TdZ 3/2023 – Neue Dramatik. Mit Kim de l'Horizon u.a.

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Theater der Zeit Neue Dramatik

Mit

Kim de l’Horizon Pablo Jakob Montefusco Michelle Steinbeck Alexander Stutz Kathrin Röggla Sebastian Hannak Monica Bonvicini Anne Lenk

März 2023 EUR 9,50 CHF 10 tdz.de

Stück Labor

Texte aus der Schweiz


I N T E R N A T I O N A L E S THEATER FESTIVAL LÄNDERSCHWERPUNKT UKRAINE

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Tickets und Info: deutschestheater.de

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Mit Uraufführungen und Gastspielen aus der Ukraine, Belarus, Georgien und Slowenien

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8. – 12.3.

RADAR

OST

DEUTSCHES THEATER BERLIN


Theater der Zeit Editorial

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Foto Petra Moser

ollten wir bei einer Betrachtung der neuesten Dramatik gleich als erstes auf die Geburtsjahrgänge schauen und daraus schon Schlussfolgerungen ziehen? Eher nicht. Und doch gibt es natürlich den Blick auf eine neue Generation, ohne dass man einschätzen könnte, was sie jenseits der meist in den 1990er Jahren liegenden Geburtsangabe verbindet. Was Soziologen zu den so genannten Millennials sagen, ist bislang kaum auf die Betrachtung von Literatur übertragen worden, auf neue Stücke schon gar nicht. Und doch ist klar, da gibt es zumindest in den Themen und Absichten einige Gemeinsamkeiten, die natürlich mit den Konflikten in der Gesellschaft zusammenhängen und auch damit, wie sich das Theater dafür interessiert. Der Schwerpunkt in diesem Heft besteht diesmal aus zwei Teilen: In einem Überblick stellt Iven Yorick Fenker einige Autor:innen dieser jungen Generation vor neben einem Gespräch mit Elisabeth Pape, die gerade den Kleist-Förderpreis erhielt. Am Theater Oberhausen soll, wie unser NRW-Redakteur Stefan Keim berichtet, der Spielplan aus möglichst vielen Urauf-

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führungen bestehen, freilich nicht nur aus den Werken der Jüngsten, sondern zum Beispiel auch mit dem neuesten Stück John von Düffels, der in der damaligen Theaterwelt der gerade genannten Geburtsjahrgänge zum Pool der Hoffnungsträger für neue Dramatik gehörte. (S.10–22) Außerdem gibt es gleich vier neue Texte aus dem Stück Labor Basel. (S.40–74) Sie würden vollständig abgedruckt den Umfang des Heftes sprengen, so dass die jeweils ersten Stückteile im Heft per QR-Code als Download weitergelesen werden können. Eine Premiere! Und irgendwie passt das ja auch zu diesen neuen Autor:innen, oder? Monica Bonvicini, in Berlin lebende Künstlerin aus Italien, wird im Kunstinsert mit ihrer großen Ausstellung in der Neuen Nationalgalerie vorgestellt. (S.30) Sie möchte damit direkt „zur Stadt sprechen“. Das hat uns sehr gefallen, denn das ist, was ja auch die Theater wollen. Und in Zürich gerade nach den heißen Diskussionen um Nicolas Stemann und Benjamin von Blomberg für ihre Leitung des Schauspielhauses keine Fortsetzung haben soll. (S.90) Der Bühnenbildner Sebastian Hannak ist lange Zeit schon ein Meister der großen Raumbühnen, im Schauspiel wie im Musiktheater. Deren Idee diskutiert er gern mit der historischen Entstehung der Visionen von Walter Gropius. Baden-Württemberg-Redakteurin Elisabeth Maier hat ihn für ein ausführliches Porträt getroffen und dazu befragt. (S.24) Dossiers zur neuen Dramatik und zum Stück Labor finden Sie auf tdz.de/dramatik. T Nathalie Eckstein

Thomas Irmer

„Alice verschwindet“ von Matter*Verse am Landestheater Linz

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Theater der Zeit

Bühnenbild von Sebastian Hannak für „Ariadne auf Naxos“ in der Regie von Paul-Georg Dittrich an der Oper Halle 2019

12 Essay Neue Dramatik, alte Geschichten, neue Welten Neue Texte im Verhältnis zu einer neuen Realität Von Iven Yorick Fenker

16 Gespräch Die eigene Dringlichkeit Die Dramatikerin Elisabeth Pape über Schreiben als Freiheit, Geduld in der Überarbeitung und die Auszeichnung mit dem Kleist-Förderpreis im Gespräch mit Nathalie Eckstein

20 Neustart Oberhausen Leidenschaftlich zeitgenössisch Das Theater Oberhausen setzt fast ausschließlich auf neue Dramatik Von Stefan Keim

Kim de l’Horizon. Sein Stück „Hänsel & Greta & The Big Bad Witch.“ ist Teil von Stück Labor.

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Ein Dossier mit weiteren Texten zu unserem Schwerpunkt Neue Dramatik finden Sie unter tdz.de

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Fotos oben Sebastian Hannak, links Florian Spring, rechts Gianmarco Bresadola

Thema Neue Dramatik


Inhalt 3 / 2023

Akteure 24 Porträt Ganz nah dran am „Gefühlskraftwerk Oper“ Mit seinen Raumbühnen öffnet der Szenograf Sebastian Hannak ­Horizonte für ein demokratisches Theater. Mit technischen Konstruktionen und digitaler Technik schafft er dem Publikum Erlebnisse Von Elisabeth Maier

30 Kunstinsert I do you! Die Künstlerin Monica Bonvicini verwandelt die Neue Nationalgalerie in einen Ort der Reflexionen über Architektur und Macht, Begehren und Sublimation. Im Gespräch mit Heimo Lattner

38 Nachruf Ein Vorkämpfer der „Freien Szene“ Ludger Schnieder, Theater im Pumpenhaus in Münster Von Henning Fülle

Stück Labor 2021/22

39 Nachruf Impulsgeber in der Fankurve

40 Stücke Neue Schweizer Dramatik

Ein Nachruf auf den Regisseur und Vielfachintendanten Jürgen Flimm Von Thomas Wördehoff

42 „Hänsel & Greta & The Big Bad Witch.“ Von Kim de l’Horizon

50 „La Felicità“

Diskurs & Analyse 68 Serie Warum wir das Theater brauchen #02 Das nicht Bereinigte

Von Pablo Jakob Montefusco

58 „Weint nicht über mich (Weint über euch und eure Kinder)“ Von Michelle Steinbeck

Von Anne Lenk

66 „Die Entfremdeten“

Report

Magazin

80 Chile Die wirkende Erinnerung

4 Bericht Ein Haus für alle

Das Festival Teatro a Mil in Santiago de Chile zieht einen roten Faden des Putsches vor 50 Jahren durch sein Jubiläumsprogramm Von Thomas Irmer

Von Peter Helling

84 Slowenien Körper auf der Bühne Der Performance-Showcase in Ljubljana zeigt verschiedene Varianten eines Begriffs Von Nathalie Eckstein

Von Alexander Stutz

5 Bericht „Let’s create this ocean together“

Von Theresa Schütz

6 Kritiken Gesammelte Kurzkritiken

Von Lina Wölfel, Christoph Leibold, Michael Bartsch und Thomas Irmer

8 Kolumne Das bessere Theater Von Kathrin Röggla

92 Buch Den Prozess lesen Von Thomas Wieck

93 CD Mehr als nur ein Dokument Von Thomas Irmer

94 Film Popanz der Macht Von Claus Löser

96 Was macht das Theater, Berhard Stengele? Von Michael Helbing

„Oasis de la inpunidad“, Regie Marco Layera, beim Festival Teatro a Mil in Santiago de Chile

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1 Editorial 86 Verlags-Ankündigungen 95 Autor:innen & Impressum 95 Vorschau

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Lichtwarktheater

Ein Haus für alle Das neue Theater in Hamburg-Bergedorf Von Peter Helling

Innenansicht des Neubaus

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Das KörberHaus: ein Haus für alle Kulturen und alle Generationen, verspricht Lothar Dittmer, der Vorstandschef der Körber-Stiftung. „Es ist mehr als ein Bürgerhaus, es ist der Versuch, diesen Ort zum kulturellen Mittelpunkt von Bergedorf zu machen. Dazu muss man in die Mitte gehen, das Zentrum, neben dem Einkaufszentrum, in der Nähe der B5, an der Grenze zwischen sehr unterschiedlichen sozialen Räumen, die Schnittstelle des gesamten kulturellen Lebens in Bergedorf.“ Von außen wirkt der Neubau wuchtig und abweisend: eine viereckige Kiste mit drei Stockwerken, Glasfronten, die mit Kupferlamellen verkleidet sind. Dass es an drei Seiten von Wasser umgeben ist, verstärkt den burgartigen Charakter. Ganz anders innen, da betritt man einen hellen Lichthof, die Lamellenstruktur setzt sich in mattem Weiß fort und zieht den Blick nach oben: Die Architektur wirkt leicht, transparent, trumpft nicht auf. Eva Nemela ist Leiterin des Bereichs Alter und Demografie im KörberHaus. Stolz zeigt sie auf ein Steinmosaik des Künstlers Edouard Bargheer von 1961 im Umgang des obersten Stockwerks. Es hing schon im Vorgängerbau. Es zeigt ein spielendes Orchester, die Farben der Steine, Mattblau, Grün, Grau, Kupferorange, Champagnerweiß setzen sich in den Möbeln der drei Stockwerke fort. „Dies ist ein Haus für Begegnung,

für Kultur und für Bildung“, sagt sie, und: ein „shared civic space“. Gemeinnützige Organisationen können Räume mieten und nutzen. „Wir wollen nicht hierherkommen und sagen, wir sind besonders toll, sondern: Wir füllen die Lücke, die es hier gibt, und wir bieten euch in euren Kulturen Räume, um zu uns zu kommen.“ Es geht um Eigenengagement, nicht um Dienstleistung. Wo ist aber jetzt das neue Lichtwarktheater? „Wenn die Türen zu sind, verschwindet das Theater optisch. Es ist gar kein eigener Bau hier, sondern ist Teil dieses Gesamtkomplexes und -konzepts“, sagt sie. Dann sperrt Eva Nemela eine Doppeltür im Lichthof auf, die Rückseiten leuchten orange. Und innen: Mit 458 blau gepolsterten Sitzen ist es das derzeit modernste Theater der Stadt. Fast klassisch gibt es Rang und Parkett, mit einer Bühnenbreite von 20,85 Metern, einer Tiefe von fast zehn Metern. „Wir haben jetzt keine Ausrede mehr, hier nicht alles zu zeigen“, sagt Axel Schneider. Achtzehn Jahre lang hat er mit seinem Programm die deutlich kleinere Bühne im „Haus im Park“ bespielt, im eher gediegenen Villenviertel von Bergedorf. Die Intendanten des Altonaer Theaters, der Hamburger Kammerspiele und des Harburger Theaters und die STÄITSCH TheaterService GmBH werden an 75 Tagen von insgesamt 200 im Jahr Gastspiele, Kabarett- und Musikprogramme zeigen. Er erhofft sich „einen Schub für die Kunst, für den Spielplan“. Es sei viel in Bewegung, sagt er, Zusammenarbeit möglich: „Man lernt sich automatisch kennen, und wer sich kennenlernt, entwickelt auch meistens Ideen.“ Das Theater werde auf keinen Fall die kleinteilige und vielfältige Kulturszene des Bezirks „aufsaugen“, sagt auch Lothar Dittmer. Der Bezirk Bergedorf und die KörberStiftung sind die Hauptnutzer der neuen Bühne. Schon jetzt gebe es einen „Run“, sagte Eva Nemela. Der türkische Chor, das Kulturzentrum LOLA, das polnische Theater wollen auftreten, Schülergruppen. Immerhin, am Eröffnungstag kamen rund 3000 Menschen. Ein gutes Zeichen, findet Eva Nemela. Lothar Dittmer hofft, dass das Haus zu einem Modell wird: „Hier gehen die öffentliche Hand, der Bezirk und eine private Stiftung eine Kooperation ein, die in dieser Form einmalig ist.“ Es geht ihm um eine Stärkung der zivilen Bürgergesellschaft, um Demokratie. Und das ist ganz im Sinne des Namensgebers des Theaters: Alfred Lichtwark, Mitbegründer der Museumspädagogik. Er wollte Kultur für alle. T

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Fotos links Nicole Keller, rechts Swoosh Lieu

Magazin Bericht


Magazin Bericht

Im Unterwasser Mu/Sea/Um mit Swoosh Lieu

Radialsystem Berlin

„Let’s create this ocean together“ Von Venus, Octavia, Ada und ihren nicht-menschlichen Gefährt:innen Von Theresa Schütz

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„*RESET* – ein feministischer Tauchgang“ ist nach „</A „Manifesto“ of={every} One.s Own>“, das im Frühjahr 2022 im Ballhaus Ost Premiere hatte, die zweite Arbeit von Swoosh Lieu in Berlin; eine Koproduktion von Radialsystem und dem Künstler*innenhaus Mousonturm Frankfurt, mit dem das queerfeministische Kollektiv seit 2012 regelmäßig kollaboriert. Als Teil eines 25-körprigen Publikumsschwarms, versehen mit Kopfhörer:innen und wasserfester Tragetasche für AudioEmpfänger:innen, betrete ich nach kurzer Fahrstuhlfahrt-Illusion auf Ebene (20)42 das angekündigte „Mu/Sea/Um“, einen Ort geteilter, feministischer Spekulation(en). Hier befinden sich nicht nur zwei deckenhohe Netze, in die mehrere Exponate in runden Vitrinen eingelassen sind, sowie eine Schaumlandschaft, auf der sich verschiedene ­Dinge versammeln, sondern auch mehrere Beamer:innen, über achtzig Scheinwerfer:innen, etliche Kilometer Kabel, LED-Band und vieles mehr. Sie sind die nicht-menschlichen Aktant:innen, denen im Theater üblicherweise viel zu selten die gebührende Aufmerksamkeit zuteilwird. Anders bei Swoosh Lieu: Wie in ihren meisten Produktionen agieren Johanna Castell, Katharina Pelosi und Rosa Wernecke als Operatorinnen offstage und überlassen dem Ensemble der vielgestaltigen Technologien ihre großen Auftritte. Der erste Teil der Mu/Sea/Ums-Führung widmet sich mit Referenz auf die Aktivistinnengruppe Guerilla Girls feministischer Institutionenkritik: Die animierte Venusfigur

in Botticellis „Geburt der Venus“-Projektion hält uns vor Augen, einer von (viel zu) vielen üblicherweise nackten, weiblich gelesenen Körpern auf Meisterwerken männlicher Künstler(genies) zu sein. Konsequent löst sie sich hier aus dem Rahmen und erklärt uns in Gestalt eines Scheinwerfers die Präparate in der hängenden Nasssammlung: Es handle sich um die naturkundlichen Überreste von Dodos, wie es sie zum Beispiel auch auf der Insel Orango in Guinea-Bissau – bekannt für das Bijago-Matriarchat – gebe; zu sehen gibt es dabei allerdings eher technikkund­ liche Überreste kunstfertig erfundener, roströtlicher Skulpturen aus Steckern, Dosen, Hülsen, Muttern. Natur und Technik – beide sind hier Teil einer durch das Museumsdispositiv aufgerufenen kolonialen Matrix, die nach Systemabbruch und Neustart rufen. Im zweiten Teil richtet sich die Aufmerksamkeit auf die Geschichte von Venus‘ schaumgeborener Schwester Aphrodite, ach, halt, nein: auf die schaumgebettete Tupper­ dose! Denn diese weiß von ihren Tupperpartys als früher Form feministischer Bewusstseinsbildung zu berichten. Die Ansage „Set: Reset“ unterbricht unsere Führung für einen Tanz der Scheinwerfer:innen, um im Anschluss das Set Unterwasserwelt auszuspielen. Ein Laser­ licht markiert knapp unter der Saaldecke die Meeresoberfläche. Unseren partizipativen Tauchgang moderiert nun Drag-Octopa Octavia. Als spekulative:r Zeug:in menschengemachter Umweltzerstörung lädt Octavia zum gemeinsamen utopischen Neustart under the sea, zum kreativ-kollaborativen Worldmaking zwischen queeren Fischen, lustvollen Diskokugel-Lichttentakeln und selbstgemachten Seifenluftblasen. Im abschließenden Teil tritt KI Ada auf, die bereits an früheren Swoosh-Lieu-­ Arbeiten als vielseitige SF-Komplizin beteiligt war. Sie entwirft drei an Theorien des Cyberfeminismus orientierte Szenarien, in denen verschiedene Kritter, Cyborgs und andere denkbare Wahlverwandtschaften zwischen Mensch und Technologie als zukünftige Existenzweisen fabuliert werden. „*RESET*“ ist eine einstündige, technologie- und imaginationsaffine Installation, die trotz Swoosh-Lieu-typischer Theoriereferenzdichte niederschwellig und humorvoll daherkommt – auch wenn die Forderungen nach gesellschaftlichem Um- und Neudenken (z.B. mit Blick auf queere Reproduktionstechnologien) durchaus ernst gemeint sind. T

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Magazin Kritiken

Deutsches Theater Göttingen

Gnadenlose Unruhe „Pirsch“ von Ivana Sokola (UA) – Regie Christina Gegenbauer, Bühne, Kostüme und Video Frank Albert, Musik Nikolaj Efendi

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an stelle sich vor, das Patriarchat wäre vogelfrei. Aus Jägern würden Gejagte. Aus Gejagten Jäger:innnen. Das Geschlecht reicht aus, um Täterschaft zu unterstellen. Und Täterschaft wird mit Selbstjustiz bestraft. Marinka kehrt in ihr Heimatdorf zurück. Fünfzehn Jahre, nachdem sie auf einem Dorffest sexuell belästigt wurde. Ihr Bruder glaubt ihr nicht. Nein, er glaubt ihr, aber er will ihr nicht glauben. Redet ihre Erfahrung klein, sagt, „überlass das Richten denen, die etwas davon verstehen, von der Verhältnismäßigkeit der Gefühle“. Und wenn die, die etwas davon verstehen sollten, es auch nicht verstehen wollen? Also beschließt Marinka, Gewalt, mit Gewalt zu vergelten. Übt Selbstjustiz. Gemeinsam mit einem Chor junger Hunde begibt sie sich auf die Hatz. Und erwischt dabei auch die Falschen. Schließlich offenbart sich die Polizistin Lene: Auch sie wurde vor fünfzehn Jahren belästigt. Ihre Strategie ist jedoch eine andere: die Pirsch. Sanfte Schritte im Verborgenen. Ivana Sokola, die für „Pirsch“ mit dem Autor:innenpreis des Heidelberger Stückemarkts 2022 ausgezeichnet wurde, schlägt mit ihrem Text eine tiefe Kerbe in aktuelle

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Simon Zagermann, Oliver Stokowski, Linda Blümchen, Vassilissa Reznikoff in „Antigone“

Residenztheater München

Schuss / Gegenschuss

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ie präzise Komposition ist bestechend: ein Abend in zwei Hälften, die sich perfekt ineinanderfügen. Erzählt wird Sophokles’ „Antigone“, angereichert mit ­ Material einer Adaption des Stoffes durch den Philosophen Slavoj Žižek. Das Grundprinzip ist das filmbekannte von „Schuss und Gegenschuss“. Dabei geht es um zweierlei inhaltliche Perspektiven ebenso wie, ganz konkret, um entgegengesetzte Blickrichtungen. Schauplatz dieser „Antigone“ ist ein moderner Bunker. In der ersten Hälfte der Inszenierung blickt das Publikum in einen Durchgangsraum, von dem Metalltüren in verschiedene Nebenzimmer abgehen. Eine davon führt in einen Konferenzsaal, in dem sich die Führungselite Thebens versammelt. Die meiste Zeit ist nur hör- und sichtbar, was vor verschlossener Tür geschieht. Dort draußen vor der Tür spielt Sophokles‘ Tragödie, wie wir sie kennen, deutlich gerafft allerdings. Antigone ­widersetzt sich dem Verbot, ihren im Krieg gefallenen, als Verräter der Vaterstadt gebrandmarkten Bruder Polyneikes zu bestatten, und wird darob ihrerseits zum Tode verurteilt. In der zweiten Hälfte dann die andere Perspektive: Jetzt schauen wir in den holzverkleideten Saal, in dem Kreon, der neue starke Mann von Theben, seine Mitstreiter um sich schart. In den Dialogpassagen, die der Mythosbearbeitung von Slavoj Žižek entnommen sind, geht es primär um Fragen der Rechtmäßigkeit von Kreons Macht­ anspruch. Nach dem Tod seiner Neffen reklamiert Kreon den Thron für sich. Das ist nicht unumstritten. So entwickelt sich die Inszenierung doch noch zu dem Polit­thriller, die sie von Anfang an sein will, grundiert von einem leise pulsierenden Sound im Rhythmus einer tickenden Zeitbombe. Der erste Teil indes ist – gerade weil die Handlung so stark verdichtet ist – zu lang. Kürzer zwar, als würde man die komplette „Antigone“ spielen, aber doch recht zäh, weil man an Figuren, von denen man nicht weiß, was sie antreibt, rasch das Interesse verliert. Wie eine viel zu lang glimmende Zündschnur. // Christoph Leibold

„Antigone“ von Sophokles und unter Verwendung von „Die drei Leben der Antigone“ von Slavoj Žižek – Regie Mateja Koležnik, Bühne Christian Schmidt, Kostüme Ana Savić Gecan, Musik Bert Wrede

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Fotos Göttingen Lenja Kempf, München Sandra Then, Dresden Sebastian Hoppe, Schwerin Silke Winkler

Judith Strößenreuter, Moritz Schulze, Mirjam Rast, Florian Donath und Christoph Türkay in „Pirsch“

Debatten darüber, wie unsere Gesellschaft mit Opfern sexueller Gewalt umgeht. Marinka emanzipiert sich, setzt sich zur Wehr. Dabei geht es auch darum, inwiefern dieser Weg legitim ist. Rache und Gegengewalt erscheinen als logische Konsequenz, wenn staatliche Rechts- und Schutzsysteme versagen. Dieses Setting setzt die Regisseurin ­Christina Gegenbauer einfallsreich und simpel um. Das Bühnenbild von Frank ­Albert besteht aus mehreren Bahnen von Stoff­ streifen, die mittels Magneten mehrmals von den Schauspieler:innen neu ­ platziert werden. Zunächst offen, wird der Wald im ­ Verlauf der Inszenierung immer dunkler und vor allem: bedrängender. Die Musik von ­ Nikolaj Efendi komplettiert ­ dieses Bild zu einer den ganzen Raum er­füllenden ­Atmosphäre. // Lina Wölfel


Magazin Kritiken

Kaya Loewe, Rieke Seja, Willi Sellmann, Mina Pecik, Jakob Fließ, Leonie Hämer, Jannis Roth und Felix Bronkalla in „Wolokolamsker Chaussee I-V“

Staatsschauspiel Dresden

Parabel auf die Pervertierung einer Idee „Wolokolamsker Chaussee I-V“ von Heiner Müller – Regie Josua Rösing, Bühne und Kostüme, Ariella Karatolou, Video Jens Bluhm

Wie in vielen anderen Bühnenfassungen dieser Stücke treten die acht Studierenden des Leipzig-Dresdner Schauspielstudios in Uniform auf, hier in gelbgrün. Eine Masse verängstigter Soldaten, die über hundert Minuten Spielzeit überwiegend chorisch oder zumindest in Gruppen spricht. Bataillonskommandeur, Militärarzt oder später der Betriebsleiter treten kurz mit Solopassagen hervor, die sich aber nie zu einer Rolle formen. Es bleibt durchweg die szenische Deklamation eines Fließtextes, die an ein Brechtsches Lehrstück erinnert. Diese Anlage bietet zwar den Eleven der Bühnenkunst wenig Raum zu eigener Profilierung, dient aber einer starken Eindringlichkeit insbesondere den Frontschilderungen in den ersten beiden Kapiteln. Sie kippt im Kentauren-Märchen über den Stasi-Funktionär „im Dienst der Dialektik“ ­ und wird zu einer an sarkastischer Schärfe kaum zu überbietenden Farce. Ariella Karatolou hat ein multifunktionales Bühnengerüst gebaut, eine historische Baustelle, wenn man so will, auf der Fragmente eines gestürzten Denkmals herumliegen. Würden nur Panzer überall auf der Welt in solche Fragmente zerfallen wie in der Videoanimation von Jens Bluhm! // Michael Bartsch

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lötzlich klingt Heiner Müllers 1985 begonnenes fünfteiliges Poem drängend neu und zugleich ursprünglicher durch den vor einem Jahr von Russland begonnenen Weltkrieg, einem Krieg gegen die zivilisierte Welt. Allein schon die wiederkehrenden Panzermotive in den Videos der Inszenierung des Dresdner Staatsschauspiels assoziieren nicht nur die symbolisch aufgeladene aktuelle Diskussion um Panzerlieferungen an die Ukraine. Sie fügen Müllers Ausgangsmotiv einen Epilog hinzu, ein Kapitel alarmierender Ambiguität. Sowjetische Panzer, die 1941/42 auf der Wolokolamsker Chaussee endlich den unaufhaltsam scheinenden deutschen Vormarsch auf das nur 120 Kilometer entfernte Moskau stoppen konnten, retteten 1953 in der DDR und 1968 in Prag sowjetischen Vasallenregimen die Herrschaft. Drei Jahre vor dessen Ende schrieb Müller erklärtermaßen dann schon ein „Requiem“ auf den sozialistischen Block. Stringent führt auch die Dresdner Inszenierung von Josua Rösing den Weg von der Verteidigung zur Pervertierung einer Idee vor Augen.

