleicht am ehesten in den Kommentaren auf Dr. Li Wenliangs Weibo-Seite hören. Auch nachdem er von uns ging, hat sein Konto immer noch 1,52 Millionen Follower, und unter seinem letzten Post vom 1. Februar 2020 kommen täglich neue zu den bereits vorhandenen mehr als eine Million Kommentaren hinzu. Unzählige Internetnutzer haben hier ihre Trauer kundgetan, über ihr Leid und ihre Freuden berichtet, ihren Alltag dokumentiert, oder ihm einfach nur erzählt: „Dr. Li, das Wetter ist heute sehr schön.“ Es ist eine virtuelle Klagemauer, ein

aus einfachen Chinesen des Jahres 2020 gebildeter Chor. Es ist wirklich beschämend, dass unsere Theater diesen Stimmen keine Form geben konnten! Endlich ist das Jahr 2020 vorüber, es hat sich gezogen wie ein ganzes Leben, und zugleich ist es vorbeigerast wie ein flüchtiger Augenblick. Auch im neuen Jahr geht die Pandemie weiter, aber es gibt inzwischen einen Impfstoff. Das chinesische Mainstream-Theater wird neue Auftragsarbeiten bekommen, aber viele Menschen werden auch ihre Anstrengungen darauf richten, etwas ganz anderes zu schaffen, was uns Mut und Hoffnung gibt. Der polnische Regisseur Krystian Lupa ist bereits in China angekommen und hat begonnen, Lu Xuns „Tagebuch eines Verrückten“ zu inszenieren. Das war Chinas erster Roman in Umgangssprache, und vielleicht sind die Gedanken und die Kritik der Bewegung für eine neue Kultur, in deren Kontext der Roman vor hundert Jahren entstand, noch immer nicht veraltet. Vor einigen Tagen erzählte mir eine junge Theatermanagerin, dass noch Ende des Jahres ein neues Theater in Schanghai gegründet werden soll, das vor allem jungen freischaffenden Künstlern eine Bühne bietet. Einer meiner Schüler hat gerade sein Theatertagebuch auf WeChat gepostet; er hat sich in diesem Jahr 84 Stücke angeschaut, die meisten davon online gestellte Aufführungen aus dem Ausland. Am meisten gefiel ihm „Chinchilla Arschloch, waswas“ von Rimini Protokoll: „Das war ein Jahr des Lernens, nächstes Jahr geht es weiter.“ // Aus dem Chinesischen von Stefan Christ.

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26.2. – 7.3.2021 #digitalbrecht www.brechtfestival.de

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Mal schauen, ob die Premiere stattfindet Landauf, landab proben die Bühnen im Lockdown auf Halde – Ein exemplarischer Corona-Theater-Report aus Bayern von Christoph Leibold


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tell dir vor, es ist Premiere, und keiner geht hin! Klingt skurril, ist aber derzeit Realität an deutschen Theatern. Beinahe zumindest. Zugegeben, richtige Premieren finden in der Regel nicht statt. Aber an fast allen Häusern werden neue Inszenierungen immerhin bis zur Premierenreife einstudiert. Weil keine Zuschauer ins Haus dürfen, folgt auf die Generalprobe dann meist doch keine Premiere – nur manchmal darf das Publikum durchs digitale Fenster einen Blick auf die Kunst werfen, die frisch entstanden ist (davon später mehr) –, aber es gibt kein Probenverbot. Also wird hinter verschlossenen Türen weiter produziert. Und fast niemand schaut zu. Ein irrer Zustand. Manchmal fast schon tragisch. Das Theater rühmt sich gern, ein flexibles Medium zu sein, das zügig auf gesellschaftliche Situationen zu reagieren versteht. Die ersten Corona-Dramen liegen den Dramaturgie-Abteilungen längst vor. Im Idealfall bilden sie die Krise nicht nur ab, sondern reflektieren, was sie mit unserem Gemeinwesen macht. Dumm nur (oder eben tragisch), dass diese Auseinandersetzung mit den aktuellen Umständen wegen eben dieser Umstände gegenwärtig unter Ausschluss der Öffentlichkeit stattfinden muss. Philipp Löhle hat so ein Stück geschrieben. „Isola“ heißt es. Das Thema deutet sich schon im Titel an: Um Isolation geht es, passgenau zur Stimmungslage im Lockdown, der die Aufführung fürs Erste verhindert hat. „Insofern holt sich das Stück selber ein, kriegt dadurch noch mehr recht und wird trotzdem nicht gezeigt“, bringt Löhle die Sache auf den Punkt bei einem Besuch in Nürnberg, wo er Hausautor am Staatstheater ist und Schauspieldirektor Jan Philipp Gloger die Uraufführung von „Isola“ inszeniert hat. Pünktlich zum im Herbst angesetzten Premierentermin Anfang Dezember 2020. Philipp Löhle teilte den dispositorischen Optimismus nur bedingt, hat sich offenbar aber gerade von seiner Skepsis inspirieren lassen: „Ich dachte schon beim Tippen, mal schauen, ob die Premiere tatsächlich stattfindet. Denn alle haben ja schon im Frühjahr gesagt, dass im Winter die zweite Welle kommt. Und das ist lustigerweise das Gefühl, das ich in diesem Stück einfangen wollte: diese permanente Verunsicherung. Heute sagt dir jemand, zu 100 Prozent ist es morgen so. Und am nächsten Tag ist es zu 100 Prozent ganz anders. Ständig wird einem der Teppich unter den Füßen weggezogen.“ „Isola“ spielt im 19. Jahrhundert. Das Biedermeier dient dabei als Blaupause für unsere Gegenwart. Der föderalistische Regelwust bei den Corona-Schutzmaßnahmen erinnert auf fatale Weise an die Kleinstaaterei von damals. Wichtiger noch: Der Rückzug ins Private als Signum der Biedermeier-Epoche ist heute staatlich verordnetes Gebot und verstärkt die Tendenzen zum Cocooning, die schon vor der Pandemie zu beobachten waren. Die Bühne im Nürnberger Schauspielhaus zeigt denn auch einen Biedermeier­ salon, in dem sich eine Gruppe von Menschen verschanzt hat, aus Angst vor einer unbestimmten Bedrohung draußen.

Online-Premiere im Stil der ersten Lockdown-Phase – Beniamin M. Bukowskis Auftragsstück „Marienplatz“ fürs Münchner Residenztheater unter der Regie von András Dömötör. Foto Sandra Then

theater auf halde

Die Fahrt Anfang Dezember zu einer Hauptprobe zu „Isola“ ist für den unter Premieren-Entzug leidenden Kritiker willkommener Anlass, vorübergehend aus der eigenen häuslichen Isolation auszubrechen. Tatsächlich fühlt sich die Visite in Nürnberg fast wie ein richtiger Theaterbesuch an. Oder sagen wir: wie ein Theaterbesuch kurz vor dem Lockdown. Im Zuschauerraum sitzen Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter des Theaters, die an der Produktion beteiligt sind, lose verteilt, aber doch so viele, dass der Saal nicht gähnend leer scheint, ganz so wie in den aus heutiger Sicht guten alten Zeiten, als zumindest noch bis zu 50 Menschen Vorstellungen besuchen durften. Gewöhnungsbedürftig ist, dass das Ensemble mit MundNasen-Schutzmasken agiert, was in Verbindung mit geschnürten Miedern, geknöpften Westen und Zylindern zu einem eigentümlichen Verfremdungseffekt führt. Und hin und wieder schreckt man zuschauend auf, wenn während des Durchlaufs ein Glöckchen bimmelt. Eine Hospitantin, dazu ausersehen, die CoronaAlarmanlage zu spielen, betätigt sie immer dann, wenn sich Schauspieler auf der Bühne näherkommen als die erlaubten anderthalb Meter Sicherheitsabstand, die auch auf der Bühne eingehalten werden müssen. Corona sitzt mit am Regietisch. Dass die Hospitantin einiges zu tun hat, ist ein gutes Zeichen, zeugt es doch davon, dass hier nicht mit angezogener Handbremse geprobt wird, weshalb die Hygieneregeln im Eifer des Gefechts öfter mal vergessen werden. Es fehlt zwar an einem Premierentermin, aber offenbar nicht an Motivation, wie Dramatiker Philipp Löhle beeindruckt feststellt: „Das merkt man überhaupt nicht, dass die hier quasi in ein schwarzes Loch reinproben.“ Ist das nun Realitätsverlust, wenn Theater konsequent ausblenden, dass so bald keiner zum Zuschauen kommen wird? Oder Beschäftigungstherapie, wenn Schauspieler nur noch für sich selbst spielen? Zumindest Letzteres lässt sich nicht ganz von der Hand weisen. Tatsächlich geht es darum, Arbeit zu schaffen. Auch ein fest angestelltes Ensemble will nicht monatelang zur Untätigkeit verdammt sein. Wichtig ist darüber hinaus ein sozialer Aspekt. Die Schauspieler und, im Fall von „Isola“, auch Jan Philipp Gloger sind fest angestellt, aber viele Regieteams reisen als freie Kunstschaffende an. Bis zu fünf Künstler pro Produktion seien das manchmal, erklärt Gloger. Die will er nicht im Stich lassen. Denn diese freien Regisseurinnen, Bühnen- oder Kostümbildner stünden ohne die teils lange vor Corona vereinbarten Projekte ohne Job und Einkommen da. Es gibt demnach gute Gründe, dass viele Theater zu ihren Verpflichtungen stehen, obwohl sie sich damit einige Schwierigkeiten einhandeln. Ein Stück wie „Isola“, das so auf die gegenwärtige Situation hingeschrieben ist, müsste idealerweise sofort gezeigt werden, wurde aber nach der Generalprobe im Dezember 2020 eingemottet. Fragt sich, wie viel Staub wieder herauszuschütteln ist, wenn die Aufführung irgendwann wieder hervorgeholt wird wie ein Frack aus dem Fundus. Das Ensemble binnen weniger Wiederaufnahme-Probentage auf Betriebstemperatur zu bringen, wird dann nur ein Teil der Herausforderung sein. Darüber hinaus stellt sich die Frage, wie man mit einem Stück umgeht, das dann bereits historisch ist, weil der Zustand, den es beschreibt, überwunden sein wird. Allerdings wird Corona der Gesellschaft auch nach dem Lockdown noch in den Knochen stecken. Insofern

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protagonisten

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Albert Ostermaier auch eine Aufführung im Repertoire, die als macht sich Jan Philipp Gloger zu Recht Hoffnung, dass „Isola“ Videokonferenz gezeigt wird – mit einem Schauspieler, der wirknicht sofort Relevanz einbüßt, wenn sich die Lage zu entspannen lich live performt und mit den Zuschauern interagiert, die nicht beginnt: „Trotzdem, wir haben ja immer die Endprobenphase, den nur ihn, sondern auch sich gegenseitig sehen – fast so, als säßen Countdown, den Landeanflug. Und dass da plötzlich so ein Schnitt sie nebeneinander im Parkett. Die Seuche, die der titelgebende reinkommt, das ist ungewöhnlich. Es passt auch nicht zu dieser Superspreader hier global verbreitet, ist übrigens kein SARS-­ Kunstform, dass man sagt, das frieren wir jetzt mal ein und holen Virus, sondern der Kapitalismus. Kein ganz neuer Gedanke. Trotzes später wieder hervor. Das wird eine Herausforderung. Aber was bleibt uns anderes übrig?“ dem schön, dass hier ein Autor daran erinnert, dass die Welt auch noch andere Probleme hat. Und so produziert nicht nur das Staatstheater Nürnberg ge­ rade auf Vorrat. Dabei entsteht eine Art Premierenstau, auf den bei Das innovativste Theater aber, zumindest in Bayern, dürfte gerade das Staatstheater Augsburg sein. Schon im vergangenen Wiederaufnahme des Spielbetriebs eine regelrechte Premierenschwemme folgen dürfte. Denn all die jetzt geprobten InszenierunFrühling experimentierte man dort mit Inszenierungen für VRBrillen. Aufführungen to go. Nun hat Intendant André Bücker gen werden dann zusätzlich zu den fürs Frühjahr geplanten Produktionen auf die Spielpläne drängen. Um Platz im Programm zu sogar eine Digitalbeauftragte eingestellt. „Seit hundert Jahren gemachen, werden wohl einige Frühjahrs­ hen wir auf die gleiche Weise ins Theater“, sagt Tina Lorenz: Das Licht gehe premieren in den Herbst wandern müsaus, dann säßen die Leute im Dunkeln sen – was weitere Komplikationen nach Bei Wiederaufnahme sich zieht, weil eine Regisseurin, die zum und würden geduldig warten, was pasBeispiel im Mai in Nürnberg inszenieren siert. Im Internet seien die Leute sofort des Spielbetriebs soll, im September vielleicht schon den wieder weg, wenn ihnen das Gebotene dürfte eine regelrechte nicht gefalle. „Das heißt, man muss die nächsten Vertrag an einem Theater in Berlin hat, also mit der Nürnberger ProLeute anders mitnehmen.“ Zum Beispiel Premierenschwemme duktion gar nicht in den Herbst aus­ mit einer Daily Soap auf der Streamingweichen kann. Eine Kettenreaktion wird Plattform twicht.tv, über die das Publifolgen. in Gang kommen. Das hatte sich schon kum mit Regisseur Nicola Bremer live nach dem ersten Lockdown abgezeichnet. chatten, seine Entscheidungen hinter­ Andreas Beck, dem Intendanten fragen und so sogar Einfluss auf den weides Münchner Residenztheaters, entfuhr da mit Blick auf seinen teren Verlauf der Inszenierung nehmen kann. Vielleicht sind ­solche interaktiven Formate ja ein adäquaterer Ersatz für die viel gefledderten Spielplan ein Stoßseufzer: „Ich versuche gerade aus einem gerupften Huhn wieder einen stolzen Pfau zu machen.“ beschworene Co-Präsenz im Theater, die allen gerade so fehlt, als abgefilmte Vorstellungen? Die Aufgabe dürfte seither nicht leichter geworden sein. Kein Wunder also, dass manche Theater Druck aus dem Kessel lassen Schaut man sich etwas um, fällt allerdings auf, dass sich vor und die im Lockdown geprobten Inszenierungen jetzt doch schon allem die größeren Bühnen digitale Spielräume erobern. Den mittzeigen, nur eben als reine Online-Premieren. Becks Residenz­ leren und kleineren Theatern fehlen dafür schlicht Geld, Equiptheater beispielsweise brachte „Marienplatz“ von Beniamin M. ment und Manpower. Digitales Theater, sagt Sibylle Broll-Pape, InBukowski auf diesem Wege heraus. Das Auftragswerk des polnitendantin am ETA Hoffmann Theater in Bamberg, frei heraus, „hätte Perspektive, wenn wir eine ganz andere Ausstattung hätten. schen Dramatikers beruht auf einer wahren Begebenheit: Im Mai 2017 verbrannte sich ein Mann auf dem Münchner Marienplatz. Ein Theater unserer Größenordnung überfordert das völlig.“ Bleibt also nur: weiter proben. Obwohl es ohne konkreten Er wählte einen der bekanntesten Orte der Stadt, als wollte er ­maximales Aufsehen erregen. Warum aber zündete er sich im Premierentermin zuweilen absurd anmutet. Wolfgang Maria Bauer, Oberspielleiter am Landestheater Niederbayern mit Stammsitz in Morgengrauen an, als der sonst belebte Marienplatz noch Landshut, findet ein treffendes Bild dafür: „Die Menschen probie­­­menschenleer war? Auch die Motive blieben unklar. Hier setzt ren vor sich hin. Und du sagst ihnen, den VW, den ihr da ge­rade ­Bukowski fragend an: Welchen Sinn hat ein Opfertod ohne erbaut auf dem Fließband, den werden wir nie auf die Straße lassen. kennbare höhere Idee, in deren Namen er geschieht? Uraufführungsregisseur András Dömötör hat dieses mit Aber macht ruhig mal weiter!“ An die große Premierenflut nach dem Lockdown glaubt Bauer nicht. In der Hackordnung der Sys­religiösen Anspielungen aufgeladene Stück mit der entsprechenden Sinnlichkeit eines katholischen Hochamtes inszeniert – mit temrelevanten wird das Theatervolk wohl zu den „Impfletzten“ inbrünstiger Musik und in mit Christbaumkugeln festlich zählen, prophezeit er, und schlichtweg vergessen werden. Vor ­dekorierter Kulisse. Und doch verhält es sich mit dieser Online­allem in Landshut, wo das Theater in einem charmefreien IndusPremiere wie mit einem TV-Gottesdienst: Den Weihrauch riecht triezelt als Ausweichquartier schon seit etlichen Jahren ein Dasein in sozialer Distanz zur Innenstadt fristet, werde man, so Bauer man leider nicht. Insofern bot „Marienplatz“ die Art von Theater aus der Konserve, die bereits die digitalen Spielpläne im ersten mit grimmigem Humor, in ein paar Jahren davon sprechen, dass im Theaterzelt „immer noch welche sind, die proben. Manchmal Lockdown beherrschte. Dennoch, was originäre Webformate angeht, so war an den dringen auch Schreie nach draußen, oder man sieht rauchende Menschen mit langen Bärten vor der Probebühne herumlungern. Theatern zuletzt ein gehöriger Lernzuwachs zu beobachten. Das Residenztheater etwa hat mit dem Monolog „Superspreader“ von Und die machen da drin ganz wilde Dinge.“ //


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Barrie Kosky. Jan Windszus Photography

Exklusiver Vorabdruck

Barrie Kosky On Ecstasy


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Barrie Kosky versteht es nicht nur als der gefeierte Regiestar der Komischen Oper Berlin, sondern auch als unterhaltsamer und fesselnder Erzähler, der überwältigenden Macht des Gefühls einen glänzenden Auftritt zu bereiten. On Ecstasy ist seine Biografie des Schreckens und des Glücks im rauschhaften Moment: der Ekstase des S ­ chmeckens beim Genuss der Hühnersuppe der geliebten Großmutter, der Ekstase des Fühlens im Pelzlager des Vaters in ­Melbourne, des Sogs der unbekannten Zonen des Geschlechts, der Überwältigung in der Begegnung mit den ­Sinfonien von Gustav Mahler und den theatralischen Phantasmagorien von Richard Wagner … On Ecstasy ist die humorvolle Betrachtung des sinnlichen Dranges und der éducation sentimentale eines jungen Mannes und seiner Genese als Künstler. Der Band ist ergänzt um ein Gespräch zwischen Barrie Kosky und Ulrich Lenz, Chefdramaturg an der Komischen Oper Berlin.

I Im Anfang war kein Geruch. Sie schnitt einfach die Möhren, Zwiebeln, Pastinaken und den Sellerie in Stücke und warf sie über das rohe Huhn. Ich mochte dieses rohe Huhn nicht, wie es da tot und bewegungslos in diesem großen Kochtopf saß. Ich mochte es nicht. Ich vertraute ihm nicht. Ich war immer froh, wenn das Gemüse dazu­geworfen und das Wasser über den Vogel ge­gossen wurde, um ihn für alle Ewigkeit zu ertränken. Es gab nichts zu riechen und nichts zu schmecken. Ich hatte zu warten. Volle 24 Stunden des Wartens, Wartens, Wartens. Jeder ernst zu nehmende Hühnersuppen-Kenner wird Ihnen sagen, dass das Hühnersuppenritual in drei klar voneinander abgegrenzte Abschnitte geteilt ist: Vorbereitung – Erwartung – Verzehr. Jedes siebenjährige jüdische Kind wird Ihnen sagen, dass Vorbereitung und Erwartung ärgerliche, quälende Hindernisse auf dem Weg zum Verzehr sind. – Ist sie schon fertig? – Dieser große Kochtopf mit dem großen Deckel, in dem der seltsame Sud aus dicken Gemüseschnitzen und totem Huhn kochte. – Ist sie schon fertig? – Der Dampf, der unter dem Deckel hervorquoll, als ob mein Onkel Sol darunter säße und von dort seinen Zigarrenrauch hervorbliese. – Ist sie schon fertig? – Finger weg! Mit einem Klaps schlug meine Großmutter meine Pfoten weg vom Herd. Meine polnische Großmutter machte eine Hühnersuppe, die mit keiner anderen Hühnersuppe vergleichbar war. Bis zum heutigen Tag ist mir keine bessere in den Teller gekommen. Sie machte eine Gehackte Leber, die in deinem Mund dahinschmolz. Sie machte Gefilte Fisch, die dir noch tagelang auf der Zunge hüpften. Sie machte einen Schokoladenkuchen, wie er in der westlichen Küche nie wieder zu schmecken sein wird. Aber ihre Hühnersuppe übertraf sogar noch all die Superlative dieser Kreationen. Ihre Hühnersuppe war der Caravaggio der Suppen. Der Rainer Maria Rilke der Suppen. Der Arturo Benedetti Michelangeli der Suppen. Aber so weit sind wir noch nicht. Wir sind noch weit, sehr weit vom Verzehr entfernt. Als ob ich es nicht gewusst hätte! Nach vielen Stunden neigte meine Großmutter den Kochtopf über eine große Glasschüssel und goss die Flüssigkeit hinein. Und

was für eine Flüssigkeit, oh, was für eine Flüssigkeit! Gold! Wie Howard Carter es ­erahnte, als er wunderbare Dinge durch das Loch in Tutanch­amuns Grabmal sah. Gold! Wie die Räder unter dem Bechstein-Flügel meines Großvaters, wo ich immer hockte und versuchte, das Gold abzureiben, damit es an meinen Händen kleben bliebe. Gold! Wie das Kästchen auf dem Kaminsims ­ meiner ungarischen Großmutter, in dem die Bridge-Karten darauf warteten, dass die Damen ihren Lunch beenden würden. Es war ein Nil, ein Amazonas, ein Euphrat aus flüssigem Himmelsgold. Aber es war noch nicht meines. Die Kühlschranktür fiel zu und mir wurde wie immer gesagt, dass ich die Suppe nicht stören solle, damit sie schlafen könne. Eine schlafende Suppe! Ab und zu wollte ich einen Blick er­ haschen, um zu sehen, ob es irgendeine Veränderung in der Schüssel gab. Ich war immer wieder aufs Neue erschüttert, wenn ich feststellen musste, dass sich die zuvor glänzende goldene Flüssigkeit am nächsten Tag in eine dunkle glibberige Pampe verwandelt hatte. Wie konnte etwas, das so unglaublich roch und so umwerfend aussah, nur 24 Stunden später als übler brauner Glibber enden? Das wollte mir einfach nicht einleuchten. Was mir jedoch einleuchtete, war der Beginn von Teil drei des Rituals: der Verzehr. Wenn ich ein guter Junge gewesen war, meine Hausauf­gaben brav gemacht, Klavier geübt und meine Hände gewaschen hatte, ließ mich meine Großmutter vorsichtig das erstarrte weiße Fett von der Oberfläche der Suppe abkratzen. Ich liebte diesen Teil. Mit dem Geschick, der Geduld und der Fingerfertigkeit eines plastischen Chirurgen trug ich die dicke Lage Fett mit einem Holzlöffel ab, vorsichtig darauf achtgebend, dass ich nicht die Haut der dunklen Pampe darunter verletzte. Meine Großmutter schöpfte die braune Brühe in einen Kochtopf und schickte mich aus der Küche. – Sitzen. – Warten. – Es war unerträglich. Ich wollte schreien. Manchmal tat ich es. Wie beim berühmten Hühnersuppen-Wutanfall des Jahres 1977. – Ist sie schon fertig? – Und da e­ ndlich erschien sie, vor meinen Augen: die Hühnersuppe. Der erste Löffel, mit dem die heiße Suppe in meinen Mund flutete und meine Kehle hinabrann, war tiefe, metaphysische Verzückung. Der zweite Löffel … pures Glück. Der dritte Löffel … kosmische Glückseligkeit. Der Hühnersuppenraum am Ende von Kubricks 2001. Eine Suppe, die dich an den Anfang und das Ende aller Z ­ eiten katapultierte. Eine glänzende, reine, klare Rhapsodie in Gold.


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eine schmissige Klezmer-Band zusammen? Diese Musik ver­ führte mich. Sie nahm mich gefangen, erschütterte mich und ertränkte mich. Sie erstickte mich. Sie war hinreißend, Gustav Mahler abstoßend und erschreckend zugleich. Sie brachte mich dazu, mir vor Angst fast in die Hose zu machen. Sie tut es immer noch. Bum bum. Bum bum. Bruder Jakob, Bruder Jakob, 56 Takte eines tiefen Streicherbrummens in der untersten Oktave. schläfst du noch, schläfst du noch? Aber was hatte eigentlich Auf einmal tut sich eine weiträumige Landschaft auf, voller Möglichkeiten, ohne Anfang oder Ende. Aus der Ferne tönen Blech­ die jüdische Band da verloren? Und dieses k ­ ratzende hohe Kontrabass-Solo am Anfang des Satzes. So falsch und doch so bläserfanfaren über das Brummen, als r­iefe die Vergangenheit tapfer und trotzig von einem längst vergessenen Turm eines längst richtig. Ein alter Mann mit Lungenemphysem auf dem vergessenen Schlosses. Ein Kuckuck ruft, sticht mit seinem Ruf in ­Kinderspielplatz. die Luft. Eine schlangenartig sich windende chromatische Phrase Das Finale der 1. Sinfonie detonierte in meinem Kin­ der Streicher gleitet verführerisch und drohend durch die derzimmer, alles zerschmetternd, was ich vor diesen jubelnden Landschaft. Und die ganze Zeit diese traurigen fallenden Quarten, Blechbläser-Fanfaren gehört hatte, die zuvor, im 1. Satz, noch ein einzelne Punkte im Panorama, Echo, nun aber dröhnend prä­ wie seufzende Geister. sent und real waren; ­zuvor das Ich war 15, als ich Mahler schwerfällig trottende Bass-Osti­ nato, jetzt das aufregende Aus­ zum ersten Mal hörte. Ich war in keiner Weise darauf vorbereitet. strömen unstillbarer, strah­len­der Was war das für eine Musik? Freude. Und diese brüllenden Was waren das für Klänge? Und Blechbläser-Ejakulationen am warum, warum nur hatte ich Ende des Satzes, auf­ gehalten trotz der Merkwürdigkeit und nur von den unerwarteten, Fremdartigkeit dieser Musik das brutalen Akkorden am Schluss, Gefühl, sie schon einmal gehört hingeknallt wie Interpunktions­ zu haben? Irgendwo, irgendwie, zeichen. All diese Klänge waren neu für mich. Ihre exzessive, in einem nur halb erinnerten Traum. übermächtige Kraft überwältigte Barrie Kosky Wenn ich schon sprachlos mich. Ich fühlte mich auf­ angesichts des musikalischen gekratzt und seekrank. Ich fuhr On Ecstasy Vokabulars des 1. Satzes der 1. auf einer Achterbahn mitten im Aus dem Englischen von Ulrich Lenz Sin­fonie von Mahler war, hätte Atlantik. Hardcover mit 104 Seiten mich nichts in der Welt auf die Monatelang hörte ich diese ISBN 978-3-95749-342-2 Klänge des 3. Satzes vorbereiten Musik und benutzte sie sogar EUR 15,00 (print) / 11,99 (digital) können. Bum bum. Bum bum. für die allererste Theaterproduk­ tion, die ich inszenierte. Ein Der Trauermarsch zieht los. Bum bum. Die Pauken, fast Lehrer an meiner Schule hatte nicht wahrnehmbar. Wie die mir empfohlen, dass ich es doch Füße eines Riesen, in Watte mal mit Regie versuchen sollte. gepackt. Der Kontrabass beginnt, „Bruder Jakob“ in Moll zu Also ging ich schnurstracks in die Schulbücherei, wo ich eine spielen. Ein Kontrabass-Solo? Bruder Jakob? Als Trauermarsch? zerfledderte Kopie eines Stückes mit dem Titel Woyzeck fand, Ein ­Kinderlied, das die Frage „Bruder Jakob, schläfst du noch?“ geschrieben von irgendeinem Deutschen. Ich hatte meine nur stellt, als trauervoller Begräbnis-­Kanon? Ich war baff. Als das mit Männern besetzte Inszenierung des Stückes bereits einige Orchester weiterspielte, sah ich den Leichenwagen des kleinen Wochen lang geprobt, als ich die Entscheidung traf, dass die Mordszene noch eine ordentliche Portion Mahler benötigte. Kindes vor mir, wie er die leere, matschige Straße hinunterfährt. Dann schenkt Mahler seinen Z ­ uhörern einen seiner wun­ Als mein Woyzeck-Junge die Kehle seiner Geliebten, Marie, dersamsten Ein­fälle: Mitten im „Bruder Jakob“-Trauermarsch aufschlitzte, unterlegte ich die Szene mit dem 3. Satz der 1. erscheint auf einmal eine Klezmer-Band. Ja, ­Onkel Mauries BarSinfonie. Bum bum. Schnitt. Bum bum. Schnitt. Bruder Jakob, Mizwa-Band spielt inmitten des ­ Orchesters auf, als ob eine Bruder Jakob, schläfst du noch, schläfst du noch? Schnitt. Schrei. Gruppe von Musikern sich soeben in die Mitte des FeierabendEimer von Blut. Immer wenn ich die M ­ usik höre, sehe ich das Stoß­verkehrs gepflanzt hätte. Küchenmesser meiner Mutter, das ich mir für die Aufführung Welcher Komponist bringt auf derselben ­ Seite einer geborgt hatte, den Hals eines heranwachsenden Jungen im sinfonischen Partitur einen Trauermarsch, ein Kinderlied und schwarzen Kleid entlangfahren. Bum bum. Bum bum. Schnitt. Die Sinfonie muss wie die Welt sein. Sie muss alles umfassen.