Theater der Zeit 3 / 2023

Oscar Hoppe, Emil Gutheil, Robert Höller und Aaron Finn Schultz in der Uraufführung von „Nullerjahre“

Mecklenburgisches Staatstheater Schwerin

Toxisch exzellent

„Nullerjahre“ von Hendrik Bolz (UA) – Regie Nina Gühlstorff, Bühne Nina Gühlstorff und Markus Dottermusch, Kostüme Silke von Patay, Musik Raphael Käding

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m Anfang eine Triggerwarnung zu Antisemitismus, Misogynie und Homophobie. Der Hinweis, der so auch Hendrik Bolz‘ autofiktionalen Bericht „Nullerjahre. Jugend in blühenden Landschaften“ einleitet, hat seine Berechtigung, denn die verrohte Sprache, mit der sich die Jugendlichen im Stralsunder Neubauviertel Knieper West abgrenzen und gegenseitig „hart machen“, ist kaum zu ertragen. Bolz, Jahrgang 1988, wuchs in diesem Viertel auf, als es dort sozial abwärts ging und die rechte Subkultur Normalität wurde: Glatzen, Muskeltraining, LonsdaleShirts, Rechtsrock, Schlägereien, Saufen und Jagd auf alles, was davon als abweichend und „schwul“ wahrgenommen wurde. Nun hat Schwerin und nicht das Theater am Handlungsort den Bestseller an die Angel gekriegt und zeigt dessen erste Bühnenversion in der neuen Spielstätte M*Halle am Rande eines Knieper West ähnelnden Neubauviertels aus DDR-Zeiten, Großer Dreesch. Thema ist die „toxische Männlichkeit“, wie sie schon im Kindesalter vorbereitet wird und sich dann hemmungslos in die Körper hineinarbeitet. Das wird eng am Buch mit markanten Szenen bis ins Publikum gebracht, wenn ein Trainer seine kaum zeugungsfähigen Schützlinge fragt, ob sie mehr auf „Arsch oder Titten“ stehen, und die Umfrage im Publikum fortsetzt. Der hohe diskursive Anteil von Nina Gühlstorffs Inszenierung nimmt erstaunlich viel aus dem Buch in einer 100-Minuten-Speed-Erzählung mit. Die Entscheidung der Regie, alle Figuren auf alle Schauspieler:innen wechselnd zu verteilen, geht auf, ohne Orientierungs­verluste und mit beachtlicher Dynamik der aus vier Studierenden der Hochschule für Musik und Theater Rostock und zwei Ensemblemitgliedern gemischten Besetzung: Robert Höller und Oscar Hoppe vom Haus zusammen mit Emil Gutheil, Annika Hauffe, Rosalba Thea Salomon und Aaron Finn Schultz in einer wohl für sie günstigen Spielanlage. Power und Rhythmus der Szenenwechsel sind stimmig auf Sog. Hendrik ist hier also ein Kollektiv, samt seiner Bezugspersonen, was der Sache noch zusätzliche Bedeutung verschafft. // Thomas Irmer

Die Langfassungen und weitere Theaterkritiken finden Sie unter tdz.de

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Das bessere Theater Von Kathrin Röggla

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usgerechnet einen Leitzordner hält sich der Angeklagte vors Gericht, um nicht von der Presse fotografiert zu werden, die zwar da ist, aber auf Fotografien keine Lust hat. Sie ist ihr wohl vergangen. Schon am Vortag hatten die Journalist:innen den Saal verlassen, weil sie die Aussagen nicht mehr aushielten. Der Leitzordner ist die passende Requisite zum Gesicht, denn schließlich hat der Angeklagte Buch geführt. Ein überaus akribischer und kooperativer Geist, der seine Aussetzer hat, vor allem auf dem Gebiet der Empathie. Ihm fehlt einfach das Mitgefühl mit seinen Opfern. Kann vorkommen. Aber dass so jemand von nicht-sexuellen Fotografien eines Kindergeburtstags spricht, „ja, das war ein vierter Geburtstag“, und schon mal Sex hatte „ohne Kamera, sag ich mal“, kann eigentlich nicht vorkommen. Jemand, der sich bei den Vernehmungsbeamten entschuldigt, dass die sich nun sein Material ansehen müssen. Jemand, der über ein zu schnelles Nein verfügt, das sein zu schnelles Ja wieder auffressen kann, und dessen Ehrlichkeit längst nicht mehr einzuordnen ist. Jemand, der ein längeres Gespräch über das Erinnerungsvermögen fällig macht. Die Gerichtsgeschichte begann allerdings mit einer Person, die mitten in einer Telko saß und mehrere Browser offen hatte. Sie macht mir klar, dass Darknet-Bewohner Menschen sind, die nebenbei ein beruflichen Zoom Meeting absitzen könnten. Dein Kachelnachbar sozusagen. Ein SEK-Kommando stürmte die Sitzung und die Arbeitskolleg:innen dachten, das sei jetzt ein Überfall. Die Polizei fand bei der Festnahme und Hausdurchsuchung unter anderem heraus, dass das einzige Buch im Haus ein Buch über Sexualität von seinen Eltern gewesen sein soll. Solche absurden Details werden im Prozess bekanntgegeben, um die Lebensverhältnisse eines Täters zu verstehen. Ich verstehe gar nichts mehr. Ich treffe andere am Gang, die mehr Durchblick haben, Journalist:innen, die den Prozess begleiten. Sie werden mir sagen: „Wir schreiben nichts, was die Eltern der Opfer nicht lesen wollen.“ Das finde ich einen guten Kompass. Aber wie das machen? Und ab wann wird das Gericht zu einem Ort, an dem ein Wissen generiert wird, das man nun wirklich nicht haben will? Ist das nicht immer so? Hier aber dient dieses Wissen nicht nur einer Aufklärung, sondern wird in den falschen Händen zu einer Anleitung zu weiteren Sexualdelikten. Das wird auch klar, wenn im Laufe des Pro-

zesses immer von „Community“ und „Mentorschaft“ in der Szene gesprochen wird, als handle es sich um einen Karnevalsverein oder Sportclub. Während ganz Österreich über den Fall des Burgtheaterschauspielers Florian Teichtmeister spricht, der in der Ermittlungsarbeit ebenfalls äußerst kooperativ sein soll und vermutlich genauso eloquent, bleibt hier bei uns Prozessbeobachter:innen die Überlegung im Raum stehen, ob man nicht lieber jemanden hätte, der nicht so artikuliert spricht. Der stammelt und sich unterbricht, der unsortiert ist und wirr wirken könnte, das Monster, das als Monster sichtbar wird. Aber nein, zumindest hier am Landgericht Köln im sogenannten Wermelskirchen-Prozess werden die Taten eines Otto Normalmonsters verhandelt, der keine Kulturbranche aufrüttelt und kein Ausnahmetalent ist, sondern wie ein Buchhalter Einblicke in die enorme Vernetzung der kriminellen Szene eröffnet. Er lässt uns mit der dummen Frage zurück, „wie so was möglich ist“, eine Frage, die wir nicht stellen wollen, aber niemals ausreichend beantworten können. Neben ihr steht die, wie viel man über solch extreme Sexualstraftaten von Pädophilen in die Öffentlichkeit tragen muss und warum? Und da ist er schon wieder, der Verteidiger, der nicht ins Mikro sprechen will, seine Marotte, und sagt, dass sein Mandant als Monster bezeichnet wird, „und in gewisser Hinsicht ist er das auch“. Was möchten die Eltern der Opfer hier nicht lesen? Beginnt es schon beim Alter des Angeklagten? Oder dabei, dass er Helge-Schneider-Fan gewesen sei und Abba gehört habe. Vielleicht bleibt man bei den Überlebenden. Wie werden sie aus ihren Verletzungen rausfinden? Und wenn sie es nicht können, verzeihen wir ihnen? Das ist dann unser Thema. T

Hier schreiben unsere Kolumnist:innen, die Schrifststellerinnen Jenny Erpenbeck und Kathrin Röggla und der Schauspieler Burghart Klaußner, monatlich im Wechsel.

Theater der Zeit 3 / 2023

Fotos links Jessica Schwarz, rechts Kaserne Basel Konrad Festerer, Heimathafen Neukölln Verena Eidel, Theater RambaZamba Phillip Zwanzig, Brotfabrik Jenny Fitz, Sophiensaele Berlin Florian Krauss, Dietmar Schmidt, Theater Marie Ingo Höhn

Magazin Kolumne


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präsentiert RambaZamba Theater, Berlin Gisela Höhne inszeniert „Doña Rosita bleibt ledig oder Die Sprache der Blumen“ von Federico García Lorca. Alle Infos unter: rambazamba-theater.de 10.3. (Premiere), 11.3., 14.3. und 15.3. Boris Nikitin, „Magda Toffler – Versuch über das Schweigen“

Nele Winkler und Margarita Broich

SOPHIENSÆLE Berlin Hendrik Quast lernte die Kunst des Bauch­ redens, um sich der chronischen Darm­ krankheit Colitis ulcerosa künstlerisch anzunähern. Entstanden ist ein Stück, das für das kranke und gesunde Publikum ungewöhnliche Humorräume öffnet. 31.3. und 1.4.23

Theater Marie Das Stück der Schweizer Buchpreisträgerin 2021 erzählt humorvoll und mit starkem Ensemble vom Drang nach Gleichstellung und Unabhängigkeit. 2. – 4.3. Bern, 24.6. Brig

„This is a Robbery!“ von Martina Clavadetscher

SOPHIENSÆLE Berlin Vanessa Stern wagt Theater ohne Social Media! Sie gründete eine Ritterinnenschaft, um in den Kampf zu ziehen gegen die dunklen Mächte von Reichweite und Aufmerksamkeit. Seien Sie dabei, wenn keiner uns folgt! 16., 18. + 19.3.23 (Premiere)

Projekttheater Dresden Humorzone mit Friedemann Weise und Sebastian Krämer im Projekttheater Der „King of Understatement“ – Friedemann Weise – hat ein neues Programm. Bingo. Neue Songs und neue Geschichten. 10.3. Am 11.3. erleben wir bizarre Schönheit der Krämerschen Verse und Harmonien.

Theater der Zeit 3 / 2023

Schaubühne Lindenfels Leipzig „DER URKUNDE“ WILL SICH DEM VERGEWISSERN .. WOFÜR WIR KINDER WAREN .. WOFÜR WIR ANGETRETEN SIND .. WONACH WIR UNS SEHNEN .. ER SITZT SEIT 7 MONDEN AM HAFEN­ FENSTER … Musikalische Theater­ performance von und mit RAY ZWIEBACK. 10.3. (Premiere), 11.3. und 12.3.

„DER URKUNDE“ von und mit Wolfgang Krause Zwieback

Kaserne Basel „screening invisibilities“ von Zino Wey, eine assoziative Auseinandersetzung mit der Unsichtbarkeit 4.3. (Premiere), 5.3., 6.3., 7.3. und 8.3. Boris Nikitins neues Stück „Magda Toffler – Versuch über das Schweigen“ ist Ende März zu sehen 22.3., 23.3. und 24.3.

Heimathafen Neukölln, Berlin #Metoo, Machtmissbrauch, Korruption: FURIOS! ist eine theatralische Entdeckungsreise zum Thema Wut durch Mythologie, Soziologie, Medizin und Kulturgeschichte – und vor allem mitten durch die eigene Biografie. FURIOS! Eine wütende Show mit fünf Göttinnen, Band und Seminarleiter 3.3., 4.3., 16.3. und 17.3.

Brotfabrik Berlin „Anthropos Ex (Machina)“ Absurdes Theater, Performance Art und Live-Konzert. Von Theater.Macht.Staat + Gästen und Musik von Kinbom & Kessner. Weitere Infos unter theaterstaat.com 24.3. 19 Uhr und 25.3. 19 Uhr

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Theater der Zeit

Foto Petra Moser

Thema Neue Dramatik

„Grelle Tage“ von Selma Matter in der Regie von Charlotte Lorenz am Schauspielhaus Wien

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Schwerpunkt Das deutschsprachige Theater ist zweifellos eine große Landschaft neuer Texte. Bis zu 100 Uraufführungen gibt es pro Spielzeit, viele davon in direkter Zusammenarbeit mit einem Theater beauftragt oder in entsprechenden ­Programmen gefördert. Szenisches Schreiben kann man in Berlin seit vielen Jahren studieren, und Wettbewerbe lassen beinahe kein Talent ­unentdeckt. Aber wie haben sich die Themen der jungen ­Dramatik verändert? Was brennt ihren Autor:innen auf den Nägeln? Auffällig auch die ZweierKooperationen für das gemeinsame Schreiben. Und gibt es tatsächlich eine Rückkehr zum ­Erzählen, das ja auch die Postdramatik nie ganz verlassen hat? In seinem einige neueste Texte untersuchenden Beitrag erkennt Iven Yorick Fenker, der selbst am Leipziger Literaturinstitut studiert, eine „neue Dramatik, die alte Geschichten in einer neuen Welt für eine bessere erzählt“. Die frisch gekürte Kleist-Förder-Preisträgerin ­Elisabeth Pape spricht über ihre Ausbildung, während in Oberhausen ein neues Leitungsteam den Spielplan erstmal fast nur mit Uraufführungen bestreiten will. Zu diesem Schwerpunkt gehört auch das Stück Labor mit vier neuen Texten aus der Schweiz. (siehe S.40)

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1. „White Passing“ von Sarah Kilter in der Regie von Thirza Bruncken am Schauspiel Leipzig, 2. „Alice verschwindet“ von Matter*Verse in der Regie von Valerie Voigt am Landestheater Linz, 3. „Pirsch“ von Ivana Sokola in der Regie von Christina Gegenbauer am Deutschen Theater Göttingen, 4. „Polar“ von Sokola//Spreter in der Regie von Pablo Lawall am Theater Drachengasse

Neue Dramatik, alte Geschichten, neue Welten Neue Texte im Verhältnis zu einer neuen Realität Von Iven Yorick Fenker

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Eine Generation folgt auf die nächste, auf die nächste, auf die nächste. Das ist der Lauf der Dinge. Zeit vergeht unaufhörlich und so verändert sich die Welt. Den Blick auf diese hat eine neue Generation Dramatiker:innen gerichtet, deren Texte immer präsenter auf den Bühnen des deutschsprachigen Raumes werden. Ist sie also dabei, die Alten abzulösen? Kommen nun die Jungen? Oder sind es vielmehr einfach

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Fotos 1 Rolf Arnold, 2 Petra Moser, 3 Lenja Kempf, 4 BarbaraPálffy

Thema Neue Dramatik


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die neuen Stücke, die neue Sprachen, neue Themen und neue Akteur:innen auftreten lassen und so eine neue Realität abbilden, im besten Falle diese sogar selbst bilden? Das hätte dann weniger mit dem Alter der Körper zu tun, aus dem diese neuen Texte entstehen, als mit der Art, wie diese Autor:innen die Welt wahrnehmen, die immer eine andere sein wird als gerade gesehen, gerade beschrieben, immer schon

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geschehen. Es ist sicher lohnender, die Neuerungen der Formen zu betrachten, als Generationen zu formen. Dieses Abarbeiten an der vorherigen Generation ist 2023 allerspätestens aber schon länger out. Referenz, Verfremdung, Pop, Popliteratur, Diskurstheater, Postdramatik. Das ist irgendwie alles over and out und irgendwie halt auch nicht. Einen konservativen Backlash zur Dramatik gab es nicht, ebenso wenig wie das postdramatische Theater abgelöst wurde, hat das „Dagegen“ seine Ambition verloren. Das „Gegen“ ist sogar sehr präsent in der Gegenwartsdramatik. Es geht einfach nur nicht mehr nur gegen die Vergangenheit, es geht gegen die Gegenwart und in die Zukunft. Die Ironie, die breitbeinige, das selbstgenügsame Stück, das überhebliche, ist mit dem empfundenen politischem Vakuum gegangen, das sich spätestens 2015 als illusorisch erwiesen hat. Es geht wieder um etwas, es ist immer um alles gegangen. Es handelt sich hier um eine neue Dramatik, die alte Geschichten in einer neuen Welt für eine bessere erzählt. Die Begrifft des Anthropozäns, des Kapitalozäns, Formen des Digitalen, alles hat schon längst Eingang gefunden in die Matrix der Texte. Liest man die Textnachverweise, die Zeichen der Intertextualität, finden sich (feministische) Autor:innen, die das Verhältnis von Welt und Wahrnehmung nicht-anthropozentrisch verhandeln. Einer dieser neuen Dramatiker:innen ist Giorgio Ferretti, der in Leipzig am Deutschen Literaturinstitut studiert und 2022 mit seinem Stück „America“ den exil-DramatikerInnenpreis erhielt, welcher mit einer Uraufführung in der Spielzeit 2023/24 am Schauspiel Leipzig verbunden ist. In „America“ erzählt eine Figur, ein Mensch aus Südeuropa, von einer alten Welt und der Suche nach einer möglichen neuen. Der Erzähler erzählt aus seinem Leben, aus der Vergangenheit, die Erzählung ist im epischem Präteritum. Diese Episierung schafft eine narrative Dramatik, die ihr dramatisches Potenzial im Gestus des Erzählens ausschöpft. Es kann ja auch erst erzählt werden, was vergangen ist. Hier geht es rein ins Geschehen, die Geschichte beginnt im Badezimmer, die Figur ist da gerade fünfzehn Jahre alt und entdeckt „America“, in einem Magazin, dort abge-

bildet Menschen, oberkörperfrei, Männer. „America“ tritt hier als Begierde auf, wird bald zur Lust, Masturbation weicht bald der Melancholie. „America“ wird zum ­Synonym für Freiheit oder der Suche danach, wird zur Metapher für Identitäts­ entwurf, Lebenskonstrukt. Ferretti gelingt ein Coming-of-Age-Drama, eine abgeklärte Erzählung, dessen Setzung, dessen Versform den Rhythmus einer S ­uche nach Sinn vorgibt, einer Suche im Erzählen, im Erinnern, bei gleichzeitigem Erleben. Grammatikalische Verschiebungen sowie syntaktische Eigenheiten werden nicht als sprachlicher Mangel kaschiert, sondern werden zur angeeigneten eigenen Sprache, die ihre eigene melodische Kraft freisetzt. Der Text ist komprimiert, kurz und von einer fragilen Schönheit.

Geschichten in Metastücken Elisabeth Pape hat an der Universität der Künste Berlin Szenisches Schreiben studiert und in diesem Jahr den Kleistförderpreis für junge Dramatikerinnen und Dramatiker für ihr Stück „Extra Zero“ erhalten, der mit einer Uraufführung im Juli diesen Jahres am Staatstheater Augsburg einhergeht, in der Regie von Blanka Rádóczy. Pape ist ebenfalls eine dieser neuen Dramatiker:innen, die eine Geschichte erzählt. In „Extra Zero“ treffen verschiedene Figuren und Figurenkonstellationen mit eigenen Logiken und (Erzähl-)Strategien aufeinander. Die psychiatrische katholische Klinik, in der sich die Hauptfigur, „DIE MIT DER PRINGELS DOSE“ zur Behandlung ihrer Essstörung und Depression aufhält, tritt selbst als Figur, als „INSTITUTION“ auf. Und obwohl „DIE MIT DER PRINGELS DOSE“ in der Haltung der Erzählerin des Textes auftritt und auch über ein Vorwissen verfügt, aus der Vergangenheit erzählt, wird sie doch immer wieder in die akuten Szenen gedrängt, eingerahmt vom Chor, aus dem wiederum immer wieder einzelne Stimmen hervortreten, angetrieben von der Institution, besungen von den katholischen Liedern, die den Text und, man könnte meinen, das Mark der Figuren, durchdringen. Auf einmal singen alle, unisono, creepy. „Extra Zero“ ist eine einfühlsame Recherche,

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Thema Neue Dramatik ein komplexes Gebilde, ein aufwühlender Erlebnisbericht, und auch dieser Text operiert mit epischen Elementen, die jedoch durch ihre szenische Anlage klar in der dramatischen Form verbleiben. Und dann ist da Sarah Kilter. Sie studierte ebenfalls Szenisches Schreiben an der Universität der Künste Berlin. (Diese Formulierung wird sich hier wieder­holen, was natürlich mit der Auswahl für diesen Text, aber auch mit dem Ausbildungssystem zu tun hat. Die Ausbildung ist institutionalisiert, die Netzwerke sind geknüpft.) Ihr Text „White Passing“ war eines der Gewinnerstücke bei den Berliner Autor:innentheatertagen 2021, wurde von T ­ hirza Bruncken am Deutschen Theater in Berlin uraufgeführt und ist nun immer noch im Repertoire des Schauspiel Leipzig. 2022 war sie mit demselben Text für den Mülheimer Dramatikpreis nominiert und wurde von Theater heute zur Nachwuchsdramatikerin gewählt. Von ihr liegen drei Dramen vor. Da ist „Daddy“ (zusammen mit Lars Werner), eine Dystopie im Jahre 2035, nach der Klimakatastrophe, ein Abgesang an die Heilsversprechen durch Familie, Heim und Vaterfigur. Daddy ist hier schon metaabwesend, ist nur noch als Chatbot präsent, agiert nicht als aktiver Akteur, sondern als distanzierte Instanz. Eine Anlage an die Figurenkonstellation, die fast so deprimierend wie trügerisch ist. So trügerisch wie das verhandelte Versprechen der Erlösung aus der Krise durch Innovationen, wie sie die Neoliberalen der Jetztzeit propagieren. Es ist eigentlich ein Wunder, dass dieses Endzeitdrama, in dem Berlin zum Luftkurort geworden ist, noch auf seine Uraufführung wartet. Eine derartig kluge Analyse und Prognose des Anthropozäns sowie der ideologischen Verwerfungen, der Versprechen der Wege aus und Umgänge mit der nahenden Klima­katastrophe ist gerade äußerst wichtig. Wenn Dramatik etwas kann, dann den Blick richten, Gegensätze offenlegen und Widersprüche hinterlassen, mit denen noch nichts gewonnen ist. (s. Stückabdruck TdZ 02/23). Neben dem vielprämierten und zu Recht gelobten Stück „White Passing“, der amüsanten Meta­ reflexion über Repräsentation, Migration, Kunst und Konsum, liegt mit „Mädchen-

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liegestütze“ ein weiteres meisterhaftes ­Metastück vor, das zwar als Hörspielversion beim Deutschlandfunk zu hören ist, aber auch noch auf seine Uraufführung wartet. Sarah Kilter schafft es hier, das Schreiben selbst auszustellen. Das hat einen Auftritt auf der Bühne verdient. Auch Selma Matter studiert an der Universität der Künste Berlin Szenisches Schreiben. Das Stück „Grelle Tage“ wurde 2022 mit dem Hans-Gratzer-Preis ausgezeichnet und im Januar 2023 am Schauspielhaus Wien von Charlotte Lorenz urauf­ geführt. „Grelle Tage“ ist ein auf formaler, kompositorischer und inhaltlicher Ebene avantgardistischer Text. Wirklich ein großer Wurf, ein Abriss des Anthropozäns, der Lücken durch die Zeit, durch die Welt und durch den Text aufmacht und Verbindungen herstellt, wo wir Brüche fürchten sollten. Matter wagt eine Prognose der nahenden Ano­malien der Klimakatastrophe, sie werden hier zur akzeptierten Realität. Nur „Jo“, ein menschliche:r Jugendliche:r wacht noch über den ausgetrockneten See in Brandenburg, nimmt wahr, wie das Wasser in den Boden sickert, während parallel dazu in Sibirien ganze Städte in den Boden sacken und parallel dazu das Matterhorn in der Schweiz zusammenfällt. Als der „ZERFLEDDERTE HUND“ auftaucht beginnt eine Reise durch die Risse die sich immer weiter, immer breiter durch die Welt ziehen. Sie reisen durch die Welt, der Hund durch die Zeit, versuchen mit Kiessplittern aus dem Baumarkt das Loch im Matterhorn zu stopfen, während gleichzeitig in Sibirien die aus dem Eis freigeschmolzenen Mammutleichen geplündert werden für faires Elfenbein. In einem Roadmovie through late capitalism geht es durch die Gleich­ zeitigkeit der Ereignisse und der Sprache, bis zum Schluss alles, wirklich alles nebeneinander liegt. Ein Text, der herausragt.

Neue Welten Matter schreibt seit 2020 mit Marie Lucienne Verse, die am Deutschen Literaturinstitut Leipzig studiert. Zusammen bilden die beiden das Autor:innenduo Matter*Verse. Im Rahmen des ThomasBernhard-Stipendiums entstand das Stück „Alice verschwindet“, das 2022 dann im

Landestheater Linz von Valerie Voigt-­Firon uraufgeführt wurde. „Alice verschwindet“ ist die Suche dreier Töchter nach der verschwundenen Mutter, Alice ist verschwunden. Sie ist nicht mehr im Heim, zuhause war sie schon länger nicht mehr. Die Suche richtet sich in die Vergangenheit. Die Spuren versuchen die Töchter in ihren Erinnerungen zu finden. Aktuell und in der Gegenwart sind nur das Heim und die Schneiderin auf der Suche nach Alice. Von beiden dringen immer wieder Nachrichtenfragmente als Push-Benachrichtigung in den Text. Alice und die Schneiderin verbindet eine innige Liebe. Eine, in der immer geheim gehandelt, versteckt, aber die nie als geheim behandelt wurde. Dieses Geheimnis war offen. Und doch ergeben sich dort viele Geheimnisse, wo das große nun so offenliegt. Hätte diese Liebe anders sich entfalten können, wenn... Die Fragen treiben den Text an und hinterlassen so viele Lücken, bis die Welt nicht mehr aus festen Dingen besteht. Eine Erzählung in einem eingängig eintönigen Ton, der eine Melodik entstehen lässt, die berührt. Die Premiere des neuen Stücks „Alias Anastasius“ wird im März am Berliner Ensemble stattfinden. Ivana Sokola, studierte ebenfalls an der Universität der Künste Berlin Szenisches Schreiben. Für ihr Stück „Kill Baby“ erhielt sie 2021 den Kleist-Förderpreis für junge Dramatikerinnen und Dramatiker. 2022 bekam sie für „Pirsch“ den Autor:innenpreis des Heidelberger Stückemarkts. „Kill Baby“ wurde 2021 im Nationaltheater Mannheim unter der Regie von Sapir Heller uraufgeführt. Auch dieses Stück ist eine Erzählung, nachdem das Handlungstreibende schon passiert ist. Kitti ist siebzehn und schwanger. Sie wohnt in einem Hochhaus, zusammen mit zwei Generationen, ihrer Mutter Viki und ihrer Großmutter Sugar. Die beiden wissen, was das Leben bereithält, aber auch, was es einem vorenthalten kann. Dieser Text ist eine klassenkämpferische Auflehnung, die Entscheidung einer jungen Frau gegen oder für das Baby, gegen oder für dieses Leben oder dieses oder dieses. Sokola schenkt ihren Figuren eine souveräne Sprache, ein Selbstbewusstsein und einen poetischen Ton, der zu Poetik des Textes wird, bei aller dring-

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Thema Neue Dramatik Was diese neuen Dramatiker:innen eint, ist der Drang danach, etwas zu erzählen, neu zu erzählen, mitunter alte Geschichten, allgemeingültige, aber es sind neue Welten.

lichen und ungeschönten, notwendigen Härte. Eine außerordentliche Leistung und eine Beschreibung der Verfahrensweise, die sich ebenso gut auf ihr zweites Stück anwenden lässt. „Pirsch“, 2023 am Deutschen Theater Göttingen von Christina Gegenbauer uraufgeführt, ist ein Text über das Verschweigen, über den Missbrauch von Macht, über sexualisierten Übergriff, über Rache. Die Sprache ist brutal und

kompromisslos. In einer ungeheurem poetischen Gnadenlosigkeit geht die Protagonistin auf die Hetzjagd und durchforstet die Dorfgesellschaft, macht keinen Halt vor der staatlichen Gewalt, die, wie auf dem Land üblich, eher mit Personen aus der Gemeinschaft zusammenfällt. Die Geschichte ist komplex gebaut, zu komplex für moralische Schlüsse und einen eindeutigen Schluss (s. auch die Kritik auf tdz.de) Sokola bildet mit Jona Spreter, der auch an der Universität der Künste Berlin Szenisches Schreiben studierte, das Autor:innenduo Sokola//Spreter. Zusammen entstanden bisher drei Stücke. „Tierversuch“ ist ein radikaler Text über bedingungslose Beziehungen unter den Bedingungen der Methodik und Sprache der Wissenschaft, die konfrontiert werden mit sanfteren Sprachen der Liebe. Ein Ringen um Erkenntnis, eine Geschichte einer Versuchsanordnung, die kein Glück zulässt, aber Befriedigung verspricht. Mit

„Polar“ gewannen die beiden den Nachwuchswettbewerb „Einfach Radikal“ am Theater Drachengasse in Wien, im Januar 2023 fand dort die Uraufführung in der Regie von Pablo Lawall statt. Ein philosophischer Exkurs, die Geschichte eines Gefängnisausbruchs und der Suche nach Erlösung, Freiheit, Bedeutung im existenziellen Whiteout. Radikal, rücksichtslos und voller Weitsicht. Im Mai wird „Farn Farn Away“ am Theater Münster von Tobias Dömer uraufgeführt werden. Ein Stück, das so weit in die Zukunft des Zusammenlebens mit künstlichen Intelligenzen schaut, dass es nach der Veröffentlichung von ChatGPT nicht aktueller sein kann. Was diese neuen Dramatiker:innen eint, ist der Drang danach, etwas zu erzählen, neu zu erzählen, mitunter alte Geschichten, allgemeingültige, aber es sind neue Welten die sich in diesen abbilden, manifestieren oder erahnen lassen. Näher an die Realität rücken diese Texte damit allemal. T

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Die eigene Dringlichkeit Die Dramatikerin Elisabeth Pape über Schreiben als Freiheit, Geduld in der Überarbeitung und die Auszeichnung mit dem Kleist-Förderpreis im Gespräch mit Nathalie Eckstein

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Du schreibst Theaterstücke. Warum hast du dich für diese Form entschieden? EP: Ich bin mit zwanzig Jahren mit dem Stück „Crave“ („Gier) von Sarah ­Kanes in Berührung gekommen und habe mir anschließend die Rowohlt-Taschenbuchausgabe mit sämtlichen Stücken von ihr gekauft. Mit solchen Texten bin ich zuvor einfach nicht in Berührung gekommen. Da hat mich wirklich etwas berührt. Und dann wollte ich genau das: eine Form finden, die das Leid erfahrbar und vor allem aushaltbar im Text, in der Sprache macht und dabei den Humor nicht außen vor lässt. Für mich war der Theatertext anfangs eine Möglichkeit, nicht zwangsläufig eine korrekte Satzstruktur einzuhalten. Wenn wir Menschen sprechen, sind die Sätze, die Sachen, die wir sagen, einfach von Gedanken getrieben. Da fragen wir uns ja im Sprechen nicht: „Oh, stand jetzt das Objekt an der richtigen Stelle?“ Außerdem verzeiht der Theatertext, wenn jemand anders spricht, oder vielleicht will das ja auch der Theatertext, da kann jemand einfach sagen: „Und neben den Ferrero Küsschen, Happy Hippos, Kinder Joys und Chupa Chups packte ich meine STABILOFilzstifte und STABILO-Buntstifte aus, drei Schreibblöcke von Diddl, einen atemberaubend unglaublichen Akrakadiddlabra-Block, einen Reibeduftblock, einen Magic-3D-Block und ein Federmäppchen von Scout.“ (Zitat aus meinem brandneuen Stück mit dem Arbeitstitel „KLASSE RUCKSACK“) Das ist jetzt erst mal ein Satz, der sowohl wierd ist und explizite Wörter beinhaltet, die man in der Anreihung nicht im Alltag hören würde, und der auch mit einem „und“ beginnt. In der Schule habe ich ja gelernt, dass das ein No-Go ist. Der Theatertext gab mir die Freiheit zu schreiben, mich aus meiner gefühlten Unzulänglichkeit rauszuholen. In meiner Abiturprüfung im Deutsch-Leistungskurs habe ich eine Szenenanalyse von Lessings „Nathan der Weise“ geschrieben und ungelogen drei Punkte kassiert. Ich bin durchgefallen, mit einer 5+. Damals dachte ich: Okay, ich verstehe anscheinend nichts vom Theater, nichts von Dialogen und von Sprache verstehe ich anscheinend auch

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Foto Daniel Nartschick

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Thema Neue Dramatik „Für mich war der Theatertext anfangs eine Möglichkeit, nicht zwangsläufig eine korrekte Satzstruktur einzuhalten. Wenn wir Menschen sprechen, sind die Sätze, die Sachen, die wir sagen, einfach gedankengetrieben.“

nichts. Da sieht man mal wieder, wie traumatisch Schule sein kann. Dem Text auf der Bühne kann man nicht entkommen. Sitzt man einmal im ­Publikum, bleibt man ja meistens sitzen. Das mochte ich! Außerdem das Zusammenspiel aus allen Faktoren einer Inszenierung: die leibliche Kopräsenz, das Sehen, das Hören, alles vereint. Und natürlich ist es eine Freude, wenn die Menschen sprechen, was ich da schreibe. Es erscheint gerade eine neue Generation junger Dramatiker:innen auf den Bühnen der deutschsprachigen Theater. Es geht um Themen, die neu verhandelt werden, für die neue Formen gefunden werden. Klima­ wandel, globale Gerechtigkeit, psychische Erkrankungen. Oft stehen neue Materia­ lismen und Philosophinnen wie Rosi Brai­ dotti, Donna Haraway oder Autor:innen wie Ursula K. LeGuin im Hintergrund. Dein Text weist intertextuelle Referenzen zu Kirchenliedern auf. Wo würdest du dich schriftstellerisch verorten? EP: Die Kirchenlieder repräsentieren zunächst eine weitere absurde Beschäftigung, die da im Klinikalltag stattfindet. Die Kirchenlieder haben also was mit dem Ort zu tun, an dem sich die Figuren in dem Stück befinden. Und der Ort bleibt konstant, löst sich nicht auf, wird vielleicht nur zwischenzeitlich blurry, wenn Strong & Beautiful spricht. Der Ort ist ein katholisches Krankenhaus, eine Station, eine Einrichtung, in der junge Menschen wieder gesund werden müssen, wollen, sollen, und zum Programm gehört es nun mal, da diese Lieder zu singen – so, als ob es zur Genesung beitragen würde, „Der Himmel

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erfüllt mein Herz“ zu singen. Das gemeinschaftliche Singen ist ja natürlich erst mal eine Tätigkeit, bei der man zusammenkommt und die einem das Gefühl geben kann, da nicht alleine zu sein. Das bringt ja auch ein Chor mit. Aber warum nutzt man nicht das gemeinschaftliche Event und singt „I Am Beautiful“ von Christina Aguilera oder „Born This Way“ von Lady Gaga?! Ich glaube, dass ich auf die Frage, wo ich mich schriftstellerisch verorten würde, gar keine richtige Antwort habe. Der Schreibprozess funktioniert wie eine Dominokette. Zunächst bin ich ja nicht nur ein Medium, das da wiedergibt, was in der Welt vor sich geht. Ich frage mich: Was geht mich was an? Was macht mich gerade besonders wütend und lässt mich gedanklich nicht los? Und dann: Will ich das Thema auf einer Bühne sehen, und wenn ja, in welcher Form? Gibt es diese Form schon? Nö? Okay, dann werde ich jetzt probieren, dieses Stück zu schreiben und eine Form dafür zu finden, die mich selbst interessieren würde zu sehen! Diesen Gedanken empfinde ich immer noch als ziemlich wertvoll. Und dann lese ich mich kreuz und quer durch, um am Ende einen Theatertext schreiben zu können, der bestenfalls einem breiten Publikum zugänglich werden kann, der über das Einzelschicksal hinausgeht und das Potenzial beinhaltet, an einigen Stellen laut aufzulachen. John von Düffel hat das mal gesagt, dass diese Form, die ich in „Extra Zero“ aufmache, weder Postdramatik ist noch klassisches Figurentheater. Da würde ich mich verorten, irgendwo dazwischen. Du wurdest kürzlich in das Verlags­ programm von Rowohlt aufgenommen. Was bedeutet das für dich? EP: Also erst einmal habe ich eine tolle Lektorin, die sich noch mal über die Texte beugt, die ich da fabriziere und die mir sagt: „Elisabeth, mach doch vielleicht lieber noch mal so oder schau dir das doch noch mal an.“ Der Verlag hilft mir, mich selbst ernst zu nehmen, gibt mir die Legi­ timation, nach dem Studium weiterzuschreiben und als Theaterautorin/Autorin ernst genommen zu werden. Das ist ja im

Endeffekt das Ziel nach dem Studium: einen Verlag zu finden, der einen will, und im besten Falle einen Nachwuchspreis gewinnen. Check. Natürlich nicht zu vergessen, dass der Verlag versucht, meine Texte an Häusern unterzubringen. Wenn ich von meiner privaten E-Mail-Adresse einem Theater einen Text von mir schicken würde, kann ich mir vorstellen, dass zu 97 Prozent da niemand Interesse dran hätte. Funfact: Wenn man mich fragt, was ich so im Leben mache, antworte ich, dass ich größtenteils fürs Theater schreibe. Dann werde ich oft (nicht immer) schräg angeschaut. Um mich selber und die Tätigkeit zu rechtfertigen, behaupte ich dann, dass ich beim Verlag bin, und zwar bei Rowohlt. Dort, wo auch Sibylle Berg und Elfriede Jelinek sind. Amen. (Natürlich sind noch viele andere tolle Autor:innen bei Rowohlt!) Dann nicken die Menschen langsam und ich hoffe inständig, dass sie es verstehen. Egal. Ich verstehe es ja. Du studierst an der Universität der Künste Berlin Szenisches Schreiben. Kann man Schreiben lernen? Wie kann künstlerische Ausbildung gut institutionalisiert gelin­ gen? EP: Also rückblickend würde ich sagen, dass sich mein Schreiben verändert hat. Wenn ich frühe Texte von mir anschaue, würde ich aber aus meiner jetzigen Perspektive sagen, dass die vor dem Studium nicht grottig waren. Also sollte man ein bisschen Talent mitbringen, vor allem aber auch Lust, Geduld und eine realistische Einschätzung vom eigenen Können. Gut, wie man diese realistische Einschätzung findet, weiß ich bis heute nicht. Aber vielleicht schwankt man eh das ganze Leben als Autor:in zwischen Größenwahn und Erniedrigung. Ich glaube nicht, dass man Schreiben lernen kann, aber besser werden kann man allemal! Im Studium des Szenischen Schreibens wurde ich darin geschult, Ausdauer zu haben, Zugang zu Texten zu bekommen, zu lesen und über Texte zu sprechen. Ich habe ziemlich lange gebraucht, um Texte zu überarbeiten. Das ist anstrengend, macht keinen Spaß, weil man wirklich geduldig sein muss. (Ich kann es nicht

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Thema Neue Dramatik „Im Studium des Szenischen Schreibens wurde ich darin geschult, Ausdauer zu haben, Zugang zu Texten zu bekommen, zu lesen und über Texte zu sprechen.“

oft genug betonen, aber auch, weil es mir anfangs gar nicht klar war.) Im Studium hatte man die Möglichkeit, Texte in Werkstätten auszuprobieren, die von Schauspielstudierenden anspielen zu lassen. Außerdem wurden uns schon sehr viele Kooperationen mit Häusern, anderen Universitäten ermöglicht. In dieser Branche geht es schließlich auch darum, Kontakte zu knüpfen. Bei uns im Jahrgang herrschte aber auch ein ziemlich hoher Produktionsdruck. Sehr wenige Studierende haben Texte öfter in die Textwerkstatt mitgebracht. Ich habe Unmengen geschrieben und teilweise auch wirklich Schrott. Das war ja auch wichtig, um erst mal Formen und Themen auszuprobieren. Dafür braucht man auch einfach Zeit. Das ist auch das, was ich allen Menschen raten würde: Seid nicht gestresst und lasst euch Zeit! Ansonsten bekommt ihr bestimmt irgendwann Tinnitus. Und was auch nicht hilft, ist betriebsorientiert zu schreiben. Besser ist, da auf sich selbst und auf die Themen zu vertrauen, die einen was angehen und interessieren. Da war ich auch nicht gut drin. Im Unterricht habe ich oft nebenbei nach Ausbildungsplätzen gegoogelt, für den Fall der Fälle, dass ich keinen Erfolg haben werde mit dem Schreiben, oder nach irgendwelchen Ausschreibungen, um doch weiter zu probieren, Erfolg zu haben. Vielleicht sollte auch einfach die Altersgrenze bei den Nachwuchspreisen verschoben werden. Auf das Alter 25 bis 35. Was für ein Meisterwerk kann denn ein:e 19-Jährige:r fabrizieren? Zum Schreiben gehört ja auch Lebenserfahrung.

Klinikalltag. Wie war die Auseinanderset­ zung mit dem Thema? EP: Den Text zu schreiben hat mich enorm viel Anstrengung und Kraft gekostet. Neben meiner subjektiv gemachten Erfahrung habe ich mich grundsätzlich einfach sehr viel mit Essstörungen beschäftigt. Ich habe Stunden auf Instagram verbracht, unter den Hashtags, die im Stück aufgegriffen werden, etliche Posts und individuelle Krankheitsgeschichten gelesen, habe mit betroffenen Menschen Kontakt aufgenommen. Natürlich brauchte ich zwischendurch auch Pausen, ich bin ja immer noch leider nur ein Mensch, der Energie braucht, also bin ich zu Rewe gegangen, da stand dann direkt am Eingang das neue Mahlzeit­ ersatzgetränk YFood. WTF, dachte ich mir. Soll ich keine Zeit haben, um mir was zu kochen und stattdessen ein Getränk in den Körper kippen, das eine Mahlzeit ersetzt? Was will denn die Lebensmittelindustrie von mir, und wie hoch ist eigentlich der prozentuale Ansatz in unserer Gesellschaft derer, die sich nicht mit Essen, der Nahrungszufuhr und dem eigenen Körper beschäftigen? Essen ist ja etwas, was uns Menschen vereint. Also: Wo beginnt die die psychische Erkrankung? Zudem spürte ich im gesamten Schreibprozess eine ziemliche Dringlichkeit. Angefangen habe ich irgendwann in der Pandemie und mich gefragt: Wie geht es denn eigentlich gerade Kindern und Jugendlichen? Naja, und jetzt sieht man ja langsam, aber sicher, wie es denen ging und geht: schlecht. Der Text „Extra Zero“ ist keine Therapiemaßnahme, soll dennoch Menschen sensibilisieren, Jugendliche, Erwachsene, aber auch Mitarbeiter:innen in der Jugendpsychiatrie und Psychosomatik. Ein Anliegen ist es, mit „Extra Zero“ dysfunktionale Klinikkonzepte aufzuzeigen. Kliniken und Krankenhäuser, die eigentlich junge Menschen in Krisen unterstützen sollten, haben das Potenztial, traumatische Spuren zu hinterlassen. Wie und wo also gesund werden?

In deinem Text „Extra Zero“ widmest du dich Essstörungen in einer Klinik. Es geht um Körperbilder, um Krankheiten, um

Dein Text „Extra Zero“ arbeitet stark cho­ risch. Welche Funktion erfüllt dieses for­ male Element?