Look Out

/ TdZ Februar 2021  /

Von diesen KünstlerInnen haben Sie noch nichts gehört? Das soll sich ändern.

Der Sozialismus lebt – im Wiener Untergrund Das österreichische Performancekollektiv Nesterval verstrickt sein Publikum in kluge Mitbestimmungsspiele

M

an könnte das seit 2010 aktive und in Wien ansässige queere Performancekollektiv Nesterval durchaus als einen der ganz wenigen Gewinner der Corona-Krise unter den Kunstschaffenden bezeichnen. Im Pandemiejahr 2020 erhalten sie für ihre Produktion „Der Kreisky-Test“, die analog geplant war und dann als eine der ersten „Stay at home“-Performances im April via Zoom Premiere feierte, den Nestroypreis in der Kategorie „Corona-Spezialpreis“. Noch im vergan­ genen November legte das vor Kreativität strotzende Kollektiv mit ­ „Goodbye Kreisky“ eine Fortsetzung jener partizipativen Online-Per­ for­ mance um eine alternative sozia­­ listische Gemeinschaft im Wiener ­Untergrund vor, die den Erstling tech­ nisch und ästhetisch sogar noch zu toppen vermochte. Frau (Teresa) Löfberg und Herr (Martin) Finnland, die beiden künstlerischen Köpfe des Kollektivs, versammeln für ihre Produktionen ein Ensemble von bis zu 30 professionellen wie Laien-Darstellerinnen und -Darstellern. Zu ihren Markenzeichen gehören erstens die narrative Rahmung ihrer Stoffe als Geschichte(n) der namengebenden, fiktiven deutsch-österreichischen Familiendynastie Nesterval; zweitens die Entwicklung dezidiert spielförmiger Theaterformate, die von Schnitzeljagden im Stadtraum bis zu interaktiven Performance-Installationen reichen, und drittens Gender-Fluidität, die sich auf den Ebenen der Besetzung und Figurenentwicklung bis hin zu Darstellungsweisen erstreckt. Darüber hinaus kombiniert Nesterval häufig klassische Stoffe mit popkulturellen Welten, etwa „Dirty Dancing“ und Goethes „Faust“ zu „Dirty Faust“ (2017). Inspiriert von den immersiven Performance-Installationen der britischen Kompagnie Punchdrunk arbeitet auch Nesterval mit komplexen, multi-

sensorisch erfahrbaren Szenografien, aufwendig gestalteten soundscapes, eigenen Songs sowie interaktiven Elementen zwischen Zuschauenden und Darstellenden. Herzstück ihrer ­ ­Arbeiten bildet ein Spielauftrag an das teilnehmende Publikum, das zu Beginn einer jeden Produktion in Kleingruppen aufgeteilt wird. Dieser Spielauftrag unterscheidet ­Nestervals Arbeiten auch von den immersiven Signa-Produktionen, mit denen sie in Kritiken immer wieder (fälschlich) verglichen werden. Wenngleich die leiblich erfahrbare Dimension des Spiels in den „Kreisky“-Online-Produktionen notwendig zurückgenommen ist, so schaffen sie es dennoch, uns in die Welt um Gertrud Nesterval und ihre streng sozialistische Unter­ grund­gemeinschaft einzubeziehen. Einzelne Zuschauerinnen und Zuschauer dürfen zum Beispiel entscheiden, welche Szenen sie sehen oder mit welchen Figuren sie „live“ ins Gespräch kommen wollen. Während es im ersten Teil darum geht, als Publikum gemeinsam aus­ zu­ wählen, wer an dem gesellschaftlichen Experiment teilnehmen darf, stimmt man im zweiten Teil über das künftige Verbleiben jener Teilnehmenden ab, die überlebt haben: Integriert man sie in unsere heutige pluralistische Gesellschaft, oder stellt man sie im fiktiven Nesterland-­ Themenpark aus? Es wundert nicht, dass das überaus spielfreudige und enthusiastische Nesterval-Publikum in Österreich über die ­ Jahre zu einer großen Fangemeinschaft angewachsen ist, die durch Spenden sogar Wiederaufnahmen von Produktionen ermöglicht – ein Phänomen, das in Deutschland auf diese Weise nicht bekannt ist. Auf dass diese Community nun verdienterweise wachse und weitere modellbildende Formen der Publikums­ einbeziehung gemeinsam auf wie auch hinter der Bühne Theresa Schütz hervorbringe! // Teresa Löfberg und Martin Finnland von Nesterval. Foto Alexandra Thompson

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Look Out

/ TdZ  Februar 2021  /

Eine Heilige der Ausschweifungen Die Bochumer Schauspielerin Jing Xiang übersetzt Emotionen in Bewegung

ie ist eine Magierin“, sagt Johan Simons im Nachgespräch zum Live-Stream seiner Inszenierung von Elias Canettis „Die Befristeten“ – und meint damit Jing Xiang. Wer die 1993 in Berlin geborene Schauspielerin auch nur ein einziges Mal in Bochum im Schauspielhaus oder auch auf der kleinen Freilichtbühne im Innenhof der Privatbrauerei M ­ oritz Fiege erlebt hat, weiß sofort, was ­Simons meint. Jing Xiangs Auftritte haben tatsächlich etwas Zauberisches. Unabhängig vom Geschehen um sie herum zieht sie sofort alle Blicke auf sich. Manchmal, wie in Herbert Fritschs überaus eigenwilliger Annäherung an Marquis de Sades „Philosophie im Boudoir“, traut man dabei sogar seinen eigenen Augen nicht. In dieser Inszenierung gab es einen Moment, in dem es einem schien, als schwebe sie über dem Boden. Sie trug eine Art Monstranz auf dem Kopf und strahlte etwas Übernatürliches aus: eine Heilige der Ausschweifungen. Angefangen hat alles in Jing Xiangs Heimatstadt Berlin, zunächst im Rahmen des Ballett-Projekts „Kinder tanzen für Kinder“ der Deutschen Oper. 2009 hat sie begonnen, an der Academy, der Bühnenkunstschule für Jugendliche in Kreuzberg, Schauspielunterricht zu nehmen. Nach drei Jahren ging sie 2013 nach Rostock und schloss an der dortigen Hochschule für Musik und Theater 2017 ihr Schauspielstudium ab. In dieser Zeit sammelte sie auch erste Erfahrungen mit interdisziplinären Projekten. Arbeiten wie „Champagner, Baby“ und das von ihr ersonnene Projekt „O“ waren Teil des Rostocker Lehrplans, der ganz gezielt auf den Austausch zwischen Schauspiel- und Musikstudierenden setzt. Ein ständiges Changieren zwischen den Disziplinen und Formen prägt seither Jing Xiangs Arbeit. Seit sie 2018 mit Johan Simons ans Bochumer Schauspielhaus kam,

Jing Xiang. Foto Ina Schoenenburg / Ostkreuz

S

hat sie vor allem in performativen Produktionen mitgewirkt – von „O, Augenblick“, Tobias Staabs musikalischer Auseinander­ setzung mit der traditionsreichen Geschichte des Bochumer Schauspielhauses, über Julia Wisserts Versuch einer postrassistischen Bühnenutopie „2069 – Das Ende der anderen“ bis zu Anna Stiepanis Adaption von Daniel Defoes Roman „Robinson Crusoe“. Eines ist all ihren Auftritten gemeinsam: eine bemerkenswerte Körperlichkeit, die Raum für Doppeldeutigkeiten schafft. „Ich will immer sehr viel, stelle mir viele Fragen und versuche dann, das alles im Spiel zusammen­ zubringen“, erzählt Jing Xiang im Gespräch. Aber diese Erklärung braucht es gar nicht. Es reicht einfach, ihr auf der Bühne zuzusehen, und schon hat man teil an all diesen Fragen und Ideen, die sie sich und ihren Figuren stellt. Dabei braucht sie nicht einmal Worte. So ging ihre Darstellung des Schiffbrüchigen in „Robinson Crusoe“ weit über das Porträt eines Gestrandeten hinaus. Ein Beben und ein Zittern, die ihren ganzen Körper erfassten, reichten aus, um mal von Robinsons Angst, mal von seiner Euphorie zu erzählen. Zugleich betonte ihr körperliches, Emotionen in Bewegungen verwandelndes Spiel aber auch die Distanz zwischen ihr und der Rolle. Man war sich immer bewusst, dass hier eine Frau mit chinesischen Wurzeln diesen weißen Mann spielt. Ohne ein Wort darüber zu verlieren, ohne den Zeigefinger zu erheben, konnten sie und Anna Stiepani Defoes kolonialistische Vorstellungen offenlegen. Auch das ist Teil von Jing Xiangs Magie. Schauspiel ist nie nur Spiel, sondern immer auch ein Kommentar zu den gesellschaftlichen Sascha Westphal Verhältnissen. //

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Auftritt Berlin

„Woyzeck Interrupted“ von Mahin Sadri und Amir Reza Koohestani nach Georg Büchner, „Vertigo“ von

Freiburg „Leonce und Lena“ von Georg Büchner  Osnabrück „Die Nacht von Lissabon“ von Erich Maria Remarque  Mannheim „Land ohne Worte“ von Dea Loher  Wien „Die Maschine in mir (Version 1.0)“ (DSE) von Dead Centre und Mark O’Connell sowie Max Edgar Freitag und Frank Schulz, „Superforecast“ von Steffen Sünkel

„Am Ball. Wider erbliche Schwachsinnigkeit“ von Lydia Haider

Foto

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auftritt

/ TdZ  Februar 2021  /

BERLIN Marie geht

im Pandemie-Koller um Wiedergänger von

Bildüberblendungstechnik

Franz und Marie aus Georg Büchners Drama

ändern. Den Schluss gibt’s mehrfach; einmal

„Woyzeck“ handelt. Dessen Protagonisten

als Tragödie und einmal als emanzipatorisches

würde man heutzutage wahrscheinlich zum

Empowerment: Marie geht. Endlich! //

Grundsätzliches

Christine Wahl

Dienstleistungsprekariat rechnen; er verdient sein Geld als Proband medizinischer Studien,

DEUTSCHES THEATER: „Woyzeck Interrupted“ von Mahin Sadri und Amir Reza Koohestani nach Georg Büchner Regie Amir Reza Koohestani Bühne Mitra Nadjmabadi Kostüme Lea Søvsø

bei denen er sich wochenlang ausschließlich von Erbsen ernähren darf – was der auftraggebende Doktor mit zynischer Zufriedenheit

BERLIN

quittiert: Physis wie Psyche zeigen lehrbuchgetreu die erwarteten Beeinträchtigungen. Büchners Woyzeck besitzt tatsächlich nicht viel. Eine Sache gehört aber definitiv dazu, nämlich eine starke Motivation: die ­(finanzielle) Verantwortung für seine Freundin

Es ist ein Abend, wie er sich zurzeit vermut-

und das gemeinsame Kind. Als er die verliert,

lich vielerorts ereignet: Eine junge Frau (Lorena

weil Marie anderweitig – und sozial nach oben

Handschin) und ein junger Mann (Enno

– liebäugelt, bringt er sie um; außer sich

Trebs) hocken wenig inspiriert auf dem Sofa,

nicht nur wegen dieses Schicksals, sondern

können sich nicht auf eine gemeinsame Sitz-

auch wegen der Stimmen, die er hört.

position, geschweige denn auf eine Netflix-

Die Büchner-Überschreibung mit dem

Serie einigen und scheinen sich auch jenseits

Titel „Woyzeck Interrupted“, die die Dramati-

der Unterhaltungsprogrammselektion wenig

kerin Mahin Sadri und der Regisseur Amir

zu sagen zu haben. Das soll, zumal im Lock-

Reza Koohestani für das Deutsche Theater

down, in den besten Partnerschaften vor­

Berlin erarbeitet haben, entfernt sich von die-

kommen. Daran ändert auch die adrette

ser Vorlage nicht nur insofern, als sie das Ge-

mehrstöckige Behausung nichts, die Mitra

schehen vom Prekariats- ins Bobo-Milieu ver-

Nadjmabadi auf die Bühne des Deutschen

pflanzt. Sondern sie verschiebt den Akzent

Theaters Berlin gebaut hat – und die eigent-

vor allem von Franz auf Marie – mithin von

lich genug Platz böte, um einander aus dem

der männlichen auf die weibliche Figurenper-

Weg gehen zu können.

spektive – und will im „Woyzeck“ das struktu-

Wenn der Freitag sein Kleid in die Wolken schlägt THEATER THIKWA: „Vertigo“ von Max Edgar Freitag und Frank Schulz Regie Gerd Hartmann Bühne Isolde Wittke Kostüme Pablo Alarcón RAMBAZAMBA THEATER: „Superforecast“ Idee und Fassung Steffen Sünkel Regie Jacob Höhne Kamera und Schnitt Alexander du Prel Kostüme Beatrix Brandler

Bei dem Paar, das aus diesem Ambien-

relle Drama häuslicher Gewalt gegen Frauen

te in einer eigens umgearbeiteten Online-

entdecken. Zwischen den Paarszenen er-

„Alles Gute kommt von unten“, sagt Max

Premieren-Version live auf die Endgeräte der

scheinen Videoprojektionen nächtlicher Groß-

­Edgar Freitag. Und schon steht die Welt kopf.

Zuschauer gestreamt wird, kommt allerdings

stadt-Häuserfassaden, zu denen aus dem Off

Vertigo nennen Mediziner den Zustand, wenn

noch ein spezielles Problem hinzu: Sie hat –

reale Mordfälle von Männern an ihren (Ex-)

das Bild vor dem eigenen Auge plötzlich

ohne ihn vorher überhaupt über ihre Schwan-

Partnerinnen referiert werden.

kippt, Räume sich anfangen zu drehen und

gerschaft zu informieren – einen Abbruch

Mal abgesehen davon, ob einem dieses

Böden in rasender Geschwindigkeit auf einen

vornehmen lassen. Und weil die beiden darü-

Konzept als „Woyzeck“-Variation überhaupt

zustürzen. Wer lange genug auf die an der

ber nicht wirklich sprechen können, ergehen

schlüssig erscheint, ist das vermeintlich exem-

Bühnenrückwand kreisende schwarz-weiße

sie sich in scheinbar banalen Stellvertreter­

plarische Stücklein, das auf der Bühne gezeigt

Spirale starrt, die an die optische Kunst der

dialogen, die nach Ingmar Bergman oder

wird, mit der behaupteten gesellschaftlichen

italienischen Op-Art-Künstlerin Marina Apol-

­Edward Albee schielen, hier aber leider tatsäch-

Dimension auf geradezu ärgerliche Weise

lonio erinnert (Design Dirk Lebahn, Bühne

lich im typischen Sofagarniturformat einer

überfordert. Franz präsentiert sich als Theater-

Isolde Wittke), dreht sich förmlich mit. Auch

Fernsehsoap stecken bleiben.

schauspieler mit Narzissmus-Problem, der ge-

der Bühnenboden ist mit schwarz-weißen

Fielen zwischendurch nicht immer mal

rade „Woyzeck“ probte, als der Lockdown

Kreisen überzogen. Ein Labyrinth, dessen

wieder Signalsätze à la „Du bist hirnwütig“,

kam. Und hinter Marie verbirgt sich die junge

Zentrum in eine Tiefe verweist, die auch John

dürfte kaum jemand auf den Gedanken kom-

Regiehospitantin, die mit dem Hausstar ein

Ferguson, den Polizisten aus Alfred Hitch-

men, dass es sich bei diesem zickigen Paar

Techtelmechtel begonnen hatte und nun bei

cocks gleichnamigem Psychothriller, magisch

ihm zu Hause festsitzt, obwohl die Affäre aus

anzog. Gedanken an eine Flucht? Zwecklos.

ihrer Sicht eigentlich schon vorbei ist – was

Damit könnte die Geschichte, die die beiden

der junge Mann nicht akzeptieren will.

Performer des Theaters Thikwa, Max Edgar

Im Lockdown-Koller – „Woyzeck Interrupted“ von Mahin Sadri und Amir Reza Koohestani nach Georg Büchner (hier mit Enno Trebs) am Deutschen Theater Berlin. Foto Arno Declair

Daran, dass das über neunzig Minuten

Freitag und Frank Schulz, gemeinsam mit

ziemlich dröge vor sich hin mäandert, können

den Thikwa-Musikern Alexander Maulwurf

weder die wacker sich schlagenden Schau-

und Louis Edler erzählen, bitter enden. Autis-

spieler noch die optisch sich ins Zeug legende

mus heißt der Begriff, mit dem Mediziner die

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auftritt

/ TdZ Februar 2021  /

Wider die Ordnungswut – „Vertigo“ vom Theater Thikwa in der Regie von Gerd Hartmann. Unten: Die Dada-Webserie „Superforecast“ vom RambaZamba Theater in der Regie von Jacob Höhne. Fotos David Baltzer / Alexander du Prel

scheint hier im Gange. 13 Gestalten ziehen, jede mit einer dicken Wachskerze in der Hand, das Gesicht hinter grotesken Totenmasken verborgen, durch ein mit Fackeln erleuchtetes Gewölbe. Ihr Ziel: eine Feuerschale, an der sie nacheinander eine rätselhafte Losung rezitieren. „Wenn der Freitag sein Kleid in die Wolken schlägt …“ „Superforecast“ heißt die kleine Web­ serie, die das zweite Inklusionstheater Berlins, das RambaZamba Theater, während des Lockdowns gedreht hat: Supervorhersage, ein Titel, der sich wunderbar quer zur derzeitigen vermeintliche Disposition beschreiben, um

mal schlicht berichtend schildern sie Szenen

Unplanbarkeit positioniert. Unter Jacob Höhne,

die es in „Vertigo“ in der Regie von Gerd Hart-

aus ihrem Alltag. Momente, in denen Gefühle

der 2017 die Leitung des Theaters von seiner

mann geht. Ein endloses Kreisen im eigenen

in ihrem Inneren ummantelt sind wie Reakto-

Mutter Gisela Höhne übernahm und hier

Körper, Schwierigkeiten bei sozialen Kontak-

ren in einem Atomkraftwerk, bis sie sich

­Regie führt, hat das Ensemble einen großen

ten samt Handlungsstereotypien. Stempel

plötzlich, wenn sie einen Freund treffen, ent-

Schritt in die Avantgardekunst gewagt. Pate

drauf. Fertig. Doch wer definiert hier eigent-

falten wie ein Bonbonpapier. „Vertigo“ wurde

für die Serie stehen der Dada-Dichter Konrad

lich die Kategorien?

kurz vor Weihnachten via Live-Stream über-

Bayer sowie Martin Kippenberger. In Pelz-

Gut und böse. Gott und Teufel. Klare

tragen, was nicht nur dank einer beweglichen

mäntel und elegante Abendkleider gehüllt,

Kontraste sind für unkomplizierte Denker im-

Kameraführung und eines dynamischen Film-

demnach kostümiert, durch viel nackte Haut

mer bequem. Der Mensch hat offenbar ein

schnitts erstaunlich gut gelang. Denn selbst

letztlich aber ungeschminkt (Beatrix Brand-

Bedürfnis nach Ordnung, denn warum sonst

durch die Kamera entwickeln die Spieler vom

ler), erreichen die Spieler selbst in diesen

würden, huch!, ja auch Nicht-Autisten stun-

Theater Thikwa eine irre Präsenz, fesselnd

Clips einen ganz neuen Ausdruck, dessen

denlang an einem bunten Zauberwürfel dre-

und Schwindel erzeugend wie in den besten

Kraft sich zwar noch deutlich aus der Ästhetik

hen, um das Farbenwirrwarr – endlich! – zu

Szenen von Hitchcock. Als Video-on-Demand

Frank Castorfs und Christoph Schlingensiefs

entwirren? Was in diesem Fall jedoch Spiel

ist das Stück vom 10. bis 14. Februar dann

speist, aber große Lust auf eine Fortsetzung

ist, wird gesellschaftlich und politisch zum

erneut über die Website des Theaters abrufbar.

macht. Am Ende, nachdem in Folge drei noch

Problem. Wenngleich die bunten Quader auf

Ein konspiratives Grüppchen hat sich

die Fäuste flogen und Blut aus Nasen troff,

der Bühne eher putzig (und damit leider

auch in den Katakomben von Berlin eingefun-

besteigt die Gruppe in Folge fünf einen alten

gänzlich antipsychedelisch) wirken, liefern

den. Wäre dieser Kurzfilm in Schwarz-Weiß

Kahn, der sodann sanft tuckernd im Nebel

sie doch in ihrer Geometrie Reminiszenzen an

gedreht, könnte sein Setting an den düsteren

verschwindet. Auf in das Reich von Chaos

die Ordnungswut des Bauhauses, das in sei-

Untergrund in Fritz Langs „Metropolis“ erin-

und Kunst. //

ner Formstrenge immer auch etwas Aufge-

nern. Eine geheimbündlerische Verschwörung

räumtes, Reines, gar Autoritäres besaß. Was aber, wenn der Teufel gar nicht der bad guy ist? „Ist nicht eigentlich Gott der Böse und der Teufel der Gute“, weil Letzterer die Verstoßenen bei sich aufnehme, fragt Max Edgar Freitag. So sind die Abende des Theaters Thikwa auch Lektionen in wildem Denken. ­ „Es ist nicht immer leicht“, heißt es zu Beginn, „in einem Körper zu stecken, der ja sagt, aber auch vielleicht.“ Mit dieser bewussten Unschärfe rücken die Performer einem allzu normierten Weltbild zu Leibe. Mal beatboxend, mal sich gegenseitig befragend,

Dorte Lena Eilers


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FREIBURG Kids und Corona THEATER IM MARIENBAD: „Leonce und Lena“ von Georg Büchner Regie Sascha Flocken Ausstattung und Video Jens Dreske

Wie geht es der Jugend in Corona-Zeiten? Langeweile in den eigenen vier Wänden? Überbeanspruchung

digitaler

Endgeräte?

Läuft Beziehungspflege verstärkt im virtuellen Raum? Wächst die Sehnsucht nach Analogem? Lassen sich Generationskonflikte überhaupt noch ausleben? Und wie weit ­tragen Ausbruchsfantasien? Dieses Psychogramm umreißt einiges

„Valerio, wir gehen nach Italien!“ – Dieser Satz aus Sascha Flockens „Leonce und Lena“ (hier mit Nadine Werner und Benedikt Thönes) kann beim jugendlichen Publikum zu Zeiten der Reisewarnungen viel auslösen. Foto Minz & Kunst Photography

von dem, was Sascha Flocken und sein Team aus Georg Büchners Drama über zwei Protagonisten an der Schwelle zum Erwachsensein

Fünf schlichte Wörter der Dramenvorlage –

bricht die Inszenierung gängige Geschlech-

destillieren. Ihre „Leonce und Lena“-Insze-

„Valerio, wir gehen nach Italien!“ – können

terrollen. Indem Flocken Leonce weiblich und

nierung im Freiburger Theater im Marienbad

bei einem jugendlichen Publikum zu ­Zeiten

Lena männlich besetzt, erhält die Inszenie-

ist ein trotziger und grandioser Wurf. Jens

der Reisewarnungen enorm viel auslösen:

rung utopisches Potenzial. Wie befreiend für

Dreskes Bühne: eine gespiegelte Fläche, pas-

Sehnsucht etwa, aber auch die Gewissheit,

Nadine Werner, so viel Spielraum zu erhalten

send zum Narzissmus der Hauptfigur. Gelang-

dass diese Flucht kein Selbstläufer sein wird.

wie sonst nur die männlichen Schauspiel­

weilt lungert Nadine Werners Leonce auf dem

Ihr Höhepunkt: Leonces Begegnung mit Lena.

kollegen! Und wie verstörend wirkt es, wenn

Bühnenboden, das eigene Smartphone in der

Flocken setzt den Zauber der direkten Begeg-

Benedikt Thönes in seiner Rolle als Lena mit

Hand. Nadine Werner spielt diesen Leonce

nung gegen das Unverbindliche des V ­ irtuellen.

ganz wenigen Sätzen der eigenen Sehnsucht

fragil, trotzig, fast pubertär. Früh schneidet

Leonces höfische Liebschaft Rosetta gestalte-

nach Unverstelltem Ausdruck verleihen muss.

Flocken in Büchners Lustspiel aufrührerische

te er noch als reine Chat-Kommunikation. Den

Erst über ein Spiel im Spiel lässt sich

Passagen des „Hessischen Landboten“, die

neuen Ton des Authen­ tischen gibt Marie-

Büchners happy ending in Szene setzen.

als Fremdtexte per Live-Video eingesprochen

Christin Sommers rotziger Song vor: „Ich will

Dazu bedarf es des von allen Zwängen be­

werden (Julia Schulze). Sie lassen Leonce

keinen Kitschkrieg / Ich will dein analoges

freiten Spielleiters Valerio. Christoph Müller

aufhorchen: „Friede den Hütten! Krieg den

Herz!“ Und tatsächlich begegnet Leonce der

­feiert in dieser Rolle die Freiheit der Kunst,

Palästen!“ Wäre das ein Weg heraus aus der

ihm unbekannten Lena (Benedikt Thönes)

welche vorhandene gesellschaftliche Grenzen

Einsam- und Haltlosigkeit?

leibhaftig. Beide mit durchsichtigem Visier

sprengt. Es kommt zur Hochzeit „in effigie“ – ein Sinnbild der Macht des Fiktiven?

Dem Ensemble des Kinder- und Ju-

ausgestattet, fasziniert voneinander, und doch

gendtheaters gelingt es, Büchners schmalen

verunsichert, ob eine Berührung überhaupt

Die Inszenierung war schon vor der

Grat zwischen Lust- und Trauerspiel souve-

statthaft ist. Leonce versucht, Lenas Visier zu

Corona-Krise geplant. Was als interne Premi-

rän zu bespielen. Bevor sich Leonce selbst

öffnen. Zu Corona-Zeiten ist das ein fast

ere Ende Juli zum Abschluss kam, konnte

finden kann, platzen die Ansprüche der Er-

magischer Moment. Lena weicht zurück. In ­

erst im Oktober vor Publikum gezeigt werden.

wachsenen herein. König Peter verordnet per

ihrem „zu viel!“ transportieren sich für den Zu-

Und das auch nur wenige Wochen lang.

Videobotschaft die anstehende Verlobung

schauer auch aktuelle Ängste vor Nähe und

Aktuell ruht der Spielbetrieb. Schulische ­

seines Sohnes Leonce mit der Prinzessin

Berührung. Sie sind für junge Menschen be-

Theaterbesuche dürfen bis Ende April in

Lena aus dem Nachbarreich Pipi. Daniela

sonders bitter, die ihre Kontakte erst tastend

Baden-Württemberg nicht stattfinden, wie ­

Mohr gibt diesen König auf groteske Weise

suchen müssen und nun nicht dürfen.

schon vor den Sommerferien. Das nimmt die-

verzerrt, gleichzeitig seiner selbst gewiss.

Hellsichtig ist Flockens Inszenierung

ser Inszenierung ihr Publikum. Wenn über die

Ein Herrscher als Lachnummer, der doch

nicht nur, weil sie die aktuell dominanten

Notwendigkeit von Schulunterricht gespro-

alle Fäden in der Hand hält. Leonce ist fas-

­Momente des Digitalen auf funktionale Weise

chen wird, sind sich alle Politiker einig. Dass

sungslos: Wie kann er den Ansprüchen des

mit Büchners Dramenvorlage verknüpft. Der

Kultur zum Bildungsauftrag dazu gehört,

Vaters entkommen? Der Ausweg: Flucht

Zauber einer erlebbaren Liebe zwischen Leonce

bleibt unberücksichtigt. Was für ein Fehler! //

nach Italien!

und Lena gehört dazu. Gleichzeitig durch-

Bodo Blitz


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auftritt

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MANNHEIM Endlose Erschöpfung NATIONALTHEATER MANNHEIM: „Land ohne Worte“ von Dea Loher Regie Dominic Friedel und Annemarie Brüntjen

Am Anfang war die tiefe Sehnsucht, nach den Körpern, die verschwunden waren. Jede Erinnerung an einen von ihnen gleicht nunmehr einem Ton, den Annemarie Brüntjen auf dem Flügel mal zart, mal wild anschlägt. Die Klänge verhallen in den geisterhaft leeren Rängen des Nationaltheaters Mannheim, das mit der One-Woman-Show „Land ohne Worte“ gewissermaßen sein eigenes Schicksal im Schatten der Corona-Pandemie reflektiert. Wonach Dea Lohers ursprünglich aus Erfahrungen einer Afghanistanreise entstandenes Stück fragt, die Kultur längst aufgegeben hat. Wohl auch

Das All ist in Wunden – das Theater auch: Dominic Friedels und Annemarie Brüntjens tragisch bedeutungsarm bleibende Online-Inszenierung „Land ohne Worte“ von Dea Loher.

deswegen begegnet uns die Protagonistin auf

Foto Christian Kleiner

ist die Bedeutung der Kunst in einer Zeit, die

der Bühne als eine Suchende. In einer verspielt-ironischen Magritte-Anspielung trägt sie ein T-Shirt mit dem Aufdruck „Dies ist

Fragen über die Funktion des Ästhetischen zu

Lediglich das Ende vermag uns noch einmal

keine Malerin“, obwohl sie sich genau in eine

einer plakativen Auseinandersetzung mit dem

aufzurütteln und mitzureißen. Nachdem sich

solche hineinversetzt.

Sinn des Theaters übergeht. In der Nahauf-

Brüntjen in abstrakte und farbenfrohe Gemäl-

Wenn sie nicht gerade am Piano sitzt,

nahme fragt uns Brüntjen direkt, ob wir es ver-

de von Mark Rothko nicht nur eindenkt, son-

verräumt sie Gegenstände auf der Bühne,

missen und was wir damit verbinden würden.

dern unmittelbar in deren Projektionen auf

philosophiert über die Schönheit und bringt

Derweil wechselt sie die Perspektive, begibt

der Bühne eintritt, greift sie zum Mikrofon.

sich als romantische Außenseiterin gegen-

sich in den Zuschauerraum mit Blick auf die

Sie beginnt zu Max Richters Bearbeitung von

über der Mehrheitsgesellschaft in Stellung.

erleuchtete, aber leere Bühne. Damit sich all

Antonio Vivaldis „Die vier Jahreszeiten“ zu

Letztere sei ihr zufolge nur für das Bequeme

die ­ Tristesse der entseelten Bühnenhäuser

singen. Lediglich noch von der Leinwand be-

und Reibungslose zu haben. Der gemeine

noch intensiver vermittelt, zitiert sie zudem

lichtet, werden wir der Interpretin nun als

Mensch präferiere kitschige Petunienbilder,

frei nach Büchner: „Das All ist in Wunden, und

Schattenfigur gewahr. Bilder sollen nur noch

wohingegen sie den „Tierkadaver mit Amei-

wir spüren ­tiefen … Schmerz“ und „unend­

im Kopf entstehen und werden motiviert

sen in einer Glasvitrine“, also den „ver­

liche Ein­samkeit“.

durch eine wunderschöne, sich allmählich

wählen

Obgleich die Grandezza der uns fes-

immer weiter aufbauende Tonarchitektur.

würde. Hierin kommt, wie eine der stets

selnden Schauspielerin kaum zu überbieten

Synchron dazu erscheinen auf weißen Flä-

wechselnden Aufschriften auf der weißen

ist, schleppt sich die Darbietung zäh dahin.

chen Textstücke wie „das licht kurz bevor es

Leinwand im Hintergrund dokumentiert, ihr

Die spärlichen Einfälle der Regie wirken nicht

explodiert“ oder „wenn ich falle werde ich

„gegenentwurf“ zum Ausdruck. Statt nach

selten abgedroschen, so etwa das altbekann-

weinen … vor glück“. Der Schlussakkord

verlogener Deko strebt sie nach dem Wahren

te, mehrfache Heraustreten der Darstellerin

stellt die Flucht nach vorn dar, die impulsive

und Unverstellten in der Kunst.

anschaulichten

Lebenskreislauf“,

aus der Rolle oder das omnipräsente Spiegel-

Rettung des Selbst durch und in die Kunst

Dann folgt einer der vielen Cuts in die-

motiv als Sinnbild für die Identitätsverun­

aus Sprache, Musik und Bewegung. Von sol-

sem via Stream zu verfolgenden Abend. In der

sicherung ihrer Figur. Deutlich zum Ausdruck

cherlei energiegeladenen Volten hätte man

von Dominic Friedel und Annemarie Brüntjen

kommt in diesen einfallslosen Gesten vor al-

sich in dieser sprunghaften Inszenierung

entwickelten Inszenierung reiht sich eine

lem eines, nämlich der gänzliche Erschöp-

noch mehr gewünscht, die auf tragische Wei-

­thematische Szene an die nächste. Es verwun-

fungszustand der gegenwärtigen Theater­

se bedeutungsarm bleibt. //

dert daher auch kaum, dass die Aufführung

szene im Lockdown. Die Kreativität liegt am

ziemlich unvermittelt von makro­ kosmischen

Boden, Motivation und Kraft sind dahin.

Björn Hayer


auftritt

/ TdZ  Februar 2021  /

OSNABRÜCK Ewige Odysseen THEATER OSNABRÜCK: „Die Nacht von Lissabon“ von Erich Maria Remarque Regie Dominique Schnizer Ausstattung Christin Treunert

genommen hat. Mit einer Dose Eintopf,

schen Internierungslager spielende Szenen

­Wasserflaschen und einem Coffee to go ver­

wurden im Erstaufnahme-Camp für Geflüchte-

obdachlost er zusammengekauert in einem

te in Bramsche gedreht, im Norden des Land-

Container. Das nüchterne Bühnenbild er­

kreises Osnabrück, sodass der Blick zurück

innert an heutige Geflüchteten-Unterkünfte.

auch ganz konkret einer in die Gegenwart ist.

Adressat von Schwarz’ Geschichte der Flucht

Zur politischen Fluchtbewegung kommt die

vor den faschistischen Sintfluten der 1940er-

von Helen hinzu, die vor ihrer Krebserkrankung

Jahre ist im Buch ein Ich-Erzähler, der im

flieht, indem sie diese ignoriert, bis es nicht

offiziell neutralen Portugal des Diktators

mehr geht: Sie nimmt sich das Leben und da-

­Salazar ein Ticket, Pass und Visum für die

mit ihrem Mann den Lebensmut für den Neu-

Überfahrt nach Amerika ersehnt. Schwarz will

anfang in den Vereinigten Staaten.

ihm seine Dokumente schenken. Unter einer

Auf der Bühne funktionierte die Umset-

Bedingung: Er müsse seiner Lebensbeichte

zung von Schwarz’ Dialog mit seinem Innen­

Die Flucht vor den barbarisch durch Europa

lauschen. Die noch offenen Wunden dürften

leben bereits sehr gut. Aus dem Off wurden

wütenden Deutschen, der Exodus nach Paläs-

nicht vergessen werden im Lauf der Zeit.

Stimmen eingespielt, und auf dem Container

tina oder das Exil auf dem amerikanischen

Schnizer streicht die durchs Lissabon-

flimmerten Videos – sozusagen als direkt aus

Kontinent waren Versuche, das eigene Leben

ner Nachtleben stromernde Rahmenhand-

dem Unterbewusstsein gestreamte Reminis-

zu retten und das eigene Land wie einen

lung, gibt Kienast nur die Binnenhandlung

zenz-, Angst-, Wunsch-, (Alb-)Traumbilder.

­bösen Traum zu vergessen. Heutige Flucht-,

und statt des Ich-Erzählers das Theater-, jetzt

Szenarien von Liebesnächten tauchten vor

Vertreibungs-, Migrationsbewegungen schrei-

das Videopublikum als lauschender Beobach-

Schwarz’ Augen auf, neugierig betrachtete er

ben diese Erfahrung fort – nur mit umgekehr-

ter des Monologs. Erst bummeln Schwarz und

die Bilder seiner Touren durch Paris, während

ten Vorzeichen. So hat sich Deutschland vom

seine Frau Helen (Monika Vivell), die auch

er die Flashbacks aus dem Folterknast der

gehassten Auswanderer- zum global als Sehn-

immer wieder als verblassendes Videobild

Nazis panisch schnell wieder verdrängte.

suchtsort gehandelten Einwandererland ge-

projiziert wird, durch Osnabrücks Altstadt,

In der Filmversion verschmelzen nun

wandelt. Als zwei Motive eines Themas

flüchten dann nach Zürich, hetzen durch

die Videosequenzen nicht mehr direkt mit dem

verbindet der regieführende Osnabrücker

Frankreich und Spanien zum Transitort Lis­

Bühnengeschehen (bei dem die Spieler immer

Schauspielchef Dominique Schnizer diese

sabon, haben dabei immer den „schattenhaf-

auch mit den Bildern interagierten), sondern

beiden Perspektiven in seiner Version eines

ten Arm der Gestapo“ im Genick. Sie durchlei-

erweitern das auf der Bühne Gesagte im Ge-

langen Tages Reise in „Die Nacht von Lissa-

den Hunger, Einsamkeit, Verfolgung, Verrat,

genschnittverfahren. Durch das Hin- und Her-

bon“, eine Dramatisierung des gleichnamigen

Lager­ haft. Die Filmbilder dazu entstanden

springen zwischen beiden Realitäten behaup-

Romans von Erich Maria Remarque. Das Fest-

beispielsweise im ehemaligen Gestapo-Keller

ten beide Elemente gleichberechtigt ihren

halten der historischen Brutalität wird dabei

des Osnabrücker Schlosses. In einem französi-

Eigenwert. Fantasie, objektive Wahrnehmung

zur Beschwörung der Hoffnung auf mensch­ liche Solidarität – mit einer Prise romantisch heilender Liebe. Die Inszenierung des me­ lodramatischen Stoffs feierte noch vorm ­neuerlichen Theater-Shutdown ihre Premiere mit kopräsentem Publikum, eignet sich dank intensiver ­

Einbeziehung

der

Videoarbeit

Christoph Ottos aber prima für eine eigenständige Filmfassung. In Cinemascope-Optik döst erst mal der Industriehafen Lissabons vor sich hin. Aus dem Möwengeschrei-Soundtrack heraus erhebt Thomas Kienast auf der Theaterbühne seine Stimme. Er spielt und moderiert das Leben des Protagonisten, der die Identität des verstorbenen Wieners Josef Schwarz an-

Gelungener Theatertransfer – Erich Maria Remarques „Die Nacht von Lissabon“ (hier mit Thomas Kienast) kam in der Regie von Dominique Schnizer zunächst auf der Bühne, später als Videoproduktion heraus. Foto Uwe Lewandowski

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auftritt

und subjektive Erinnerung verschmelzen in diesem Bewusstseinsstrom zunehmend. Kienast spielt in den Videosequenzen wie ein trauriger Backpacker, ist ein entwurzelter, nie ankommender Wanderer. Auf der Bühne fügt er diesem Bild ratlos taumelnd bis verzweifelt und in schnörkelloser RemarqueDiktion ein großes Gefühlspanorama des Verlierens hinzu – von Menschen, Identität und Heimat. Am Ende sitzt Kienast allein im Bramscher Geflüchteten-Lager, während einige der Bewohner in Kürzestvorstellungen zu Wort kommen. Damit wird nicht die Vergleichbarkeit einstiger und heutiger Migration behauptet, sondern auf die Zeitlosigkeit der Odysseen Geflüchteter verwiesen und an das unvoreingenommen empathische Zuhören appelliert. Ein außergewöhnlich gelungener Theatertransfer ins digitale Medium. // Jens Fischer

WIEN wird – basiert auf dem Reportagebuch des iri-

Geschichtäääh

schen Autors und Journalisten Mark O’Connell, der sich unter anderem im Silicon Valley aus nächster Nähe Technologieunternehmen ange-

BURGTHEATER WIEN: „Die Maschine in mir (Version 1.0)“ (DSE) von Dead Centre und Mark O’Connell Regie Ben Kidd und Bush Moukarzel Bühne Andrew Glancy Kostüm Saileóg O’Halloran und Maria-Lena Poindl SCHAUSPIELHAUS WIEN: „Am Ball. Wider erbliche Schwach­ sinnigkeit“ von Lydia Haider Regie Evy Schubert Ausstattung Maria Strauch

sehen hat, die an der Optimierung des Men-

Wo endet das Ich und beginnt die Technik? – In „Die Maschine in mir (Version 1.0)“ von Dead Centre am Burgtheater Wien kann auch Schauspieler Michael Maertens die Frage nicht klar beantworten. Foto Ruiz Cruz

schen (bis hin zur Unsterblichkeit) arbeiten. Dahinter steht die Denkrichtung des Transhumanismus, die an die Erweiterung des

Dabei spielt uns Maertens sehr wohl etwas

Menschseins durch technische Hilfs­ mittel

vor, er behauptet, 41 Jahre alt zu sein und

glaubt und sie im Dienst des Fortschritts

Mark O’Connell zu heißen. „Wieder ein neues

propagiert. ­

der

Gesicht am Bildschirm“, begrüßt er mit

­Softwareentwickler Tim Connor ein Gerät im-

melancholischen Augen in Nahaufnahme ­

Beispielsweise

ließ

sich

plantieren, das entsprechend seiner Körper-

sein Publikum. Dieses ist nicht wie bei diver-

temperatur die Heizung ein- oder ausschaltet.

sen Online-Konferenz-Tools in kleinen Käst-

Das an seinem Unterarm frisch zugenähte

chen sichtbar, sondern „sitzt“ via Tablets

Viereck wirkt auf dem Foto via Bildschirm in

(und ­ voraufgezeichneten Kurzvideos) auf der

Großaufnahme besonders horribel.

Zuschauertribüne. Einmal bekommt jeder

Transhumanismus ist ein brisantes The-

­Zuschauer sogar seine individuelle Perspek­

ma. Im fünfzigminütigen Solo von Michael

tive auf die Bühne geliefert. Dort steht dann

Maertens, der als Autor O’Connell wie in einer

­Maertens im leeren Saal neben einem Tablet

Wir streamen uns in den Frühling 2021. In-

Lecture in Erscheinung tritt, werden Trans­

und vor der Kamera, die ihn live filmt. Zum Be-

zwischen hat sogar das digital bisher nur auf

humanismusfragen indes nur oberflächlich

weis guckt er auf die Armbanduhr und gleicht

Nebenschienen aktive Burgtheater Wien klein

behandelt. Vielmehr benützt Dead Centre die

Datum und Uhrzeit mit dem Ist-Moment ab.

Online-­ Beispiele aus dem Buch, um die Technik­

Der kurze Abend macht besonders

Produktion auf die Beine gestellt. In „Die

faszination umzumünzen in eine Betrachtung

bewusst, dass der jeweilige Bildausschnitt ­

Maschine in mir (Version 1.0)“ fragt das ­

des Theaterstreams und seiner eigenen Un­

vom Publikum nicht steuerbar ist, dass wir –

irisch-britische Regieduo Dead Center (Ben

zulänglichkeit. „Die Maschine in mir“ ist also

im Gegensatz zum Zuschauen vor Ort – durch

Kidd und Bush Moukarzel) passenderweise

beides: technikbasiertes Theater und zugleich

eine Maschine sehen. Was aber sehen wir? Ist

nach dem konfliktreichen Ineinandergreifen

das Bedauern desselben. Damit erreicht man

es das Bühnenbild live vor Ort oder doch nur

von Mensch und Technik. Der Abend – man

den größten gemeinsamen Nenner: Technik ist

ein Bild auf einem weiteren Bildschirm? Es

kann ihn so nennen, da er allabendlich live

pandemiebedingt derzeit unumgänglich, aber

wird also mit Bildausschnitten gespielt, was

aus dem Kasino des Burgtheaters gestreamt

echtes Theater ist es halt nicht.

ein paar gute Effekte erzielt.

beigegeben

und

eine

exklusive


auftritt

/ TdZ  Februar 2021  /

Maertens als O’Connell stellt einige Protago-

und beobachtet das rätselhafte, brutale

federncape steckend, kostet ihn in langen

nisten des heutigen Transhumanismus vor,

Sterben der Festgäste aus nächster Nähe.

Kameraeinstellungen bis zur Ekelgrenze aus.

darunter Google-Entwicklungschef Raymond

Schauplatz ist der sogenannte Akade-

Das Wort „Geschichte“ wölbt sich da wie ein

Kurzweil, der vom Hochladen des Gehirns

mikerball in Wien, der alljährlich von der

langer unverdauter Brocken aus ihrem Mund

träumt (Algorithmus), oder die Firma Alcor in

rechten Elite des Landes in der Hofburg ver-

und endet kurz vor dem Brechreiz mit aus­

Kalifornien, deren Chef Max More aus eingefro-

anstaltet wird. Es geht von der Feststiege in

gestreckter Zunge: „Geschichtäääh“. Die

renen Leichen dermaleinst wieder ­lebendige

die Galerie, in den Wintergarten, bis zu den

Sprechperformance ist wahrlich beachtlich

Menschen zu machen gedenkt. Auch biografi-

Toiletten und in den Rauch-Keller. In den

und funktioniert als Film ausgezeichnet. Ge-

sche Anhaltspunkte von O’Con­nell/Maertens

konspirativen Beschreibungen der Erzählerin

dreht wurde nicht nur im künftigen Bühnen-

kommen ins Spiel und bringen in dieser

zerfallen Gesichter wie im Säurebad, Blut

bild, sondern auch im Stadtraum, um Ver-

­Koproduktion mit dem Dublin Theatre Festi-

schwallt aus den Körpern und tränkt Boden

satzstücke dieses Auslöschungstraums neu

val weitere miteinander korrespondierende

und Schuhwerk. Schubert gibt dieser Verzom-

zu kontextualisieren, etwa ein Stück Fleisch

Ebenen ein. Wer ist jetzt wann wer, und

bifizierung ein klares ästhetisches Konzept,

als Sinnbild des Getöteten. Die prophetische

stimmt das alles überhaupt? Auch Maertens

das den Horror nicht nachbildet, sondern

Erzählerin kuschelt mit dem Steak, ein ander-

zweifelt an seinem Tablet-Publikum: Sind Sie

skulptural zitiert, etwa mittels amputierter

mal zieht sie es wie Sisyphos auf der Straße

denn echt? Und sind Sie überhaupt noch da?

Schaufensterpuppen oder – was den Männ-

hinter sich her, als wäre es der ewige Klotz

(An dem Punkt darf zurückgechattet werden).

lichkeitswahn der Burschenschafter anbe-

am Bein der Geschichte. Man möchte den

Wo endet der Mensch, und wo beginnt

langt – durch ein ebenfalls amputiertes und

Theaterabend sofort im vollen Live-Ornat se-

die Technik? Und wo wäre die Grenze idealer-

abgestelltes Gemächt. Den Rest erledigt der

hen. Am Ball bleiben kann man vorerst mit

weise? Ähnlich wie in „Uncanny Valley“ von

abenteuerliche Text.

der zur Produktion gehörenden Website balla-

Rimini Protokoll, das 2018 mit einem Avatar

Clara Liepsch als Alias der Kabarettis-

des Schriftstellers Thomas Melle von den

tin Lisa Eckhart, in einem schwarzen Krähen-

Münchner Kammerspielen aus auf Tour ging, bleibt diese Frage auch bei „Die Maschine in mir“ beweglich. Der Abend trägt zwar un­ verkennbar die Botschaft: Wir wollen in echt spielen! Und doch herzt Maertens am Ende einen Zuschauer beziehungsweise das Tablet, auf dem dessen Konterfei zu sehen ist, in einer normalerweise unmöglichen, schmerz­ lichen Verliebtheit. So weit kommt es in „Am Ball. Wider erbliche Schwachsinnigkeit“ nicht. Die Inszenierung von Evy Schubert ist, bevor es eine reale Saalpremiere im Schauspielhaus Wien geben wird, erstinstanzlich als Film konzipiert, der auf Vimeo läuft. Das heißt keine Kopräsenz mit dem Publikum, sondern Konserve. Das macht die Arbeit zwar weniger thrilling, mindert sie in den Ideen und ihrer Wirkung aber keineswegs. Die Splatter-Erzählung der vom Theater gerade entdeckten und künftig als Hausautorin zu Kay Voges’ Volkstheater gehörenden österreichischen Schriftstellerin Lydia Haider (Ko-Autorinnenschaft Esther Straganz) trägt ­ohnehin eine Filmdramaturgie in sich. Wie in einer nicht enden wollenden langen Einstellung zieht eine Frau als Gast durch mehrere Räume einer Ballveranstaltung

Die fröhliche Verzombifizierung der österreichischen Rechten – Der Film „Am Ball. Wider erbliche Schwachsinnigkeit“ von Evy Schubert (hier mit Clara Liepsch) für das Schauspielhaus Wien. Foto Matthias Heschel

balla.solutions. // Margarete Affenzeller

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stück

/ TdZ Februar 2021  /

Der Mann, der zu wenig wusste Michel Decar über sein Stück „Nachts im Ozean“ im Gespräch mit Jens Fischer Michel Decar, in Ihrem Stück „Nachts im Ozean“

Ist das ein grundsätzlicher Ansatz Ihres Schrei-

schen Irrgarten gewählt zu haben. Eindeutige

dreht sich alles um den Autor Moskowitz, der

bens, diese Verweigerung von Gewissheiten,

Botschaften und die Spiegelonlineisierung

zur Uraufführung eines seiner Stücke nach Mon-

von Sinnzusammenhängen, von Logik, von Ein-

des Theaters liegen mir einfach nicht so sehr,

tevideo reist und sich in der Stadt verliert. Wäh-

deutigkeiten? Diese Offenheit für verschiedene

tagesaktuelle Zeitungsschlagzeilen als Kern

rend Sex, Liebe und Tod das dramatische Grund-

Interpretationen?

eines Dramas sind mir suspekt.

rauschen bilden, versuchen Sie wie in all Ihren

Wenn Sie das so sagen. Ja, vielleicht. Sie schreiben als Autor in „Nachts im Ozean“

Dramen möglichst schnell der Realität zu entfliehen, bauen Brüche in die Narration und fei-

Sie spielen auch gern mit Genres?

über einen Autor, und der sieht in der Urauffüh-

ern das Aufblühen im Surrealen. Bereits mehr-

Absolut, ich liebe Genres! Das deutsche

rung auch noch so aus wie Sie. Schreiben Sie

mals spielten Sie in Ihren Stücken auch

­Theater ist ja extrem genrefeindlich, wenn ich

über sich?

Situationen in immer neuen Variationen durch.

das so sagen darf. Aber ich habe total Lust,

Das war in erster Linie ein Scherz der Ausstat-

Aber so weit wie jetzt gingen Sie noch nie: Sie

mich da komplett reinzustürzen, immer etwas

terin, und ich habe zuerst auch nicht groß da-

erzählen die Geschichte aus drei Perspektiven,

Neues auszuprobieren, zum Beispiel mal

rüber nachgedacht. Doch dann war ich durch-

aus der Sicht der Protagonisten Moskowitz,

­einen waschechten Mystery-Thriller.

aus geschockt, als ich eine Woche vor der

Nightingale und Cáceres, und reihen diese

Premiere den Schauspieler zum ersten Mal in

Wahrnehmungswelten als sprachlich elegant

Im zweiten Teil des Stücks.

Kostüm und Maske gesehen habe. Das hat

gewobene Erinnerungsmonologe aneinander.

Ja, vor allem im zweiten Teil. Der erste Teil

auch meine Sicht auf seinen Monolog verän-

Konnten Sie sich nicht entscheiden, welche Ver-

geht ja los als klassisches Künstlerdrama,

dert, das war plötzlich eine ungewollte Spiege-

sion Sie erzählen wollen?

bevor es ins Mysteriöse abkippt. Und den ­

lung meines eigenen Wesens, hat mir gezeigt,

Ganz im Gegenteil, als ich vor drei Jahren das

letzten Teil kann man auch als Satire auf den

dass ich ein total schwieriger Künstler bin.

Stück geschrieben habe, hatte ich von Anfang

Kulturbetrieb lesen. Ihre vorherigen Stücke waren auch krachend

an diese Konstruktion im Kopf, die ich die Er wirkt wie eine Abrechnung mit dem Theater.

komisch, rasant ironisch und das im Gestus

Alles dreht sich um einen sehr zwielichtigen

überschwänglicher Lakonie. All das fehlt nun.

Der japanische Filmregisseur Akira Kurosawa

­Intendanten.

Ist Ihnen der Spaß an dieser Art der Fiktion ver-

zeigt in „Rashomon“ die Vergewaltigung einer

Ja, genau, ein uruguayischer Theaterdirektor,

loren gegangen?

Frau und den Tod ihres Mannes in sich wider-

der seinen Laden wie ein Mafiaboss führt.

Ich habe mir bei „Nachts im Ozean“ alle

sprechenden Erzählungen der Opfer und Tatver-

Das soll ja hin und wieder auch in Deutsch-

Pointen verboten, wollte mit großer Ernsthaf-

dächtigen. Es geht dabei um die Suche nach

land vorkommen.

tigkeit und Nüchternheit schreiben. Es ist mir

Kurosawa-Dramaturgie nenne.

Wahrheit. Was ist wirklich passiert, wer ist der

nicht ganz gelungen, ein paar Lacher waren

Bösewicht? Suchen Sie im Spiel mit dieser Er-

Gibt es ein konkretes Vorbild für die Figur?

schon noch dabei. Weniger gab es in meinen

zählform auch nach der Wahrheit Ihrer Geschich-

Nicht nur eines. Und wenn man in die Zeitung

Stücken aber noch nie. Allerdings hätte man

te, oder wollen Sie durch die Dreiteilung gerade

schaut, wurde die Frage von Macht und Macht-

in der Pandemiezeit auch nichts Komödianti-

die Unmöglichkeit von Wahrheit darstellen?

missbrauch in den vergangenen Monaten ja

sches spielen können, wenn da auf achthun-

Schon eher Zweites. Denn ein absoluter

ausführlich diskutiert. Auf jeden Fall denke

dert Plätzen im Theater nur hundert Leute

Wahrheitsanspruch ist für mich eine schwieri-

ich, dass es in Zukunft für die Entschei-

sitzen.

ge Sache.

dungsträger im Theater sehr viel schwieriger wird, feudalistisch durchzuregieren. Trotzdem

Uraufgeführt wurde das Stück am Anhaltischen

In Hollywood-Filmen und Krimis, die unter-

bleibt die Verflechtung von Kultur, Wirtschaft,

Theater Dessau nicht öffentlich, nur wenige

schiedliche Varianten eines Ereignisses zeigen,

Politik und Medien ein Riesen­problem.

Theatermitarbeiter und einige geladene Journa-

kommt am Ende fast immer die „wahre“ Wahr-

listen durften in einer sogenannten Leerpremiere

heit heraus.

Aus einer solchen Erfahrung heraus und mit

dabei sein.

In der Realität aber kommt nie heraus, was

dieser ­

sozialer

Ich finde den Begriff Geisterpremiere schöner.

wahr ist. Es gibt immer nur differierende In-

Problemlagen hätten Sie doch auch kraftvoll ­

Sie fand zwar angeblich statt, aber irgendwie

terpretationen von Wirklichkeit. Deswegen ist

­geradeaus mit einer klaren Position ein Stück

hat keiner sie gesehen. Das passt auch exzel-

im Fall meines Stücks die Gesamtheit der

entwickeln können.

lent zur Geisteratmosphäre des Stücks. Nie-

drei Teile, die parallel nebeneinander beste-

Ich halte es nach wie vor für richtig, den

mand ist sich sicher, was er eigentlich erlebt

hen können, die Wahrheit.

­Umweg über die Fiktion und den dramaturgi-

hat und ob es überhaupt passiert ist.

Wahrnehmung

derzeitiger


michel decar_nachts im ozean

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Konsequent wäre es, die Produktion nach der

Wie die Inszenierung aussehen soll, hatte

Pandemie gar nicht wieder aufzunehmen, dann

ich schon beim Schreiben im Kopf und fand

bleibt sie ein Mysterium.

es toll, das endlich mal genau so umsetzen

Eine zweite Aufführung in Dessau auf der

zu können. Wenn Autoren ihre eigenen Stü-

­großen Bühne wird es auch nicht geben, denn

cke inszenieren, schreiben Kritiker oft, dass

die feuerrechtliche Genehmigung für die

sich die Regie nicht am Text reibe, ihn nicht

Bühnenkonstruktion ist inzwischen abgelau-

aufbreche, keine widersprüchlichen Bilder

fen. Es ist schon ein Wahnsinn.

finde und so weiter. Das verstehe ich nicht. Ich meine die Texte doch so, wie ich sie

Der Text kam zuerst als Hörspiel heraus, war er

schreibe und will sie dann auch so auf der

überhaupt als Theaterstück gedacht?

Bühne sehen und mich nicht noch mal dran

Ehrlich gesagt unterscheide ich da mittler-

reiben.

weile gar nicht mehr. Ich habe jetzt so viele Jahre parallel fürs Theater und Radio gearbei-

Aber lernt man den Text im Probenprozess noch

tet, dass ich meinen Texten von vornherein

einmal neu kennen?

gar kein Medium zuordnen möchte, sondern

Ja, das schon. Im Probenprozess wird schnell

erst Verbündete für die Umsetzung suche,

klar, was alles funktioniert und was nicht.