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EP: In meinem Stück spiegelt der Chor eine Community, eine Gemeinschaft wider. Das ist der Chor der Essgestörten, der zusammensteht, sich Halt gibt und für Orientierung sorgt. Alle Formen der Ess­ störungen werden ja im Geheimen ausgelegt, und der Chor macht genau das Gegenteil, solidarisiert sich und zeigt sich gegenseitig: Man ist nicht allein. Außerdem finde ich Chöre auf der Bühne immer toll. Der Chor bringt an sich schon eine Dynamik mit, die ich gerne viel öfter sehen würde. Du hast gerade den Kleist-Förderpreis für junge Dramatikerinnen und Dramaziker gewonnen. Wie siehst du der Urauffüh­ rung entgegen? EP: Wie schön, dass endlich der Text in Körper kommt, in Münder kommt, auf einer Bühne sich entwickeln kann. Ich freue mich auf die Wundertüte und hoffe sehr, dass ganz viele Menschen den Text und die Inszenierung toll finden werden. T

Elisabeth Pape, geboren 1995, wuchs zwischen Berlin und Černivci/Ukraine auf, studierte Theater- und Literaturwissenschaft an der Freien Universität Berlin und anschließend Szenisches Schreiben an der Universität der Künste Berlin. Ihre Stücke liefen als Werkstattinszenierungen sowohl an der Volksbühne am Rosa-LuxemburgPlatz, Berlin, am Theaterdiscounter, der Hochschule für Schauspielkunst Ernst Busch in Berlin sowie auf Kampnagel in Hamburg. Für das Theater Koblenz hat sie Anton Tschechows „Der Kirschgarten“ neu bearbeitet und ergänzt. Premiere war am 21. Mai 2022 in der Regie von Markus Dietze. Ihr Stück „Extra Zero“ wurde mit dem Kleist-­ Förderpreis 2023 ausgezeichnet. Die Stücktexte und Aufführungsrechte liegen beim Rowohlt Theater Verlag.

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Schauspiel Kammerbühne

Premiere 01. Apr. 2023

Kairos s

Regie Fania Sorel

Nach dem Roman von Jenny Erpenbeck In einer Fassung von Armin Petras (UA)


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Leidenschaftlich zeitgenössisch Das Theater Oberhausen setzt fast ausschließlich auf neue Dramatik Von Stefan Keim

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Das Große Haus ist ausverkauft. In Oberhausen war das lange eine Seltenheit. Zumal wenn eine Uraufführung mit einem eher seltsamen Titel auf dem Spielplan steht. „Die Wahrheit über Leni Riefenstahl (inszeniert von ihr selbst)“. Ein doppelbödiges Spiel, denn Regie führt die neue Intendantin Kathrin Mädler und den Text hat John von Düffel geschrieben. Ein problematisches Stück, nicht ohne Längen, vor allem vor der Pause. Dennoch großer Jubel, nicht nur – wie mancherorts üblich – von den eigenen Kolleg:innen. Da scheint etwas zusammenzuwachsen, ein breites Publikum und ein Theaterteam, das fast ausschließlich auf zeitgenössische Stücke setzt. Und das in Oberhausen? Der Ruhrgebietsstadt voller sozialer Probleme, in der Mädlers Vorgänger Florian Fiedler mit seinem innovationsfreudigen Programm zu wenig Publikum fand, um verlängert zu werden. Auch Vorvorgänger Peter Carp zeigte viele der heute schon fast legendären Inszenierungen wie Simon Stones „Orestie“ auf der Hinterbühne bei reduziertem Platzangebot. Oberhausen hat kein klassisches Bildungsbürgertum. Es ging die Mär, dass hier vor allem Liederabende und Komödien Publikum anziehen. Nun rühmen die Dramaturginnen, wie offen und neugierig die Zuschauer:innen sind. „Wir haben auch mit einem Liederabend angefangen“, sagt Chefdramaturgin Saskia Zinsser-Krys. „Gute Hoffnung“ heißt er, die Worte stehen auch als Motto über der Spielzeit. „Das war eine große Einladungsgeste. Und da hatte ich gleich das Gefühl, es ist ein Funke übergesprungen. Das Publikum ist der Einladung gefolgt. Wir haben ja nun schon weit über die Hälfte der Premieren gespielt und viele unterschiedliche Dinge gemacht.“ Saskia Zinsser-Krys schaut zu ihrer Intendantin, die neben ihr sitzt. „Kathrin“, ergänzt sie, „ich hatte schon ein bisschen Sorge wegen der niedrigen Zuschauerzahlen an diesem Theater. Und dass wir jetzt eine ausverkaufte Premiere hatten, freut mich riesig. Ich dachte, wir brauchen länger dafür.“ Vielleicht liegt ein Grund darin, dass die neue Leitung zwar Ur- und Erstaufführungen zeigt, aber nicht gleich mit schwer zugänglichen Sprachkunstwerken

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Fotos 1 Forster, 2 & 4 Jochen Quast, 3 Axel J. Scherer

Thema Neue Dramatik


Thema Neue Dramatik angefangen hat. Die ersten Stücke erzählen Geschichten. „Kissyface“ von Noah Haidle ist eine durchaus netflix-taugliche Thrillerfarce aus einer US-amerikanischen High School. Auf dem Campus bricht ein Bürgerkrieg aus, das Publikum sitzt mit dem Ensemble in der Bibliothek, der letzten Zuflucht. Und zwar hautnah, das gesamte Studio ist Spielfläche. Und „Welt überfüllt“ von Anna Gmeyner ist zwar eine Uraufführung, aber, wie Saskia Zinsser-Krys erläutert, „eine besondere Uraufführung, weil sie fast einhundert Jahre alt ist. Es hat uns beeindruckt, wie unglaublich aktuell der Text unsere Zeit erzählt. Das war der Grund, warum wir ihn auf der Bühne gezeigt haben.“ Ein bisschen Horváth-Touch weht durch den Abend. „Wir glauben schon an die großen Emotionen, an Geschichten“, sagt die Chefdramaturgin. „Wir glauben daran, dass wir politisch relevantes Theater ohne Zeigefinger machen können, mit einer Geschichte, die das Publikum nicht nur im Kopf, sondern auch im Herzen berührt.“ Der Zeigefinger ist dem Theater Oberhausen durchaus nicht fremd. In den zwei Klassikerinszenierungen wird er deutlich erhoben. Am Ende von Büchners „Woyzeck“ gibt es einen vom Ensemble verfassten Epilog, in dem der Femizid in Geschichte und Gegenwart thematisiert wird. Und der mit viel Energie gespielte „Schimmelreiter“ nach Theodor Storm wird sogar von erklärenden Kommentaren umrahmt. Am Ende münden sie in Gesprächsrunden mit dem Publikum über die Klimakatastrophe und klischeebeladene Frauenfiguren in alten Texten. Beide Inszenierungen sind erkennbar für Schulklassen gedacht. „Woyzeck“ ist in Nordrhein-Westfalen Abiturstoff und wird an jedem zweiten Theater gespielt. Bei den Klassikern könnte sich Oberhausen mehr trauen und das Publikum nicht ganz so aufdringlich ans Händchen nehmen. Doch das Repertoire ist eben nicht die Kernkompetenz des Spielplans, der – den Sonderfall Anna Gmeyner ausgenommen – konsequent auf neue Dramatik setzt. „Die Zusammenarbeit mit Autor:innen ist für uns zentral“, sagt Kathrin Mädler. „Auch weil wir uns nach der Pandemie fragen müssen,

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3 1. „Die Wahrheit über Leni Riefenstahl (inszeniert von ihr selbst) von John von Düffel, Regie Kathrin Mädler, 2. „Kissyface“ von Noah Haidle, Regie Kathrin Mädler, 3. „zwei herren von real madrid“ von Leo Meier, Regie Maike Bouschen, 4. „Welt überfüllt“ von Anna Gmeyer, Regie Thomas Ladwig

wie wir Orte der Zeitgenossenschaft sein können. Da ist der Fokus auf zeitgenössische Dramatik der richtige Weg.“ Dabei buhlt Oberhausen nicht um die großen Namen, sondern setzt auf Entdeckungen. Wie „zwei herren von real madrid“, in dem Leo Meier von zwei schwu-

len Fußballprofis erzählt, die Drachen als Haustiere haben. „Wir haben intensiven Kontakt mit den Theaterverlagen“, erzählt Kathrin Mädler, „das war so eine Empfehlung.“ Und Dramaturgin Laura Mangels bereitet gerade ein viertägiges Festival mit neuen Stücken aus Südosteuropa vor.

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Thema Neue Dramatik Und noch eins überrascht am Oberhausener Spielplan. Durch die Konzentration auf neue Dramatik ist überhaupt nicht zu erkennen, welches Stück Tragödie oder Komödie ist.

Das Goethe-Institut hat in mehreren Ländern Dramatiknachwuchs mit etablierten Autor:innen zusammengebracht. „Nach der zweijährigen Schreibphase“, berichtet Laura Mangels, „sind 34 sehr spannende Texte entstanden. Eine Jury hat eine Shortlist mit fünf Autor:innen erstellt, die wir ins Rampenlicht rücken wollen.“ Oberhausen arbeitet hier mit dem neuen Leitungsteam am Schauspiel Essen, dem Nationaltheater Mannheim und dem deutschsprachigen Theater im rumänischen Sibiu zusammen. An diesen Orten sollen ausgewählte Stücke ihre Uraufführungen erleben. „Beim ,Festival New Stages South East‘ im April“, sagt Laura Mangels, „können wir aber viel mehr zeigen. In vier Tagen präsentieren wir mit Werkstattinszenierungen und szenischen Lesungen eine neue Generation aus Südosteuropa.“ Felicia Zeller gehört zu den etablierten Dramatikerinnen. Sie hat im Oberhausener Frauenhaus Interviews geführt und erarbeitet ein Stück, das noch keinen Titel hat und am Ende der Spielzeit uraufgeführt werden wird. Auch John von Düffel gehört zu den bekannten und vielgespielten Theaterautoren, der allerdings zu Unrecht wegen seiner erfolgreichen ThomasMann-Adaptionen oft auf das Image eines geschickten Handwerkers reduziert wird. Allerdings weist sein Stück „Die Wahrheit über Leni Riefenstahl (inszeniert von ihr selbst)“ genau diese Schwächen auf. Der Text arbeitet sich detailreich an der Autobiografie der ästhetisch wegweisenden und politisch höchst zweifelhaften Filmregisseurin ab. Eine Menge Informationen fliegen am Publikum vorbei, die in der Eile nur mit viel Vorwissen sortiert werden können. Kathrin Mädler inszeniert die Faktenfülle als Farce mit eher harmlosen

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Hitler- und Goebbels-Karikaturen. Schulfunk auf Koks, könnte man sagen, wenn Kokain nicht so voll Weimarer Republik wäre, wie es im Stück heißt. Schön ist allerdings der Kunstgriff, gleich drei Lenis auftreten zu lassen: die junge Tänzerin und Schauspielerin, die mitteljunge Regisseurin, die während der Nazidiktatur Karriere macht, und die alte, die Rückschau hält. Das umwerfende Schauspielerinnentrio (Maria Lehberg, Ronja Oppelt und Anke Fonferek) hält die Spannung hoch. Und nach der Pause wird das Stück dichter, findet eine klare Geschichte, konzentriert sich auf das Schicksal der Roma- und Sinti-Statist:innen aus dem KZ, die in Leni Riefenstahls Film „Tiefland“ mitwirken mussten. Und darauf, wie die Regisseurin bis zum Schluss alle Kritik zurückwies und dabei von Alice Schwarzer zur Ikone des Feminismus erklärt wurde. Auch wenn das Stück trotz manch packender Momente nicht auf den Punkt kommt, zeigt auch diese Aufführung, warum das Konzept von Kathrin Mädler und ihrem Team aufgehen kann. Dass bei so viel Mut zum Neuen keine perfekten Vorstellungen herauskommen, ist klar. Aber lebendig ist das Theater Oberhausen, getragen von einem tollen Ensemble, in dem viele schon länger am Haus sind und sich mit ebenso viel Begeisterung wie die jungen Kolleg:innen in die neuen Aufgaben stürzen. Die Bühnenbilder sind effektvoll, scheuen nicht die Opulenz. „Es gibt schon ein Bedürfnis“, sagt Kathrin Mädler, „nach einem Theater, das eine magische Komponente hat und Welten erschafft. Wir arbeiten gerne mit einer kraftvollen Bildsprache.“ Und vor allem: Dieses Theater vergisst bei allen politischen Inhalten und ästhetischen Ansprüchen nie den Blick auf das Publikum. „Wir haben auch den Wunsch nach emotionaler Verbundenheit, die mit politischer Haltung verbunden ist“, erklärt die Intendantin. „Vielleicht passen Oberhausen und wir deshalb gut zusammen. Einen taktischen Spielplan zu machen, der auf das Angesagte oder den allgemeinen Diskurs schielt, interessiert uns überhaupt nicht. Man kann ja nur mit Leidenschaft vermitteln, wohinter man selbst hundertprozentig steht.“

Laura Mangels erläutert, warum die Dramaturgie in Oberhausen so gut funktioniert: „Wir haben einen gemeinsamen Theaterbegriff, bringen aber auch sehr unterschiedliche Perspektiven mit. Saskia Zinsser-Krys ist Kanadierin und hat einen Blick auf den englischsprachigen Raum. Jascha Fendel hat eine große Kenntnis bei den Klassikern, gleichzeitig ist er sehr am Zeitgenössischen interessiert. Kathrin hat mit John von Düffel oder Noah Haidle schon eine längere Arbeitsbeziehung. Ich interessiere mich für zeitgenössische Stücke mit einer eigenen Kunstsprache. So kommt eine große Textauswahl zustande.“ Auch ästhetisch ist das Angebot groß. Mit „Rigby“ war auch eine Eins-zueins-Performance – ein Zuschauender, ein Performender – dabei. Und mit „§ 218“ entsteht gerade ein musikalisches Dokumentartheater, in dem Frauen über ungeplante Schwangerschaften und ihre Erlebnisse berichten, in der jedes „Äh“, jeder Stotterer, jede Sprechpause dokumentiert und musikalisch in einer Komposition verarbeitet wird. Und noch eins überrascht am Oberhausener Spielplan. Durch die Konzentration auf neue Dramatik ist überhaupt nicht zu erkennen, welches Stück nun Tragödie oder Komödie ist, welches eher eine politische oder eine unterhaltende Position vertritt. „Am Anfang denken wir schon an dieses typische Spielplanraster“, erläutert Kathrin Mädler. „Aber das verschwindet bei der genaueren Beschäftigung mit den Stücken.“ Weil die meisten Aufführungen alle oder zumindest viele dieser Kriterien erfüllen, vitales Theater voller Überraschungen sind. Ganz blöd gesagt: Da geht man einfach gerne hin. T

Ein Dossier mit weiteren Texten zu unserem Schwerpunkt Neue Dramatik finden Sie unter tdz.de

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Akteure

Foto Sebastian Hannak

Bühnenbild von Sebastian Hannak in der Inszenierung „Temple of Alternative Histories“, Regie Thorleiffur Örn Arnasson, am Staatstheater Kassel 2022

Porträt Bühnenbildner Sebastian Hannak Kunstinsert Monica Bonvicini in der Neuen Nationalgalerie Nachrufe Theaterleiter Ludger Schnieder. Regisseur und Intendant Jürgen Flimm

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Akteure Porträt

Mit seinen Raumbühnen öffnet der Szenograf Sebastian Hannak Horizonte für ein demokratisches Theater. Mit technischen Konstruktionen und digitaler Technik schafft er dem Publikum Erlebnisse Von Elisabeth Maier

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Foto Felix Grünschloß

Ganz nah dran am „Gefühlskraftwerk Oper“


Akteure Porträt Das spielsüchtige Kind sitzt vor dem Bildschirm und zockt.­ Seine Mutter Marie ertrinkt im Alkohol. Verzweifelt versucht Wozzeck, den Lebensunterhalt seiner Familie zu bestreiten. Doch so sehr er sich auch abstrampelt. Mehr als Erbsensuppe ist nicht drin. Bilder aus dem Alltag des Protagonisten Wozzeck in Alban Bergs Oper sieht das Publikum im Pandaemonium am Staatstheaters Kassel als Ausschnitte über Live-Kameras. Die Spielebenen hat der Szenograf Sebastian Hannak mit einer ­Metallbrücke verbunden. Die Zuschauer:innen sitzen in Gruppen, verteilt über den gesamten Raum. 2021 war das nicht ohne ­Corona-Abstand möglich. Immer wieder hetzt der getriebene Mann aus dem Prekariat an ihnen vorbei. Wozzeck liefert den Lebensmittelersatz Bio­fuel aus, um den sich das Geschehen in Florian Lutz‘ politischer Opernregie dreht. Man sieht den gehetzten Mann im braunen O ­ verall für Augenblicke, riecht seinen Schweiß. Dieses Live-­ Erlebnis macht Hannaks Bühnenraum so besonders. Als „Musiktheaterparlament“ beschreibt der Künstler die Raumbühne, die für ihn im besten Sinn demokratisch ist. So taucht das Publikum in das immersive Theatererlebnis ein. Neben der weiß gekachelten Praxis des Arztes sitzen Zuschauer:innen. Hautnah erleben sie mit, wie er den Menschen Wozzeck zum Versuchsobjekt macht. Die Vision eines „demokratischen Musiktheaters“ hat der Bühnenbildner Sebastian Hannak mit dem Kasseler Intendanten und Musiktheaterregisseur Florian Lutz entwickelt. „Partizipative Formate im Theater zu erschaffen“, das reizt den Kasseler Hausszenografen, der mit seiner Frau, seinem Sohn und der Tochter in der Universitätsstadt Heidelberg lebt. In den Altstadtgassen kommt der international gefragte Künstler zur Ruhe, erholt sich vom schnelllebigen Theaterbetrieb. Der Zwang, in Corona-Zeiten das Publikum möglichst luftig im Raum zu verteilen, hat die Konzeption des Pandaemoniums zwar erschwert, aber auch beflügelt. „Wir haben den Raum komplett digital entwickelt“, sagt Hannak. Er arbeitet ansonsten gern mit dem klassischen Holzmodell, das zwischen den Werkstätten hin- und hergereicht wird. Mit Mozilla Hubs haben er und sein Team die Raumbühne in Kassel entworfen. Auf dieser Basis haben die Techniker:innen das Modell dann umgesetzt. Sechzig Tonnen Gerüstmaterial haben die Arbeiter:innen für das Großprojekt verbaut. Nachhaltigkeit ist für den Künstler Hannak, der sich mit seinen spektakulären Bühnenkonstruktionen in ganz Europa einen Namen gemacht hat, ein wichtiges Thema. Material wird wiederverwendet. Die Bauten werden für mehrere Produktionen genutzt. Denn es geht Hannak auch darum, schonend mit der Arbeitskraft umzugehen. In der Kasseler Konstruktion spielte auch Giacomo Puccinis Oper „Tosca“ in der Regie von Sláva Daubnerová. Das Konzept überzeugte auch das Fachpublikum. Für die Raumbühne wurden der Kasseler Intendant und Opernregisseur Florian Lutz und Hannak mit dem Opus-Bühnenbildpreis der Messe Frankfurt ausgezeichnet. Der deutsche Theaterpreis Der Faust ging 2021 ebenfalls an Florian Lutz‘ und Sebastian Hannaks „Wozzeck“. „Das Publikum noch näher an das Bühnengeschehen bringen“ möchte Sebastian Hannak in der neuen Spielzeit in Kassel. Deshalb

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entwickelt der Szenograf die Raumbühne Pandaemonium weiter. „Das ist erst jetzt so richtig möglich“, findet der 46-Jährige. Denn sein Konzept lebt „von der physischen Nähe im Gefühlskraftwerk Oper“. Auf dem Laptop zeigt der Künstler, wie er das Kasseler Publikum in George Bizets Opernklassiker „Carmen“ ganz nah in das Geschehen holen will. Anfangs sitzen die Zuschauer:innen auf schlichten Holzbänken. Über ihnen schweben rote und gelbe Ballons. „Neben ihnen sitzen die Sänger:innen des Opernchors.“ Von dieser grenzüberschreitenden Nähe leben Hannaks faszinierende Raumkonzepte. Künstler:innen und Rezipient:innen führt er radikal zusammen. „Solche Nähe muss man aushalten“, sagt der Künstler. Das Lächeln in seinem Gesicht ist nicht zu übersehen. Mit Musik in 360 Grad und fordernden Perspektivwechseln denkt er das Gesamtkunstwerk Theater neu. In einer Zeit, da die Bühnen im Wettstreit mit den neuen Medien um ihr Publikum kämpfen müssen, geht es dem Künstler auch darum, die politische Bedeutung der Künste schon im Raum zu spiegeln. Das Publikum betritt den Theaterraum in Kassel über die Verwaltungsräume. So gewährt Hannak Ein­ blicke, die das Publikum so nicht kennt. Seine Träume vom Gesamtkunstwerk Theater, das mitten in der Gesellschaft steht, haben historische Wurzeln. Da denkt Hannak an den Entwurf eines „Totaltheaters“ des Bauhausgründers Walter Gropius 1926 für den politischen Avantgardisten Erwin Piscator. Er träumte von einem Bühnenraum, der die Theaterränge aus feudalistischer Zeit sprengt und der die Zuschauer:innen „ins Geschehen hineinreißt“. Die Kunst auch auf visueller Ebene „mitten in der Gesellschaft“ zu verorten, prägte Piscators politische Theaterphilosophie. Das Projekt scheiterte in den 1920er-Jahren, weil sich die aufwendigen technischen Bauten damals nicht realisieren ließen. Den braven Soldaten Schwejk aus dem Roman des tschechischen Schriftstellers Jaroslav Hašek ließ Piscator über ein Laufband von Ort zu Ort eilen. Die Maschinerie ratterte damals so laut, dass das Publikum das gesprochene Wort kaum noch verstand. Grenzen wie diese kennt die Theaterkunst heute angesichts der digitalen Medien nicht mehr. Schnelle Wechsel der Perspektiven macht die Kamera möglich. Dennoch sind Hannak die historischen Vorbilder wichtig.

Die Raumbühne Mit der Raumbühne arbeitet der innovative Bühnenbildner schon seit Langem. Schon 2014 hat er am Badischen Staatstheater in Karlsruhe Martin Nimz‘ Inszenierung von Hermann Hesses Spätwerk „Das Glasperlenspiel“ in einer Raumbühne realisiert. Das Publikum saß in einem siebeneckigen weißen Bühnenkonstrukt. Je nach Sitzplatz wandelte sich die Perspektive. Die Video­bilder von Thorsten Hallscheidt zogen die Betrachter:innen in den Bann. Wie ein See, in dem Eisschollen treiben, hat Bühnenbildner Hannak den Raum konzipiert, der nach unten spitz zuläuft. Clemens Rynkowskis assoziative Musik durchbrach die Stille. Das Panoramaband über den Köpfen der Zuschauer:innen wurde von Film­bildern überspült: Großstadtvisionen, Kriegsszenen und Ornamente schwirrten um sie herum. Mit diesem 3D-Theater über-

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Akteure Porträt

schritten Hannak und Nimz Grenzen. Dass diese Raumerfahrung ohne modernste Technik nicht möglich wäre, zeigte die bemerkenswerte Inszenierung im Schauspiel. Die Produktionssoftware hat Bernd Lintermann entwickelt, der mit seinen filmtechnischen Innovationen 2015 für einen Oscar nominiert war.