­sobald ich mit dem Schreiben fertig bin. Und

Seien es Sätze oder auch inhaltliche Sachen.

in den vergangenen Jahren war das Radio da

Eigentlich ist es das Beste, um einen Text

meistens schneller, was auch daran liegt,

besser zu machen, dass man ihn probt. Ich

dass ich eine sehr vertrauensvolle Arbeits­

habe daraufhin bestimmt ein Drittel des Tex-

beziehung mit der Redaktion von Deutsch-

tes gestrichen oder verändert.

landfunk Kultur habe und dort im März mein achtes Hörspiel in acht Jahren inszenieren werde. Eine solch kontinuierliche, langjährige Zusammenarbeit an einem Theater fehlt mir leider. Sie waren mit Inszenierungen Ihrer Stücke auch häufig unzufrieden, sodass Sie „Nachts im Ozean“ unbedingt selbst inszenieren wollten. ­ Was viele Theater, die Interesse an dem Text hatten, abgelehnt haben. Gerade die bisherigen Uraufführungen meiner Stücke entsprachen sehr oft nicht meinen Vorstellungen, was die inhaltliche Fokus­ sierung, ästhetische Setzung und den Umgang mit dem Humor betrifft. Meistens stehen die Regisseure für eine Spielzeit schon zwei Jahre vorher fest und bekommen dann die ­ Stücke vorgesetzt, ohne sie vielleicht unbedingt zu wollen. Dann kommen Uraufführungen schon mal uninspiriert daher. Oder Regieführende interessieren sich nur für ihre wuchtigen Bilderwelten, nicht für den Text. Oder sie streichen die Vorlage auf

Michel Decar, geboren 1987 in Augsburg, studierte Germanistik und Geschichte an der Ludwig-Maximilians-Universität München und anschließend Szenisches Schreiben an der Universität der Künste Berlin. Er arbeitet als Dramatiker, Regisseur und Filme­ macher. Zusammen mit dem Autor Jakob Nolte verfasst er Theaterstücke unter dem Pseudonym Nolte Decar. Seine Stücke ­wurden bereits an zahlreichen Bühnen inszeniert und mehrfach ausgezeichnet, u.  a. 2014 mit dem Kleist-Förderpreis. 2018 erschien sein Debütroman „Tausend deutsche Diskotheken“, mit dem er den Bayern2-Wortspiele-Preis gewann. Sein zweiter Roman „Die Kobra von Kreuzberg“ erscheint im März im Ullstein Verlag. Zuletzt lief sein Kurzfilm „Europa zum ­ ­Beispiel“ im Wettbewerb des Max-OphülsPreises. „Nachts im Ozean“ kam in seiner Regie Ende November 2020 in einer internen Aufführung am Anhaltischen Theater Dessau auf die Bühne. Michel Decar lebt in Berlin. Foto Constantin Rieß

eine biedere Interpretation zurecht. Neugierig

Regieführen hat Spaß gemacht? Total, aber ich hatte auch vergessen, wie anstrengend es ist. Als Autor ist man in seinem gewöhnlichen Arbeitsalltag ja komplett unterspannt, und wenn man dann einen gigan­ tischen Theaterdampfer wie in Dessau betritt und nicht nur die Probe leiten, sondern auch das Zusammenspiel der verschiedenen Abteilungen moderieren muss, gelingt das nur, wenn man seinen Energiehaushalt permanent hochfährt. Aber ja, schön ist es trotzdem gewesen, und ich habe auch Lust, das weiterhin zu machen, wenn sich die Gelegenheit bietet. Sie schreiben aber auch Romane, in der ­Verlagsankündigung Ihres neuen Werks „Die ­Kobra von Kreuzberg“ steht: Decar beschwöre „eine Welt, in der Diebstahl die einzige Möglichkeit geworden ist, zu bekommen, was einem zusteht“. Sind Sie doch ein politisch aufmüpfiger Literat, der zur Revolution aufruft? Nein, das ist ein Werbespruch, den ich mir ausgedacht habe, damit auch Berliner Intel-

vorbeischauende Theatermacher, Presse, Publi-

lektuelle den Roman kaufen. Meine Intention

kum und Autor sind dann verstimmt. Für Sie aber

beim Schreiben war nicht dieses Robin-Hood-

ergeben sich auch finanzielle Folgen.

nur wenige Male auf dem Spielplan, sodass

Wenn die Uraufführung schlecht ist, hat

ich dort als Autor auch weniger Geld be-

das gleich zwei Nachteile. Zum einen wird

komme.

Prinzip … … man nimmt von den Reichen und gibt es den Armen …

das Stück dann eher nicht woanders nachgespielt, woran ich verdienen würde, und

Selbst Regie führen, also Autorentheater ma-

… oder behält es selbst – aber ich sympathi-

die Uraufführung selbst steht am Haus oft

chen – wie profitiert das Stück davon?

siere mit diesem Gedanken. //

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stück

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Michel Decar

für ein Glücksfall das hier doch ist, was für ein absoluter Glücksfall.

Nachts im Ozean FIGUREN MOSKOWITZ NIGHTINGALE CÁCERES

TEIL I DAS TRAURIGE HALLENBAD

1. MOSKOWITZ Alles begann mit einem Anruf aus Montevideo. Nestor Cáceres, Direktor des Teatro Nacional, ein gleichermaßen intelligenter wie grimmiger Mann, war am Apparat und bat mich, ein Theaterstück über den Untergang der Admiral Graf Spee im Río de la Plata zu schreiben. Ehe ich ablehnen konnte, präzisierte Cáceres bereits seine Vorstellungen. Das Stück solle zeitgenössisch werden, aber nicht zu modern, zugänglich, aber nicht bieder, offen, aber nicht zu experimentell, als Abgabedatum würde er den 31.03. festsetzen, und als Vorschuss könne er mir auf der Stelle 20.000 USD überweisen. Nach einigem Zögern willigte ich – zu meiner eigenen Überraschung – noch am Telefon ein. Immerhin konnte ich das Geld gut gebrauchen. Vorletztes Jahr war meine Tochter Thérèse geboren worden, und ich hatte keine anderen Projekte, die sich unmittelbar aufdrängten. In den nächsten Wochen arbeitete ich also eine Handlung aus, die der Historie und Cáceres Vorstellungen gerecht werden sollte. Ich entwickelte eine Synthese aus Schicksal und Dramaturgie, setzte pointierte Dialoge in die Szenen, fand ein überraschendes Ende und schickte bereits einige Tage vor der vereinbarten Frist die erste Fassung von Nachts im Ozean an das Nacional. Kurz nach Ostern bekam ich wieder einen Anruf. Cáceres hatte ein paar wenige Anmerkungen, vor allem stilistischer Natur, und abgesehen davon, dass er den Titel für irreführend hielt, schien er sehr zufrieden und gratulierte mir zu meinem Werk. Des Weiteren, sagte Cáceres in

2.

einem plötzlich abwertenden Tonfall, sei es ihm gelungen, neben dem Goethe-Institut auch den Industriemaschinenhersteller TecnoCiéntifica als Sponsor zu gewinnen, der es möglich machte, mir ein anständiges Hotelzimmer plus Flugticket nach Montevideo zu spendieren. Ein paar Tage später traf auch die zweite Rate des Honorars ein, und nachdem ich noch ein paar letzte Änderungen am dritten Akt vorgenommen hatte, wandte ich mich anderen Arbeiten zu und vergaß Nestor Cáceres und das Teatro Nacional wieder. Ich unternahm eine Sibirien-Reise mit Su-Zeong, arbeitete an ­meinem autobiografischen Romanprojekt und verbrachte ein paar Monate damit, den zunehmend feindseligen Text in die von mir gewünschte Richtung zu lenken, bevor ich für immer die Kontrolle darüber verlieren würde. Kurze Pause. Mitte November bekam ich dann eine Mail von Cáceres’ Assistentin Sofía Vallejos, die mich über den Stand der Proben informierte und nach meinen Daten für die Flugbuchung fragte. Und weil Su-Zeongs Eltern diesmal keine Zeit hatten, um auf Thérèse aufzupassen, und weil es zwischen ­Su-Zeong und mir in letzter Zeit ehrlich gesagt auch etwas schwierig gewesen war, flog ich am 11. Dezember alleine mit Air France über Paris nach Montevideo. Sofía Vallejos – ich vermutete eine ältere Dame um die 60, denn sie begann ihre Mails stets mit den Worten Distinguido Señor – hatte mir geraten, am Flughafen ein Taxi der Firma Carrasco zu nehmen, was ich dann ganz gegen meine Art auch tat, obwohl ich mir noch kurz vor dem Abflug verschiedene Busverbindungen in die Innenstadt herausgeschrieben hatte. Das Hotel ­Miraflores lag mitten im Centro, und als ich vor dem Schlafengehen noch einen Spaziergang über den hell erleuchteten Plaza Independencia unternahm und die warme, weiche Luft auf meiner Haut spürte, schoss es mir durch den Kopf, welcher Glücksfall dieser Auftrag doch gewesen war. Und als ich später Su-Zeong noch etwas auf die Mailbox sprach, sagte ich genau das, ich sagte: Was

MOSKOWITZ Am nächsten Morgen stand ich spät auf und bummelte im Barrio Sur umher, wo ich mir in einem Café ein kleines Frühstück bestellte. Ich lud mir die Karte der angrenzenden Viertel im Wi-Fi herunter, um Google Maps auch offline benutzen zu können, und scrollte jetzt ein bisschen hin und her, als ich sah, dass die Avenida 18 de Julio ganz in der Nähe lag. Ich zahlte und beschloss, auf meinem Rückweg noch auf einen Abstecher im Teatro Nacio­nal vorbeizuschauen. Auch wenn die Premiere erst in sieben oder acht Stunden beginnen würde, wollte ich mir schon jetzt einen Flyer oder Programmzettel mitnehmen und ein Foto davon an Su-Zeong schicken. Doch als ich die Avenida 18 de Julio entlanglief und vor der Nummer 1790 stehenblieb, musste ich feststellen, dass unter der von mir notierten Adresse kein Theater existierte. Ich ging zweimal um den Block und fragte eine Passantin, ob das hier nicht die Adresse des Teatro Nacional sei, doch sie schaute mich an, als ob sie gerade zum ersten Mal davon hörte. NIGHTINGALE Oh, das tut mir leid, da kann ich Ihnen nicht weiterhelfen. MOSKOWITZ Dann glich ich auf meinem Handy das Bild von Google Maps mit dem Bild der Realität ab. Alles stimmte bis ins kleinste Detail, nur das Teatro Nacional war eben nicht da, wo es sein sollte. Anstatt sofort Cáceres’ Büro anzurufen und weil ich in solchen Dingen geizig bin, lief ich zurück ins Hotel, wo ich kostenloses Wi-Fi hatte, checkte meine Mails und suchte die Telefonnummer heraus, die mir Sofía Vallejos vor einigen Tagen geschickt hatte. Ich wählte die Nummer vom Hoteltelefon aus, doch keiner meldete sich. Dann ging ich auf die Homepage des Teatro Nacional, um dort noch eine andere Nummer zu finden, doch alles, worauf ich stieß, war die Information, dass die Seite vorübergehend außer Betrieb sei. Ich lud Google Maps erneut und zoomte auf die Avenida 18 de Julio 1790. Tatsächlich war dort das Teatro Nacional verzeichnet. Ich überlegte, Su-Zeong anzurufen, aber da es in Antwerpen schon Abend war und sie morgen früh arbeiten musste, würde

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sie sicher nicht rangehen. Dann suchte ich die Nummer des Goethe-Instituts heraus, doch als ich die letzten Ziffern in das Telefon tippte, kam ich mir so lächerlich vor, dass ich sofort wieder auf­ legte. Ich musste kurz lachen bevor ich mich aufs Bett warf und mir unendlich schlecht wurde. Ich schloss die Augen und überlegte, ob ich in meinem Mailverkehr mit Sofía Vallejos irgendein ­Detail vergessen oder übersehen hatte, und gerade als ich dazu neigte, die ganze Sache als dummes Missverständnis zu betrachten, klingelte das Telefon. Der Portier eröffnete mir, dass um Punkt 19 Uhr ein Wagen vor dem Hotel auf mich warten würde. Von wem der Wagen sei, sagte er nicht. Dann legte er auf. Sehr gut, dachte ich, das ist eine Geste der Höflichkeit und des Respekts. Und es gibt keinen Grund, der Sache zu misstrauen. Kurze Pause. Ein Windzug. Ich stand auf der anderen Straßenseite, als der ­ agen eintraf. Es war ein schwarzer Mercedes CL W mit dunklen Scheiben, den ich eine Weile beobachtete. Niemand stieg aus, niemand stieg ein, und auch einen Fahrer konnte ich nicht erkennen. Dann, plötzlich, es war bereits Viertel nach sieben, setzte sich der Wagen wieder in Bewegung und fuhr davon. Ich weiß nicht, wie lange ich noch dastand – zwanzig Minuten, dreißig Minuten – ­ und es nicht schaffte, meine Füße zu bewegen. Dann ging ich langsam, immer noch die Straße beobachtend, in die entgegengesetzte Richtung, die der Wagen genommen hatte, runter zum Plaza Independencia und ließ mich von der Menge verschlucken. Erst kurz nach Mitternacht wagte ich mich ins Hotel zurück.

3. MOSKOWITZ Ein paar Stunden später wurde ich aus dem Schlaf gerissen, aber nicht vom Klingeln des Weckers, wie ich zuerst annahm, sondern von einem Anruf mit unbekannter Nummer. Ich nahm ab, und am anderen Ende der Leitung war Cáceres, der sich schwer beleidigt zeigte, dass ich nicht zur Premiere erschienen war. Ich versuchte ihm zu erklären, dass mich plötzliche Kopfschmerzen ans Bett gefesselt hätten, und während ich die Vorhänge meines Hotelzimmers zur Seite schob, um die ­ Straße nach dem schwarzen Mercedes CL abzu­ suchen, versuchte ich in Cáceres Stimme zu erkennen, ob seine Enttäuschung aufrichtig oder Teil

von etwas anderem war, das ich nicht zu entschlüsseln vermochte. Schließlich verabredeten wir uns für 14 Uhr zum Mittagessen, aber nicht im Tres Cruces, wie er vorgeschlagen hatte, sondern im ­Restaurant des Hotel Miraflores, darauf hatte ich nachdrücklich bestanden, genau wie er darauf ­bestanden hatte, für mich einen Termin bei seinem Hausarzt zu vereinbaren, der sich meiner Kopfschmerzen annehmen sollte. Kurze Pause. Das Geräusch von Wellen in der Ferne. Obwohl ich zwanzig Minuten zu früh kam, war Cáceres schon da. Ich erkannte ihn nicht auf den ersten Blick, zu sehr unterschied sich sein Äußeres von den zwei oder drei Fotos, die ich im Internet von ihm gefunden hatte. Er war groß, hager und trug eine Art dünne Kastenbrille, wie sie momentan bei den uruguayischen und argentinischen Intellektuellen Mode war. Seine Stimme klang jetzt feiner, beinahe zeremoniell, und nachdem wir uns gesetzt hatten und er mich fragte, wie es meinem Kopf ginge, war ich mir für einen Moment nicht sicher, ob seine Stimme die Stimme war, mit der ich noch vor ein paar Stunden am Telefon gesprochen hatte. Wie geht es dem Kopf?, fragte Cáceres oder der Mann, der sich für Cáceres ausgab. Schlecht, sagte ich, sehr schlecht. Gut, sagte er, dann sollten wir Champagner trinken! Ich Champagner, Sie Mineralwasser, das wird uns helfen, den Tag zu überleben. Und dann bestellte er Dutzende Vor- und Nachspeisen, von denen wir höchstens die Hälfte aßen, und ließ immer weitere Getränke kommen, während er von der in seinen Augen gelungenen, ja, überaus gelungenen Premiere berichtete, sodass ich nicht anders konnte, als ihm zu versprechen, mir am Abend die zweite Vorstellung anzuschauen. Aber bitte schicken Sie keinen Wagen, sagte ich und fügte kleinlaut an, ich würde gerne zu Fuß gehen, der Luft und der Kopfschmerzen wegen. Cáceres schaute mich verwundert an, als würde er mich fragen wollen: Welcher Wagen? Oder: Welche Luft? Aber er ging nicht weiter darauf ein, und ich bat ihn, mir noch einmal Straße und Hausnummer des Teatro Nacional auf einen Zettel zu schreiben. Dann verabschiedete ich mich schnell auf mein Zimmer. Im Aufzug betrachtete ich immer wieder abwechselnd die Adresse, die mir der Direktor aufgeschrieben hatte, es war die Avenida 18 de Julio 1790, und die Adresse, die ich mir vor meinem Abflug notiert hatte, ebenfalls die Avenida 18 de Julio 1790, und tippte sie in den verschiedensten Schreibweisen bei Google Maps und

NORM IST F!KTION #5/2 PREMIERE: 24.02.2021 VORSTELLUNGEN: 25.–27.02. 2021

THEATERRAMPE.DE

OpenStreetMap ein, das ich mir inzwischen zusätzlich heruntergeladen hatte, nur um jedes Mal denselben Treffer zu erhalten. Señor, sagte ich zu einem Portier, den ich auf dem Gang meines Stockwerks entdeckte, können Sie mir sagen, wo diese Adresse ist? Natürlich, gar kein Problem, Mister Moskowitz, antwortete dieser auf Englisch, obwohl ich ihn in fast akzentfreiem Spanisch gefragt hatte, das ist ja gleich um die Ecke beim Plaza de los Treinta y tres orientales, das lässt sich kaum verfehlen. Ausgezeichnet, sagte ich, Sie haben mir da sehr geholfen, drehte meinen Schlüssel im Schloss herum, ehe ich mich noch mal zu ihm umwandte und fragte: Haben Sie vielleicht Lust, mich heute Abend ins Theater zu begleiten?, obwohl ich natürlich wusste, dass er das Angebot ablehnen würde, ja, ablehnen musste, und um ehrlich zu sein, wusste ich auch gar nicht, warum ich ihn überhaupt gefragt hatte, sodass ich mich sofort für die Frage entschuldigte und schnell die Tür hinter mir schloss. Ich warf mich auf das Bett, wählte Su-Zeongs Nummer, und nachdem sie dreimal nicht abgenommen hatte, sprach ich ihr eine Nachricht auf die Mailbox, sagte, dass ich die Premiere ­wegen einer völligen Dummheit verpasst hätte, dass mir Google Maps und der Jetlag einen fürchterlichen Streich gespielt hätten und dass ich mich gleich auf den Weg machen würde, um die zweite Vorstellung zu sehen. Außerdem, und das betonte ich besonders, würde ich an sie denken und mich freuen, wenn sie mich bald zurückrufen würde.

4. MOSKOWITZ Nachdem ich etwas geschlafen hatte, verließ ich das Hotel um halb sechs und lief die Calle San Jóse entlang, einem Stadtplan folgend, den ich mir im Hotel mitgenommen hatte. Ich steuerte das Cordón an, diesmal jedoch von Westen, passierte den ­Jockey Club und den Palacio Uriarte de Heber, kam an Shops und Kiosken vorbei und kaufte in einem heruntergekommenen Antiquitätenladen ein goldenes Kaninchen für meine Tochter. Dann lief ich weiter, studierte immer wieder den Stadtplan, die Geometrie, die Straffheit der Straßen, als ich auf einem Werbeplakat ein kleines Mädchen ent­ deckte, das genau wie Thérèse aussah. Gerade als ich ein Foto machen wollte, um es Su-Zeong zu schicken, wusste ich, dass ich nicht nur sie, sondern auch meine Tochter für immer verloren hatte, dass sie mit ihren 22 Monaten bereits unendlich

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weit weg war, dass ich keine Gefühle und Gedanken hatte, die ich mit ihr teilen konnte. Und das alles machte mich so unendlich traurig, dass ich mich auf eine Bank setzte und dort eine halbe Stunde geradeaus starrte und sicher noch länger geblieben wäre, hätte ich mich nicht gezwungen weiterzugehen, um das Theater noch pünktlich zu erreichen. Immer wieder glich ich den Stadtplan mit den Straßenschildern ab, immer wieder flatterten Schwärme grüner Papageien über meinen Kopf, je tiefer ich ins Herz des Tres Cruces vorstieß. Doch als ich von der Avenida Gral Rondeau in die Avenida 18 de Julio einbog und mich der Nummer 1790 – diesmal von der anderen Seite – näherte, wusste ich bereits, was mich erwarten würde. Ich erkannte die Häuser und Fassaden, von einem ­Teatro Nacional nicht die geringste Spur. Ein Teatro Nacional existierte hier nicht, hatte wahrscheinlich nie existiert, jedenfalls nicht in der 1790, wo nichts weiter als ein Wohnhaus stand und mich durch seine Gegenwart verspottete. Ich drehte mich um und schaute, ob ich von jemandem verfolgt wurde, ohne auch nur im Ansatz zu wissen, wer das sein sollte, musterte die Fenster auf der gegenüberliegenden Straßenseite, als würde dort ein Publikum sitzen und jeden Augenblick anfangen zu lachen, begann zu laufen, erst langsam, dann immer schneller, entfernte mich Meter für Meter vom nicht existierenden Teatro Nacional und sprang in einen Bus, der gerade vor mir hielt. Ein oder zwei Stunden saß ich dort und starrte aus dem Fenster, dahinter die immer dunkler werdende Stadt. Als wir die Endhaltestelle erreichten, stieg ich aus und nahm einen anderen Bus, der mich zurück ins Zentrum brachte, bis wir wieder die Endhaltestelle erreichten und ich in den nächsten Bus stieg. So verfuhr ich mich immer tiefer im Labyrinth der Stadt, ohne auch nur einen Gedanken im Kopf zu haben, so wie jemand, der schläft oder vorgibt zu schlafen, um sich vor etwas Schrecklicherem zu retten. Kurze Pause. Das Flackern einer Neonröhre. Es war kurz nach Mitternacht, als ich mich dem Hotel näherte, diesmal jedoch nicht von vorne, sondern von einer Seitenstraße. Ich ging die Rückseite des Gebäudes entlang, als ich den Portier ­entdeckte, mit dem ich noch am Nachmittag ge­ sprochen hatte. Er stand an der offenen Tür des Kücheneingangs und drückte gerade seine Ziga­ rette aus, als ich vorsichtig aus dem Schatten der Seitenstraße hervorkam. Wie war das Theaterstück?, fragte er ruhig und fast mit einer Spur von

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Mitleid. Gut, sehr gut, sagte ich, es hat mir wirklich gut gefallen. Das freut mich, sagte er und hielt mir die Tür auf, die hinter mir sofort ins Schloss schnappte. Wir folgten einem verwinkelten Gang, an dessen Decke Heizungsrohre entlangliefen, ehe wir die Lobby erreichten. Die Wände waren mit dunklen Hölzern verkleidet, schwere kokos­farbene Vorhänge und Teppiche in gedeckten ­ Farben dämpften die Stimmen der Gäste, die sich leise auf den Sesseln und Sofas unterhielten, als mir zwei Damen in Bademänteln auffielen, die auf einer Marmortreppe an uns vorbeihuschten, um in ein weiteres Stockwerk nach unten zu gelangen. Der Portier, dem aufgefallen war, dass ich angehalten und mich umgedreht hatte, fragte, diesmal jedoch auf Spanisch, ob ich schon im Hallenbad des Hotels gewesen sei, zweifellos eines der schönsten und ältesten Bäder des Kontinents. Nein, sagte ich, ganz im Gegenteil, ich wusste ja gar nichts von ­einem Hallenbad, drehte mich um und stieg wie in Trance in die Tiefe hinab. Blind folgte ich dem chlorhaltigen Geruch und fand mich nach einigen Metern im warmen Dampf der Umkleidekabinen wieder. Wie fanden Sie das Stück?, fragte mich eine Stimme aus dem Nebel. Es war Cáceres, der seine Kastenbrille ab- und eine enge, goldene Badehose angelegt hatte. Bevor ich etwas antworten konnte, drehte er sich, der gerade noch sein Bild in einem der großen Spiegel betrachtet hatte, zu mir und schaute mich mit seinen tiefbraunen Augen direkt an. Erst jetzt erkannte ich im Blick des Direktors, dass sein Ziel nicht meine Demütigung, sondern meine vollständige Vernichtung war, und ohne mich dagegen wehren zu können, folgte ich ihm ins Innere des Hallenbades.

5. MOSKOWITZ Mit einem weiten, angeberischen Hechtsprung sprang Cáceres ins Becken und schwamm einige Meter unter Wasser. Ich betrachtete die Decke, die mit Stuck verzierten Säulen, die kleinen Balkone an der gegenüberliegenden Galerie, die in ein dunkles Licht getaucht war. Außer dem Direktor befand sich nur eine weitere Person im Wasser, und als ich zu ihr hinüberschaute, bemerkte ich, dass auch sie mich beobachtete. Wie fanden Sie das Stück, Señor Moskowitz?, fragte sie mich mit einer bestechend klaren Stimme. Gut, sagte ich, sogar sehr gut. Ich fand es supergut. Cáceres, der inzwischen wieder aufgetaucht war,

schwamm in ein paar wenigen, athletischen Zügen zu ihr hinüber und schaute mich herausfordernd an. Darf ich Ihnen Sofía Vallejos vorstellen? Wollen Sie nicht eine Runde mit uns schwimmen, sagte sie, nachdem ich nicht geantwortet hatte, das Wasser ist so herrlich heute. Nein, nein, rief ich, nein, danke, wobei ich es endlich schaffte, mich zu bewegen, und langsam rückwärts lief, ich bin schon sehr müde, wahnsinnig müde, und außerdem habe ich ja gar keine Badehose dabei, bitte entschuldigen Sie mich jetzt, und rannte durch die Umkleidekabinen zurück in die Lobby, durchquerte die Eingangshalle, dachte, nicht den Aufzug, nimm nicht den Aufzug, rannte das Treppenhaus nach oben und sperrte mit zittrigen Händen meine Zimmertür auf. Sofort begann ich zu packen und warf meine Hemden und Bücher aufs Bett, ging ins Badezimmer und sammelte die Cremes und Tuben ein, lief noch mal durchs ganze Zimmer, kontrollierte, ob ich ein Ladegerät oder etwas anderes vergessen hatte, und war gerade dabei, meinen Koffer zu schließen, als ich aus den Augenwinkeln das Geschenk sah, das auf der Kommode stand und mich furchtbar erschreckte. Ich musste es die ganze Zeit übersehen haben. Wie in Zeitlupe ging ich darauf zu und löste zögerlich die rote Schleife. Ich wickelte das Papier auseinander und fand eine goldene Badehose. Ohne es zu wollen, ohne eine Chance, dagegen anzukämpfen, zog ich wie automatisch meine Hose und mein Hemd und meine Socken aus. Ich dachte noch immer daran, meinen Koffer fertig zu packen, SuZeong anzurufen und ein Taxi zu bestellen, um sofort zum Flughafen zu fahren, aber ich tat es nicht, denn was ich tat, war, die goldene, enganliegende Badehose anzuziehen. Langsam betrachtete ich mein Bild im Spiegel, drehte mich immer wieder von links nach rechts, von rechts nach links und musste feststellen, dass mir die Badehose wie angegossen passte. Mit einem Handtuch über der Schulter sah ich mich über die Hotelflure laufen, mit dem Fahrstuhl hinabfahren, dem Chlorgeruch folgen, bis ich endlich die Umkleidekabinen erreichte. Erst jetzt merkte ich, dass mir Tränen in den Augen standen. Kurze Pause. Mit einem weiten, angeberischen Hechtsprung sprang ich ins Becken, tauchte ein paar Meter und schwamm zu Sofía Vallejos hinüber. Ich hatte keine Angst mehr, keine Zukunft. Ich war angekommen. Um mich herum fühlte ich den Marmor, das

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michel decar_nachts im ozean

­ asser, das Licht. Und Sofía Vallejos, die meinen W Flug nach Montevideo gebucht hatte, die jedes ­Detail von mir kannte, mein Geburtsdatum, meine Reisepassnummer, meine Liebe und meine Trauer. Ich hatte ihr alles geschrieben, und sie hatte mich hergeholt. All das dachte ich, als ich in eleganten, athletischen Zügen zu ihr hinüberschwamm, Schwimmzüge, wie ich sie noch nie in meinem Leben gemacht hatte. Ich habe mir gewünscht, dass du zurückkommst, sagte sie und glitt näher an mich heran. Ich sagte nichts, konnte nichts sagen und blickte sie nur lange an. Warum bist du so traurig?, fragte sie leise und strich mir durch das nasse Haar. Das Stück wird der Erfolg des Jahres. Heute Abend kamen die ersten Kritiken, allesamt Hymnen. Die Vorstellungen werden für Monate ausverkauft sein. Ihre Augen stachen in meine Augen, ihr Mund öffnete und schloss sich, wir atmeten, wir existierten. Genau das dachte ich: Wir atmen, wir existieren. Und ich wusste, was zu tun war. Wusste, dass ich nichts anderes machen musste, als ein jahrtausendealtes Wissen anzuwenden. Und auch sie wusste es. Wir glitten aufeinander zu wie Geister oder ­Maschinen. Und indem wir uns immer enger umschlangen, sanken wir auf den Boden des Hallenbades, ganz so, als würden wir uns vornehmen, unrettbar zu ertrinken.

TEIL II DAS GOLDENE KANINCHEN

1. NIGHTINGALE Wir flogen mit AF 180 von Paris nach Montevideo. Ich saß in Reihe 41, Moskowitz in Reihe 28, weil das Goethe-Institut zu geizig gewesen war, Business oder wenigstens Premium Economy zu buchen. Moskowitz trug seine übliche schwarze Cordhose, seinen schwarzen Rollkragenpullover und seine Hornbrille. Ich trug eine schwarze Hose, schwarze Schuhe, eine schwarze Bluse und Kontaktlinsen, die ich von Rosenquist bekommen hatte. Mit ein paar Minuten Verspätung warf die Boeing ihre Triebwerke an, und kurz nach 14 Uhr waren wir in der Luft. Als ich meine Tasche aus dem Gepäckfach holte, sah ich, dass Moskowitz bereits angefangen hatte, den chinesischen Spielfilm Bounty Hunter zu schauen, was ich dann auch tat. In Bounty Hunter ging es um zwei Männer, die in irgendeine Sache hineinschlittern, von der sich schwer sagen

lässt, was sie überhaupt darstellt. Dann gab es Essen. Ich hatte mich für Hühnchen entschieden, Moskowitz für das vegetarische Menü. Moskowitz entschied sich meistens für das vegetarische Menü, wie ich von Al Thani wusste. Kurz darauf schlief er ein, und ich war mir sicher, dass er eine Schlaf­ tablette genommen hatte. Auch ich beschloss jetzt, ein paar Minuten zu schlafen, und als ich die ­Augen zumachte, sah ich Al Thanis Gesicht vor mir: Al Thani in seinem grauen Anzug, Al Thani, der in der Menge verschwand, immer wieder Al Thani. Ich überlegte, ob auch er es gewesen war, der mir Flug und Sitzplatz gebucht hatte, denn Al Thani war dafür bekannt, dass er jede Buchung gegenchecken wollte, jede Buchung gegenchecken musste. Es war der alte Al Thani-Spleen, niemandem zu vertrauen, am allerwenigsten natürlich Rosenquist, aber wer hätte schon Grund gehabt, Rosenquist zu vertrauen? Ja, Al Thani hatte mir den Sitzplatz gebucht, ganz sicher, die 41A oder die 41C, einen von beiden Sitzen buchte er immer, das war seine persönliche Chiffre. Al Thani, dessen größte Stärke und größte Schwäche es war, niemandem zu vertrauen, zu kontrollsüchtig, um auch nur die kleinste Entscheidung an seine Assistenten zu delegieren, das große Gespenst Al Thani, wie er mit seinen schmalen grauen Hemden in der Berner Zentrale stand, am Hafen von Jaffa, im Dragonara auf Malta. Kurze Pause. Das Feuern schwerer Schiffsgeschütze in der Ferne. Als ich wieder aufwachte, flogen wir bereits über Land, und Moskowitz schlief noch immer. Das Flugzeug kippte zur Seite, und man sah Hunderte Wohnblocks, die Vororte der Vororte. Dazwischen Maisfelder, Sojaplantagen, Garnelenfarmen, alles Dinge, die grau oder braun waren. Aber vom Flugzeug aus gesehen, sind die meisten Dinge grau oder braun, selten grün, selten blau. Ich dachte daran, mir einen Handstaubsauger zu kaufen, wenn ich zurück in Europa war. All das, der Blick aus dem Fenster, die Blicke der Stewards, aber vor allem das Summen der Klimaanlage weckten in mir das Bedürfnis nach einem Handstaubsauger. Die Landung war ruppig.

2. NIGHTINGALE Nach der Passkontrolle schaltete Moskowitz wieder sein Handy an, und ich begann mich zu entspannen.

08.02.2021 Feature Ring mit Alli Neumann (Gesang) 12./13.02.2021 Bandstand Return of the Music Video

Das machte alles einfacher. Wir hatten Anfang des Jahres die Mail eines israelischen Titanhändlers abgefangen und waren so auf Moskowitz’ Spur gekommen. Dieser Titanhändler, der Viktor Havelmann hieß und den wir schon länger im Visier hatten, verschob große Mengen Rohstoffe in Russland und Osteuropa, vor allem Titan, aber auch Platin und Silicium, Boden-Luft-Raketen, Immobilienbonds, Raubkunst, und benutzte Kulturveranstaltungen des Goethe-Instituts als Tarnung, um diese Deals abzuwickeln. Anfang des Jahres hatte er Moskowitz zu einer Lesung nach Nowosibirsk eingeladen, wobei er in seiner Mail nicht wie sonst Mit vielen Grüßen, Viktor Havelmann schrieb, sondern Ich grüße Sie aufs Herzlichste, Ihr V. Havelmann, was uns irgendwie verdächtig vorkam und was wir als Chiffre für ein Angebot an Moskowitz werteten. Auch der darauf folgende Mailwechsel bestätigte diese Annahme. Nie schrieb Havelmann dieselbe Schlussformel, und immer schrieb Moskowitz Ich verbleibe herzlich, Ihr P.T. Moskowitz, was wir jeweils als Absagen an Havelmann deuteten. Wir wussten nicht genau, um was es ging, aber wir vermuteten es: ein Gegenstand, der Raum und Zeit verbindet, ein Objekt der Totalität. Kurze Pause. Al Thani hatte das Gefühl, dass es in Montevideo das Angebot eines neuen Käufers geben würde. Vielleicht würde Moskowitz eine gewöhnliche Nachricht erhalten, vielleicht nur ein Symbol sehen oder ein vereinbartes Muster erkennen. Vielleicht war das System, in dem Moskowitz mit seinen Partnern kommunizierte, jedoch noch komplexer, mutmaßte Rosenquist. Oder eben unterkomplexer, warf ich ein, auf jeden Fall so, dass wir es nicht als solches identifizieren konnten, obwohl wir in seinem Handy waren, in seinen Konten, in allen Netzwerken. Auch Al Thani wurde nach und nach Verfechter meiner Unterkomplexitätstheorie und schlug sich die Nächte um die Ohren, um Moskowitz’ Accounts noch einmal zu durchforsten. Vermutlich wird es sich in einer Kleinigkeit offen­ baren, sagte mir Al Thani, vielleicht wird es ein Wort sein, das er ausspricht in Gegenwart eines Bettlers, vielleicht eine bestimmte Münze, die er dem Kellner beim Bezahlen auf den Tisch legt, vielleicht ein Vogelschwarm am Himmel. Ich hatte Al Thani in letzter Zeit wieder häufiger beten ge­ sehen, jedenfalls öfter als zuvor. Als würde er Gott darum bitten, selbst die Vögel am Himmel zu ­kontrollieren, selbst Gott zu werden, Gott zu sein, obwohl er das schon war. Die Tage in der Berner

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Zentrale wurden länger und Al Thanis Laune schlechter, je geduldiger Moskowitz damit wartete, Kontakt aufzunehmen, als hätte er die Unendlichkeit auf seiner Seite. Kurze Pause. Man hört das Flattern eines Schwarms Papageien. Während Moskowitz also schon mit einem Taxi ins Zentrum fuhr, drückte ich mich noch eine halbe Stunde am Flughafen herum, trank eine Dose Tropico und versuchte mich an die Temperatur und die Luftfeuchtigkeit zu gewöhnen. Ich ging auf und ab und checkte auf meinem Handy Moskowitz’ Handy. Die Ortung zeigte, dass er sich noch auf der Autobahn befand. Vielleicht war Stau oder der Fahrer war einen Umweg gefahren, dachte ich, was mich nicht wundern würde, denn in Monte­ video verfahren sich selbst die Taxifahrer – nicht aus Raffgier, wie überall sonst, sondern weil auch sie den Weg nicht kennen, weil niemand den Weg kennt, weil es keinen Weg gibt. Irgendwann erreichte Moskowitz dann das Hotel, das ihm das Teatro Nacional gebucht hatte, und auch ich winkte mir jetzt ein Taxi heran und nannte dem Fahrer die Adresse. Gegen Mitternacht traf ich ein und zahlte an der Rezeption für zwei Nächte in bar. Ich füllte die Formulare mit der linken Hand aus und gab an, ich sei im Auftrag der UN unterwegs, und auf irgendeine Art stimmte das ja auch. Wenn das so sei, würde man mich selbstverständlich in ein besseres Zimmer upgraden, sagte der Portier und verschwand in einem Nebenraum, um mir kurz darauf ein Geschenk mit blauer Schleife zu überreichen: Badeöle in den Sorten Rosmarin, Lavendel und japanische Minze. Ich fuhr mit dem Fahrstuhl in den fünften Stock und spürte, dass Al Thanis Blick auf mir lag, genau in diesem Augenblick, in dem ich auf meinem Handy Moskowitz’ Handy beobachtete. Der große Schatten Al Thani hatte sich also auch auf mir niedergelassen, meinen Kleidern, den Dingen, die ich berührte, meinen Gedanken.

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auf der Website von La Gazzetta dello Sport, ­checkte aber nicht seine Mails, was mir merkwürdig vorkam, weil er noch am Tag zuvor zwanzig Mal ­danach geschaut hatte. Dann googelte er den Begriff Mondgeographie und klickte sich durch die Wikipedia-Seiten der verschiedenen Mondkrater, bevor er bei den Mondmeeren landete, Mare ­Nec­taris, das Nektarmeer, Mare Moskwa, das Moskauer Meer, und Oceanus Procellarum, der Ozean der Stürme. Schließlich stieß er auf den Eintrag des Großen Bombardements, das vor vier Milliarden Jahren die Oberfläche von Mond und Erde definiert hatte, und notierte sich die Worte: Leben und Tod. Am Nachmittag schlenderte Moskowitz durch das Cordón und erreichte irgendwann das Viertel Tres Cruces, wobei man im Tres Cruces nicht wirklich schlendern kann, nicht mal spazieren gehen, im Prinzip kann man nichts anderes tun, als dem Tres Cruces permanent auszuweichen, den Autos, Rollern, Frauen und Männern, den Katzen, den Häusern, allen muss man permanent ausweichen, und eine zielgerichtete Bewegung ist völlig unmöglich, so als würde man von einer geheimen Schwerkraft gezogen. Ich folgte Moskowitz mal in Sichtweite, mal mit langer Leine im Abstand von siebzig, achtzig Metern. Immer wieder öffnete er Google Maps und navigierte sich Richtung Süden, als würde er auf etwas zusteuern, als hätte er ein geheimes Ziel. Dann, als wir die Avenida 18 de Julio erreicht hatten, drehte sich Moskowitz plötzlich um und lief direkt auf mich zu. Ich erschrak, hatte aber keine Chance auszuweichen oder umzukehren und ging langsam weiter. Moskowitz’ Augen waren weit auf­gerissen, als er die Karte auf seinem Display größer zoomte und mich fragte, ob das hier die Adresse des Nacional sei. Jetzt, da er so nah neben mir stand und ich seinen Schweiß riechen konnte, fiel mir auf, wie wenig er den Bildern glich, die mir Al Thani geschickt hatte. Ich lächelte, sagte, dass ich es leider nicht wisse, und ging weiter. Kurze Pause. Das Hämmern einer Schiffsturbine.

3. NIGHTINGALE Am Morgen ging Moskowitz zum Frühstücken in ein Café und bestellte dort Unmengen an Croissants, Alfajores und Karamellgebäck. Auch ich ging in einen Imbiss um die Ecke und beobachtete auf meinem Display Moskowitz’ Aktivitäten. Er wählte sich ins Wi-Fi ein und las ein paar Artikel

Zurück im Hotel ging Moskowitz ins Internet und checkte seine Mails, gab aber zuerst ein falsches Passwort ein, was ihm zuvor noch nie passiert war. Irgendwas stimmt hier nicht, dachte ich, denn auch die Art, wie er das falsche Passwort eingab, hatte etwas Künstliches, Gespieltes. Ja, genau das war es, dachte ich, Moskowitz spielte Moskowitz, aus irgendeinem Grund war er es nicht. Exakt so schrieb ich es dann auch Al Thani, schickte die

Nachricht jedoch nicht ab, nachdem ich sie noch mal gelesen hatte. Ich wusste, wie Al Thani auf ­solche Analysen reagierte, und ich wusste auch, dass es im Bereich des Möglichen lag, dass Al Thani die Nachricht bereits gelesen hatte, obwohl ich sie nicht abgeschickt hatte. Ich stellte mir vor, wie er gerade in der Berner Zentrale stand und in diesem Moment Moskowitz’ Display beobachtete, genau wie er meines beobachtete und aus beidem seine Schlüsse zog. Ich löschte die Nachricht und schrieb eine neue, in der ich sachlich vom Zusammentreffen mit Moskowitz berichtete, ohne meine Bewertung der Situation hinzuzufügen.

4. NIGHTINGALE Erst am nächsten Tag kam Al Thanis Antwort. Er schickte ein Delfin-Emoticon. Ein Delfin-Emoticon bedeutete Sofortiger Abbruch. Aber diesmal dachte ich nicht daran. Ich wusste, dass ich nah dran war. Und ich würde Al Thani beweisen, dass auch ich gnadenlos sein konnte, wenn es darauf ankam. Moskowitz hatte die Premiere sausen lassen und stattdessen die ganze Nacht in einer Bar gesessen und Fernet Cola getrunken, ohne jedoch mit jemandem Kontakt aufzunehmen, vielleicht weil er meine Anwesenheit spürte, vielleicht weil er erst die Lage austesten wollte. Mittags traf er sich dann mit Cáceres, dem Direktor des Nacional, im Restaurant des Miraflores. Ich hörte das Gespräch über das Mikrofon von Moskowitz’ Handy mit, während ich in der Badewanne lag und mir Bilder von Cáceres im Internet anschaute. Auf fast allen Fotos trug er dieselben schwarzen Ohrringe und eine Kastenbrille im Stil der argentinischen und chilenischen Intellektuellen. Danach tippte ich auch Moskowitz’ Namen ein und verglich die Fotos auf der Website seines Verlags mit den Fotos aus unserer Kartei, aber je länger ich die Bilder miteinander verglich, bekam ich das Gefühl, Moskowitz hätte zwei Gesichter. Ein offenes, der Kamera zugewandtes, und ein zweites, verborgenes, sodass ich kurz so weit ging, mir einzubilden, die beiden Moskowitze auf den Fotos wären nicht ein und dieselbe Person. Kurz darauf schlief ich ein, und als ich wieder aufwachte, war das Lavendelwasser in der Wanne eiskalt. Ich hatte von Bern geträumt, von Rosenquist und Al Thani, aber dort war noch jemand anders gewesen, eine Frau, deren Gesicht ich nicht kannte. Diese Frau war das Zentrum des Traums, alle Dinge und Menschen bewegten sich um sie her-

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um, waren ihr verfallen. Und neben einer großen Begierde spürte ich auch eine tiefe, grenzenlose Angst in mir aufsteigen, sodass ich schrie, als ich erwachte.

­ bstand, und ich drückte dem Fahrer ein paar A Scheine in die Hand, damit er eine Stunde vor dem Hintereingang auf mich wartete. Bis dahin, dachte ich, hätte ich mir hoffentlich einen Plan überlegt.

Kurze Pause. Ich sprang aus der Wanne und kontrollierte auf meinem Handy Moskowitz’ Handy, sah aber, dass auch er wieder in seinem Zimmer war und offenbar schlief. Al Thani hatte mir in der Zwischenzeit ein weiteres Delfin-Emoticon geschickt, das ich wie das erste ignorierte. Der restliche Nachmittag blieb ereignislos. Erst gegen 17 Uhr verließ Moskowitz oder der Mann, der sich für Moskowitz ausgab, sein Hotelzimmer und zog wieder schlingernd durch das Tres Cruces, wie ein Schlafwandler in ellipsenhaften Bögen, diesmal jedoch genauer und auf merkwürdige Art schärfer als am Tag zuvor, als hätte er doch ein Ziel, auf das er zusteuerte. Und tatsächlich: Plötzlich blieb er stehen und betrat einen kleinen Antiquitätenladen am Rand des Plaza Liber Seregni. Durch das Schaufenster konnte ich sehen, wie er mit dem Verkäufer sprach und ein goldenes Kaninchen in seine ­Tasche gleiten ließ. Es war das Zeichen, auf das wir so lange g ­ewartet hatten, die Kontaktauf­ nahme, die Al Thani vorausgesagt hatte. Moskowitz verließ das Geschäft und lief weiter Richtung Süden, vorbei an der Avenida Uruguay, und setzte sich auf eine Bank, als ob er auf jemanden warten würde. Ich ließ das Kaninchen keine Sekunde aus den Augen, doch auf einmal stürzte Moskowitz davon, rannte die Straße entlang und sprang in einen Linienbus, der vor ihm zum Stehen gekommen war. Ich winkte nach einem Taxi und folgte dem Bus bis in die nördlichen Vororte. Dort stieg er aus und fuhr mit einem anderen Bus zurück ins Zentrum, wo er wieder umstieg. Ich wies den Fahrer an, dem Bus dichter zu folgen, als ich mit einem Mal merkte, dass auch ich verfolgt wurde. Ein paar Meter hinter uns fuhr ein schwarzer Mercedes CL, der mir schon vorher auf der Camino Corrales aufgefallen war. Ich beobachtete den ­Wagen weiter durch den Seitenspiegel, während der Taxifahrer damit kämpfte, den Bus nicht zu verlieren. An der nächsten Kreuzung warf ich mein Handy aus dem Fenster und rief dem Fahrer zu, er solle auf die Bremse steigen. Der Mercedes zog scharf an uns vorbei und bog nach links ab, wir fuhren nach rechts, und nach einer Schleife fanden wir den Bus auf der Avenida wieder. Ein paar Minuten später stieg Moskowitz aus und lief zu Fuß zum Hotel. Wir folgten mit einigem

5. NIGHTINGALE Gerade als ich die Lobby des Miraflores betrat, sah ich Moskowitz die Treppe hochlaufen. Ich ließ mich in einen der Sessel fallen und überlegte, wie ich weiter vorgehen sollte. Ich fühlte mich unendlich verloren, und gleichzeitig spürte ich, dass es noch nicht zu spät war, die richtige Entscheidung zu treffen. Ich versuchte mich an die Notfallnummer der Zweigstelle in Buenos Aires zu erinnern, mit der ich sicher Hilfe anfordern konnte. Nur Al Thani würde natürlich toben, dachte ich, und er würde sich in allem bestätigt fühlen, würde vor ­Rosenquist zugeben müssen, dass es ein Fehler gewesen war, ausgerechnet mich nach Montevideo zu schicken. Aber genau in diesem Augenblick lief Moskowitz in einem kokosfarbenen Bademantel wieder an mir vorbei und nahm die Marmortreppe hinab zum Hallenbad. Ohne eine Sekunde zu ­zögern, stand ich auf und sprang in den Aufzug, den Moskowitz gerade verlassen hatte. Ich fuhr in den vierten Stock, lief über die langen, teppich­ gedämpften Gänge und knackte die Verriegelung von Moskowitz’ Tür. Vor mir auf dem Bett stand ein offener Koffer, und ganz oben auf den hastig hineingeworfenen Hemden und Hosen lag das gol­ dene Kaninchen und funkelte mich an. In diesem Moment wusste ich, dass es eine Falle war. Ich stand still und lauschte. Kurze Pause. Das Geräusch, das entsteht, wenn sich niemand bewegt. Die Vorhänge bewegten sich leise im Wind, dahinter das offene Fenster und die hell erleuchtete ­Plaza. Ich schnappte mir das Kaninchen und ging, so ruhig ich konnte, zurück über die samtenen Teppiche. Gerade als ich wieder zu den Aufzügen kam, öffnete sich vor mir die Tür mit einem Pling, als hätte sie gewusst, dass ich komme. Ich drehte mich um und ging zum Treppenhaus, zuerst langsam und gefasst, aber dann, ohne dass ich es wollte, beschleunigten sich meine Schritte, als ­ wäre ich nicht mehr diejenige, die die Kontrolle über meine Füße hatte. Ich rannte, stürzte mich durchs Treppenhaus und spürte das Gewicht des

goldenen Kaninchens in meiner Tasche, spürte, wie es mich einem Magneten gleich aus dem Hotel zog, wie es schwerer und schwerer wurde. Ich riss die Tür des Hintereingangs auf, sprang in das Taxi und rief: Zum internationalen Flughafen, schnell! Der Wagen rollte auf die Avenida, während ich, immer noch heftig atmend, das Kaninchen aus der Tasche nahm und es von allen Seiten untersuchte. Erst nach ein paar Minuten schaute ich wieder aus dem Fenster, und während sich das Taxi immer weiter vom Zentrum entfernte, während die Lichter schwächer und die Dunkelheit größer und allumfassender wurde, merkte ich, dass wir in die falsche Richtung fuhren. Ich rief: He, Señor! Zum Flughafen! Haben Sie nicht verstanden? CÁCERES Der Flughafen ist geschlossen, Miss Nightingale. Es wird besser sein, ich fahre Sie nach Juanicó. NIGHTINGALE Da blickte ich in den Rückspiegel, um das Gesicht des Fahrers zu erkennen, und in genau diesem Moment blickte auch er mich an, mit seinen schweren, schwarzen Augen. Und ich sah, dass es Cáceres war, der Direktor Cáceres vom Teatro Nacio­nal. Ich schaute ihm in die Augen und wusste jetzt, dass ich es war, ich selbst war das goldene Kaninchen. Ich war nicht in die Falle gegangen, ich war die Falle. Und ich wusste, dass Al Thani hineintappen würde, jedenfalls wenn er dasselbe fühlte wie ich. Ich hörte das Klicken der Zentralver­ riegelung und merkte, wie sich der Anschnallgurt um meine Brust schnürte, merkte, wie er sich immer enger um meinen Körper schlang und mich in die Sitzbank drückte. Ich spürte, wie ich durch die kalte, stechende Luft der Klimaanlage das Bewusstsein verlor, wie die Angst aus meinem Körper wich. Und ich spürte, wie der Wagen an Fahrt aufnahm und wie die abgefeuerte Kugel einer Waffe in die Finsternis schoss.

TEIL III DAS HAUS IN JUANICÓ

1. CÁCERES Das Telefon klingelte bereits zum zwanzigsten Mal, als ich am späten Nachmittag abnahm. Señora Moskowitz, sagte ich, wir sind natürlich alle untröstlich hier. Was, nein, natürlich! Sie haben mei-

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nen hundertprozentigen Beistand, mein Mitgefühl. Und sollten Sie herkommen wollen, um den Halunken wieder einzufangen, dann wohnen Sie selbstverständlich bei mir. Doch ich fürchte, ein solches Unterfangen wäre vergeblich, Señora! Ihr Mann ist ein stolzer Adler, den bringt so schnell nichts ­zurück. Sie hätten mal sehen sollen, wie der sich aufgeführt hat, wie er tagelang, einem bengalischen Tiger gleich, um meine Assistentin herumgesprungen ist, der Herr Schriftsteller. Sie hätten sehen sollen, was für ein irres Feuer in seinen Augen brannte, als ich ihn im Schwimmbad des Mira­ flores traf. Wie ein Wahnsinniger hatte er sich in Montur geworfen und wollte die Sofía Vallejos mit Hechtsprüngen und einer exzentrischen Bade­mode beeindrucken. Ich traue es mich kaum auszusprechen, aber er trug eine goldene, eng anliegende Shorts. Auch ich bin gewiss kein Waisenknabe, aber was der Herr Moskowitz hier in den letzten Tagen veranstaltet hat, sprengte einfach alles. Als Erstes hat er ja die Premiere sausen lassen und sich stattdessen in fragwürdigen Spelunken herumgetrieben. Da stand ich natürlich dumm da und musste das erst mal unseren Sponsoren von TecnoCiéntifica auf der Premierenfeier erklären. Auch der italienische Botschafter war gekommen und fragte immerzu: Wo ist er denn? Ja, wo ist er denn? Und ich sagte immer nur: Ich weiß es auch nicht, Dottore, ich weiß es doch auch nicht! Und auch der nächste Tag geriet zu einer einzigen Peinlichkeit, sagte ich zu Su-Zeong Moskowitz am Telefon. Mittags habe ich Ihren Mann, den Herr Moskowitz, ja endlich im Hotel angetroffen, immer noch betrunken, wie er war. Meine Assistentin berichtete mir da schon, dass er sie nachts mit Anrufen bombardiert hatte, es waren wohl Dutzende Nachrichten, die sie auf ihrer Mailbox hatte. Und ja, die Sofía Vallejos ist eine interessante Frau, sie ist die Zudringlichkeit der Herren gewohnt, doch diese die ganze Nacht andauernde Belagerung sprengte erneut alle Grenzen. Abends dann, im Hallenbad des Hotel Miraflores, folgte der Höhepunkt der Komödie, von dem ich Ihnen ja bereits erzählt habe. Am nächsten Morgen waren die beiden dann verschwunden. Sie sind wohl mit dem ersten Bus nach Juanicó im Departamento Cane­ lones gefahren, wie mir mein Buchhalter Arturo Rizzi berichtete. Auch er hatte sich Hoffnungen bei der Sofía Vallejos gemacht, wenn ich das so offen sagen darf. Aber auch das ist ja nun völlig unerheblich. Die Winde in Juanicó sind eisig, die Leute reden nicht, sie dort aufzuspüren wird so gut wie unmöglich sein, und vielleicht, Señora, sagte ich zur Señora Moskowitz, können wir sogar froh

machina eX

sein, dass wir sie los sind. Sollen sie doch glücklich werden in Juanicó! Die beste Flasche sollten wir aufmachen und darauf anstoßen, dass sich die Untreuen aus dem Staub gemacht haben. Sollen sie hundert Jahre alt werden, aber uns sollen sie gestohlen bleiben. Lassen Sie uns auf das Leben trinken, denn das geht weiter, sagte ich zur Señora Moskowitz und knallte den Hörer auf.

mich in den siebtenStock des Hotel Miraflores brachte. Ich nickte dem Portier zu und ging an die Bar, wo man mir wie immer einen New England Highball mixte. Dann setzte ich mich an einen der äußeren Tische und wartete. Der Raum war halb gefüllt, große kokosfarbene Lampenschirme dämpften die Stimmen der anderen Gäste. Kurze Pause. Ein Flackern.

Kurze Pause. Schon während meiner letzten Sätze war Rizzi in seinem weißen Anzug in der Tür erschienen, und ich winkte ihn herein und gab ihm zu verstehen, er solle sich auf die Couch setzen. Ich rollte mit meinem neuen Stuhl, den das Goethe-Institut bezahlt hatte, zum Fenster und spähte durch die Jalousien. Die Sonne begann bereits unterzugehen, und die Kathedrale warf ihre Schatten auf die Mündung des Río de la Plata. Und?, fragte Rizzi. Und, sagte ich, ich glaube ihr kein einziges Wort. Die Señora Moskowitz spielt die beleidigte Gans, und die Rolle spielt sie wirklich ausgezeichnet, aber sie lügt, wenn sie den Mund aufmacht, denn sie hat ihre ganz eigene Agenda. Du wirst schon sehen, die werden wir so schnell nicht los. Aber jetzt zu deiner Bilanz, sagte ich, zeig her, und Rizzi reichte mir seinen großen Aktenordner, den ich schnell überflog. Gut, sagte ich,aber wo stehen hier die rich­ tigen Zahlen? Die richtigen Zahlen habe ich hier drin, nur hier, sagte Rizzi und zeigte auf seinen Kopf. Bravo, sagte ich und küsste ihn auf die Stirn, da sollen sie auch bleiben, Rizzi. Pass bloß auf, dass ihn dir keiner einschlägt, deinen Schädel.