Neue Perspektiven im Musiktheater Mit der Raumbühne Heterotopia an der Oper Halle dachte ­Sebastian Hannak sein Konzept der Raumbühne weiter. Damit betrat der Szenograf gerade im starren Betrieb des Musiktheaters künstlerisches Neuland. Für das wegweisende Projekt wurde er 2017 mit dem Theaterpreis Der Faust ausgezeichnet. Wie ver­ortet Hannak sein szenografisches Konzept im Kontext der neuen Medien? Für ihn ist das Theater „eines der Bollwerke des echten und unmittelbaren Erlebens“, schreibt er in dem von ihm und ­Florian

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Lutz 2018 im Verlag Theater der Zeit herausgegebenen Buch „Raumbühne Heterotopia. Neue Perspektiven im Musiktheater“. Angesichts der Medienflut hat das Theater da die Pflicht, gegenzusteuern: „Je mehr unsere Welt zusammenschnurrt auf weltweite Echtzeitberichterstattung, die uns kaum mehr erreicht, desto mehr kann das Theater mit einem echten Erlebnis punkten.“ Im Gegensatz zu Streaming finde Theater „immer hier und jetzt“ statt. Hannak denkt sein Theater immer politisch. Auch bei klassischen Stücken hat er immer die aktuellen Bezüge im Blick. An der Stuttgarter Kunstakademie hat Hannak Bühnen- und Kostümbild studiert. Da waren seine Lehrmeister die Theatergrößen Jürgen Rose und Martin Zehetgruber. Von ihren starken, aber sehr gegensätzlichen Positionen habe er profitiert, blickt Hannak heute dankbar zurück. Roses bilderstarke, klug an der Dramaturgie orientierte Bühnenbilder unterscheiden sich deutlich von Zehetgrubers innovativen Theaterräumen. In diesem Spannungsfeld

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Fotos Sebastian Hannak

Das Pandämonium für „Wozzeck“ in der Regie von Florian Luz am Staatstheater Kassel 2021


Akteure Porträt

„Je mehr unsere Welt zusammenschnurrt auf weltweite Echtzeitberichterstattung, die uns kaum mehr erreicht, desto mehr kann das Theater mit einem echten Erlebnis punkten.“

Das Pandämonium für „Wozzeck“ in der Regie von Florian Luz am Staatstheater Kassel 2021

studieren zu dürfen und seine eigene Position zu entwickeln, das hat Sebastian Hannak gereizt. In Los Angeles hat er bei dem PopArt-Künstler David Hockney gearbeitet. Der Blick des Briten auf die schillernde Welt der US-amerikanischen Westküste und ihre Schattenseiten hat Hannak inspiriert. Danach konzentrierte er sich aber ganz auf die Theaterarbeit, arbeitete mit Starregisseuren wie John Neumeier, Klaus-Michael Grüber und Johann Kresnik. Die Möglichkeiten des Musiktheaters hat Hannak aber schon in seiner Zeit an der Stuttgarter Akademie ausgelotet. Da hat ihn das Forum Neues Musiktheater beeinflusst, das der damalige Stuttgarter Opernintendant Klaus Zehelein geprägt hat. Internatio­nale Künstler:innen dachten in dieser „Oper im Labor“ über neue Möglichkeiten im Musiktheater nach. In innovativen Projekten untersuchten die jungen Szenograf:innen die Möglichkeiten neuer Medien und Technologien. In diesem Experimentierraum in der schwäbischen Großstadt traf sich die junge europäische Szene,

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um gemeinsam neue Formate auszuprobieren. Von diesem Netzwerk profitiert Hannak, der heute an großen Häusern in Deutschland und Europa arbeitet.

Bühnenkonstrukte für alle Sparten Obwohl Hannak inzwischen als Hausszenograf am Staatstheater Kassel die Möglichkeit hat, die künstlerische Linie des Hauses und seine Raumbühnenprojekte langfristig zu entwickeln, arbeitet er weiter an anderen Häusern. Dabei faszinieren den Künstler gerade die Wechsel zwischen den Sparten. Am Staatstheater Karlsruhe hat er mit der slowakischen Regisseurin Sláva Daubnerová George Sands „Gabriel“ in Szene gesetzt. Da geht es um einen jungen Adligen in der Renaissance, der erfährt, dass er biologisch eine Frau ist. Das Spiel mit Geschlechterrollen, die junge Menschen vor Jahrhunderten ebenso einengten wie heute, verortet Hannak in

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Akteure Porträt

Offene Räume für die Bewegung des Tanzes zu finden, das reizt den Schöpfer großer RaumbühnenApparate. Sein Traum ist es, Bühnenkonstrukte zu erschaffen, in denen sich alle Sparten entfalten dürfen.

„Leben des Galilei“, Regie von Martin Nimz am Staatstheater Schwerin 2017

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Zugleich bleiben in den Köpfen der Zuschauer:innen starke Bilder zurück, die an das Leben des heranwachsenden Mädchens erinnern, das im Konzentrationslager von den Nationalsozialisten ermordet worden ist. Offene Räume für die Bewegung des Tanzes zu finden, das reizt den Schöpfer großer Raumbühnen-Apparate. Sein Traum ist es, Bühnenkonstrukte zu erschaffen, in denen sich alle Sparten entfalten dürfen. „Uns geht es darum, die Zuschauer:innen zum Teil des Theatererlebnisses zu machen.“ Mit diesem Ziel vor Augen ist dem innovativen Szenografen vor der Konkurrenz von Netflix und anderen Theaterformaten nicht mehr bange. T

RAUMBÜHNE HETEROTOPIA Neue Perspektiven im Musiktheater Herausgegeben von Florian Lutz und Sebastian Hannak Verlag Theater der Zeit, Berlin 2018 € 25,00

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Foto Sebastian Hannak

einem Raum, der von Pfosten begrenzt ist. Unter der Bühne liegen zertrümmerte Säulen aus Gips. Aus dem Gefängnis ihres zugewiesenen Geschlechts befreit sich die Hauptdarstellerin Swana Rode mit einem grandiosen Tanz in die Freiheit. Solche Spielräume für die Künstler:innen zu schaffen, ist Hannak wichtig. Denn trotz aller technischen Finessen wirken seine Bühnenapparate leicht, schwerelos fast. Gerade in dieser aktuellen Karlsruher Arbeit zeigt sich, dass Hannak kein reiner Konzeptkünstler ist. Sein Gespür für die Arbeit und für die Bedürfnisse der Sänger:innen, Schauspieler:innen und Tänzer:innen macht die Faszination seiner so unterschiedlichen Theaterarbeiten aus. Eigene Grenzen hat Hannak bei seinen Arbeiten für das Ballett überschritten. Mit der südkoreanischen Tänzerin und Choreografin Eun Me Anh hat er ebenso gearbeitet wie mit dem heutigen Salzburger Ballettchef Reginaldo Oliveira, der am Staatstheater Karlsruhe seine ersten Schritte als Choreograf wagte. Für seine Choreografie „Das Tagebuch der Anne Frank“ hat Hannak einen Raum geschaffen, in dem sich die Tänzer:innen entfalten können.


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######RESPEKT#### ##NACHHALTIGKEIT# ########TEILHABE## ####VISION####### BACHELOR Regie Schauspiel | Regie Musiktheater Gesang MASTER Dramaturgie Schauspiel | Dramaturgie Musiktheater | Gesang | Liedgestaltung | Oper BEWERBUNGSSCHLUSS FÜR DAS WINTERSEMESTER 2023/24 1. APRIL 2023 Ansprechpartnerin: Marjan Yassen marjan.yassen@hfmt-hamburg.de Harvestehuder Weg 12 20148 Hamburg www.hfmt-hamburg.de

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An der Hochschule für Bildende Künste Dresden ist zum 01.10.2024 eine

W2-Professur für künstlerische Grundlagen des Theaterdesigns (m/w/d)

neu zu besetzen.

Die Künstlerischen Grundlagen vermitteln den Studierenden im Studiengang Theaterdesign vorbereitend und ergänzend zu den einzelnen Fachrichtungen Kostümdesign, Maskenbild, Szenische Malerei, Theaterplastik eine Basis des bildnerischen Gestaltens mit den Schwerpunkten Wahrnehmung und Wirkung, Entdecken und Erkennen von Form und Funktion, Struktur und Oberfläche. Im Kontext zur Analyse von Musik, Text oder Thema widmet sich das Grundlagenstudium möglichen und entsprechenden Darstellungsformen. Dabei spielen Disziplinen wie Zeichnung, Malerei, Collage, Drucktechniken und digitale Bildbearbeitung ebenso eine Rolle wie das Modellieren, der Formenbau, die Rauminstallation und -projektion. Gesucht wird eine Person mit künstlerischem Werk, die allen künstlerischen Ausdrucksformen in Film, Theater und Ausstellung gegenüber offen ist. Gemeinsam mit denen am Haus bereits etablierten Professuren für Kostümdesign, Maskenbild, Szenische Malerei, Theaterplastik bereitet sie die Studierenden auf die berufliche Qualifikation vor. Sie beteiligt sich an der Organisation und Umsetzung von interdisziplinären Projekten innerhalb der Hochschule sowie mit nationalen und internationalen Partnern. Zu den Aufgaben der Professur gehören neben Forschung und Lehre zudem die Abnahme von Prüfungen, die Mitwirkung in der akademischen Selbstverwaltung und die Einwerbung von Drittmitteln. Berufungsvoraussetzungen sind ein abgeschlossenes Hochschulstudium im Bühnen- und Kostümbild, in der Bildenden Kunst und/oder der Theaterausstattung/-design, pädagogische Eignung, Lehrerfahrung sowie ein herausragendes künstlerisches Werk mit Theaterbezug und internationaler Reichweite. Die Vergütung richtet sich nach dem Sächsischen Besoldungsgesetz in der Besoldungsgruppe W 2 der Sächsischen Besoldungsordnung. Die Dienstaufgaben sowie die dienstrechtliche Stellung der Professur ergeben sich aus § 67 und § 69 Sächsisches Hochschulfreiheitsgesetz (SächsHSFG). Der Umfang der Lehrverpflichtung richtet sich nach der Dienstaufgabenverordnung an Hochschulen (DAVOHS) und beträgt derzeit 20 Semesterwochenstunden. Der Professur sind zwei halbe Stellen als künstlerische Mitarbeiter*innen zugeordnet. Die Hochschule für Bildende Künste Dresden strebt einen hohen Anteil von Frauen in der Lehre an. Qualifizierte Bewerberinnen sind deshalb ausdrücklich aufgefordert, sich zu bewerben. Bewerbungen Schwerbehinderter werden bei gleicher Eignung bevorzugt berücksichtigt. Die Einstellung erfolgt bei Erfüllung der persönlichen Voraussetzungen in einem Beamt*innenverhältnis auf Lebenszeit oder in einem unbefristeten Arbeitnehmer*innenverhältnis, bei Erstberufungen jedoch zunächst auf Probe in einem befristeten Arbeitsverhältnis für den Zeitraum von zwei Jahren. Über die Weiterbeschäftigung als Beamter*Beamtin auf Lebenszeit oder in einem unbefristeten Arbeitnehmer*innenverhältnis entscheidet der Rektor spätestens 4 Monate vor Ablauf der Probezeit auf Vorschlag der Dekanin, dem eine Stellungnahme des Fakultätsrates beizufügen ist. Bewerbungen mit tabellarischem Lebenslauf, einem Überblick über die bisherigen Leistungen, dem Nachweis der Lehrerfahrungen, dem Publikationsverzeichnis, digitalen Kopien von Studienabschlüssen, der Promotions- und ggf. Habilitationsurkunde sowie einer digitalen Kopie des Abiturzeugnisses sind unter Angabe der Kennzahl 64 bis zum 24.03.2023 ausschließlich online unter https://www.hfbk-dresden.de/hochschule/organisation/stellenangebote möglich. Neben Ihren persönlichen Daten können Sie im Bewerbungsportal zusätzliche Dokumente bis zu einer Größe von 50 MB hochladen. Nach Abschluss des Bewerbungsverfahrens erfolgt die Löschung Ihrer Daten nach den Vorgaben und Richtlinien des Datenschutzes. Weitere Informationen zum Datenschutz im Auswahlverfahren finden Sie unter https://www.hfbk-dresden.de/hochschule/organisation/ stellenangebote


Aus der Serie „Doors“ 2022, Ausstellungsansicht Neue Nationalgalerie

I do you! Die Künstlerin Monica Bonvicini verwandelt die Neue Nationalgalerie in einen Ort der Reflexionen über Architektur und Macht, Begehren und Sublimation – als Dialog mit Berlin Im Gespräch mit Heimo Lattner

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Fotos Courtesy the artist, Tanya Bonakdar Gallery, Galleria Raffaella Cortese, Galerie Peter Kilchmann, Galerie Krinzinger Copyright the artist, VG-Bild Kunst, Bonn, 2022, /Nationalgalerie, Staatliche Museen zu Berlin / Jens Ziehe, rechts

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„I do You“, Ausstellungsansicht Neue Nationalgalerie

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Fotos Courtesy the artist, Tanya Bonakdar Gallery, Galleria Raffaella Cortese, Galerie Peter Kilchmann, Galerie Krinzinger.Copyright the artist, VG-Bild Kunst, Bonn, 2022, / Nationalgalerie, Staatliche Museen zu Berlin / Jens Ziehe

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„Bonded Eternmale“ 2002/2022, Ausstellungsansicht Neue Nationalgalerie

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„Hausfrau Swinging“ 1997, Ausstellungsansicht Neue Nationalgalerie

„Desire“ 2006, Ausstellungsansicht Neue Nationalgalerie

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links Courtesy the artist, Tanya Bonakdar Gallery, Galleria Raffaella Cortese, Galerie Peter Kilchmann, Galerie Krinzinger. Copyright the artist, VG-Bild Kunst, Bonn, 2022 / Nationalgalerie, Staatliche Museen zu Berlin / Jens Ziehe, rechts Monica Bonvicini and VG-Bildkunst, Bonn 2022 / Foto: Olaf Heine

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„SCALE OF THINGS (to come)“ 2010, Ausstellungsansicht Neue Nationalgalerie

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M

Monica Bonvicini, vor Ihnen wurde erst fünf Künstlerinnen eine Einzelausstellung in der Neuen Nationalgalerie gewidmet. Es fühlt sich auch ein wenig wie eine Hausbesetzung an. Es gab den Wunsch nach einer Retrospektive. In diesem Haus schien mir das aber unmöglich. Ich habe also getan, was ich am liebsten mache, nämlich installativ mit der Architektur und dem Ort umzugehen. Für den Außenbereich habe ich eine Klanginstallation entwickelt, „Retrospective“, für die alle Titel meiner Arbeiten eingesprochen wurden. Knapp 2000. So viel zur Retrospektive. (lacht) Das Gebäude wurde gerade sechs Jahre lang aufwendig saniert. Es wurde in dieser Zeit viel über die Renovierungskosten und die Bedeutung des Hauses für Berlin gesprochen. Dabei schien man vergessen zu haben, dass es sich um einen Ort für die Kunst handelt. Die Frage, die sich stellt, ist, welche Rolle die Kultur spielt und wie die Politik mit unseren Kulturstätten umgeht. Es ist in der Regel einfacher, Geld für den Bau eines Museums zu finden, als es dann zu bespielen. Die Neue Nationalgalerie ist personell total unterbesetzt. Mies van der Rohe sah die Aufgabe eines Museums darin, Menschen zusammenzubringen. Das Kulturforum ist von seiner Umgebung heute isoliert. Die Neue Nationalgalerie thront dort wie ein Tempel auf einem Sockel. Ich wollte, dass das Gebäude zur Stadt spricht.

Die 1965 in Venedig geborenen Künstlerin Monica Bonvicini bezieht sich in ihren Arbeiten auf soziale und politische Gegebenheiten und deren Auswirkungen auf die Gesellschaft. Unter Verwendung unterschiedlicher Medien wie Zeichnung, Skulptur, Installation, Video und Fotografie untersucht sie das Verhältnis von Architektur, Geschlechterrollen, Kontrolle und Macht. Mit ihren Arbeiten war sie auf Biennalen weltweit vertreten, zum Beispiel in Venedig, São Paulo, Istanbul, Shanghai und Berlin. Sie wurde vielfach ausgezeichnet, unter anderem mit dem Goldenen Löwen der Biennale von Venedig 1999 und dem Oskar-Kokoschka-Preis 2020. Sie ist Professorin für Bildhauerei an der Universität der Künste Berlin. Die Neue Nationalgalerie in Berlin widmet ihr vom 25. November 2022 bis 30. April 2023 eine Einzelausstellung.

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Sie beschäftigen sich mit Sprache. An der Fassade geben Sie die Parole aus: „I do you!“. Im Anschnitt ist eine eckige Klammer zu erkennen, eine Akkolade. Accolade bedeutet im Französischen „feierliche Umarmung“. In der Typografie steht sie für eine Auslassung. Es ist auch das Fragment eines Satzes der Autorin Diane Williams. „I don’t like you very much, and I don’t think you are fascinating... .“ Das Original tut nichts zur Sache. Es ist ein Fragment von vielen, die sich in der Ausstellung zusammenfügen. Es ist ein Schrei in die Stadt hinein. Vielleicht etwas gemein, aber mit einem Augenzwinkern. Es hängt davon ab, was man verstehen kann oder möchte. Die wörtliche Übersetzung wäre: „Ich mache dich!“. Aber wer macht hier wen? Das Museum die Stadt? Die Besucher:innen das Museum? Als wir den Spiegel mit dem Schriftzug an der Fassade installiert haben, hatten wir noch gar keine Genehmigung dafür. Die Denkmalbehörde war strikt dagegen. Jetzt stehen alle davor und machen tolle Fotos. In die Haupthalle haben Sie eine 36 Meter breite Spiegelwand eingezogen. Sie ist Bestandteil der Arbeit „Upper Floor“, ein monumentales Podest, das die Besucher:innen betreten können. Unter der Last der Menschen auf der Empore gerät der Spiegel sanft in Schwingung und die Ideologie des rechten Winkels verkrümmt sich im Spiegelbild zum lakonischen Kommentar ihrer selbst. Tatsächlich gibt es Leute, die zu dieser Architektur ein rein mathematisches Wissen, eine fast schon devote Beziehung haben. Die fehlt mir komplett. Der Spiegel produziert visuelles Rauschen. Geometrie und Raster definieren das Gebäude, aber mein Handeln stellt keine Rebellion gegen Mies van der Rohe dar. Warum auch, er ist ja tot! Es geht mir darum, die Architektur anders zu sehen und sozial umzudeuten.

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Die Akustik verstärkt das Gefühl der Desorientierung zusätzlich. Die Akustik des Raums ist schwierig, bietet aber tolle Möglichkeiten. Neben „Retrospective“ sind der Sound der Videoinstallation „Hausfrau Swinging“ und das Klirren von Ketten zu hören, das von der interaktiven Installation „You to Me“ herrührt. Edelstahlketten mit Handschellen, die entlang dreier Fensterfronten von der Decke hängen. Auf Ihrem Foto der Alten Nationalgalerie aus dem Jahr 1998 ist die Inschrift „Der Deutschen Kunst“ zu lesen. Davor haben Sie zwei Tonnen Schutt abgeladen. „Volk“ und „Nation“ sind Begriffe, die sich über Ausschlüsse definieren. Berlin hat sich damals sehr verändert. Überall wurden Fassaden errichtet, und was zu sehr nach DDR aussah, musste der neuen Identität weichen. Man hat mir nahegelegt, es nicht zu sagen, aber Berlin war damals viel deutscher als heute. Und diese Inschrift hat schon sehr für Irritation gesorgt. Die zwei Tonnen Bauschutt des Stüler-Baus sind der Kommentar einer nicht-deutschen Künstlerin. Der erste Gedanke, der mir durch den Kopf ging, als ich die Neue Nationalgalerie nach der Sanierung gesehen habe, war: Was mache ich mit dieser Transparenz? Das Gebäude ist jetzt viel transparenter. Vor fünfzig Jahren gab es dieses weiße Glas nicht, das neu eingesetzt wurde. Wie geht man mit dieser Transparenz um? Man zieht zum Beispiel eine zweite Etage ein. Die Architektur ist hoch, offen und durchsichtig. Selbst bewegt man sich aber immer auf demselben Level. Ich wollte einen anderen Blick und zugleich mir eine eigene Ausstellungsfläche schaffen. Die Plattform ist drei Meter hoch und man nimmt von dort oben die Geometrie des Raums und den eigenen Körper anders wahr. Auch die Designerhäuser vor dem Fenster wirken plötzlich so traurig. Als Künstler:in ist man nicht dazu verdammt, bloß Objekte anzufertigen. (lacht) Vor einer weiteren Spiegelwand mit Zitaten berühmter Architekten kann man sich an besagten Handschellen anketten lassen. Dahinter öffnet sich eine Art Hinterbühne. Man sieht den Unterbau des Podests, gefertigt aus gebrauchten Gerüstelementen, teilweise mit Originalfenstern verkleidet. Daneben, in poliertem Edelstahl, der Schriftzug „Desire“, davor ein Knäul gefälschter Casio-Armbanduhren, „Time of My Life“, das nie die richtige Zeit anzeigt.

Theater der Zeit 3 / 2023

Unbenannt-1 1

02.02.2023 08:17:06

Fotos Courtesy the artist, Tanya Bonakdar Gallery, Galleria Raffaella Cortese, Galerie Peter Kilchmann, Galerie Krinzinger Copyright the artist, VG-Bild Kunst, Bonn, 2022, /Nationalgalerie, Staatliche Museen zu Berlin / Jens Ziehe

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Molière – der eingebildete Tote links „Chainswing Belts“ 2022, Ausstellungsansicht Neue Nationalgalerie rechts „Upper Floor“ 2022, Ausstellungsansicht Neue Nationalgalerie

Die Fenster sollten entsorgt werden. Ich wurde gefragt, ob ich welche haben möchte. Ich mag sie, weil sie so schön dreckig sind. Da klebt auch noch das Silikon dran, das sie in der Struktur gehalten hat. Und die Kanten sind nicht so präzise geschnitten wie heute, maschinell. Es ist eine Archäologie der Materialien, die ich hier betrieben habe, was viel mit Bildhauerei zu tun hat. Und es schließt sich auch der Kreis zum Schutt von der Fassade der Alten Nationalgalerie. Über eine Wendeltreppe – noch ein verschmitzter Kommentar zum rechten Winkel? – gelangt man auf den „Upper Floor“. Ein schickes Loft. Beschützt vor den Spiegeln schaukeln Menschen in Hängematten. Andere liegen auf dem Boden. Tolles Licht, gutes Mobiliar, viel Glas und Ausblick. Nahezu eine Idylle. Wenn man ankommt, überrascht vielleicht zuerst der bunte Teppichboden, weil er die kalte schwarz-graue Geometrie des Gebäudes aufbricht. Aber an ein Loft habe ich nicht gedacht. Es ist ein Kunstwerk. So wie die Stühle und die Schaukeln auch. Und die Lampen sind Skulpturen. Aber es gibt die Einladung zum Verweilen, klar. Dabei blickt man auf die Stadt. Vor allem abends, wenn man Richtung Potsdamer Platz schaut, hat man das Gefühl, in einer Großstadt zu sein. Das hat man in Berlin sonst eher selten. Die Fallhöhe ist beträchtlich. Vom Potsdamer Platz winken nämlich Sony, Mercedes und die Deutsche Bank herüber. Es hat sich schnell ausgeträumt in der Bauhausbude! Nur, wer hat die Macht, etwas zu verändern? How to fuck back? Noch ein Detail: Weil die Ebene 500 Quadratmeter groß ist, sind zwei Auf- bzw. Abgänge vorgeschrieben. Neben der Spindeltreppe gibt es also noch eine zweite Treppe, die Skulptur „SCALE OF THINGS (to come)“. Sie ist eine Mischung aus Barock und Minimalismus, gefertigt aus drei Tonnen Stahlrohr und Ketten. Einen Fahrstuhl gibt es auch. In Kombination mit dem Baugerüst bekommt die Treppe eine ungewöhnliche Schönheit. Wie die Stadt da draußen mit ihren Veränderungen und was eben damit einhergeht. Letzte Frage: Humor? Was wären wir ohne! T

Ab 31.3. Von Nona Fernández nach Molière

Inszenierung: Antú Romero Nunes Mit: Jan Bluthardt Barbara Colceriu Vera Flück Fabian Krüger Annika Meier Sven Schelker Jörg Pohl Gala Othero Winter theater-basel.ch/ moliere

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Theater der Zeit 3 / 2023

moliere theater-basel.ch/


Akteure Nachruf

Ludger Schnieder, Theater im Pumpenhaus in Münster Von Henning Fülle

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Erschrecken und Trauer haben mich ergriffen, als mich die Nachricht vom Ableben Ludger Schnieders erreichte, dem Mitbegründer und Chef des Theaters im Pumpenhaus in Münster seit 1985. Ich war für dieses Frühjahr mit ihm verabredet, um über die Sicherung der Archivalien zu seinen Tätigkeiten zu sprechen. Die deutschen Stadt- und Staatstheater hatten in Westdeutschland nach 1945 – eher oberflächlich von den Spuren der deutschen Barbarei gereinigt – ihren Betrieb als Kulturtempel des Bildungsbürgertums wieder aufgenommen. „Geistiges“, unpolitisches Theater – das sollte die Konsequenz aus dessen Instrumentalisierung durch die Nazis sein; Alternativen zum dramatischen Repertoire, politische Dramaturgien oder experimentelle Ästhetiken, wie sie jenseits des deutschsprachigen Kulturkreises entwickelt wurden, fanden lediglich sporadisch misstrauische Aufmerksamkeit. Vor diesem Hintergrund war in den 1970er-Jahren in der BRD die „Freie Szene“ entstanden, die sich als Gegenentwurf zur Restauration der distinktiven Hochkultur verstand. Sie eroberte in den 1980erJahren aufgelassene Industriegebäude für die Produktion und Präsentation „freien“ Theaters und Tanzes: beispielsweise Kampnagel in Hamburg, der Mousonturm und das Neue TAT in Frankfurt am Main, aber auch das Hebbel-Theater und das Theater am Halleschen Ufer in West-Berlin. Ludger kam aus dieser Bewegung. Im katholisch geprägten Münster hatte er in den Ausläufern der Jugendrevolte studiert und sich politisiert, sich unter anderem im Hannoveraner „Pavillon“ als Organisator bewährt und gleichzeitig eine etwas schräge Karriere als Theater- und Filmschauspieler hingelegt, bis zu einer Hauptrolle in Adolf Winkelmanns erfolgreicher Ruhrpott-Schmonzette „Die Abfahrer“ – was ihn für die Theaterinitiative Münster e.V. qualifizierte, die Leitung des Pumpenhauses, eines nicht mehr benötigten Baus der Wasserversorgung, zu übernehmen.