2. CÁCERES Ich verließ mein Büro im Tres Cruces um zwanzig Uhr und reihte mich in den Feierabendverkehr auf der Acevedo Díaz ein. Dichte Schwärme grüner Papageien überflogen das Viertel und warfen zuckende Schatten auf den Asphalt und die Fassaden der Häuser. Die Luft war kühl und klar. Ich betrachtete das goldene Kaninchen, das ich mir auf das Armaturenbrett geklemmt hatte, und legte den dritten Gang ein. In einer Stunde würde ich den Kurator vom Abu Dhabi Performing Arts Center treffen. Ich trug meine schwarzen Ohrringe, mein schwarzes Hemd, mein schwarzes Sakko, die schwarze Hose, die schwarzen Schuhe. Mit einem kleinen Kamm strich ich den Schnurrbart glatt und kontrollierte meine Frisur im Spiegel des Aufzugs, der

Homecoming

Ich sah ihn durch die Spiegelung der Fensterfront hinter mir aus dem Aufzug kommen. Er trug einen schmalen Anzug, eine schmale graue Krawatte und hatte die Haare kurz geschnitten, was seine sichelförmige, einem Falken ähnliche Nase noch mehr betonte. In der Hand hielt er zwei kleine Würfel, die er unentwegt durch seine Finger gleiten ließ. Auch er hatte mich nun bemerkt, und als er sich bis auf zwei Meter von hinten genähert hatte, sprang ich unvermittelt auf, um zu sehen, wie er darauf reagierte. Wie war der Flug, Exzellenz? Danke, blendend. Oh, sagte ich, wirklich? Nein, sagte er, selbstverständlich nicht, aber lassen Sie uns nicht davon reden. Inzwischen war der Portier auf mein Zeichen herangeschlichen und beugte sich zu unserem Tisch herab. Der Kurator zischte ihm etwas ins Ohr, der Portier nickte und zog sich rückwärts gehend mit Trippelschritten wieder zurück. Um gleich auf den Punkt zu kommen, sagte ich, ich habe schlechte Nachrichten, die Vorstellung morgen muss leider ausfallen, und auch für das Wochenende sieht es nicht gut aus. Das sind allerdings schlechte Nachrichten, sagte der Kurator, wann steht das Stück wieder auf dem Spielplan? Ich fürchte, das kann ich nicht beantworten, sagte ich. Der Hauptdarsteller hat sich beim Applaus das Kreuzband gerissen, die Darstellerin der Clarissa Corazón hat sich zum wiederholten Mal in eine Entzugsklinik begeben, und die Presse war bei der Premiere auch nicht unbedingt euphorisch, um es freundlich auszudrücken. Ja, um ehrlich zu sein, haben wir die hässlichsten Verrisse kassiert, was es jetzt schwer macht, mehr als ein Dutzend Karten zu verkaufen, und ich frage mich, ob es sich überhaupt lohnt, eine Ersatzbesetzung zu organisieren. Und all das bringt mich in die unglückliche Lage, Ihnen das so kurzfristig mitzuteilen, obwohl Sie den weiten Weg aus Abu Dhabi gereist sind, um das Stück zu sehen. Ich weiß um die Strenge Ihres Termin­ kalenders, und umso ärgerlicher ist die Sache ­natürlich. Ich kann mir wirklich nicht erklären, wie meine Assistentin es versäumen konnte, sofort Ihr Büro zu informieren. Das kommt nun mal vor,

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sagte der Kurator. Aber das sollte es nicht, sagte ich, das ist unentschuldbar. Und selbstverständlich ­stehe ich für dieses Ärgernis persönlich gerade. Mein lieber Cáceres, beruhigen Sie sich, sagte er, ich habe entschieden, das Stück so oder so in die Emirate einzuladen. Ich verlasse mich ganz auf Ihr Wort. Wenn Sie mir sagen, das Stück taugt etwas, dann taugt es auch was. Aber genau das ist es ja, sagte ich, das Stück ist katastrophal! Katastrophal, wie meinen Sie das? Nun, wie eine Katastrophe! Die Form, der Inhalt, die Figuren – eine einzige Katastrophe! Wenn Sie mich fragen, dann ist das überhaupt kein Stück, sondern eine Kapitulationserklärung. Der sogenannte Autor erklärt auf jeder Seite seine Kapitu­ lation. Es ist ein Manifest zum künstlerischen Selbstmord! Aber das klingt doch furchtbar interessant, sagte der Kurator, das klingt nach einem echten Experiment! Gerade deswegen wollen wir dieses Stück ja bei uns in Abu Dhabi sehen! Davon rate ich Ihnen ab, davon rate ich strikt ab, sagte ich. Vielleicht haben Sie ja eine Videoaufzeichnung, ­damit ich mir einen kurzen Eindruck machen kann. Nein, sagte ich, ich fürchte, nein. Selbst die Fotos mussten wir ja aus rechtlichen Gründen w ­ ieder von unserer Homepage entfernen. Ich ver­stehe, sagte er, das ist natürlich ärgerlich, haben Sie dann wenigstens technische Pläne vom Bühnenbild, damit wir abschätzen können, wie sich Transport und Umsetzung realisieren lassen? Das ist mir jetzt unangenehm, sagte ich, aber selbst mit Bühnenbildplänen sieht es denkbar schlecht aus, im Prinzip gibt es nämlich gar kein Bühnenbild, so gesehen ist es ein völlig abstraktes Raumkonzept, abstrakt im Sinne von abwesend. Der Kurator musterte mich von oben bis unten wie ein bösartiger Raubvogel. Also langsam habe ich das Gefühl, dieses Stück existiert überhaupt nicht, Mister Cáceres! Wie originell, rief ich, das würde ich mir ehrlich gesagt auch wünschen! Ich bekomme ja noch immer Albträume wegen diesem unsäglichen Text. Lassen Sie mich kurz das Ende zitieren: Spät kommt ihr. Nehmt Platz, die Tafel ist gedeckt. Sehen Sie, was ich meine? So spricht doch kein Mensch! Weder in Montevideo, noch sonst wo! Also wenn Sie mich fragen, dann ist das keine Literatur, sondern nichts weiter als ein dekadenter, europäischer Unfug! Der Kurator schaute mich jetzt spöttisch an. Mehr noch, sein Blick war voller Grimm und versteckter Verachtung. Er war für einen kurzen Moment aus der Rolle gefallen.

3. CÁCERES Meine Hand zitterte, als ich einen Schluck von meinem Highball nahm, denn auch ich wusste, dass nun der Moment für mich gekommen war. Sehen Sie die Dame dort vorn?, sagte ich und ­zeigte auf das andere Ende der Bar. Sehen Sie in ihre Augen, sagte ich zu dem Kurator, der sich nun umdrehte. Ich habe diese Augen das erste Mal vor einigen Monaten gesehen und kann mich seitdem nicht mehr dagegen wehren. Tagelang folgten sie mir, zogen ihre Kreise um mich, in der Herren­ abteilung des Kaufhauses, auf der Rennbahn, bei Valentino’s. Doch als ich sie endlich darauf ansprach, als ich zu ihr ging und fragte, Madame, wie lautet Ihr Name?, woher kennen wir uns?, wie kann ich Ihnen helfen?, schaute sie mich überrascht an und spielte Erschrecken. Doch schon am nächsten Morgen traf ich sie wieder im Café. Und wieder tat sie, als würde sie mich nicht kennen, als würde sie mich zum ersten Mal sehen. Ihr Gesicht glich einer Symphonie oder einem mathema­ tischen Satz oder einer Galaxie. Wie heißen Sie?, fragte ich, und sie sagte: Sofía Vallejos. Und wirklich alles machte mich verrückt an ihr, der Blick, ihr Gang, die Handbewegung, mit der sie den ­Espresso zuckerte. Schade, dass es erst morgens ist, sagte sie, sonst würden wir jetzt zu dir gehen. Gut, dann warten wir, bis es Mittag ist, antwortete ich sofort. Das geht nicht, sagte sie, du bist nicht der Typ für frühe Stunden! Schau dir an, wie deine Hand ­zittert, wenn du die Tasse hebst. Ja, wahrscheinlich, sagte ich und zahlte die Rechnung, und als ich zurückkam, war sie verschwunden, aber auf dem Tisch lag ein Kästchen mit schwarzer Schleife, in dem sich zwei Ohrringe ­befanden. Später lief ich stundenlang durch die Stadt, so wie es Schlafwandler tun, ohne mit jemandem zu sprechen, ohne jemandem ins Gesicht zu sehen, denn all das interessierte mich nicht mehr. Auch am nächsten Morgen ging ich nicht zur Arbeit, ich ging in den Supermarkt und kaufte mir Farfalle und Pistazien aus Sizilien, die ich mir dann zum Frühstück machte, und dazu trank ich eine halbe Flasche Rotwein. Später bin ich noch mal raus­ gegangen und habe mir am Kiosk elf oder zwölf Dosen Norteña gekauft, aber den Rest des Tages habe ich nur auf meinem Bett gelegen und nichts gemacht, außer an sie zu denken. Ich habe nur ­dagelegen und die elf oder zwölf Dosen ausgetrun-

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ken und dann noch die Flasche Rotwein, die vom Frühstück übrig war, und habe aus dem Fenster geschaut und dabei zugesehen, wie die Sonne ­unter- und wieder aufging. An diesem Tag jedoch tat sie es von der falschen Seite, sie ging im Osten unter und im Westen auf. Die Dinge waren außer Kontrolle geraten, und auch ich war es. Und ich wusste, dass sie der Grund für all das war. Am nächsten Morgen ging ich zurück in das Café, und da stand sie wieder und sah mich an, als ­müsste sie überlegen, wer ich bin. Und ich sagte: Komm mit mir und bleib für immer, ich schenke dir mein Leben. Und seit diesem Tag leben und arbeiten wir zusammen. Wir atmen zusammen, wir existieren zusammen. Die meisten denken, sie wäre meine Assistentin, dabei ist es genau umgekehrt, denn ich assistiere ihr, bin ihr Schüler auf jedem Gebiet. Kurze Pause. Jetzt, da ich all das gesagt hatte, ging es mir besser. Ich blickte Al Thani ruhig und direkt an. Seine Haut sah weich und schön aus, ich hatte Lust, ihn zu berühren. Langsam legte ich meine Hand auf seine und schaute ihm in die Augen. Auch er blickte mich nun an und geriet für eine Sekunde aus dem Takt, ließ für einen Herzschlag seine ­Maske fallen, und ich sah den Hass, der dahinter lag, die Selbstherrlichkeit, die Angst. Auch ich habe von ihr geträumt, sagte Al Thani. So lange habe ich von ihr geträumt und wusste doch nicht, wie sie aussieht. Mal sah sie wie die Dunkelheit aus, mal wie ein Ozelot im Sprung, mal war sie mehr Schall als Fleisch. Und dennoch wusste ich immer, dass wir uns treffen würden an einem Ort wie diesem. Schon als ich aus dem Aufzug kam, habe ich gefühlt, dass sie hier ist, von der ich

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stück

/ TdZ Februar 2021  /

Neue Autorin / Neuer Autor / Neue Stücke Stay at home and read!

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Stéphanie Chaillou DER VATER Axel Sichrovsky HEROS TAT

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MERLIN VERLAG

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so lange geträumt habe. Und jetzt weiß ich auch, dass du der Mann bist, den sie geschickt hat, mich zu töten. Ja, sagte ich und griff in meine Jacketttasche. Ich konnte die Überraschung in Al Thanis Augen sehen. Die Enttäuschung, dass es keine Pistole war, die ich hervorzog, kein Fläschchen mit Säure, ­keine Rasierklinge, um einen schnellen Schnitt ­gegen seine Kehle auszuführen, ich holte mein Samsung Galaxy hervor. Und noch bevor sich die Enttäuschung in seinen Augen in Entsetzen verwandeln konnte, drückte ich ab und lud das Foto hoch auf Instagram. Darunter schrieb ich: Tolles Treffen mit Al Thani im Miraflores. Und während ich aufstand und das Samsung vor ihn auf den Tisch legte, verstand er, dass ich ihm alles nehmen würde, sein Gesicht, seine Zukunft, all sein Prestige. Er verstand, dass ich ihn, den großen Geist Al Thani, in eine Maschine gesperrt hatte, so groß wie das Universum selbst. Und er verstand, dass wir ihn nicht umbringen würden in irgendeinem Hinterzimmer, in einer Seitengasse. Unsere Macht war so schrecklich und schön und grenzenlos, dass wir ihn vor aller Augen vernichten würden. Doch zuerst würden wir ihn demütigen, ihn und seine Familie, seine Freunde und jeden, den er kannte, über Tage und Wochen bis ins Letzte demütigen. Ich schaute ihm in die Augen und sah, dass auch er dies erkannt hatte. Dass er wusste, dass ihn nur seine sofortige und vollständige Kapitulation davor bewahren konnte und dass der alleinige Grund s­ einer Reise nach Montevideo gewesen war, sich im Hotel Miraflores zu erhängen.

4. CÁCERES Wir fuhren durch die verlassenen, schwarzen Straßen von Montevideo, die wie Strahlen eines Sterns vom Zentrum wegführten. Die Wohnviertel wurden zu Vororten und die Vororte zu Dörfern. Der Mercedes glitt durch die Nacht, vorbei an den Tankstellen, den Fabrikhallen, den Ausfallstraßen. Insekten, Vögel und Satelliten begleiteten uns, flankierten links und rechts den Wagen, kreisten über unseren Köpfen. Sofía Vallejos legte ihre Hand vom Lenkrad auf meine, und ich spürte die Energie, die sie durchströmte. Um ihren Hals trug sie die fünf Sterne, das Kreuz des Südens. Kurze Pause. Ein Blitz in großer Entfernung. Alle Fenster des Hauses waren hell erleuchtet, als wir in Juanicó eintrafen. Aus dem Kamin dampften dünne Rauchschwaden, und auf dem Hof roch es nach gebratenem Fleisch, als ich den Motor ­abstellte. Langsam drehte ich den Schlüssel im Schloss und öffnete die Tür. Auf dem Tisch in der Halle blitzten Dutzende Tellerchen und Platten, Schüsseln und Schälchen, gefüllt mit den unterschiedlichsten Köstlichkeiten. An den Wänden hingen Gemälde von Seeschlachten und goldene Spiegel, die Nightingale in den letzten Tagen stundenlang poliert hatte. Kristallbecher und lange Messer mit Griffen aus Ebenholz warfen das Licht der Kerzen in jeden Winkel des Raumes, als wären sie uralte Quasare. Die Fußböden waren geschrubbt und die Vorhänge gewaschen, alle Bücher der ­Bibliothek waren entstaubt, die Werke des Wahnsinns, der Ordnung, des Lebens. Die Kommoden zierten Vasen mit Sträuchern von Rosmarin, Laven­ del und japanischer Minze. In der Küche stand Moskowitz und trug nichts außer einer Schürze und schwarzen Socken. Er sah hinreißend aus.

paar Stunden wird er versuchen, einen Ausweg zu finden, und auf kleinliche Art seine Ehre retten wollen. Aber irgendwann wird er es einsehen, irgendwann heute Nacht, nach fünf oder sechs schlaflosen Stunden wird Al Thani sich sicher sein, dass es keinen Ausweg gibt, und dann wird er sich aufhängen, so wie wir es geplant haben. Die Standuhr in der Ecke schlug ein Uhr, zwei Uhr, drei Uhr, und nachdem wir das Fleisch bis zur ­letzen Faser vertilgt hatten, räumte Moskowitz den Tisch. Sofía ergriff meine Hand und führte mich über die geschwungene Treppe hoch in den ersten Stock. Langsam zog sie meine Kleidung aus, das Hemd, die Hose, schließlich die Unterhose, schlug das Laken auf und legte mich nackt, wie ich war, in die Mitte des Bettes. Sofía, flüsterte ich mit ­geschlossenen Augen, wie werde ich sterben? Und sie sagte: Vergessen und steinalt, keinen Peso in der Tasche und nur den Himmel über der Frisur. Dann beugte sie sich zu mir herab, gab mir einen Kuss auf die Stirn, löschte das Licht und verließ leise das Zimmer. Es roch nach Zimt und Myrrhe, Stechmücken schwirrten durch die Luft, doch ich hatte keine Angst, ich wusste, sie würden mir nichts tun. Es war die Zeit der Tiere und Gespenster. Zum ersten Mal seit Jahren fühlte ich mich glücklich und frei. Und während ich immer tiefer in die Matratze sank, spürte ich, wie ich das Bewusstsein verlor. Ich würde von sibirischen Diamantenminen träumen, von der Tiefsee, vom Tod.

MOSKOWITZ Ihr kommt spät. Setzt euch, der Tisch ist gedeckt. CÁCERES Auf einem Tablett servierte er uns große Stücke, die er vorher mit einer Schere von Schienbein und Rippenbogen getrennt hatte. Aus flachen Schalen tranken wir kaltes Wasser, das Getränk der Götter, wie Moskowitz sagte und immer wieder aus einer großen Karaffe nachschenkte. Wird der Alte kriegen, was er verdient?, fragte er mit der ihm eigenen monotonen Stimme. Oh ja, sagte ich, noch ein

Copyright © Michel Decar, 2020 Aufführungsrechte: Rowohlt Theater Verlag, Hamburg, 2020

DIGITALES PROGRAMM KAMPNAGEL.DE TROTZDEM 2021 – ABSCHLUSSARBEITEN REGIE SCHAUSPIEL DER THEATERAKADEMIE HAMBURG: Nora Kühnhold

INSTITUTIONELLER RASSISMUS TEIL 6: MEDIZIN WHITNESSING THE INVISIBLE DOKUMENTATION UND ERINNERUNG DER LEBENSWEGE SCHWARZER MENSCHEN IM NATIONALSOZIALISMUS

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Magazin Klick und das Kreuz steht da Warum Milo Rau das Kino nicht nur für seine ­utopische Dokumentation „Das neue Evangelium“ besser brauchen kann als das Theater  Das Prinzip Volksbühne Die w­ underbar anarchische Webserie „Rosa Kollektiv Oder: A­ ktiviere dein ­inneres Proletariat“ von Christian Filips und Luise Meier  Stimmen aus der Ferne der Zeiten Der Podcast „Lost & Sound“ lädt zu einer Reise in das heimlich-unheimliche Ton- und Geräuscharchiv des Düsseldorfer S ­ chauspielhauses  Meine ­Erinnerung an Herrn Schuch Über den langjährigen Leiter des Henschel Schauspiel Theaterverlags  Der Nebenrollenmeister In Gedenken an den Schauspieler Harald Warmbrunn  Bücher Annie Ernaux, Wolfgang Kröplin, ­Harald Metzkes, Gero Troike


magazin

/ TdZ  Februar 2021  /

Klick und das Kreuz steht da Warum Milo Rau das Kino mit seiner Mischung aus Emotion und Analyse nicht nur für seine utopische Dokumentation „Das neue Evangelium“ besser brauchen kann als das Theater Es ist Nacht, die Jünger Jesu liegen zusam-

plantagen arbeitete und nun die Arbeiter

­Momenten, ein Baukasten für einen Jesusfilm.

men, als wären sie ein Haufen Säcke. Es ist

­mobilisieren will gegen die mafiösen Struktu-

Kostüme, Helme, Stimmen, die sanft und

die Nacht am Ölberg. Im Dunkel blitzen

ren, die in der Landwirtschaft herrschen. Für

harsch zugleich klingen, in denen Staunen zu

plötzlich Autoscheinwerfer auf, die Polizei

die Feld­ arbeit werden immer mehr Asylbe-

hören ist und Entsetzen. Blicke, die den Ge-

kommt, gekleidet als römische Zenturionen.

werber angeheuert, die in einem Lager nahe

genschuss nicht brauchen, weil in ihnen schon

Der weitere Ablauf der Szene ist bekannt,

Matera untergebracht sind und in einem

das ­projiziert erscheint, worauf sie fallen.

Judaskuss und Festnahme. Der Mythos der

­Zustand der Unsicherheit und Illegalität ge-

Keine weitere Darstellung des Mythos,

Passion ist offen nach allen Seiten, die

halten werden, offiziell nicht anerkannt, ohne

sondern ein Diskurs, wie er funktioniert. Zu

­Zeiten schieben sich ineinander. Es ist ein

Papiere, stets von der Zurückschickung

den Bausteinen gehören auch E ­ nrique Irazo-

toller surrealer Moment, das heißt auf ver-

­bedroht. „Ein ­Sklavenlager“, sagt Milo Rau:

qui, der Jesus spielte bei P ­ asolini und bei

rückte Weise realistisch, wie beim späten

„Das war für mich der größte Schock der

Milo Rau nun Johannes den Täufer, und Maia

Luis Buñuel.

­letzten fünf oder sechs Jahre, dass dort eine

Morgenstern, die bei Mel Gibson Maria spiel-

halbe Million Sklaven leben.“

te, nun auch bei Milo Rau. Als Regisseur hat

„Das neue Evangelium“ ist eine Auftragsarbeit der Stadt Matera im Süden Itali-

Es ist ein Kampf um die Würde, in dem

er – auch das hat Brecht schon empfohlen –

ens, der Stadt der alten Felsenhöhlen, die

Yvan Sagnet sich engagiert, eine rivolta della

große Lust daran, in den Hintergrund zu

2019 eine der Kulturhauptstädte Europas

dignità, gegen die Ausbeutung – eines seiner

­treten. Sagnet darf seinen Aposteln erklären,

war. Pier Paolo Pasolini hat seinen Jesusfilm

Vorbilder wird auf einer der Kundgebungen

wie sie eine Szene am Meer spielen sollen,

dort gedreht, 1964, „Il Vangelo secondo

genannt, Thomas Sankara, ehemals Präsident

und Irazoqui gibt den Regisseur und sagt

­Matteo“, und Mel Gibson, 2004, „The Passion

in Burkina Faso. Eine Revolte, die mit Ketchup

­Action bei der Szene, wenn Jesus von Satan

of the Christ“. Auch Milo Rau will einen Je-

hantiert, am Ende mafiafreien Ketchup pro-

versucht wird.

susfilm drehen. Am Anfang sieht man, wie er

duzieren will. Die Formelhaftigkeit, mit der er

Gern ist Milo Rau dabei, wenn es da-

das Terrain absteckt, topologisch und filmhis-

seine Sätze spricht, verleiht diesem Jesus

rum geht, die Leute für verschiedene Rollen

torisch, er erklärt seinem Jesus-Darsteller

eine berührende Aufrichtigkeit.

auszuwählen. Einer der Mitspieler hat auch

Yvan Sagnet, wieso diese Stadt so ideal ist für

Milo Rau führt in schöner Konsequenz,

bei „007“ unterschrieben – auch Bond war

einen Jesusfilm: Dort drüben haben sie die

vielleicht auch nur mit einer sturen Naivität

in Matera – und hofft, dass es da keine

Kreuzigung gedreht, da gibt es immer noch

weiter, was Bertolt Brecht fürs neue, fürs epi-

Überschneidung gibt. Ein anderer gibt an,

die viereckigen Löcher im Boden. Wenn wir

sche Theater entwickelt hat. Keine Stücke,

für ihn persönlich wäre es am interessan-

drehen, machen wir einfach klick, und das

keine klassische Dramaturgie, keine Auffüh-

testen, um sich selbst zu erforschen, einen

Kreuz steht da. „Wie schön das hier ist“, sagt

rungen, kein in sich geschlossenes Theater,

Folterknecht zu spielen. Das tut er dann

Yvan Sagnet, der Kameruner, der Aktivist. Ein

keine geschlossenen Räume und Rituale,

mit großer Intensität, mit heftigen harten

schwarzer Jesus.

sondern offene Prozesse. Und irgendwie kann

Schlägen. „Du gefällst mir … Ein Diver­

„Ich bin Atheist“, sagt Milo Rau, er

er das Kino mit seiner Mischung aus Emotion

sitätsneger. Schwärzer als die andern.

sieht Jesus als Sozialrevolutionär, was eigent-

und Analyse dabei besser brauchen als das

Scheißneger.“

lich seit Pasolini eine geläufige Ansicht ist.

Theater, man sieht es in seinen Filmen „Die

schlagen, entwürdigen, ihm seine Hilflosig-

Ein Mann, der das römische Imperium und

Moskauer Prozesse“, 2014, oder „Das Kongo

keit demonstrieren … Sadismus als beson-

dessen Ungerechtigkeit attackiert und dafür

Tribunal“, 2017. Tribunale und Prozesse fas-

ders perfide Form der Performance.

hingerichtet wird. Gegen die Ungerechtigkeit

zinieren ihn, die ultimative Inszenierung des

der Systeme heute engagiert sich Yvan

Staates, der Macht.

­Sagnet, der auf den italienischen Tomaten-

Mythos und Revolte – „Das neue Evange­ lium“ von Milo Rau zeigt Jesus als Sozial­­ revolutionär auf den Tomaten­plantagen Italiens. Foto Fruitmarket/Langfilm/IIPM/Armin Smailovic

Einen

anderen

quälen,

Als eine utopische Dokumentation sieht Milo Rau sein Evangelium, da wird et-

Mehr als mit Brechts Verfremdungs­

was dokumentiert, was erst durch das Projekt

theater hat „Das neue Evangelium“ mit der

entstehen wird. Das Kino kommt dabei immer

Analyse der Mythen weltweit zu tun, die

stärker in Fahrt, die Szenen unterscheiden

­Claude Levi-Strauss in seiner „Strukturalen

sich immer weniger von denen in klassischen

Anthropologie“ praktiziert. Keine neue Ge-

Jesusfilmen. Milo Rau lässt es richtig klicken.

schichte und auch keine alte Geschichte neu

Große Emotionen … film is a battleground. //

erzählt. Es ist ein Fundus an narrativen

Fritz Göttler

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Das Prinzip Volksbühne

Revolution und Zweifel – Die wunderbar anarchische Webserie „Rosa Kollektiv Oder: Aktiviere dein inneres Proletariat“ von Christian Filips und Luise Meier Theater ist oft gnadenlos. Etwa in seiner Ver-

elf Folgen und dem großen Staffelfinale zu

Kollektiv den Historiker Jörn Schütrumpf zu

gesslichkeit. Nicht erst seit Heiner Müller ist

rechnen. Dass dieser Schritt nicht als Not­

Wort kommen lässt, der zur Entzauberung der

klar, dass dramatische Kunst aus der Be-

lösung zu verstehen ist, wird in der Ankündi-

Revolutionstraumwelt beiträgt. Zwischen lite­

schäftigung mit der Vergangenheit resultiert,

gung der Volksbühne deutlich: „Der Sieg wird

rarischen Versatzstücken – von Ernst Toller und

und doch verkommt das Theatererlebnis oft

nur durch eine Reihe von Niederlagen errun-

Alfred Döblin – wird auch der Verweis auf Pop-

zu bloßer Gegenwart, die auch ein mangeln-

gen, heißt es bei Rosa Luxemburg. Getreu die-

sternchen Beyoncé und ihren Appell „Let’s get

des Gedächtnis bedeutet. Was bleibt vom

sem Motto wirft sich Rosa Kollektiv in einen

in formation“ nicht gescheut. Im Wochentakt

Theater des 20. Jahrhunderts und seiner Ak-

Produktionsprozess mit offenem Ende.“

soll so revolutionäre Selbstvergewisserung und

Die 45-minütige erste Folge mit dem

teure jenseits der großen Namen?

revolutionärer Zweifel eingeübt werden.

zum

agitatorischen Titel „Rosa Erlösung – Erlöst

Die subversive Tat besteht jedoch auch

Beispiel, der aus Frankreich stammende anti-

euch selbst“ ist seit dem 24. Dezember ab­

darin, dass an der Volksbühne allen umfas-

faschistische Dramatiker, ist verschwunden

rufbar und schießt – na klar – gegen den Feier­

send besprochenen Schwierigkeiten der letz-

von den Bühnen, die ihm im deutschsprachigen

tagswahnsinn oder, um es mit den Worten des

ten Jahre zum Trotz eine spezifische linke

Raum ohnehin schwer zugänglich waren. Umso

Kollektivs zu sagen: gegen die „kleinbürgerliche

Tradition aufrechterhalten werden konnte.

erfreulicher, dass Gattis Stück „Rosa Kollek-

Scheißfamilie“. Mit rot gefärbtem christlichem

Der große Konsolidator Klaus Dörr, noch an-

tiv“ (1973) wieder ins Gedächtnis zurück-

Vokabular entwickeln die Spieler eine Erlösungs­

getreten als rettender Helfer unter Chris

gerufen wird. Ein ebensolches Rosa Kollektiv

poesie. Das ist allerdings keine Bibelstunde,

Dercon, hat eine schwierige Aufgabe, ohne ­

hat sich formiert um den Regisseur Christian

sondern ein trashiger Lektürekurs der Roten

langfristige Planungsmöglichkeiten Theater

Filips und die Autorin Luise Meier, das kämp-

Fahne, eingebettet in eine pandemische Be-

anzubieten und ein Publikum anzuziehen,

ferische Werk an dem Ort zu zeigen, wo es

triebsweihnachtsfeier und proletarisches Krip-

das doch eigentlich nur auf René Pollesch

gespielt gehört: in der Volksbühne Berlin, die

penspiel. Das Credo der Kneipensozialisten

wartet. In dieser Gemengelage passiert wie

ehemals den Hinweis „am Rosa-Luxemburg-

lautet: „Wenn jeder nur so viel trinken würde,

nebenbei das eigentlich spannungsgeladene

Platz“ im Namen trug. Unter dem vielsagen-

wie er selber braucht, um in einen vollständi-

Theater, wenn beispielsweise P14-Veteranen

den Titel „Rosa Kollektiv Oder: Aktiviere dein

gen Rausch zu gelangen, und den Rest der

das Große Haus übernehmen, wie bei Bonn

inneres Proletariat“ nimmt die anarchische

Flasche den anderen ließe, dann wären alle be-

Parks Tschechow-Überschreibung „Drei Mil-

Volksbühnenarbeit ihren Lauf.

trunken.“ Und so steht Folge zwei, nur sechs

liarden Schwestern“ geschehen. Aber auch

In Gattis Stück geht ein Kollektiv der

Minuten kurz, im Zeichen einer postalko-

Filips’ Serienformat, für das die langjährigen

Frage nach, wie man eine Fernsehserie über

holischen Melancholie. Unter dem Namen

Schauspieler des Hauses Margarita Breitkreiz

Rosa Luxemburg machen könnte, die schließ­

„Massenkater (Teaser)“ bereitet das Kollektiv

und Maximilian Brauer vor die Kamera treten,

lich der gegensätzlichen Positionen wegen

mit Rainer Werner Fassbinder auf den Neu-

knüpft an das Volksbühnenprinzip seit 1992

nicht zustande kommt. Nicht ganz unironisch

jahrstag und den obligatorischen Hangover vor.

an. //

kann die Arbeit von Filips coronabedingt nicht

Aber erst in der dritten Folge („Von allen

pünktlich zu Luxemburgs 150. Geburtstag am

guten Massen / verlassen. ,Die Spartakus-

5. März auf die Bühne kommen. Dafür wird

woche‘“) erreicht die Serie eine an der Volks-

nun der Stoff über das gescheiterte Fern-

bühne altbekannte Qualität. Verwirrspiel und

sehspiel als Webserie produziert. Ein interme-

Klamauk bilden nur das Gerüst, um in die Tiefe

diales Vexierbild. Zum Jubiläum ist dann mit

zu gehen. Das gelingt auch deshalb, weil das

Armand

Gatti

(1924–2017)

Erik Zielke

Wie dreht man eine Fernsehserie über Rosa Luxemburg? – Vielleicht so: „Rosa Kollektiv Oder: Aktiviere dein inneres Proletariat“ (hier mit Steve-Leo Mekoudja). Foto Johannes Jost


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/ TdZ  Februar 2021  /

Stimmen aus der Ferne der Zeiten Der Podcast „Lost & Sound“ lädt dank wiedergefundener Magnettonbänder zu einer Reise in das heimlich-­unheimliche Ton- und G ­ eräuscharchiv des Düsseldorfer Schauspielhauses

­­Manche Vorkommnisse aus dem wahren Leben muten an wie ein Märchen. Der Schauspieler André Kaczmarczyk, gar nicht als Schatz­ gräber unterwegs, sondern schlechterdings auf dem Weg zur Theaterprobe, entdeckte eines Novemberabends neben der Bühnenpforte des Düsseldorfer Schauspielhauses, einem notorisch unwirtlichen Ort, in einem Müllcontainer

das tränenreiche Stück dergestalt mit Tempo

entsorgtes Material aus einem vergangenen

aufzuladen, dass die Komödienmechanik der

Jahrhundert. Der zunächst eher neugierige als

Tragödie mit Händen (und Ohren) zu greifen

glückliche Finder kramte ein bisschen in den

war. Den Intriganten Marinelli hatte damals

Abfällen herum, förderte seltsam lange, ver-

ein gewisser Herbert Fritsch gemimt, der nun

worrene Bänder zutage, und siehe da, heraus

im Podcast zugeschaltet wird und, leicht

kam ein kleiner Schatz, der bei näherer Be-

wehmütig, vergangener Zeiten gedenkt.