Das Theater im Pumpenhaus in Münster wurde eine beispielgebende Erfolgs­geschichte, die zweifellos auch auf Ludgers grenzenlosem Engagement als Entdecker und Kurator zeitgenössischer Theaterkunst beruhte, deren wichtige Künstler:innen und Arbeiten er in kunstvoll gestrickten (manchmal auch etwas abenteuerlichen) Koproduktionszusammenhängen nach Münster holte. Und Ende der 1990er-Jahre konnte er schließlich die Stadt Münster dazu bewegen, ein eigenes kommunales Förderprogramm für das Freie Theater aufzulegen. So entwickelte sich das Pumpenhaus zu einem bedeutsamen Knoten im Netz der Kooperationsund Koproduktionspartner in Deutschland, die in den 1990er-Jahren die freie, postdramatische oder eben zeitgenös­ sische Theaterkunst zur Blüte brachten. Wobei Ludger auch stolz darauf war, dass er neben den großen internationalen Namen immer wieder junge, upcoming artists wie Thorsten Lensing oder Samir Akika entdeckt und früh gefördert hat. Ein Treffen zur Besprechung der Siche­rung seines Vorlasses kam im Herbst 2022 zunächst nicht zustande. Er hatte einfach keine Zeit dafür, weil ihm die ­Regelung seines Überganges in den „Ruhestand“ allzu sehr zusetzte. Deshalb müssen wir nun die Bewahrung seines Nachlasses und seines ideellen Erbes ohne ihn in die Hand nehmen. Die deutsche Theaterlandschaft verdankt ihm viel und es ist furchtbar traurig, dass er so früh, mit 67 Jahren, gegangen ist und ihm im Leben keine Zeit für einen Ruhestand vergönnt war. Schön wäre es sicher auch gewesen, wenn seine Arbeit und Bedeutung für die deutsche Theaterlandschaft durch ein Bundesverdienstkreuz gewürdigt worden wäre, was er, wie Wolfgang Schneider oder Jochen Sandig, zweifellos verdient gehabt hätte. T

Theater der Zeit 3 / 2023

Fotos links Archiv des Theater im Pumpenhaus, rechts picture alliance / epd-bild | Thomas Lohnes

Ein Vorkämpfer der „Freien Szene“

LUDGER SCHNIEDER


Akteure Nachruf

JÜRGEN FLIMM

Impulsgeber in der Fankurve Ein Nachruf auf den Regisseur und Vielfachintendanten Jürgen Flimm Von Thomas Wördehoff

Theater der Zeit 3 / 2023

Wo fängt man an? Wie kriegt man einen solchen Typen zu fassen? Einen, der liebevoll und hingerissen das späte Comeback des großen Will Quadflieg beaufsichtigte. Der als erste Oper ausgerechnet ein Schwergewicht wie Luigi Nonos „Al gran sole carico d’amore“ stemmte. Der tatsächlich mal Assistent von Claus Peymann war. Der als Regisseur zusammen mit Nikolaus Harnoncourt Operngeschichte schrieb. Der in Harvard lehrte. Der nicht davor zurückschreckte, das legendäre TVEkel Alfred zu inszenieren – dann aber auch todesmutig den „Ring“ auf die Bühne der Bayreuther Festspiele brachte. Der fünfzehn gepriesene lange Jahre Intendant des Hamburger Thalia Theaters war, dann die Ruhrtriennale leitete und schließlich mit siebzig als Direktor der Staatsoper Unter den Linden reüssierte. Der die Salzburger Festspiele leitete, zu den Erfindern des Staatsministeriums für Kultur gehörte und außerdem auch noch Präsident des Deutschen Bühnenvereins war. Kennengelernt habe ich ihn an einem wilden Abend in der Frankfurter Oper. Es war der 31. Januar 1981, die Premiere von Verdis „Aida“, inszeniert von Hans Neuenfels, war gerade zu Ende, das Haus explodierte vor Hass und Jubel. Jürgen war irgendwo im Rang von seinem Sitz aufgesprungen und brüllte seine Bravos mit schneidendem Bariton in den tosenden Zuschauerraum. In seinem Rücken donnerte ein Vorstand im Smoking wütende „Buhs“ dagegen. Jürgen, mittlerweile auf 180, drehte sich um und rastete aus („Sie Arschloch!“) – mein Gott, und er konnte ausrasten! Die Führungskraft in Schwarz krakeelte zurück („Maul halten! Sie kenne ich! Sie sind Intendant in Köln!“) und verklagte Flimm auf weiß Gott wie viel. Dass Jürgen sich uneingeschränkt vor die Arbeit eines Kollegen werfen konnte, war keine Ausnahme. Denn dieser Flimm hatte sich das glühende Herz eines Fans bewahrt (schließlich war er mit den Rehhagels befreundet). Ein paar Monate nach dem Frankfurter Aida-Gemetzel wurde ich sein Assistent in Hamburg, wo er „Les

contes d’Hoffmann“ an der Staatsoper inszenierte. Die Titelrolle wurde von dem jungen Weltstar Neil Shicoff gesungen, der sich wie besessen in die Rolle hineinwühlte. Jürgen verliebte sich sofort in diesen Sänger, der ihm so unendlich viel anbot und keinerlei Grenzen zu kennen schien. Am Ende konnte es dieses Wunderwerk von Aufführung locker mit Chéreaus Pariser Inszenierung aufnehmen – und wurde doch zu einem Skandal, den Hamburg so noch nicht erlebt hatte. Selbst die „rheinische Frohnatur“ (was für eine dämliche Zuschreibung!) war darob überrascht. Damals ahnte ich, dass Jürgen Flimm seine Sänger, Schauspielerinnen, Dirigenten unbedingt lieben und bewundern musste, um in Fahrt zu kommen. Dass er seinen Zauber als Regisseur, Intendant und Impulsgeber vermutlich nur als Fan freisetzen konnte. Klar war er ehrgeizig, natürlich war er ein Stratege und Meister der Strukturen (man bestaune einfach nur die handgezeichnete Exposition des „Ring 2000“ in seinem aufschlussreichen Arbeitsbuch „Die gestürzte Pyramide“). Doch all die Jobs und Einfälle, all die Mühen endeten immer dann, wenn ihm der Platz in der Fankurve genommen wurde. Sobald die Liebe erkaltete, war er weg. Irgendwann, bei einer Orchesterprobe von Monteverdis „Poppea“ in Salzburg, als er mit seiner Mitarbeiterin Ulli Stepan die Arbeit von Harnoncourt mit seinem Concentus Musicus verfolgte, entfuhr ihm der Satz: „Haben wir’s nicht gut? Und dafür werden wir auch noch bezahlt!“ Das war echt. Wie soll man über jemanden wie Jürgen Flimm einen Nachruf schreiben? Am besten nie. T

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Theater der Zeit

Stück Labor 2021/22

Alexander Stutz Kim de l’Horizon

Michelle Steinbeck

Pablo Jakob Montefusco

Neue Schweizer Dramatik Stück Labor Es waren oft Zeiten des Aufbruchs, die nach einer Pandemie eingetreten sind. Das Förderprogramm für Neue Dramatik Stück Labor hat die Gelegenheit beim Schopfe gepackt und in Kooperation mit vier Schweizer Theatern gleich vier Hausautor:innenschaften ermöglicht. In der letztjährigen Spielzeit sind nun vier Stücke entstanden. Aus dem Schlummer einer verordneten Zurückgezogenheit sind wir wortwörtlich in einer neuen Welt aufgewacht. Jede:r Autor:in stellt sich den brisanten Herausforderungen mit ihrer oder seiner ganz eigenen Sprache.

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Kim de l’Horizon, dieses Jahr für „Blutbuch“ mit dem Deutschen und Schweizer Buchpreis ausgezeichnet, beschäftigte sich mit Posthumanismus. Hänsel & Greta möchten das Klima retten. Doch wie begeistert man die Welt dafür? Im Wald, in dem nur noch die Droge Vitalin angebaut wird, treffen sie auf eine Hexe oder eher eine alternde Dragqueen und lassen sich von ihr in dreizehn Übungen die Weltrettung beibringen. Uraufgeführt wurde das Stück am 22. September 2022 an den Bühnen Bern. Michelle Steinbeck war 2016 mit ihrem Roman „Mein Vater war ein Mann an Land und im Wasser ein Walfisch“ für den Deutschen und Schweizer Buchpreis nominiert. Am Theater Basel hat sie eine Dystopie über unsere Fortpflanzung verfasst. Das Stück erzählt von einer Welt, die kurz vor dem ökologischen Untergang steht und in der Männer nicht mehr fruchtbar sind. Ein hedonistischer König hat die ewige Party ausgerufen. Kinder darf man keine mehr gebären, dafür erhält man ein bedingungsloses Grundeinkommen. Das Business mit Silikonbabys boomt und wird zur neuen Kunstform erhoben. Doch nun wird die Tochter des Königs schwanger und entdeckt Hoffnung in sich – ein revolutionärer und gefährlicher Gedanke. Die Uraufführung findet unter dem Titel „Die beste aller Zeiten“ am 28. April am Theater Basel statt.

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Pablo Jakob Montefusco, Hausautor am neu gegründeten Théâtre du Jura in Delémont, verfasste sein Stück „La Felicità“ auf Französisch und Italienisch. Denn im Zentrum steht eine Schweizer Einwandererfamilie mit italienischen Wurzeln. Bei einer Familienfeier kommt ans Licht, dass die Mutter in der Schweiz als Schrankkind versteckt wurde. Ein Stück über die Schattenseite des Schweizer Wirtschaftswunders und ihrer Auswirkungen auf die Nachkommen der Gastarbeiterkinder. Das Stück wird am 2. Juni am Théâtre du Jura mit deutscher Übertitelung uraufgeführt. Alexander Stutz, Hausautor am Theater St. Gallen, lässt in „Die Entfremdeten“ ein Panoptikum von Figuren auf einem Parkplatz aufeinandertreffen. Auch hier gibt es eine Gretel, ihren Wald hat sie aber abholzen und zubetonieren lassen und mit einem 24hShop ausgestattet. Es sind Figuren in einem Dazwischen, die auf der Suche nach sich selbst und ihrem Gegenüber nicht mehr weiterkommen. Und doch wächst inmitten von allem ein Sprössling, der Hoffnung auf etwas Neues verspricht. Das Stück wurde am 19. Januar 2023 in St. Gallen uraufgeführt. Michael Gmaj, Leitung Stück Labor Im Folgenden präsentieren wir von den Autor:innen ausgewählte Auszüge ihrer Stücke. Die vollständigen Stücktexte stehen zum Download im PDF-Format über den QR-Code zur Verfügung.

Ein Dossier, das auch frühere Jahrgänge von Stück Labor enthält, finden Sie unter tdz.de/dramatik

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Stück Kim de l’Horizon

Noch was und noch was Der Spiel-Special

„Hänsel & Greta & The Big Bad Witch. Eine Weltrettung in 13 Übungen“

Die Schauspieljs haben je einen Joker: Wenn sie den Eindruck haben, ihre Mitspieljs sind nicht so präsent, dürfen sie unterbrechen und irgendwie reinfunken. Wie zum Beispiel: „Hey, das hast du jetzt saumässig gespielt, wo bist du denn, Schnipps Schnapps, hallo hallo“ und dann darf auch ordentlich was reinimprovisiert werden, alles, was es braucht, damit alle Beteiligten wieder präsent und schön durchlässig sind, und schön, und durchläääässig wie sie zu sein haben.

Kim de l’Horizon

Kleine Bitte an das mögliche Regieteam

(Auszug)

Bitte. Dies ist sprachlich ein so absurd überfrachteter Text, eine dermassen wilde und für Sprechende und Hörende flippige Sprachparty, ich glaube echt, es braucht nicht wahnsinnig viel. Ich mein so Kostüm oder Bühne oder irgendwas zwanzigtausend Regieeinfälle. Das alte Mamaunser: Less IS more. But hey that’s just me. Jaja, dieses Konvolut soll Sprungbrett für eure cränkesten Phantasien sein. Aber verliert doch beim Abspringen nicht ganz das Brett. Please. A small please. Und fängt jetzt dieses Stück denn auch mal an?

DRAMATIS PERSONÄÄÄ HÄNSEL, das Hochsensible Sensörchen GRETA, die autistische Weltretterin Die grosse böse HEXE, eine etwas in die Jahre gekommene Drag Queen Die ERDE, überarbeitete Frührentnerin EIN MENSCH; DAS VON DA NACH DORT GEHT, OHNE DIE ERDE ZU RETTEN Der grosse HUNGER PUNK-VRONIS, Steinflechten DAS SCHNEGEL, Steinfresserschnecken schllmrffffrSTEINFRESSERSCHNECKENSTEINSCHMÄTZER BUCHE, alt und heiser SCHLAUCHPILZ Die ECHTE-LUNGENFLECHTE-GRÜNALGE Der CHOR DER BAKTERIEN, die HÄNSELS Vorfahren gezimmert haben Die grosse SYMBIOSE

Kim de l’Horizon, geboren 2666 auf Gethen, hat Germanistik im Elfenbeinturm, Literarisches Weinen in Biel und Hexerei bei Starhawk studiert. Die Arbeit am Debütroman „Blutbuch“ dauerte ein wenig länger als angeteasert, der Roman wurde im Herbst 2022 publiziert und gewann den Deutschen und den Schweizer Buchpreis. Kim wackelt gerne an den Bildern, die wir von Körpern haben, die wir von Menschen und Nichtmenschen haben, die wir von „Natürlichkeit“ haben, die wir vom „Wir“ haben. In der Spielzeit 21/22 war Kim Hausautor:in an den Bühnen Bern, wo eine Erweiterung von Shakespeares Sommernachtstraum zu sehen war.

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Ja, was es ist denn, dieses Jetzt? Und wo? Also hier ist ein Jetzt, und das ist 05:07 Uhr an diesem 17.6.22, ich habe nicht geschlafen, ich hätte gestern abgeben sollen, aber ich habe nicht geschlafen und hab zu Ende geschrieben geschlittert geklittert, und ich werde dieses Intro nicht überarbeiten welch grausamer Müll es auch sein mag, denn ich – habe – ja! – jetzt! mein blaustes Kleid genommen, ich bin hinaus, den Hügel rauf und es mag mein schönstes Kleid sein, das ich da trage, blaublau ist es, und es mag ein Nähestes sein, und auch gerade sehr humorlos. Lange Zeit habe ich Sprachen getragen statt Kleider, und mich ohne Körper in Verlorenheiten begeben, und an noch peinlicheren Hoffnungen geknautscht, und immer dachte ich: Es muss alles, alles, alles muss rein, sonst kann es nicht raus. Dieses Leben, diese Satzsachen, diese Werdungen, diese Zeit, dieses Blau, diese Dämmerung: Alles ist zu gross, zu schwer, zu schön, zu fein, zu krass, ja viel zu krass und viel. Und darum geb ich‘s Dir: Dies Vielzuviel. Möge es Dich vermöbeln, wie es

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Stück „Hänsel & Greta & The Big Bad Witch“ mich vermöbelte. Mög‘ es Dir eine mindestens so peinliche Hoffnung ins Herzlein stecken, wie es mir eine nahm (und sonst mögest Du eine qualvolle Hoffnungsvollerigkeit erleiden). Mögen die Flitterkritter mit Dir schlittern. Nun betreten endlich Hänsel und Gretel die Bühne. Sie halten sich an allen Händen und sind in einer solch immensen Verlorenheit, dass mensch sie in den Arm nehmen und finden möchte und natürlich weiss: die grösste Schatzfinderin könnte ihnen ihre Verlorenheit nicht nehmen.

Intro HÄNSEL O Gretel Schwesterlein Wo sind wir nur so ganz allein? Meine Hand hält an die dein Doch mit dem Halten kommt kein Halt Und selbst der Wald scheint ausgeflogen aus dem Wald Und mit ihm zog von dannen auch die Welt Und mit dem Erdenrund verschwund auch all mein Herzelein O Gretel Schwesterlein Jetzt weiss ich was es heisst zu sein ganz mutterseelallein Nämlich: da zu sein Ohn’ jedwedes Da zum Sein. GRETEL Ach Hänsel du Geschwisterlein Du bist zu fein sogar um fein zu sein Die Dunkelheit sei unser Wein An dem wir uns ein Mut antrinken Ja, wir drohen in verzehrende Verlorenheit zu sinken HÄNSEL und GRETEL schauen sich an. Sie erinnern sich Moment einmal, wir waren doch schon oft an dieser Stelle Dieser Ganzverlorenheit, in dieser Waldeseinsamkeitenzelle Verhext sind wir, bis dass es uns zerbricht Gefangen sind wir ja: in dieser ewig gleich Geschicht Und das End von ihr ist nicht in Sicht HÄNSEL Der Hunger wird stets grösser und gemeiner Die Welt da draussen immer kleiner Der Hunger nimmt uns unser Land und Feinde hat er keine

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Was tun wir nun? Oh ich wünscht ich wär kein gar so Feiner

Die deine Häute kleidet – ohne dass ich dir an Karren fahre?

GRETEL Hänselchen! Beisst ein Hunger dein Genick So beiss zurück, und nimm in eigne Hände dein Geschick Isst ein Hunger deine Welt So find ihr Innerstes, und wo sie auseinanderfällt Dann rette sie, doch nicht mit Geld Wir müssen vorwärts, in die Zukunft, in’s vermeintliche Grabmahl Doch nicht wie stets im alten Märchengraus Bleiben wir diesmal im Tal der Qual Bleiben wir im Hexenhaus Und wählen die Veränderung! Hexe! Hexe! Find uns, Hexe!

HEXE Damit mich Welteskälte nicht dermasslich frieret

HÄNSEL Nein, sei still!