Proben, Aufführungen, Interviews – Auf den von André Kaczmarczyk und Janine Ortiz entdeckten Bändern befand sich auch die Stimme eines gewissen Herbert Fritsch. Foto Thomas Rabsch

weit entfernt. In einer anderen Podcast-­Folge,

trachtung für den Liebhaber durchaus Gold

Während andere die sonderbar platte

betitelt „Das Intendantenduett“, kommt der

wert war: alte Magnettonbänder, die in digita-

Auffassung vertreten, dass „Klassiker per se

heutige Theaterchef Wilfried Schulz mit seinem

len Zeiten nicht mehr gebraucht wurden; Mit-

sexistisch“ seien, erinnert der kluge Fritsch

altehrwürdigen Vorgänger Karl-Heinz Stroux,

schnitte von Proben, Aufführungen, Matineen,

daran, in welchem Maß und mit welcher Bri-

der von 1955 bis 1972 das Haus leitete, ins

Interviews, ein Ton- und Geräuscharchiv der

sanz alte Stücke Modelle bereitstellen, die

virtuelle Gespräch. Der Rheinländer Stroux

heimlich-unheimlichen Art.

auf einzigartige Art Aufschlüsse bieten über

und der 1952 geborene Berliner Schulz sind

Corona spendete überflüssige Zeit, und

durchaus bis heute nachwirkende Denk- und

sich vom Temperament her unähnlich, auch

einen nicht so kleinen Teil davon verbrachte

Verhaltensmuster. Es wirkt zwar komisch,

natürlich in ihren ästhetischen Vorlieben, gar

Kaczmarczyk damit, nicht etwa alte Auffüh-

wenn man die hastig heruntergespulten Sotti-

nicht so sehr jedoch in ihren Auffassungen

rungen zu streamen, sondern die Bänder ab-

sen und Sentenzen („Auch meine Sinne sind

vom großen Ganzen. Ein Intendant, meint

zuhören und, mit Hilfe der Dramaturgin Jani-

Sinne“) aus der Ferne der Zeiten herüberhal-

„Strouxi“ (so sein Spitzname), wasche wie

ne Ortiz, einen Podcast zu fabrizieren, dem

len hört, aber gerade in dieser Komik liegt

der Papst den Armen beziehungsweise seinen

die beiden den Titel gaben: „Lost & Sound“.

zündende Aufklärung und nicht einfach die

Mitarbeitern die Füße. Allerdings nicht ein-

Folge eins, zwei, drei, vier …, zu hören auf

Überheblichkeit nachgeborener Klugscheißer.

mal im Jahr am Gründonnerstag 15 Minuten

der Website des Schauspielhauses. Manches

Fritsch, der sich lebhaft an die Auffüh-

lang, sondern tagtäglich von morgens bis

davon eher kurios, anderes hoch spannend –

rung und deren Gelingen und Scheitern erin-

wie etwa der Mitschnitt einer „Emilia Galotti“

nert, hat recht, und seine eigenen Regiearbei-

von Anfang der Neunziger, deren Regisseur

ten heute sind in ihrer lustbetonten Dynamik

Werner Schroeter sich vorgenommen hatte,

von Schroeters damaligem Ansatz nicht so

abends. //

Martin Krumbholz

„Lost & Sound“ ist abrufbar unter dhaus.de/blog/ dradio-lost-and-sound/

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magazin

/ TdZ Februar 2021  /

Meine Erinnerung an Herrn Schuch Über den langjährigen Leiter des Henschel Schauspiel Theater­ verlags

Ein Lektor, mit dem man Pferde stehlen konnte – Die beiden Henschel-Geschäftsführer Wolfgang Schuch (vorn, 1936–2020) und Andreas Leusink im Jahr 1993.

Zum Henschelverlag und auf Herrn Schuch

und redeten. Und tranken zu Currywurst und

bin ich gestoßen, als ich, nach einer Fürspra-

Kartoffelsalat und nach dem Essen weiter Bier

che Paul Dessaus, wieder zur Arbeit im Thea-

und Korn und Bier und Korn. Schließlich lan-

ter zugelassen wurde. Stücke von Shakes-

deten wir, schon einigermaßen schräg, bei mir

peare, Jonson, Molière habe ich für meine

zu Hause auf dem Prenzlauer Berg bei meiner

Inszenierungen neu übersetzt. Schuch, der

überraschten Frau, um unsere beiden Katzen

den Bühnenvertrieb leitete, war ganz vorur-

zu besichtigen: Kasimir war ein schwarz-weiß

teilslos gegenüber meiner Vorgeschichte. Und

­gefleckter deutscher Hauskater, die schwarze

ihrer Leiterin Birgit Breuel, die Anstalt, offizi-

das in einem Parteiverlag! Denn die Nach-

Katze hieß, weil sie gern unseren langen

eller Titel Treuhand, die die DDR-Wirtschaft

kriegsgründung durch den alten Volksbüh-

schmalen Korridor entlang galoppierte, dab

nach dem Wienerwald-Vorbild für den West-

nenmann Bruno Henschel war 1952 ins Ei-

dadadab dadadab dadadab dadadahdah –

verzehr gebräunt hat. Schon die erste große

gentum der SED übergegangen, aus der ich ja

­Bonanza. Was ihn sehr amüsierte.

Bräunung aus Braunau in Österreich war

Foto Gisela Harich-Hamburger

Als die Muh, als die Mäh, als die

über die Einbürgerung in Braunschweig

Immer habe ich von Herrn Schuch ge-

DeDeRrrtätä ausgehaucht hatte, gründeten ­

­hergelangt. Der Duden schreibt Broiler. Wir

sprochen – auch noch als wir uns geduzt

wir, die Autoren und Übersetzer, im Mai 1990

sagten Bräuler, weil die Hähnchen ja ge-

­haben. Denn sein Habitus war durchaus bür-

den Bühnenverlag Henschel Schauspiel –

bräunt wurden.

gerlich. Nicht spießig und nicht herrschaft-

­heraus aus dem parteieigenen großen Hen-

Zu Beginn des neuen Jahrtausends

lich, sondern pragmatisch. Er war durch und

schel Verlag Kunst und Gesellschaft. Wolf-

ging Herr Schuch in Pension. Der neue

durch ein Pragmatiker, und er hatte nicht die

gang Schuch und Andreas Leusink wurden

Bühnen­ verlag war mit seiner und Andreas

landesübliche Verkrampfung des Verhaltens,

von uns mit der Geschäftsführung betraut.

Leusinks unermüdlichen Arbeit zu einer statt-

wie Ideologie sie erzeugt hat. Dazu kam, dass

Wir waren damals nicht sehr optimistisch.

lichen Institution gewachsen. Schuch wohnte

ein katalanischer Autor, der die Zischlaute

Aber dickköpfig waren wir, und durchaus

nun auf dem Lande. Seine Adresse Havelaue

des N ­ amens Schuch nicht zu sprechen ver-

hartnäckig. Vorbild war der Frankfurter Verlag

war eine zutreffende Bezeichnung: ein Haus

mochte, ihn Señor Skuk nannte. Was schnell

der Autoren, in den 68er Jahren aus dem

und weite Wiesen an der Havel. Dort haben

zum geläufigen nickname geworden ist.

Suhrkamp-Imperium heraus gegründet. Mot-

wir ihn noch, an einem runden Geburtstag,

nun ausgeschlossen war.

Man konnte mit Schuch Pferde steh-

to: Der Verlag der Autoren gehört den Autoren

besucht und im Garten gesessen und ge­

len und Bier trinken. Einmal sind wir vom

des Verlages. Tatsächlich hatten wir nach der

trunken.

alten Henschelverlag in der Oranienburger

Bewältigung der juristischen Hürden der

Niemand ist tot, solange man sich an

Straße in den nur fünf Minuten entfernten

Gründung Probleme über Probleme mit dem

ihn erinnert. Und Herr Schuch hat so viel ge-

Nordbahnkeller gegangen, wo ich früher, als

Broiler. Das Wort hat in der DDR zum Verzehr

tan für die Theater und für die Autoren der

Junggeselle mit einem Zimmer in der

bestimmte Brathähnchen bezeichnet, wie sie

Theater und für die Übersetzer der Autoren:

Gartenstraße, immer essen gegangen war: ­

im Westen die Wienerwald-Kette produzierte.

Da ist kein Mangel an Erinnerung. //

Currywurst mit Kartoffelsalat. Wir saßen lang

Und Broiler nannten wir, nach dem Namen

B. K. Tragelehn


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/ TdZ  Februar 2021  /

Der Nebenrollenmeister In Gedenken an den Schauspieler Harald Warmbrunn

Er erschien in verschlissener Arbeiterkleidung

­Kresnik lud ihn in sein Al-

mit einem großen Stapel Teller vor dem Leib,

terskünstlerheim „Villa Ver-

nahm den obersten davon und zerhackte

di“ ein. Alles große Volks­

­damit von oben nach unten alle anderen, wo-

bühnenlegenden.

bei der zuschlagende Teller bis zur letzten

Warmbrunn brachte

Scherbe auf wundersame Weise ganz blieb.

Erfahrungen aus einer an-

War diese letzte Scherbe endlich zu Boden

deren Ära mit, denn bereits

gefallen, sprach er mit seiner dunkel kehli-

1967 war der Berliner

gen Stimme: „Was für schönes Haar ihr

nach einem Schauspiel­

habt!“ Black!

studium in Dresden und

An die hundert Mal beendete Harald

fünf Jahren in Karl-Marx-

Warmbrunn so Frank Castorfs legendäre In-

Stadt an die Volksbühne

szenierung „Das trunkene Schiff“ aus dem

ge­kommen, wo er in einer

Jahr 1988, Paul Zechs szenische Ballade

anderen legendären Ära in

über Arthur Rimbaud, mit der Castorf zu-

Inszenierungen von Benno

gleich das Leben von Jim Morrison skizzierte.

Besson, Fritz Marquardt und

Bei der Premiere im 3. Stock der Berliner

Manfred Karge / Matthias

Volksbühne hatte noch der bald in den Wes-

Langhoff zum Nebenrollen-

ten ausgereiste Michael Lucke die Rolle des

meister

Labatut gespielt, doch nach ein paar Vor­

Qualität hatte Castorf bis

stellungen übernahm Warmbrunn und wollte

zum Schluss im Auge und

später, nach der Wiederaufnahme des Stücks

besetzte

1995, gar nicht mehr davon lassen. Immer

„Baumeister Solness“ als den gealterten

Unterhalter steckt bereits der Kipppunkt des

wieder habe er den Intendanten zu weiteren

Architektenassistenten Knut Brovik. Warm­

ganzen Films, denn Benno verkörpert all das,

Wiederaufnahmen überreden wollen, nicht

brunn stand mit dieser Rolle in den letzten

wovon die junge Sängerin Sunny sich befrei-

nur wegen der imposanten Tellernummer,

Stunden der Castorf-Ära im Sommer 2017

en möchte. Mit der Melancholie der Nach-

sondern weil er die Inszenierung für eine von

auf der Bühne. Für ihn endete damit zugleich

wende-Tristesse gestaltete Warmbrunn die

Castorfs besten und wichtigsten hielt.

ein halbes Jahrhundert an der Volksbühne,

Figur des Jürgen, eines Kollegen von Horst

Tatsächlich gehörte der Schauspieler

wo er sich in den 1980er Jahren auch als

Krause, in „Schultze gets the blues“ (2003),

mit der Statur eines Holzfällers zum engeren

Regisseur versucht hatte, etwa mit der ­

Michael Schorrs stillem Arthouse-Film voller

Zirkel der Großbande Volksbühne. Schon bei

Sowjetsatire „Garage“ von Emil Braginskij ­

Zydeco-Musik, der viel internationale Beach-

den „Räubern“ (1990) war er dabei, dann

und Eldar Rjasanow, die Warmbrunns F ­ aible

tung erhielt. Wegen des besonderen Timbres

bei Castorfs „Lear“, mit dem dieser seine

fürs Komödiantische verriet.

seiner tiefen Stimme war Harald Warmbrunn

ausreifte.

Diese

Warmbrunn

Gehörte lange zum engeren Zirkel der Groß­bande Volks­ bühne – Harald Warmbrunn (1933–2020), hier in dem Film „Wir sagen Du, Schatz“ (2007, Regie Marc Meyer). Foto miko-film

in

Intendanz 1992 eröffnete, sowie dessen ­

Beim Film trat Warmbrunn ebenfalls

auch im Hörspiel gefragt, so zum Beispiel als

­wilden „Nibelungen“. Er spielte in „Des Teu-

oft in markanten Nebenrollen auf. Am schöns-

Stimme des rumänisch-französischen Philo-

fels ­ General“ und in Castorfs Tschechow-

ten sein Conférencier Benno in Konrad Wolfs

sophen E. M. Cioran in Kai Grehns Hörstück

Comeback „Nach Moskau! Nach Moskau!“

„Solo Sunny“, der jeden Abend denselben

„Vom Nachteil, geboren zu sein“ (2013).

(2010). Herbert Fritsch engagierte den

Witz (über Schuhe) erzählt, um dann mit

Harald Warmbrunn starb am 18. Dezem-

Schauspieler mit dem polternden Gelächter

­großer Geste die Band anzukündigen: „Haut

ber 2020 im Alter von 87 Jahren in ­Berlin. //

für seine „(S)panische Fliege“, Johann

rein, Jungs!“ In dem windig abgedroschenen

Thomas Irmer

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/ TdZ Februar 2021  /

Beschreibt mit wunderbarer Präzision ihr Werden zwischen den Welten – die französische Schriftstellerin Annie Ernaux. Foto Oliver Roller / Suhrkamp Verlag

Die katholische Schule, die hauptsächlich von

bürgerlichen

Schülerinnen

besucht

­wurde, belohnte hingegen korrektes und sittliches Verhalten. Ernaux’ akademische Erfolge entfalteten sich in einer vom Glauben und sozialen Hierarchien strukturierten Umgebung. Das Zusammenstürzen der familiären und akademischen Sphäre beschreibt die ­Autorin an einem einschneidenden Erlebnis, das die Scham fortsetzte. Eines Abends brachte ihre Lehrerin sie und ihre Mitschülerinnen nach einem Ausflug zurück zum elterlichen Heim. Ernaux’ Mutter öffnete die Tür ohne Morgenmantel in einem schmutzigen Nachthemd. Die Bloßstellung ihres häuslichen ­Lebens befleckt ihr akademisches Streben. Nach den exakten Worten der Zeit suchend rekonstruiert die Autorin die Verhaltensregeln ihrer Lebenswelten. Auf ihr kind­ liches Ich schaut sie mit Befremden. Was sie in klarer Sprache zu fassen weiß, ist die Scham, die sie ohne Sentimentalität präsent

Ethnologin der Scham

zu bringen, ist für sie ein Akt der Distanzie-

macht. Der neu erschienene Band ergänzt

rung. Der Gewaltakt gehört nun den Leserin-

das autofiktionale Werk Ernaux’, in dem sie in

Ein Ereignis zerteilt den Sommer eines jungen

nen. In der externalisierenden Geste teilt sie

einem emanzipatorischen Akt mit wunder­

Mädchens. Am 15. Juni 1952 versucht der

auch die Scham, die seitdem in ihr Leben

barer Präzision ihr Werden zwischen den Wel-

Vater von Annie Ernaux ihre Mutter umzubrin-

gedrungen ist. Das Gefühl der Unwürdigkeit

ten beschreibt. //

gen. Von dieser Zäsur ausgehend entwickelt

stellt sich im Zusammenprall der Verhaltens-

die Autorin eine Topografie der ausgesproche-

regeln in ihrem familiären Umfeld und der

nen und unausgesprochenen Regeln, die ihr

katholischen Schule her, die sie besucht.

Lara Wenzel

In der Zeitkapsel Osteuropas

Aufwachsen in einer französischen Kleinstadt

Soziologisch seziert sie den Habitus

prägten. Mit Fotos, Zeitungsartikeln und popu-

der getrennten Welten. Die Arbeiterinnen­

Allein Europas Osten genau zu definieren, ist

lären Liedern der Zeit erinnert sich Ernaux an

familie führte einen Laden mit angeschlosse-

kein leichtes Unterfangen. Dessen vielfältige

das Mädchen, das sie damals war.

ner Kneipe, der den Raum des kleinen Hau-

Theaterlandschaften umfassend zu kartogra-

Bereits 1997 erschien „Die Scham“ in

ses nahezu vollkommen einnahm. Für ihre

fieren, noch viel weniger. Das Buch des Leip-

Frankreich. Die 23 Jahre später im Suhrkamp

Schularbeiten saß die kleine Annie auf der

ziger Dramaturgen und Theaterwissenschaft-

Verlag veröffentlichte Übersetzung ergänzt

Treppe, nachts schlief sie im selben Zimmer

lers Wolfgang Kröplin „versteht sich als ein

das autobiografische Werk Ernaux’ zu ihrem

wie die Eltern. Das Leben war von Gesten

Beitrag zu dieser neuen Geschichtsschrei-

80. Geburtstag. Wie in ihren vorangegan­

nachlässiger Effizienz geprägt. Teller wurden

bung im Bereich der Theaterkulturen. Sie

genen Erinnerungsarbeiten rekonstruiert die

sauber geleckt, Kaninchen rasch und ohne

fasst den geokulturellen Raum vom Baltikum

Autorin das Milieu ihrer Kindheit als Ethnolo-

Reue getötet und der ländliche Dialekt Patois

bis zum Balkan und dem Kaukasuskamm so-

gin ihrer selbst. Dabei ist das einschneidende

gesprochen, weil es so schneller gehen sollte.

wie vom Fichtelgebirge bis zum Ural als zu-

Erlebnis, der versuchte Mord, kein Anlass zur

sammenhängende Geschichtsregion ins Auge

psychologisierenden Analyse.

und versucht, dem wirklichen Spiel von Licht

„An einem Junisonntag am frühen

und Schatten in seinen theatralen Aktivitäten

Nachmittag wollte mein Vater meine Mutter

und seinem Theater auf die Spur zu kom-

umbringen.“ In dem drastischen ersten Satz benennt sie sachlich die Szene, um die sich ein Sommer im Nachkriegsfrankreich kristallisiert. Darin das Unaussprechliche zu Papier

Annie Ernaux: Die Scham. Bibliothek Suhrkamp, Berlin 2020, 110 S., 18 EUR.

men.“ Etwas prosaischer gesagt geht es um die Region im früheren Einflussbereich der Sowjetunion nach dem Zweiten Weltkrieg plus Jugoslawien – vor beider Zerfall.


magazin

/ TdZ  Februar 2021  /

Mit Überblickskapiteln zu Themen wie „ver-

Wolfgang Kröplin: SpielZeiten und Spiel-Räume des Theaters in Europas Osten. Königshausen & Neumann, Würzburg 2020, 444 S., 58 EUR.

spätete Nationaltheater“, Situationen der Mehrsprachigkeit und „Spuren ostjüdischer Kultur“ versucht Kröplin, eine allgemeinere Spezifik des osteuropäischen Theaters herauszuarbeiten, die zugleich wieder in die Besonderheiten einer nationalen Theaterkultur eingebettet ist. Das wird jeweils unter den

„Maler und Modell“ hieß die Ausstellung, so heißt das Buch. Metzkes zeigt nackte Frauen, Paare, Gegenden aus Tisch und Stuhl, Strand und Bett, mit Katze und Kaffee­maschine – Ewigkeit hat Zeit, sie kommt in unseren Tag, sie nimmt Zwischenaufenthalte in unseren Körpern. Metzkes setzt mit seinen Modellen das Mütterliche in die Mitte, das Leibliche souve-

Bedingungen sozialistischer Kulturpolitik mit

mit diese gleichzeitig auch für ein heutiges

rän in die Vordergründe, die Lust und die Sor-

ihren sich durch Länder und Zeiten abwech-

Publikum viel besser vermittelbar wären. Wie

ge vereinen ihre Energien zur Balance. Ein

selnden Liberalisierungs- und Verhärtungs-

versiegelt steckt Kröplin indes in seiner Zeit-

Gleichgewicht, das den Schmerz und die

phasen untersucht, wobei alles in einer Art

kapsel und verschenkt damit die Möglichkeit,

Schönheit streiten lässt – feuerfarbig, meeres-

Vogelperspektive bleibt, die eine einzelne,

seine zweifellos wichtigen Befunde für die

grün, erfahrungsdunkel. Räkeln und Ruhe.

beispielhafte Inszenierung und ihre womög-

Gegenwart zu öffnen. //

Thomas Irmer

ins Bild nimmt. Obwohl der methodische An-

Gero Troike zeigt uns Interieurs als Bühnenbilder einer irrlichternden Szenerie,

lich bedeutenden Folgen schon nicht mehr

die an Heinrich von Kleists Marionetten, an

satz einer Osteuropa-Komparatistik des Thea-

Draußengrün und Binnenwelt

ters begrüßenswert ist, fällt der Überblick in

Haben wir Augen, so haben wir das Geschenk

Werkstätten eines Theaters denken lässt.

der Substanz doch recht dürftig aus.

der Welt gesehen: die Ankunft der Farben.

Über den Gemälden liegt gern ein dämmriger

2013 hatte Kröplin in zwei Bänden

Wer sich in Bilder versenkt, der weiß auftau-

Schleier, eine hauchdünne neblige Schicht:

„Bilder und Befunde vom mittelosteuropäi-

chend: Das Wichtige hat stattgefunden – Wir-

Die Unschärfe siegt über die Kontur – wir

schen Theater“ im gleichen Verlag vorgelegt,

kung, nicht Wissen. Die Maler Harald Metz-

existieren im Verschwommenen. Die Motive,

mit denen er sich in die osteuropäische Thea-

kes und Gero Troike stellten Ende des

die Troike abtastet, sind übersichtlich; der

terwelt der siebziger und achtziger Jahre des

vergangenen Jahres gemeinsam im nordrhein-

Rahmen, den er absteckt, wagt sich nicht an

vergangenen Jahrhunderts begab. Moskau und

westfälischen Soest aus; ein Buch hält die

gewaltige Horizonte – aber sieh nur, wie Kiste

Leningrad, Budapest und Warschau, Prag und

Exposition präsent. Es ist Bildkunst, in der

und Kugel, Hobel und Sägeblatt, Holzwürfel

Sofia, das waren die Theaterhauptstädte jener

das Dasein kein Splitterwerk aus Überstür-

und Vase den Gedanken des Betrachters

1989/90 endenden Epoche, in der die meis-

zung ist. Beide Maler sind Mählichkeits­

­lösen! Nämlich jenen so einfachen Gedanken

ten Theater als Staatsbetriebe geführt und ver-

virtuosen. Sie entdecken in dem, was ist, das

daran, dass die Stille der letzte Anarchist ist.

sorgt wurden, dafür aber – je nach Lage und

nicht Erwartete. Die beiden Künstler ruhen

Die Stille, bevor die Arbeit beginnt – das

Bedeutung – mehr oder weniger Aufsicht und

im Erdigen, diese Kraft lässt ihre Farben nie

­Malen, das Tischlern, das Sinnen vor offenem

Auftrag erdulden mussten. Der Staatssozialis-

ins Nervöse, Unruhige kippen.

Fenster. Troike, der Theatermann, ist malend

E. T. A. Hoffmann, an den Fundus, an die

mus wollte die Theater, ob an der Moldau,

Troike, 1945 geboren, war viele Jahre

ein Regisseur des Ausschnitts. Das bringt die

­Donau oder Newa, in die Pflicht nehmen. Viele

einer der bedeutendsten Bühnenbildner der

Dinge – hervor. Erhebt sie zu tätigen Wesen,

selbstbewusste Künstler sahen das eher an-

DDR. Sein Name ist mit den großen Berliner

die somit auf ihre Weise erzählen, dass nichts

ders herum und wollten, wie Kröplin damals

Volksbühnen-Inszenierungen

Manfred

je an sein Ende kommt. Es weht eine „zer-

mit vielen Beispielen erhellend zeigte, diesen

Karge / Matthias Langhoff, Alexander Lang,

brechliche Anmutung“ herüber, schreibt die

Teil der damaligen Weltordnung kritischer,

Thomas Langhoff und Jürgen Gosch verbun-

Kunsthistorikerin Dorit Litt im Begleitessay.

­visionärer oder eben einfach in seinen Wider-

den. Er ging 1984 in den Westen, lebt im

Malerei, die einen Grundzug von Thea-

sprüchen zeigen. Aus einer solchen Gemenge-

Sauerland, in einem Forsthaus. Die gemein-

ter aufruft: die Verbindung von robustem

lage konnte aus den einzeln fortwirkenden

same Exposition führt ihn mit dem 91-jäh­

Handwerk auf knarrenden Böden, das sich in

Traditionen großes Theater entstehen.

rigen Metzkes zusammen, den er – als

luftiges Schweben verwandelt; der Mensch als

Der Folgeband will diese Befunde auf

Kascheur – 1970 an der Volksbühne ken­­ ­

Modell und Material – das verzaubert. In Troi-

ein höheres Reflexionsniveau heben, was

nengelernt hatte. Benno Besson inszenierte

kes „Triptychon Atelier – morgens, am Tag,

letztlich auch daran scheitert, dass Kröplin

Molière, Metzkes schuf das Bühnenbild. Jetzt

abends“ spiegelt sich im geöffneten Fenster

eine von heute ausgehende Bewertung und

also: späte Wiederbegegnung zweier Theater-

das Draußengrün. Auf einem Stuhl steht eine

Einordnung, die man dreißig Jahre nach dem

leute, die von ihrer eigenen Bühne auf die

leere Vase: Sie besitzt Präsenz auch ohne Blu-

Ende der besprochenen Epoche zumindest

Welt blicken.

men – nichts auf dieser Welt ist nur Mittel zum

von

erwartet hätte, gar nicht erst durchführt. Ebenso hätte man sich – wenigstens in Grundzügen – eine Berücksichtigung der nachfolgenden Entwicklungen des Theaters gewünscht. So könnte beispielsweise ein Jan Klata gerade aus den Traditionen des polnischen Theaters heraus erklärt werden, die Kröplin so eifrig nachzuzeichnen sucht, wo-

Zweck. Auf Metzkes’ Bild „Modellpause“ sitzt Harald Metzkes, Gero Troike: Maler und Modell. Bilder und Texte. Hg. von Dorit Litt, Kunstverein Soest. Pigmentar Verlag, Bad Sassendorf 2020. 68 S., 20 EUR.

die Nackte auf dem Boden, erholt sich von der starren Haltung, die das Gemaltwerden fordert; ein leichter Wind bewegt einen Vorhang so, dass Helle hereinweht, und die Gardine tanzt eine Gelöstheit vor, für die der Mensch die Kunst erfinden musste, um sie für lebbar zu halten. //

Hans-Dieter Schütt

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aktuell

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Kathrin Mädler. Foto privat

Meldungen

/ TdZ Februar 2021  /

das Theater in einer Pressemitteilung be-

Marie Arioli am Theater Kanton Zürich (TZ)

kannt. Die Sparte erhält damit erstmalig

wurde vom Vorstand der Genossenschaft um

eine eigene Leitung. Derzeit läuft außerdem

weitere vier Spielzeiten bis Ende der Spielzeit

die Sanierung des Mainfranken Theaters,

2025/26 verlängert. „Wir freuen uns, die er-

der Spielbetrieb wurde aufgrund der Corona-­

folgreiche Arbeit des TZ mit dem ganzen

Pandemie eingestellt. In der Spielzeit 2022/23

Team weiterführen und ausbauen zu dürfen.

soll das Haus dann als Staatstheater wieder-

In den letzten zehn Jahren haben wir es ge-

eröffnet werden.

schafft, in den Gemeinden ein treues und zugewandtes Publikum aufzubauen, das die

■ Mit der Spielzeit 2022/23 wird Grete ­Pagan

Leistungen des TZ und seines Ensembles

als neue Intendantin des Jungen ­Ensembles

­außerordentlich schätzt“, äußern sich Burbach

Stuttgart (JES) als Nachfolgerin von Brigitte

und Arioli zu ihrer Verlängerung.