Szene: Meeting the Hexe Auftritt HEXE. Das Licht bängt rein. Schimmer Glitzer Flitzer. Da sind wir nun im Hexengarten. HÄNSEL und GRETEL stehen davor. HEXE Knoppers Knoppers Knäuschen Wer frisset an mein fitty fatty Bäuschen? HÄNSEL und GRETEL Fiti Fäthi? Emm der Wünd der Wünd Die hümmlischen Kind HEXE Zwei Wörmling am Verlorenheitsgeschmunkel Was kruzt ihr da im Vitalinendunkel? GRETEL Oh grosse Hexe wir sind hier in Frieden Um die alte Mär verabzuschieden HEXE Ja subarlihho ihr Zweibeinsmekarli benain Kommet rasch herein Und wärmet eure Nötchen bei meim fireshine HÄNSEL versteckt sich hinter GRETEL und wispert ihr zittrig zu Haare GRETEL Ja und woher rührt denn alle diese Fellware

HÄNSEL zu GRETEL Bizepse GRETEL Und woher langt dein Muskelwerk, so knackig wie zehntausende Krebse? HEXE Ich bin so krasslich aufgepumpt damit ich besser prügeln kann naturlich HÄNSEL zu GRETEL Watschelflossen GRETEL Und warum dies Fusswerk, das bestimmt nicht diesem tiefsten Wald entsprossen? HEXE Ach je higher die Heels desto geiler die Feels Die Nacht ist viel zu kurz um schlecht gedresseth umzunieten HÄNSEL zu GRETEL Ears! GRETEL Hänsel – wie? So komisch hast gesprochen du noch nie HÄNSEL Ohren GRETEL Ahja – und sprich, was hat da dieser Werg verloren An den Geräten, die aussehn wie immense Pilzessporen? HEXE Ohren, ja ich höre eben mit dem ganzen Aussenpanzeralles Liebes das hier alles Zuhörorgan es geht nur ums Zuhören aber kommet rein jetzt Kinderlein GRETEL Aber versprich uns Hexe dass du uns nicht friessest nein? Wir suchten dich in deinem Heim Denn wir brauchen deine Hilfe, aber gehn dir nicht auf deinen Bosheitsschleim Wir wollen umerzählen unsere Erzählung, alles schein in neuem Reim HEXE Harrharr natürlich will euch doch fressen ich bin Hexe ich verinnerliche jamm verdau würgstopf ich mach Transförmchen Umverwandelei Lamettenschillerei ja ich ent die Arten von den Körpern und das tu ich fressend eben aber gar nicht so wie du dir denkest kein Vernichten Slakterei nei das sind oulden Jammer-

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Stück Kim de l’Horizon märchen so jetzt kommet rein und lasset eure alte story hinter euch tschaubye Vergängenheit und nehmt euch dieser Gegenwart hart anne kommet kommet ranne ihr Kinderlein ich hab Sinalco

Szene: In the Hexengarten HEXE Schaut euch nur herund Ich riegel rasch das Gärtchen ab mit Safeheitssprüchen Bannkreiszwischerei Die zwei Kindchen bestaunen den Hexengarten, Hänsel immer noch ZITTER, die HEXE hext KNUSPER KNOISPER KRÄUSCHEN ICH KRÄUTERE DIES KLÄUSCHEN MIT KRINGEL KRÄNGEL SYMBIOSENTRÄMMER WER DAS STRESSPASST KRIEGT NEN HÄMMER WER HIER REINDROHNT WIRD ZU GLITTER DAS BEWITSCH ICH MIT ZEHNTAUSEND KRITTERRRRR Und was ist euer Want und was ist euer Need? GRETEL Also das ist der Hänsel hier HÄNSEL Ja ich bin der Hänselhier HEXE Hallo Hänselhier du bist der Zärtling was der Nichtsbezwinger Stäubchenwandrer Sensitivitybezwungner ohne Haut? HÄNSEL, der wirklich plötzlich keine Haut mehr hat und mit seinen blossen herumpumpenden Venen dasteht Sensätiwätibezwungner – ja – wo ist denn meine Haut jetzt wieder? HEXE Ach und du musst dann wohl die Greta sein oder? GRETEL wird GRETA ist voll verwirrt, ihre Sprache ändert sich und sie kann nicht viel tun, sie hält sich aber an den Reimen fest wie eine Klammeräffchen am letzten Bäumelein - sucht verzweifelt Reime Ich ... ? Ja ich muss dann eben wohl die Greta sein wir sind hier die Erd zu retten … unser … Lebens … bein

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HEXE Gacker gacker Wer ist wo um was zu wasen? GRETA WIR sind HIER die ERD zu RETTEEEEN HEXE Oh nein Gretchen jetzt verhökerst du mich aber für ne Eichel oder? Also ich sing euch jetzt mal was von der falschen Realität in der ihr euch befindet Am ersten Tag schuf Gott das Gold, denn es klang so ähnlich wie er, aber – GRETA Oh nein wird das jetzt eine weitere Welterklärungsrede einer alten Säckin? Das ist aber doch gerade total nicht angesagt in der Gegenwart drin HÄNSEL hält sich die Ohren zu und singt laut HÄNSCHEN MITTELKLEIN GING NICHT ALLEIN IN DIE GAR NICHT SO GROSSE WELT NICHT HINEIN HEXE Also ihr Jungen wisst immer alles besser fickendes Indecorum Ich beuge mich weil ich gegen Gewalt bin Beug Knurr

Denn für diese Gaia Ist der Mensch nicht witch genug Ab in meine Heia Stoppe dein Dummfug Ja plane einen Plän Sei nur ein niffes Ich Und plane dann nen planren Plän Gehn tun sie beide nich. Denn für diese Gaia Ist der Mensch nicht „Mensch“ genug Sing Gayer Popeh-ja Oder spring vorn Zug Der Mensch ist viel zu mensch drum box ihn auf sein mensch hast du ihm auf sein mensch geboxt Hüt er die Ersatzbench (vielleicht endlich mal) Denn für diese Gaia Ist der Mensch nicht „Mensch“ genug Sing Gayer Popeh-ja (mit mir!) Oder spring vom Flug GRETA Ehmm Was willst du uns sagen? Sind bloss arme Kindelein und ham nichts zum Nagen Doch müssen wir die Erd zu retten wagen oder ihren Untergang / er-

HÄNSEL Du bist also keine böse Hexe? HEXE Hahaha böse oder gut kicherknarr ich bin JENSEITS ich bin nicht wie ich scheine ich scheite Peine wie ich rhyme aber pass mal auf Junges dann mach ich eben ein Lied draus das sollte dramatologisch doch jetzt erlaubt sein. Krötenmilbe! Ohrenschmalz! Und Dämönchen der suizidierten Söhnchen! Den Welterklärungsbeat der Welterklärungballade, bitte! Die Krötenmilbe, der Ohrenschmalz und die Dämönchen der suizidierten Söhnchen machen den Welterklärungsbeat. Entweder singt die HEXE „Arschloch“ von Die Ärzte (allerdings statt „oh-oh-oh Arschloch“ singt sie „oh-oh-oh Menschen“), oder wenn das versicherungs- oder geldtechnisch zu unmöglich ist, folgenden Text zur Melodie von der „Ballade der Unzulänglichkeit des menschlichen Planens“ von Berta Brecht HEXE Die Welterklärungsballade oder klingar flingar Ottilräckligkeit. Knusper knusper. Yeah. Wuää. Räusper. Der Mensch worked durch sein Bämm! Sein Bämm! Ist nicht enough Versuch es nur, von deinem Bämm! Lebt höchstens deine Waff!

HEXE Schönschön aber das ist unfortünlich und gebääährt sich eben schwierig weil die Örde ist ja schon untergegangen GRETA / nein! / nein! / falsch! / pfui! / still! / träumst du / stimmt nicht! / Halt die Haxe alte Faschinghexe! HÄNSEL leidet fürchterlich wie ein Scheidungskind und ruft schliesslich Bitte vertragt euch – nicht so laut – seid doch milde! HEXE Mild. Reimt sich wie zufällig auf wild. Und auf Bild. Greta: Bandenbild! Die erste Übung

Szene: 1. Übung: Banden bilden EIN MENSCH; DAS VON DA NACH DORT GEHT, OHNE DIE ERDE ZU RETTEN, geht von da nach dort. GRETA Ja hallo heda Sieda mit vier Glieder

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Stück „Hänsel & Greta & The Big Bad Witch“ EIN MENSCH; DAS VON DA NACH DORT GEHT, OHNE DIE ERDE ZU RETTEN Ja hallo wasdenn

EIN MENSCH; DAS VON DA NACH DORT GEHT, OHNE DIE ERDE ZU RETTEN Ja aber die Welt ist doch schon untergegangen?

EIN MENSCH; DAS VON DA NACH DORT GEHT, OHNE DIE ERDE ZU RETTEN Muss ich meinem Kind zu essen geben

GRETA Sind Sie sind Sie auch Gefangenes des Nirgendfasses und könnten nur noch flenn‘?

GRETA Wa – woher wissen Sie das denn?

GRETA Und nach dem Achtsamkeitskurs? Für das gesamte Leben?

EIN MENSCH; DAS VON DA NACH DORT GEHT, OHNE DIE ERDE ZU RETTEN Jaja ich bin auch Gefangenes des Irgendwases GRETA Ahja schön dann gehts wie mir Und woher kommen sie was tun Sie hier? EIN MENSCH; DAS VON DA NACH DORT GEHT, OHNE DIE ERDE ZU RETTEN Ich komme von da GRETA Ahja von da und was tun Sie hier in der Gefahr? EIN MENSCH; DAS VON DA NACH DORT GEHT, OHNE DIE ERDE ZU RETTEN Nichts ich gehe hier einfach nach dort GRETA Und wohin geht die Reise fort? EIN MENSCH; DAS VON DA NACH DORT GEHT, OHNE DIE ERDE ZU RETTEN Na, nach dort halt. GRETA Und was wollen sie im Dort das ist doch em ist doch also alt? EIN MENSCH; DAS VON DA NACH DORT GEHT, OHNE DIE ERDE ZU RETTEN Mein Kind von der Schule abholen GRETA Achso ja das ist natürlich wichtig denn das hat ja zarte Sohlen EIN MENSCH; DAS VON DA NACH DORT GEHT, OHNE DIE ERDE ZU RETTEN Ja das ist natürlich wichtig GRETA Aber finden Sie es nicht auch wichtig jetzt zu tun was richtig? EIN MENSCH; DAS VON DA NACH DORT GEHT, OHNE DIE ERDE ZU RETTEN Ja natürlich natürlich immer GRETA Tja es wird nur leider alles schlimmer Aber die Welt zu retten gäb uns doch nen Hoffnungsschimmer?

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EIN MENSCH; DAS VON DA NACH DORT GEHT, OHNE DIE ERDE ZU RETTEN Na sehen Sie sich doch mal um GRETA Jaja ich weiss schon em drum Aber gerade deshalb wär was Kleins zu retten doch nicht dumm? EIN MENSCH; DAS VON DA NACH DORT GEHT, OHNE DIE ERDE ZU RETTEN Also es ist ja klar was man tun müsste um die Erde aus ihrer verfrühten Rente in Floridah nein Aritzona ich meine Mecksicko zurückzuholen GRETA Ja Sie von da noch dort gehendes Mensch Sie haben ja alles erfasst Drum will ich fragen ob die Revolution in ihren Kalender reinpasst? Heute um viertel nach 9 treffen wir uns alle ungefähr hier auch mit meinem Bruder

EIN MENSCH; DAS VON DA NACH DORT GEHT, OHNE DIE ERDE ZU RETTEN Muss ich schlafen Mein Kind kommt alle zwei Stunden und ist vollwach ab 5.30 Uhr da muss ich frisch sein GRETA Und morgen tageszeitlich passt auch nicht rein? EIN MENSCH; DAS VON DA NACH DORT GEHT, OHNE DIE ERDE ZU RETTEN Muss ich mein Leben verdienen GRETA Und morgen Abend auch auf Schienen? EIN MENSCH; DAS VON DA NACH DORT GEHT, OHNE DIE ERDE ZU RETTEN Dasselbe von vorne es tut mir leid wirklich leid ich würde sehr gerne mit ihnen die Erde retten aber ich habe echt nicht genug Energien dafür

EIN MENSCH; DAS VON DA NACH DORT GEHT, OHNE DIE ERDE ZU RETTEN Oh ja ich käme so unsäglich liebend gern aber dann kann ich eben grad zufällig nicht da ist eben mein Achtsamkeitskurs

GRETA Also finden Sie es knopprig für das Schlechte zu kämpfen das heisst Weiterzuwuchern im Absolutungutheitsgeschwür?

GRETA Ist denn so wichtig wichtiger als unser Überlebensdurst?

EIN MENSCH; DAS VON DA NACH DORT GEHT, OHNE DIE ERDE ZU RETTEN Nein, ich finde es nicht so geil für das Schlechte zu kämpfen das heisst das Absolutglut –

EIN MENSCH; DAS VON DA NACH DORT GEHT, OHNE DIE ERDE ZU RETTEN Haben Sie Kinder? GRETA Also husthust ich finde es ja ein wenig problematisch Kinder auf diese uns schon ziemlich untergegangene Erde zu schreien dann geht ja alles nur geschwinder EIN MENSCH; DAS VON DA NACH DORT GEHT, OHNE DIE ERDE ZU RETTEN Jaja eben aber dann verstehen Sie auch nicht weshalb ich diesen Achtsamkeitskurs brauche GRETA Und vor dem Achtsamkeitskurs keine Zeit für die Revolution? Kein bisschen Revoluzzerjauche?

GRETA Eben! Und wenn dieses Gärtchen hier auch untergeht dann hat ihr Kindelein keinen Ort mehr zum Dasein dann müssen sie weinwein woanders hin und wer weiss obs dann ein Anderes Woanders gibt für einen Neubeginn EIN MENSCH; DAS VON DA NACH DORT GEHT, OHNE DIE ERDE ZU RETTEN Das stimmt Aber wenn ich ihm kein Essen mache verhungert das Kind wenn ich keinen Achtsamkeitskurs mache werfe ich das Kind an die Wand wenn ich nicht genug Schlafe ebenso und wenn ich kein Leben verdiene kann ich ihm kein Essen geben und keine Playmobil schenken Eine grosse Stille Aber hören sie mal – sind sie nicht Greta? Die Greta? Die grosse Greta? Die Greta aus ‚Hänsel & Greta and the Big Bad Witch’?

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Stück Kim de l’Horizon GRETA Ja doch die bin ich aber ohne Witch EIN MENSCH; DAS VON DA NACH DORT GEHT, OHNE DIE ERDE ZU RETTEN Na also dann schaffen Sie das auch ohne mich! Geht ab ins Dort Auftritt ERDE Die alte, alte, heisere ERDE watschelt daher wie die unterbezahlte Person, die bei der Tankstelle die Regale auffüllt aber genderlos, vermutlich ist das HÄNSEL in einem fetten Plastik-Atlas-Fat-Suit, denn für andere Schauspieljs hat das Geld nicht gereicht, weil Gegenwartsdramatik: ERDE Ich hatte den Schnauz voll. Ständig haben alle über mich gelabert und für mich gelabert. Also reden. Aber nö. Die einen haben mich mit der globalen Vitalinplantage ersetzt und die anderen haben mich für sich gehalten und ihre Mutterbeziehung auf mich gedingselt. Ich bin nicht gern die Spassbremse, aber hey Leute, ich bin keine Totalmama. Ne, du. Aber die Menschen sie meinten, sie wüssten was, und haben gesagt: Die MUTTER Erde will das. Aber ne, nö? Und alle meinten was anderes mit mir, hatten ihr eigenes Foto von mir. Aber alle haben sie für mich gelabert. Die Linken und die Rechten und die unten und die oben und die in der Mitte sowüso, alle meinten, die wüssten, was ich mag. Und voll ernst nö? Aber wissen Sie was? Wissen Sie, was ich wirklich will? Ich will gar nüscht. Gar nüscht will ich. Nö du. Und irgendwann hatte ich den Schnauz oben zu. Und ich haute mich in den verfrühten Rente nach Floridah, dann nach Aritzona, weil Floridah zu teuer war, dann nach Mecksicko, weil Aritzona auch zu teuer, und dann in den Aargau, weil ich hatte ja mein ganzes Leben Care-Arbeit geleistet und damit verdienst ja nix. Macht euren Scheiss doch ohne mich ne. Ich will gar nichts. Macht euren Scheiss ohne mich. Aber macht ihn. Nö? ERDE ab GRETA Kannst du sie nicht zurückzaubern Hexe, öaaaplease? HEXE Nein ich mache keine Hexerei gegen den Willen der Weselchen da musst du in die Marketingbra– Zaubererdepartöment Ich bin eine Scheisshexe mache nur Enttäuschungsmagie Heilhexereien Selbstliebesgetränke wobei das Selbst so ein Dingeldangel ist

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GRETA Ich fass es nicht bin hier bei nem mittelmässig Hutzelweib Im Vitalinenwald gelandet und dem grossen Hunger wächst der Leib

HÄNSEL Welcher Weg HEXE Na der Weg des Lebens auf dieser Erde

HEXE ab

HÄNSEL Dann lach ich harr!horr!ha! so: Harr!horr!ha!

HÄNSEL Das ist es Greta wir sind im Vitalindschungel gestrandet.

HEXE Du verstehst nicht Du musst Greta überkruxen

GRETA Ja wir könnten wohl verzweifelen Aber wir verzweifeln nicht Doch was tun wir nun in dieser Drecksgeschicht?

HÄNSEL Du du du bist also doch böse du Hexe du ich dachte du bist lieb du hast mir endlich was gegeben du hast eine Art von Reden gegeben in der ich endlich –

HEXE aus dem Off Knitter Kritter Flitter Umwerbt die geieln Zwitter So rettet denn der hyphen Mächte, Die einzig Echte Lungenflechte! Die Flechte wird die schlimmen Lüfte putzen Und ausglätten die ähmmm Menschennichtsesss … ? schmutzen Und die Erd wird dann ganz hüpf! zurück sich flutzen GRETA Klar! Die Echte Lungenflechte! Die schaun für uns zum Rechten! HÄNSEL Ah klar die Echte Lungenflechte! Aber was ist das? GRETA Flechte Flechte Flechte Du bist der Welt die Lunge Du bist die einzig Echte Du rettest uns im Schwunge Ich bitte dich so sehr Mit meinem Wörter-Heer Ersuch ich dich hierher! Wartet erwartungsvoll Die kommt nicht mehr

Szene: Der Komplott HEXE Knuppi Krut wo ist dein Schwesti Hänsi HÄNSEL Hallo Hexi Greta häckt grad Pläne aus und schmiedet Reden HEXE Gutguti Horch mal was sagst du wenn ich dir sage dass du also dein Körper Und nicht Greta Der Weg ist

Die HEXE freezed ihn mit einem Schnipp HEXE Immer diese Gute-Hexe-Böse-Hexe-Einteilerei die bringt euch echt nicht weiter Stunkerchen Jetzt hark mal zu junges Zellhäuflein Weisst du auch ich hab auch mal angefangen in meiner Kindheit und da war ich ein Schwan war ich und ich ging auf die Schwanenschule und dort sollte ich intestieren wie man so eine schöne weisse Langhalsigkeit wird Aber ich hatte NÖÖÖÖÖLL Bock auf das Hüperweisssein und auf die Langhalsigkeit und fiel beim SCHWAN-FATALE-TEST [Anmerkung: Wie femme fatale ausgesprochen] extra durch und bei der Böse-Blick-Eleganza stellte ich mir die Jury in Entenfedern vor und kicherte, was dich natürlich abahoundant Und die anderen arroganten Kücken die schon viel schneller weisse Federn hatten und möglichst bitchy rumschwammen lachten mich in meinem Grauheitsflaum aus Was willst du denn sein fragten mich meine Eltern du kannst alles sein wir lieben dich trotzdem wir wohnen ja am linken Ufer Ein Mistkäfer ihr Eltern Ein Mistkäfer ihr schwänischen Erzeuger*innen will ich sein Und die lachten mich aus die schwänischen Erzeuger*innen und nahmen mich nicht ernst denn sie waren dumme Schwäne und sie wussten nichts vom Mistkäferwerden ich aber wusste alles über das Mistkäferwerden denn innerlich war ich schon längstens auf dem Weg zur Mistkäferei Und ich hatte keinen Bock auf diese mehrbessere Wirbelwesenexistenz auf dieses Tüdelüdüren von den völlig übertrieben aufgeblasenen Luftsäcken in die Knochen Ich war zu anderem berufen ich war vom Mist gerufen

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Stück „Hänsel & Greta & The Big Bad Witch“ Und innerlich spürte ich die Fühler und meine sechs Beinchen Und der Ruf des Mistes dieser Erde war so laut ich konnte mich gar nicht auf dem Wasser halten es trieb mich in das Erdige und ich weiss nicht wie es kam aber es kam Es kam eben so dass ich auf meine Flügel gestützt mit meinen Hinterwatscheln anfing Kotkugeln zu formen es war mir eine Notwendigkeit Ich tat dies Tag und Nacht und wenn ich eine Kugel geformt hatte dann stieg ich auf sie und drehte mich tanzend im Kreise denn das ist der Mistkäfertanz und in meinem mir wohligen Mistkäferdasein orientierte ich mich nach Sternen und Mond Ja wir Mistkäfriche wir sind Gestirnlinge Wir ordnen unser Tun nach den dunklen Lichtbringies Und wir ordnen die Mägen der Erde wir sind also quasi die Baktierenchen im Darm des Grossgiganzen Und so rief mich der Dung dieser Erde rief mich ihn zu ordnen und zu kugeln und ich ernährte mich von ihm und nach anfänglicher Kotzerei gewöhnte sich mein Körper daran und ich nahm meinen Zweckeszweck an Derweil wurd ich auch vom allgemeinen Schwanenrat ausgeschlossen denn ich würde SCHWERSTEN UNSCHWAN!!! über sie bringen und so ging ich durch die Welt und verdaute ich verdaute Welt und sie war noch jung und brauchte mich denn ich formte ihre Scheisse und ich frass was sich nicht formen liess was schnell in eine andere Form zersetzt werden musste Dann aber Machten die Menschen einen Evolutionssprung hops und begannen sich hinzusetzen Gebäude und Gebilde zu machen und kackten ihre Kacke immer an dieselbe Stelle und dann begannen sie auch noch andere Materialien zu kacken ja neue Sachen die sie einfach in die grosse Scheisse kackten die vorher nicht so gesammelt auftrat Und das war eben das Krasse Neue: Die Erde ist ein Kackkreis was die einen kacken fressen die anderen fressen die Dritten die wiederum werden von den Zähnigen gefressen und wieder rausgekackt und das fressen wieder die – also es geht eben so rundum und das ging lange auf – bis die Menschen den Kackkreis aufbrachen und Krasskacke auf einen viel zu kleinen Raum kackten oder eben ganz andere Materien zu kacken begannen Und der Verdauungsgang der Erde konnte das nicht aufnehmen das alles konnte nicht einge-

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foodet geordnet gekugelt werden von den Meinigen Erpülzelnden Zersetzlingen das brachte alles durcheinander Und die Sterne warnten mich ich müsse mehr fressen jetzt sonst wird ein grosser Hunger wiederkommen und alles fressen aber nichts verdauen sondern nur fressen und fressen und nichts kacken was für uns Lebendigen doch das Schlimmste ist denn die Erde ist ein Haufen Scheisse und wir leben davon dass alles im Umlauf bleibt OHNE KOT SIND WIR IN NOT aber niemensch nietier nieleb kann die gesamte Scheisse dieser Welt allein verdauen Hänsel darum ist der Weg von Greta kein Weg

Szene: 2. Übung: An einem Ort anwesend sein, und den Dingen, die da sind, zuhören HEXE Glitter Schlitter Schmöisschen Wie rettets unser Häusschen GRETA Schitter-Wetter Sträusschen Hexe Diese Übung funktioniert nicht Das Bandenbilden funzte nicht Der Mensch ist viel zu busy Mit sich selbst kopieren, diese Sissy Jetzt musst du her mit echter Magic HEXE Ahja echte Magic meine liebste Magic Ich – GRETA Aber horchet auf! Die Welt! Spürt ihr ihr Gewicht denn nicht? Wir stecken bis zu den Gestirnen tief in einem Apokalypsen-Musical HEXE Soso. Aber jetzt. Jetzt sind wir einmal hier. Sie hat ihre Zauberstimme montiert. Alles wird Plüsch und langsam und wahrm. Ja: wahrm. Jetzt sind wir hier Nicht dort. Nicht da. Nicht überall. Sondern hier, an diesem einen Ort. Es mag ein kleiner sein, ein doofer. Ein müffeliger, ein ständoffischer Ort. Aber es ist der Ort, an dem wir sind. Und hier, in diesem Hier wollen wir ETWAS versuchen Nicht alles, nicht nichts, sondern ein einziges Etwas.

Was wir versuchen, ist: Hier zu sein. Dieses eine Experiment zu machen. Und das Experiment ist: Nicht alleine hier zu sein. Sondern mit den Wesen, die da sind, AN-WESEND zu sein Nicht alle Schuld der Schüldenden zu tragen Sondern eine kleine Ver-Antwort-Fähigkeit zu krümeln Das gemeinsame Zuhören wächst und wächst und aus dem Zuhören stülpen sich behutsame Finger und die Finger bekommen Hände und die Hände bekommen Tentakel und Läufe und Myzelien und die Tentakel und Läufe und Myzelien, die verweben sich tief ineinander und halten den Raum, in dem wir uns befinden, wie man ein frischgeschlüpftes Kücken hält. Und das Zuhören wird zu einer solchen Liebevolligkeit, das hat noch kein Elter gefühlt und kein Stamm gewurzelt und kein Flügel geschützt. Zack und Flatter, Auftritt einige Verrucaria funckii, DIE PUNK-VRONIS, ein Konglomerat von Flechtensporen flattert herein. Sie sind ein Mauerbluemchen, ziemlich unaufregend, aber darin wahnsinnig cuuute. Sie sind uuuuuuuuuuunsaeglich langsam. Wie das Faultier am Postschalter in „Zootopia“. Und wenn sie wütend oder emotional oder Angst oder etwas sind, dann deklamieren sie in Zeitlupe alles im Rhythmus von „Nazis“ von Allgemeines Chaos Kommando. GRETA Wer bist denn du? VRONIS SCHEISSSCHNEGGEL! RAUSKOTZEEEN! SCHEISSSCHNEGGEL! WIR FLECHTEN! WIR MOTZEN! IHR UND EURE OPAS! FRESSEN ALLE SPROSSEN EUROPAAAS SCHNEISSSCHNEGGEL! BLAUWÜRGEN! WIR VRONIS! JETZT ZOMBIES! IHR SCHNEGGEL! BLUTEGEL! HÄNSEL Hallo Vronis GRETA Und was bist du? VRONIS Na – WIR SIND! PILZSPOREN! VON FLECHTEN VERLOREN! GEFRESSEN! VON DUNKLEN DUNKLEN MÄCHTEN! HÄNSEL Eine Flechte!