Dethier antreten. Dies teilte das JES in einer Pressemeldung mit. Das JES wurde seit seiner

■ Der Schriftsteller und Dramatiker Lukas

Gründung 2004 von Dethier geleitet, sie wird

Bärfuss übernimmt im Frühjahrssemester

künftig als freie Regisseurin arbeiten. Pagan ist

2021 die Friedrich-Dürrenmatt-Gastprofessur

gebürtige Stuttgarterin und dem Ensemble seit

für Weltliteratur am Walter Benjamin Kolleg

vielen Jahren künstlerisch verbunden. Seit

der Universität Bern. Als öffentlicher Intellek-

2012 ist Pagan als freischaffende Regisseurin

tueller scheue sich Bärfuss nicht, sich kontro-

■ Die derzeitige Intendantin des Landesthea-

im Kinder- und Jugendtheaterbereich tätig.

vers zu aktuellen politischen Themen zu Wort

ters Schwaben, Kathrin Mädler, wird ab der

Sie inszenierte bislang u. a. an der Schauburg

zu melden, schreibt die Universität Bern in

Spielzeit 2022/23 das Theater Oberhausen

München, am Jungen Nationaltheater Mann-

einer Mitteilung. Dies sei „durchaus in der

leiten. Sie folgt damit auf Florian Fiedler. Für

heim, am Grips-Theater in Berlin, an den Jun-

Tradition Dürrenmatts“, heißt es weiter. Die

das Landestheater kam der Wechsel über­

gen Schauspielhäusern in Düsseldorf und

Vorlesungsreihe mit dem Titel „Wahnsinnige

raschend, da Mädler ihren Vertrag erst im Juli

Hamburg, an den Landesbühnen in Tübingen

und Idioten“ startet Anfang März 2021 mit

2020 für fünf weitere Jahre verlängert hatte.

und Esslingen und immer wieder auch am JES.

einer Rede über „Eine kleine Geschichte des Wahnsinns“ und einem Gespräch mit dem

Mädler leitet das Landestheater in Memmingen seit 2016 und verschaffte dem Haus

■ Der Dramaturg und Festivalkurator Kilian

überregionale Aufmerksamkeit. „Das Landes-

Engels soll ab der Spielzeit 2021/22 neuer

theater Schwaben ist für mein Team und

Kurator der Wiesbadener Biennale werden. Er

■ Der österreichische Schauspieler Tobias

mich ein wunderbares künstlerisches Zuhau-

tritt somit die Nachfolge von Maria Magda­

Moretti soll am 28. August 2021 im Opern-

se“, äußert sich die scheidende Intendantin.

lena Ludewig und Martin Hammer an. Ludewig

haus Bonn mit dem Europäischen Kulturpreis

„Es wird sehr schwerfallen, dieses Theater

war Silvester 2018 tödlich verunglückt.

2021 geehrt werden. Moretti „ist ein außer­

mit seinem hervorragenden Mitarbeiter*innen

Gemeinsam mit Theaterintendant Uwe Eric ­

gewöhnlicher Akteur, ein Grenzgänger zwi-

zu verlassen. Ich sehe der Herausforderung,

­Laufenberg wird Engels die nächste Ausgabe

schen den Welten des Kinos, des Fernsehens

das Theater Oberhausen zu leiten, aber natür-

des Festivals realisieren. Wie die FAZ ver­

und des Theaters“, so Bernhard Reeder,

lich mit größter Freude entgegen.“

meldet, gehe es Engels dabei „um Theater im

Vorstand des Europäischen Kulturforums, ­

weitesten Sinn als postdigitale Kunstform in

das den Preis seit 2012 alle zwei Jahre an

einer postpandemischen Welt“.

Künstler, Kulturschaffende, Institutionen und

■ Barbara Bily, derzeit leitende Schauspiel-

­Literaturwissenschaftler Oliver Lubrich.

­Persönlichkeiten aus Politik, Wirtschaft und

dramaturgin am Theater Münster, wird mit der Spielzeit 2021/22 Schauspieldirektorin

■ Die Intendanz von Rüdiger Burbach und

Medien für „Leistungen von herausragender

am Mainfranken Theater Würzburg. Dies gab

die Position der Leitenden Dramaturgin Ann-­

europäischer Bedeutung“ verleiht.

02 / 2021 geplant:

EMI MIYOSHI InfOS & UpdatES auf theater–roxy.ch


meldungen

/ TdZ  Februar 2021  /

■ Für sein Stück „Lohn der Nacht“ erhält der

Aufgrund der ungewissen Situation angesichts der Maßnahmen zur Eindämmung der Corona-Pandemie kann in dieser Ausgabe kein Premierenkalender erscheinen. Täglich aktuelle Premierendaten finden Sie unter www.theaterderzeit.de.

Wiener Autor Bernhard Studlar den von der österreichischen Theaterallianz ausgelobten ­ Autor*innenpreis 2020.

Der

Autor*innen­

wettb­ewerb der Theaterallianz wurde bereits zum dritten Mal ausgeschrieben und ist mit

gar kurzzeitig in zwölf europäischen Sprachen. Liehm erhielt 1997 den Leipziger Buchpreis zur Europäischen Verständigung sowie 2015 die tschechische Verdienst­medaille.

■ Der Soundkünstler Jeff McGrory ist am

9500 Euro dotiert. Das Gewinnerstück wird

29. Dezember 2020 in Berlin nach langjähri-

vom Theater Kosmos in Koproduktion mit den

ger Krebserkrankung im Alter von 55 Jahren

Bregenzer Festspielen im Sommer 2021 ur-

verloren haben oder vor dem wirtschaftlichen

gestorben. McGrory wurde 1965 in Salisbury/

aufgeführt.

Aus stehen. Bisher kamen über die Spenden-

England geboren, spielte in zahlreichen

aktion 750 000 Euro zusammen. So können

Bands und war Sounddesigner des deutsch-

■ Die Gewinnerstücke der Autorentheatertage

sich ab sofort Soloselbständige, die von den

britischen Performance-Kollektivs Gob Squad.

2021 stehen fest. Aus insgesamt 212 ein­

Corona-Maßnahmen in der K ­ ultur- und Veran-

Zuletzt erarbeitete er mit Sebastian Bark

gesandten Theatertexten hat die Jury drei

staltungsbranche betroffen sind, unter elinor.

das Sounddesign für „Before Your Very Eyes“

Arbeiten gewählt. Prämiert werden: „White ­

network/backstagehelden für eine Soforthilfe in

(2011) und „Creation (Pictures for Dorian)“

Passing“ von Sarah Kilter, „Ich, Wunderwerk

Höhe von bis zu 1000 Euro bewerben.

(2018). Auch für einige Arbeiten von She She

und how much I love Disturbing Content“ von Nothing Left to Burn You Have to Set Yourself on Fire“ von Chris Michalski. Da­rüber hinaus wurde „Peeling Oranges“ von Patty Kim Hamilton speziell erwähnt. Gemeinsam mit ­ den beiden Kooperationspartnern, dem Schauspielhaus Graz und dem Schauspiel Leipzig, bringt das Deutsche ­Theater Berlin die drei prämierten Stücke am 12. Juni 2021 im Rahmen einer „Langen Nacht der Autor_innen“ zur Uraufführung. Das Stück von Patty Kim Hamilton wird dem Festivalpublikum während der Autoren­theatertage 2021 in ei-

Pop entwarf McGrory den Sound wie zuletzt Antonín Jaroslav Liehm. Foto Lettre International

Amanda Lasker-Berlin und „When There’s

für die Produktion „Kanon“ (2019).

■ Wie der Verlag der Autoren mitteilte, ist der Übersetzer und Dramaturg Heiner Gimmler am 1. Januar 2021 im Alter von 80 Jahren in Berlin verstorben. Bekannt war Gimmler vor allem für seine Übersetzungen der skandi­ navischen Dramatik, wie der Werke Henrik Ibsens oder August Strindbergs. Seine Übersetzungen liefern die Grundlagen der meistgespielten Inszenierungen im deutschsprachigen Raum. Ein Sammelband mit seiner Übersetzung

der

Ibsen-Dramen

erschien

2006 im Verlag der Autoren.

ner szenischen Lesung vorgestellt. In der Jury saßen der Schriftsteller Lukas Bärfuss (Jurysprecher), die Theater- und Filmschauspielerin Fritzi Haberlandt und der Musiker und

■ Der Autor und Gründer der europäischen

Theatermacher Schorsch Kamerun.

Kulturzeitschrift Lettre International, Antonín Jaroslav Liehm, ist am 4. Dezember 2020 im

■ Anfang Dezember 2020 rief das Magazin

Alter von 96 Jahren in seiner Heimatstadt Prag

Stern gemeinsam mit zahlreichen prominenten

gestorben. Liehm gründete Lettre 1984 in Pa-

Unterstützer*innen über die Aktion Backstage-

ris mit der Idee, dass die Intellektuellen aller

TdZ ONLINE EXTRA

Helden zu Spenden für Kulturschaffende hinter

Länder sich gegenseitig über Debatten und

der Bühne auf. Ziel war es, jene zu unterstüt-

Diskurse austauschen und informieren kön-

Täglich neue Meldungen finden Sie unter www.theaterderzeit.de

zen, die durch die Corona-Pandemie ihre Arbeit

nen. Die Zeitschrift erschien international, so-

www

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Theater der Zeit Buchverlag Neuerscheinungen

Buchverlag Neuerscheinungen

Klassengesellschaft reloaded Marx zufolge ist die menschliche Geschichte Fortschritt, der durch Klassenkämpfe vorangetrieben wird. In den Stücken Heiner Müllers verhält es sich fast umgekehrt: Die sich verschärfenden Klassenverhältnisse sind hier ein Motor des möglichen Untergangs der Menschheit. Im 21. Jahrhundert ist der Zusammenhang von Klassenverhältnissen und einer umfassenden Selbstzerstörungstendenz der global kapitalisierten Menschheit aktueller denn je. „Klassengesellschaft reloaded“ lotet diese beiden Komplexe – Klassismuskritik und Gattungssuizid – sowie ihr Verhältnis zueinander im Kontext des Werkes von Heiner Müller aus. Der Band geht auf eine Tagung zurück, die 2019 von der Internationalen Heiner Müller Gesellschaft im Literaturforum im Brecht-Haus in Berlin ausgerichtet wurde, und dokumentiert Vorträge, Gespräche und Diskussionen. Recherchen 154 Klassengesellschaft reloaded und das Ende der menschlichen Gattung Fragen an Heiner Müller Herausgegeben von Falk Strehlow und Wolfram Ette Paperback mit 220 Seiten ISBN 978-3-95749-235-7 EUR 16,00 (print) / EUR 12,99 (digital)

Heiner Goebbels – Texte zum Theater Der international renommierte und vielfach ausgezeichnete Komponist und Theatermacher Heiner Goebbels ist ein Grenzgänger zwischen den Künsten. Er hat seine künstlerische Arbeit und die zeitgenössische Theaterpraxis immer auch theoretisch reflektiert. Theater ist für ihn ein komplexes Wechselspiel zwischen der Polyphonie von Klang, Licht, Raum und der Wahrnehmung der Zuschauer. An die Stelle von Repräsentation tritt das Spiel mit der Abwesenheit – von Figur, dramatischer Handlung und des Schauspielers im Zentrum der Aufmerksamkeit. Es ist diese Abwesenheit, die der Imagination des Zuschauers einen Spielraum eröffnet und eine ästhetische Erfahrung ermöglicht. „Ästhetik der Abwesenheit“ liegt nun in einer erweiterten Neuausgabe vor und versammelt die wichtigsten Schriften und Vorträge von Heiner Goebbels aus den letzten zwanzig Jahren. Recherchen 160 Heiner Goebbels Ästhetik der Abwesenheit Paperback mit 236 Seiten ISBN 978-3-95749-325-5 EUR 18,00 (print) / EUR 14,99 (digital)

Erhältlich in der Theaterbuchhandlung Einar & Bert oder portofrei unter www.theaterderzeit.de


impressum/vorschau

Margarete Affenzeller, Theaterredakteurin, Wien Bodo Blitz, Kritiker, Freiburg Daniela Dröscher, Schriftstellerin, Berlin Jens Fischer, Journalist, Bremen Fritz Göttler, Filmautor, München Ralph Hammerthaler, Schriftsteller, Berlin Björn Hayer, Kritiker, Lehmberg (Pfalz) Thomas Irmer, freier Autor, Berlin Alexander Kluge, Filmemacher, Schriftsteller und Rechtsanwalt, München Martin Krumbholz, freier Autor und Theaterkritiker, Düsseldorf Christoph Leibold, freier Hörfunkredakteur und Kritiker, München Sabine Leucht, Journalistin und Theaterkritikerin, München Tom Mustroph, freier Autor, Berlin Hans-Dieter Schütt, Journalist und Kritiker, Berlin Theresa Schütz, freie Autorin und Theaterwissenschaftlerin, Berlin Chen Tian, Theaterwissenschaftlerin, Nanjing B. K. Tragelehn, Theaterregisseur und Schriftsteller, Berlin Lara Wenzel, freie Autorin, Leipzig Sascha Westphal, freier Film- und Theaterkritiker, Dortmund Patrick Wildermann, freier Kulturjournalist, Berlin Erik Zielke, Lektor, Berlin

TdZ ONLINE EXTRA Viten, Porträtfotos und Bibliografien unserer Autorinnen und Autoren finden Sie unter www.theaterderzeit.de/2021/02

www

IMPRESSUM Theater der Zeit Die Zeitschrift für Theater und Politik 1946 gegründet von Fritz Erpenbeck und Bruno Henschel 1993 neubegründet von Friedrich Dieckmann, Martin Linzer, Harald Müller und Frank Raddatz Herausgeber Harald Müller Chefredaktion Dorte Lena Eilers (V.i.S.d.P.) +49 (0) 30.44 35 28 5-17

Vorschau

Thema Der Mensch ist ein singendes Wesen. In Zeiten des Digitalen umso mehr. Seit es Apps wie TikTok und Instagram gibt, finden tagtäglich Millionen kleiner Opern auf den virtuellen ­Bühnen des Internets statt. Wie reagieren Komponistinnen und Komponisten des zeitgenössischen Musiktheaters auf diese Entwicklung? Und wie präsent ist mittlerweile umgekehrt der Sound im Sprechtheater? Darüber sprechen wir mit Richard Janssen, Sounddesigner von Susanne Kennedy, den Komponisten Óscar Escudero und Sara Glojnarić sowie der Musikwissenschaftlerin Marie-Anne Kohl. Zudem widmen wir uns den Arbeiten von Trond Reinholdtsen, der u. a. für Vegard Vinge und Ida Müller komponiert, sowie der freien Musiktheaterszene in Berlin. Ein Exklusiv-Schwerpunkt in Kooperation mit dem Magazin P ­ ositionen – Texte zur aktuellen Musik.

Redaktion Christine Wahl +49 (0) 30.44 35 28 5-18, redaktion@theaterderzeit.de Mitarbeit Annette Dörner (Korrektur), Paula Perschke (Assistenz) Verlag: Theater der Zeit GmbH Programm und Geschäftsführung Harald Müller +49 (0) 30.44 35 28 5-20, h.mueller@theaterderzeit.de, Paul Tischler +49 (0) 30.44 35 28 5-21, p.tischler@theaterderzeit.de Verlagsbeirat Kathrin Tiedemann, Prof. Dr. Matthias Warstat Anzeigen +49 (0) 30.44 35 28 5-20, anzeigen@theaterderzeit.de Gestaltung Gudrun Hommers Bildbearbeitung Holger Herschel Abo / Vertrieb Elena Corsi +49 (0) 30.44 35 28 5-12, abo-vertrieb@theaterderzeit.de Einzelpreis € 8,50 Jahresabonnement € 85,– (Print) / € 75,– (Digital) / 10 Ausgaben + 1 Arbeitsbuch Preis gültig innerhalb Deutschlands inkl. Versand. Für Lieferungen außerhalb Deutschlands wird zzgl. ein Versandkostenanteil von EUR 25,– berechnet. 20 % Reduzierung des Jahresabonnements für Studierende, Rentner, Arbeitslose bei Vorlage eines gültigen Nachweises. Alle Rechte bei den Autoren und der Redaktion. Nachdruck nur mit schriftlicher Genehmigung der Redaktion. Für unaufgefordert eingesandte Bücher, Fotos und Manuskripte übernimmt die Redaktion keine Haftung. Bei Nichtlieferung infolge höherer Gewalt oder infolge von Störungen des Arbeitsfriedens bestehen keine Ansprüche gegen die Herausgeber. Druck: PIEREG Druckcenter Berlin GmbH 76. Jahrgang. Heft Nr. 2, Februar 2021. ISSN-Nr. 0040-5418 Redaktionsschluss für dieses Heft: 04.01.2021 Redaktionsanschrift Winsstraße 72, D-10405 Berlin Tel +49 (0) 30.44 35 28 5-0 / Fax +49 (0) 30.44 35 28 5-44

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Protagonisten Endlich ist er weg! Oder doch nicht? Bei Redak­ tionsschluss dieser Ausgabe war noch nicht klar, ob ein zweites Amtsenthebungsverfahren gegen Donald Trump eine Rückkehr in die Politik wird verhindern können. Was wäre, wenn nicht? Und lässt sich eine Figur wie er überhaupt stürzen? Das Theater, sagt der Dramaturg Frank Raddatz, ist jenseits der Karikatur nie wirklich mit Trump fertig geworden. Mithilfe von Michel Foucault und der Figur des Ödipus zeigt er, mit welchen Brenngläsern ­seine Herrschaft auf der Bühne zu betrachten sein könnte. Ein Abgesang – und Warnruf. Denn die Gespenster seines Erfolgs ­hoffen auf Wiederkehr. Die nächste Ausgabe von Theater der Zeit erscheint am 1. März 2021.

„Subnormal Europe“ von Belenish Moreno-Gil und Óscar Escudero (Münchener Biennale 2020). Foto Armin Smailovic

AUTORINNEN UND AUTOREN Februar 2021

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„Kein Licht. 2011/2012/2017)“ von Elfriede Jelinek in der Regie von Nicolas Stemann (Ruhrtriennale 2017). Foto Caroline Seidel

/ TdZ  Februar 2021  /


Was macht das Theater, Angela Richter? Angela Richter, wann haben Sie Julian Assange

Um WikiLeaks selbst ist es in den vergangenen

das letzte Mal gesehen, und unter welchen

Jahren ruhiger geworden. Eigentlich zu Unrecht.

­Bedingungen?

Denn in den alten Dokumenten steckt weiter bri-

Das war im Dezember 2019, in der e­cua­­ -

santes Material. In welchen Verfahren wurden

dorianischen Botschaft, etwa vier Monate vor

WikiLeaks-Dokumente eingesetzt?

seiner Verhaftung. Er war in einem elenden,

In Pakistan zum Beispiel gibt es seit 2019

schockierenden physischen Zustand. Im Bel-

keine Drohnenangriffe mehr. Das ist eine

marsh-Gefängnis, in dem er jetzt ist, sind die

­Folge der Beweise, die von WikiLeaks kamen.

Bedingungen ebenfalls hart, wie ich aus sei-

Überhaupt erkennen Gerichte das Material

nem Umfeld erfahren habe. Die Heizungsanlage

oft an, weil es authentisch ist. Dabei geht es

setzt aus, wenn die Temperaturen unter null

nicht immer um Menschenrechtsverletzungen.

Grad gehen. Also stopft er alle seine Bücher in

In vielen Ländern wurden Leute aufgrund von

die Fenster, um so die Kälte draußen zu halten.

Korruption entlassen. Oft wusste man schon

vorher davon, dank WikiLeaks aber hatte man

Das Londoner Gericht hat entschieden, dass er

Beweise in den Händen.

nicht in die Vereinigten Staaten ausgeliefert

werden darf. Ist das ein Sieg, ein halber Sieg

WikiLeaks ist also nicht tot?

oder ein Pyrrhussieg?

Im Gegenteil. Das SecureDrop-Verfahren, das

Es ist ein toxisches Urteil. Aus der Sicht der

Assange entwickelt hat, wird inzwischen welt-

Richterin ist es sehr clever. Sie hat den USA in

weit von achtzig großen Medienunternehmen,

allen Punkten Recht gegeben und gleichzeitig

die investigativen Journalismus betreiben,

gesagt, er könne nicht in die USA ausgeliefert

genutzt.

werden, weil er im dortigen Supermax-Gefängnissystem selbstmordgefährdet sei. Das hat sie im Prozess auch ausführlich dargelegt. Für den Journalismus ist es aber eine Katastrophe, weil damit der investigative Journalismus kriminalisiert wird. Es ist das erste Mal, dass ein Journalist auf der Grundlage des Espionage Acts angeklagt wird. Der 1917 in Kraft getretene Espionage Act wurde zunächst herangezogen, um damalige Gewerkschafter und sozialistische Politiker in den USA vor Gericht zu bringen. In den letzten Jahren wurden vor allem Whistleblower angeklagt wie die NSA-Aussteiger Edward Snowden und Thomas Drake, der CIA-Aussteiger John Kiriakou sowie aktuell eben Assange. Sie haben Theaterproduktionen zu Assange und anderen Whistle­

Ein Justizskandal? Ein Präzedenzfall? Anfang J­ anuar lehnte ein britisches Gericht die Auslieferung des WikiLeaksGründers Julian Assange an die USA ab. Begründet worden war das Urteil mit dem fragilen Gesundheitszustand des Angeklagten. Dem von den Vereinigten Staaten erhobenen Vorwurf der Spionage widersprach das Gericht damit nicht. ­Assange hatte gemeinsam mit der Whistle­ blowerin Chelsea Manning 2010 geheimes M ­ aterial von US-Militäreinsätzen im Irak und in Afghanistan veröffentlicht. Ein Urteil also gegen den investigativen Journalismus? Wir sprechen mit der ­Regisseurin Angela Richter, die für ihre dokumentarischen Stücke mehrfach mit Assange ­zusammentraf. Foto dpa

Mit SecureDrop können Dokumente anonym der Presse übergeben werden. Wie geht es jetzt mit Julian Assange weiter? Hat er in anderen ­Ländern Aussichten auf Asyl? Zuerst ist es wichtig, dass er freikommt. ­Mexiko hat ihm Asyl angeboten, für die Zeit nach dem Ende des Prozesses. Es gibt derzeit einerseits die Forderung nach Transparenz bei Unternehmen und Regierungen, andererseits nach besserem Schutz der Privatsphäre. Wie gläsern soll die Macht sein, wie gläsern der Mensch? Die Forderung nach totaler Transparenz hat großes revolutionäres Potenzial. Sowohl Assange als auch Snowden fordern, dass die Privatsphäre extrem geschützt werden sollte

blowern kreiert. Was macht diese Menschen für

und dass der Staat so transparent wie mög-

Sie zu dramatischen Helden?

lich ist. Mit größerer Transparenz würde es

Faszinierend finde ich den Mut, den sie haben.

zu vielen dieser Machenschaften und Men-

Auf kleinerer Ebene, im Theaterbetrieb zum

Und was genau?

schenrechtsverletzungen gar nicht erst kom-

Beispiel, gibt es ja auch Intrigen und Unter-

Sie sind alle sehr unterschiedliche Charaktere.

men. Das würde ultimativ zu einer anderen

drückung von Schwächeren. Selten macht

Aber was mir aufgefallen ist, bei Snowden,

Gesellschaft führen. Im Interesse derer, die

dort jemand den Mund auf. Wenn es aber

bei Assange, bei Drake und all den anderen,

derzeit die Macht haben, liegt das sicher

passiert, dann hat derjenige, der die Miss-

die ich mehrfach getroffen habe: Sie haben

nicht, denn ihnen dient die Intransparenz

stände aufdeckt, der die schlechte Nachricht

alle extrem hohe Standards, an die sie sich

zum Machterhalt. Ich habe aber die Hoff-

bringt, verloren. Schon in solchen Fällen ist

auch halten. Wir alle haben sehr hohe Stan-

nung, dass sich die Gesellschaft ändert, so-

es nicht einfach, die Wahrheit auszuspre-

dards. Aber wenn es darum geht, danach zu

dass die Menschen vielleicht in fünfhundert

chen. Wenn man sich aber anschaut, was

handeln, gibt es oft eine große Diskrepanz

Jahren auf unsere Zeit schauen, dabei die

Whistleblower leisten, übersteigt es das

zwischen Tat und Wort. Das sehe ich auch an

Hände über dem Kopf zusammenschlagen

­eigene Fassungsvermögen. Sie haben etwas,

mir selbst. Diese Leute indes machen, was

und denken: „Oh, wie konnten die nur so

das wir anderen nicht haben.

sie sagen. Deshalb respektiere ich sie sehr.

­leben?“ // Die Fragen stellte Tom Mustroph.


auftritt

/ TdZ  März   Januar  2018 2020 / /

Buchverlag Neuerscheinungen

Seit den 1990er Jahren boomt das Musiktheater für Kinder und Jugend­liche. „Kindermusiktheater in Deutschland“ stellt die neu entdeckte Gattung in ihren Organisationsformen sowie in ihren ästhetischen und sozialen Möglichkeiten dar. Das Buch ist der erste Versuch, die Kunstform kulturpolitisch und ästhetisch einzuordnen. Ihre Akteure spielen mit postdramatischen Elementen, integrieren Neue Musik und szenisches Musizieren und produzieren über alle Spartengrenzen hinweg. Wird Kindermusiktheater die Kunstform der Zukunft?

Barrie Kosky versteht es nicht nur als der gefeierte Regiestar der Komi­ schen Oper in Berlin, sondern auch als unterhaltsamer und fesselnder Erzähler, der überwältigenden Macht des Gefühls einen glänzenden Auftritt zu bereiten. „On Ecstasy“ ist seine Biografie des Schreckens und des Glücks im rauschhaften Moment: der Ekstase des Schmeckens beim Genuss der Hühnersuppe der geliebten Großmutter, der Ekstase des Fühlens im Pelzlager des Vaters in Melbourne, des Sogs der unbe­ kannten Zonen des Geschlechts, der Überwältigung in der Begegnung mit den Sinfonien von Mahler und den überirdischen Halluzinationen der Opern von Wagner …

RECHERCHEN 158 Joscha Schaback Kindermusiktheater in Deutschland Kulturpolitische Rahmenbedingungen und künstlerische Produktion

Barrie Kosky On Ecstasy

Paperback mit 272 Seiten ISBN 978-3-95749-307-1 EUR 22,00 (print) / 17,99 (digital)

Hardcover mit 104 Seiten Aus dem Englischen von Ulrich Lenz ISBN 978-3-95749-342-2 EUR 15,00 (print) / EUR 11,99 (digital)

Der Band von Christian Martin versammelt Theaterstücke aus mehr als dreißig Jahren. Sie sind ein Querschnitt seines dramatischen Œuvres und seiner thematischen und formalen Vielfalt: Volksstück, Zeitstück, Komödie, Märchenspiel („Sternfels“, „Kaltes Herz“, „Amok“, „Bunker“, „Fighters“) und schließlich der Monolog. Sein jüngster Text, „War nix is nix wird nix“, ist eine tiefgründige bitter-komische Farce über die letzten Tage des Münchner Kabarettisten und Sprachakrobaten Karl Valentin im Winter 1948.

DIALOG 31 Christian Martin War nix is nix wird nix stücke der erinnerung Herausgegeben von Richard Weber Paperback mit 230 Seiten ISBN 978-3-95749-344-6 EUR 22,00 (print) / EUR 17,99 (digital)

Aus den älteren, weit verzweigten ländlichen Dionysien mit ihren kul­ tischen Tanzplätzen macht sich der Chor auf, um im fünften vorchrist­ lichen Jahrhundert in der griechischen Polis zu erscheinen. Demokra­ tie, Tragödie und die genealogische Ordnung im Namen des Mannes entstehen zur selben Zeit. Sie gründen sich als je zweifache Gliederung von Polis und Oikos, Skene und Orchestra, Protagonist und Chor, Mann und Frau. Chorische Beziehungsweisen bilden ein Kraftwerk, denn der Chor, der nicht aus dem Theater kommt, führt über dieses hinaus und erneuert es auf je einzigartige Weise.

Ulrike Haß Kraftfeld Chor Aischylos Sophokles Kleist Beckett Jelinek Taschenbuch mit 360 Seiten Mit zahlreichen Abbildungen ISBN 978-3-95749-279-1 EUR 22,00 (print) / 17,99 (digital) Erhältlich in der Theaterbuchhandlung Einar & Bert oder portofrei unter www.theaterderzeit.de

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DIE PEST

STREAMS IM FEBRUAR

nach dem Roman von Albert Camus in einer Fassung von András Dömötör und Enikő Deés Mit: Božidar Kocevski Kamera: Lorenz Haarmann Mo 1. – So 14. Februar, on demand

MARIA STUART

von Friedrich Schiller Regie: Anne Lenk Di 9. + Sa 13. Februar, 20 Uhr with English subtitles

WOYZECK INTERRUPTED

von Mahin Sadri und Amir Reza Koohestani nach Georg Büchner Regie: Amir Reza Koohestani Di 16. + Sa 20. Februar, 20 Uhr with English subtitles

НЕПСКИЙ ПРОСПЕКТ

NEPSKI-PROSPEKT Ein Film von René Pollesch (D 2020) Di 23. + Sa 27. Februar, 20 Uhr deutschestheater.de/digital


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