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Stück Kim de l’Horizon GRETA Eine Flechte!! Doch nicht etwa die Echte Lungenflechte? VRONIS Immer diese Scheisslungenflechte IHR ARISTOKRATEN! GEHT DOCH! MARIO! KARTFAHREN! IHR ARISTOZAREN! erholt sich. Alle fragen uns immer sofort: Lungenflechte? Aber es gibt über 25‘000 Flechtenarten! ABER WIR SIND UNSCHEINBAR! UND UNSICHTBAR! aber wir sind trotzdem süss. und WICHTIG! GRETA Du bist also die falsche Flechte für uns, du bist keine Lu – VRONIS Also WIR SIND WIR! PLURARDASEINSFORM! NICHT SO INDIVIDUUMKONFOOOORM! Flechtensporen unsere Hyyyyphen, Wurzeldinger und unsere Algenanteile sind unterm Stein, damit da kein Fressmund rankommt. HÄNSEL Du lebst im Stein? Das ist ja abgefahren! VRONIS Und du? Lebst in einem Haus aus Lebkuchen... ? HÄNSEL Ne ich mein: voll brätschig geiel, wie die Hex würd sagen. Und zeig mal. Sind das deine Hyphen? Ohhh, wie fein und zart! So was schaffen wir Tiere gar nicht, das ist so eine Pilzfeinheit, oder? VRONIS voll geschmeichelt Ne, das sind erst unsere Sporen. Also wir sind ja einfach ein paar Millionen Sporen. HEXE Welche Flechtenart bist du denn? Also ich bin ja ein hexenförmige Mistschwanonschontiert. VRONIS Freut mich, hexenförmiger Mistschwan. Wir kommen von der Verrucaria funkii. HEXE Funky? Wie in funky town? GRETA He und was machst du eigentlich hier? VRONIS Na WIR SUCHEEEN! ZUFLUUUCHT! VOR DEM GROSSEN HUNGAAAAR! HÄNSEL He Greta! Das ist ja wie bei uns! Wir sind eben auch hier, weil ein grosser Hungar ins

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Land zog um die Welt zu fressen aber die Welt gibt es gar nicht mehr weil die hatte genug und ist untergegangen und jetzt versuchen wir sie noch ein bisschen zu retten und suchen eben die Lu – emm. Der Hunger! Kam der auch in Eltern? VRONIS DER HUNGAAAR! KAM IN SCHNEGEL! BLUTEGEL! UND MACHT UNS VRONIIS! ZU ZOMBIEEES! GRETA Der Hunger kam in Schnecken! Na so was. In Schnecken kam der Hunger. VRONIS Ja in Schnecken! MIESEN FIESEN SCHNECKEN! MIT ZUNGEN! WIE BULLDOZER! Ja, die raspeln den Kalkstein weg, um an uns ranzukommen und – GRETA Das ist ein Witz, oder? Schnecken sind doch viel zu weich um Stein zu fressen, oder? Oder? Oder? VRONIS Nein, sind die nicht. Sorry wir müssen kurz ausholen, ja? Hier, seht ihr unsere Farben?

VRONIS Ja ausser wir. Mein Elterngeflecht hat uns noch in einem Akt letzter Verzweiflung ausgestossen in die Winde wir sind ja nur ein paar Millioenchen Spörchen unseres Pilzanteils, wir muessen jetzt unbedingt mit einer Alge symbiotisieren und dann brauchen wir einen Stein, denn wir leben nicht an der freien nackten Luft, wir wachsen nur im Stein und zusammen sind wir dann erst eine Flechte – PilzAlg-Stein-Wesen-Wir GRETA weltretterisch Wir brauchen unbedingt einen Stein – Stein – Kalkstein, am besten, ja? Möchten – könnten sie vielleicht – ja, ein Stein sein? Und sie hier eine Alge und zusammen alle – ja? Geht das? Vronis, geht das? VRONIS GRETA! IST GEIL! GRETA! DU BEIL! VRONIS verwandeln sich schon blubbernd und flechtigprächtig in ihr FlechtenwirrwarrFlechtenwirsind. Ploetzlich klopft es grauslig. GRETA Was ist das? VRONIS DAS IST ER! DER HUNGAAAR!

Die VRONIS gehen voll ab crazy Lichtshow von allen ihren Ecken und Enden. HÄNSEL Oh wooooow die sind aber schoen! Die koennen bestimmt Heilmagie, oder? VRONIS Also wir sagen dem ANTI!BIOTI!SKASKASKA! kann schon sein, dass ihr primitiven Allesfresser dem Heilmagie sagt. Die Farbstoffe, das sind Bitterstoffe, die uns beschützen. Damit sind wir sehr gut aufgestellt in UNGE!NIESSBAR!KEIT. Die beschützen uns vor allen Herbivoren. Vor wirklich allen Herbivoren? NEIN!NEIN!NEIN!. Eine kleine Handvoll Sausäcke machen eine Diatät - DIE FRESSEN! UNS! NUR UNS! DIE MACHEN! UNS VRONIS! ZU ZOMBIES! Bisher haben die uns nicht wirklich bedroht. Denn unsere Sippe bedeckten etwa 50 % des ganzen Juras! Aber PLÖTZLICH! GABS KEIN! KEIN HALTEN! DIE STEINFRESSER!SCHNECKEN! FRASSEN UNS! ZERSTÖRUNG! ZERNICHTUNG! DIE SCHNEGEL! BLUTEGEL! WOLLTEN UNS AUSRADIEREN! NIHILIEREN! SIE BRITEN! WIR IREN! WIR VRONIES! WIR ZOMBIES!

Freeze. Alle ausser HÄNSEL erstarren.

Szene: Hänsel plaudert aus dem Nähkästchen HÄNSEL hält inne. Er ist nicht mehr derselbe. Er hat was gelernt. Nämlich von den VRONIS HEXE aus dem Off Notters Hottness Spöischen Wer pöchelt an sein Dräuschen? Zwitterritter Mäuschen Und befreit sich aus seim Häuschen? HÄNSEL GRETAAA! DU GEIL! DU WELTENRETTERBEIL! DU GRETA BIST SUPI! GRETAAA! HAST GROUPIIIES! THEY LOVE YOUU! WIE SNOOPY! DU DUPI! WELT RETTEEEEN! WHOOP MUTIIIG! UND ICH BIIIIN! EIN LAUCH! EIN LOOOSI BIN TROCKEN TUTTII FRUTTTTI!

HEXE Ausser ihr

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Stück „Hänsel & Greta & The Big Bad Witch“ So, das bleibt jetzt aber unter uns. Wissen Sie, Greta war immer so – so ein Gutheitsroboter. Aber so als eine Greta in einer Weltrettungssaga, da müsste sie doch etwas lernen? Sonst müssten wir ja alle diese Dinge gar nicht erleben? Sonst wäre das ja auch alles voll unnütz! Wie rote Grütz! In einem Wanderschuh! Aber ich weigere mich. Ich weigere mich. Auch wenn ich nichts gegen den grossen Hunger kann. Ich mache die Übungen. Ich mache die 13 Übungen. Ich bleibe. Ich bleibe bei der Hexe. ja. Flitters Bitters Kläuschen Wer klittert wird ein Spöischen

Szene: Erinnerung GRETA Schau Hänsel das ist unser Leben in der echten Realität unser Haus und wir zwei Kindelein und da unsere Eltern HÄNSEL ganz anständige Eltern mit anstän­ digem Penis und anständiger Gebärmutter und anständigem Bart und anständigem Familienkalender und anständiger Arbeitsteilung unsere liebe Frau Mutter hier schau wie sie arbeitet für gratis GRETA und unser lieber Herr Vater dort der verdient Geld sein Job ist sich in eine Erschöpfung reinknien und schau dort unser Haus ein ganz anständiges Einfamilienhaus mit anständiger Tür und anständigen überbelichteten Familienfotos an den Wänden damit wir nicht vergessen wie wir aussehen HÄNSEL anständig nämlich – aber sieh dort das dunkle Glimmen in unsern Eltern siehst du das das ist schon der Hunger – GRETA: – denn sie brauchen so viel Nährstoffe weil ihr high pace life style so viel Energie braucht das Aufstehen um 5 das Joggen und Yogamachen bevor wir aufwachen und dann das Arbeiten 12 Stunden dann uns aus der Krippe holen und dann das uns Liebegebenmüssen an uns noch eine Stunde lang die Weiterbildungen und die Sorge um die Grossmütter etcetc HÄNSEL und nun kannst du sehen wie sie in unserm anständigen Einfamilienhausgarten Nahrung anbauen Möhren Pfälzerkarotten herkömmliche Karotten Küttiger Karotten und jetzt ist es Nacht und sie fressen die alle heim-

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lich nachts in ihren riesigen immensen mahlstromhaften Hunger reingeschlungen aber da sind natürlich nicht genug Nährstoff drin Vitamine Bio Biologie Lebenssäfte Spurenelemente GRETA und so bauen sie Kartoffeln an die Kartoffel Avalanche und die bekömmliche Celeste und die Baby Lou und die Bake King und die Bananenkartoffel und die blauen St.Galler und die Bernadette und die sehr früh reifende Corinna und die festkochende Hannibal und die spät reifende Lucilla und das eher mehligkochende Nordlicht und die mittelfrüh reifende Soraya und und und und HÄNSEL und jetzt fressen sie die auch alle heimlich in ihren riesigen immensen mahlstromhaften Hunger reingeschlungen wirklich alles aber da sind natürlich nicht genug Nährstoff drin Vitamine Bio Biologie Lebenssäfte Spurenelemente darum pflanzen sie die neue Lebensdroge Vitalin das pflanzen sie jetzt überall hin am Zaun im Briefkasten auf dem Gehsteig vor unserem Einfamilienhaus auf der Strasse unseres Einfamilienhausquartieres im Abwassersystem der Stadt auf den Flachdachdächern GRETA in den Köpfen der Regierung in die Schleimhäute und Kraft der Putzkräfte und auf den Nasen der Delphine und in den Atemlöchern der Blauwalle und sogar sogar in den Arschlöchern der Politiker*innen und da sind wir HÄNSEL und wir stellen dieses Netzflix ab und sagen: Aber die Welt! Die leidet ja ganz grausam fürchterlich! Und das hören die Eltern gar nicht denn überall optimieren sie überschäumend gedeihende Vitalinplantagen hin und wir gehen auf die Strasse und weinen in die Elternlosigkeit hinein:

die Klobrille alles vollgepflanzt auch unsere Betten auch unsere Kissenanzüge und unsere Augeninnenlider und unsere Träume und sogar die traumlosen Weiten unserer Tiefschlafphasen alles ist nun zugepflastert mit den Gewächsen nach deren Früchtchen unsere Eltern so hungrig sind GRETA und so kommen sie jede Nacht in unser Kinderzimmer und würgen die im Mondlicht zitternden Früchte ihrer Werke runter ihre Kiefer ausgefahren und alles reingeschaufelt und wir sagen in letzter Verzweiflung: Aber liebe Eltern! So zügelt doch euren Hunger! So kann es ja doch nicht weitergehen! Ihr habt ja doch alles zu Ende optimiert! Aber sie haben keine Ohren mehr HÄNSEL der Hunger nach Nährstoffen Optimierung Welt hat ihnen die Ohren die Augen den Tastsinn das Liebkosen alles gefressen sie sind einzig noch ein zahnloser Mund schlabrig gierend suchend sich ausstülpend und da da retten wir uns da reissen wir denn unsere Haut aus den Resten der bürgerlichen Feuchtträume und da joggen wir hierher in den finstern finstern Urforst der Vitalinwälder düstre düstre Welteinsamkeit und so zog ein grosser Hunger in das Land und der war gross und auch eine Teuerung zog ins Land und die war grösser noch als Wald Stille. GRETA Hänsel. Ich hab nur dich in diesem Ort. Mich selbst hab ich verloren mit den Worten HÄNSEL Greta. Wir müssen zusammenhalten. GRETA Wir müssen zusammenhalten.

GRETA aber die Welt! Die leidet ja ganz grausam fürchterlich! Und da schreissen die Eltern ihre Schlünder auf und lachen nicht einmal kalt abschätzig sondern fressen nur fressen fressen WELT WELCHE WELT DA SIND NUR NOCH UNGENUTZTE VITALINGEBIETE und das facebooken sie obwohl wir gar kein Facebook mehr haben und sie expandieren auf den Mond und in den Mariannengraben HÄNSEL und pflanzen auch den Weg zwischen den Beeten zu mit Vitalinstauden die Fenstersimse das Spülbecken die falschsilbernen Rähmchen der Familienfotos das Klo

Uraufführung am 22. September 2022, Bühnen Bern

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Stück Pablo Jakob Montefusco Aus dem Französischen von Frank Weigand À ma famille en Italie A la mia famiglia in Svizzera

Schnee. Festsaal.

„La Felicità“ Pablo Jakob Montefusco (Auszug)

DANIELA La neve. (Der Schnee.) Inverno 1959. (Winter 1959.) Mi ricordo (Ich erinnere mich) quel giorno (an den Tag) quella prima volta. (als ich das erste Mal.) Arrivata in Svizzera. (in die Schweiz kam.) Una neve pesante. (Ein schwerer Schnee.)

Figuren

la prima volta che (Das erste Mal, dass) la vedevo. (ich welchen sah.)

DANIELA, die Tante. SOPHIE, die Mutter. FRANCOIS, der Vater. DAVIDE, der Sohn. LAURIE, die Tochter.

Mi ricordo quello Svizzero ogni anno (Ich erinnere mich an diesen Schweizer, der jedes Jahr) passa nel paese col furgone per portare via con sé i lavoratori. (mit seinem Lieferwagen durch das Dorf fährt, um die Arbeiter mitzunehmen.) Mi ricordo papà che va via col furgone (Ich erinnere mich daran, wie Papa mit dem Lieferwagen wegfährt.) Mi ricordo le sue lettere. (Ich erinnere mich an seine Briefe.) Arrivano ogni mese con i soldi. (Sie kommen jeden Monat mit dem Geld.) Mi ricordo lo sguardo preoccupato di mamma. (Ich erinnere mich an Mamas besorgten Blick.)

ALESSANDRO, der Geist des Ehemanns. Die anderen GEISTER.

Pablo Jakob Montefusco wurde 1990 in Delémont geboren. Er studierte am Schweizerischen Literaturinstitut in Biel und anschliessend an der École Nationale Supérieure des Arts et Techniques du Théâtre (ENSATT) in Lyon. Seine Texte bewegen sich zwischen den Gattungen Prosa, Theater und Oper, aber auch literarischer Live-Performance. Im Jahr 2017 wurden seine Stücke „Appel en provenance de la nébuleuse“ (Regie: Dominique Laidet) und Retour (Regie: Catherine Hargreaves) aufgeführt. „Les Marches“, ein Prosatext, wurde 2019 Gewinner des ersten Schreibpreises der Fête du Livre de Bron. Neben seiner Tätigkeit als Autor ist er Mentor im Programm „Mentorat en ligne“ des Schweizerischen Literaturinstituts, leitet zahlreiche Schreibwerkstätten und ist Mitglied des Autorenkollektivs „Hétérotrophes“, zu dessen Gründungsmitgliedern er gehört. In der Spielzeit 21/22 war er Hausautor am Théâtre du Jura in Delémont. In dieser Zeit ist das Stück „La Felicità“ entstanden, welches in seiner Regie im Juni 2023 uraufgeführt wird.

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Mi ricordo. (Ich erinnere mich.) Ho diciott’anni. (Ich bin achtzehn Jahre alt.) Mamma dice (Mama sagt) Dobbiamo anche noi (wir müssen auch) andare a lavorare (zum Arbeiten) in Svizzera. (in die Schweiz.) Non abbiamo scelta. (Wir haben keine Wahl.) Lascio Alessandro. (Ich lasse Alessandro zurück.) Lasciamo casa. (Wir lassen unser Zuhause zurück.) Il viaggio (Die Reise) Il treno (Der Zug) non ricordo niente più. (ich erinnere mich an gar nichts mehr.)

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Stück „La Felicità“ Solo la neve sulle Alpi. (Nur an den Schnee in den Alpen.) E queste parole: (Und an diesen Satz:) Wir treffen in Brig ein. Sta nevicando. (Es schneit.) Aspettiamo con mamma sul banco. (Mama und ich warten auf der Bank.) Siamo arrivate in Svizzera (Wir sind in der Schweiz angekommen) con le valigie di cartone. (mit Pappkoffern.) Uomini, centinaia. (Männer, Hunderte.) Donne, poche. (Frauen, wenige.) Aspettiamo tanto (Wir warten lange) e dopo il controllo dei documenti (und nach der Ausweiskontrolle) andiamo in un capannone con (gehen wir zu einem Schuppen) quattro altre donne. (mit vier anderen Frauen.) Bisogna spogliarsi. (Wir müssen uns ausziehen.) Siamo quasi nude. (Wir sind fast nackt.) Mamma è nell’imbarrazzo. (Mama schämt sich.) Il suo corpo magro. (Ihr magerer Körper.) Aspettiamo ancora tanto. (Wir warten noch viel länger.) Ci obbligano a fare la doccia. (Sie zwingen uns, zu duschen.) Mi ricordo la puzza del prodotto. (Ich erinnere mich, wie die Seife stinkt.) Una delle donne si rifiuta di spogliarsi. (Eine Frau weigert sich, sich auszuziehen.) Deve tornare in Italia. (Sie muss zurück nach Italien.) E dopo (Und danach) mi chiamano per nome. (rufen sie mich beim Namen.) Devo allargare le braccia. (Ich muss die Arme ausstrecken.) Radiografia al torace. (Röntgenaufnahme des Brustkorbs.) Quando usciamo (Als wir rausgehen) chiedo a mamma: (frage ich Mama:) „Cos’è successo?”. („Was war das?“) „Abbiamo fatto la („Das war die obligatorische) visita medica obbligatoria”. (ärztliche Untersuchung.“) Mi ricordo il treno ancora. (Ich erinnere mich noch an den Zug.) La Svizzera non è poi così diversa (Die Schweiz ist gar nicht so anders)

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del Norditalia. (als Norditalien.) Dobbiamo andare in una (Wir müssen in eine) piccola città vicino (kleine Stadt ganz in der Nähe) alla Francia e la Germania. (von Frankreich und Deutschland.) Ho freddo. (Mir ist kalt.) Papà ci aspetta. (Papa wartet auf uns.) Ci vede. (Er sieht uns.) Ci abbracciamo. (Wir umarmen uns.) È la prima volta (Es ist das erste Mal) che lo vedo (dass ich ihn) piangere. (weinen sehe.) E dopo (Und danach) camminiamo. (laufen wir.) Nevica ancora più forte. (Es schneit noch stärker.) Arriviamo. (Wir kommen an.) Otto barrache di legno (Acht Holzbaracken) nei pressi di un cantiere. (neben einer Baustelle.) Papà ci mostra dove dorme. (Papa zeigt uns, wo er schläft.) Una stanza : sette metri quadri. (Ein Zimmer: sieben Quadratmeter.) Ci mostra il suo letto. (Er zeigt uns sein Bett.) La sua piccola mensola. (Sein kleines Regal.) La stanza di papà è anche (Papas Zimmer ist auch) la stanza di quattro altri uomini. (das Zimmer von vier anderen Männern.) Anche per loro (Auch für sie) un piccolo letto (ein kleines Bett) una piccola mensola. (ein kleines Regal.) Non c’è nient’altro. (Sonst nichts.) Qualche vestito. (Ein paar Kleidungsstücke.) Le valigie di cartone. (Die Pappkoffer.) Due fotografie. (Zwei Fotografien.) Mi ricordo il viso di papà (Ich erinnere mich an Papas Gesicht) pieno di vergogna. (voller Scham.) Il viso di mamma (Mamas Gesicht) pieno di lacrime. (voller Tränen.) Io non faccio domande. (Ich stelle keine Fragen.) Non dico niente. (Sage kein Wort.) Siamo venuti qui (Wir sind hierher gekommen) per lavorare (um zu arbeiten) e basta. (und nichts weiter.) Io e mamma dobbiamo dormire (Ich und Mama müssen an einem) in un altro luogo. (anderen Ort schlafen.) Capisco che non abbiamo scelta. (Ich verstehe, dass wir keine andere Wahl haben.) Abbracciamo papà e andiamo via. (Wir umarmen Papa und gehen.)

Scopriamo più tardi la nostra stanza. (Später entdecken wir unser Zimmer.) Un piccolo appartamento con tende scure. (Eine kleine Wohnung mit dunklen Vorhängen.) Ci sono cinque altre donne. (Dort sind noch fünf andere Frauen.) Tutte italiane. (Alle Italienerinnen.) Tutte domestiche. (Alle aus der Heimat.) Mi ricordo (Ich erinnere mich) questa prima notte (an diese erste Nacht) in Svizzera. (in der Schweiz.) Dovrò (Ich muss) svegliarmi (um vier Uhr morgens) alle quattro. (aufstehen.) E non dormo. (Und kann nicht schlafen.) Guardo (Ich schaue) fuori dalla finestra (aus dem Fenster). la neve cade (Lautlos) senza rumore. (fällt der Schnee.)

Schrank. Festsaal. SOPHIE Ihr habt ganz schön lang gebraucht. FRANCOIS Es hat plötzlich angefangen zu schneien. Daniela entrollt die Müllsäcke. DANIELA Ma che cazzo… (Was ist denn das für ein Dreck?) SOPHIE Was ist das? FRANCOIS Müllsäcke. SOPHIE Die sehen aus wie Fallschirme. FRANCOIS Ich habe die größten genommen. DANIELA Che deficiente. (So ein Schwachkopf). SOPHIE François… FRANCOIS Du hast zu mir gesagt : „Nimm die größten.“ SOPHIE Da passen 300 Liter rein.

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Stück Pablo Jakob Montefusco DANIELA (zu Sophie) Quante volte te l’ho detto, è deficiente… (Wie oft habe ich dir schon gesagt, er ist ein Schwachkopf…)

LAURIE Der Arm kommt ins Beinhaus, bevor er verfault. FRANCOIS Ubriaco? Ich?

FRANCOIS (zu Sophie) Hat deine Schwester ein Problem?

Laurie kommt herein. FRANCOIS (zu Sophie) Wenn du deiner Schwester nicht sagst, sie soll die Klappe halten, ich schwör dir, dann werd ich…

DAVIDE „Ubriaco“, was heißt das? SOPHIE Was? Wirst du sie schlagen?

SOPHIE Jetzt fangt nicht schon wieder an… (zu François.) Wo ist deine Tochter?

LAURIE Irgendwann war er mal da mit unserem Körper verbunden. Heute ist er es nicht mehr.

LAURIE Was ist denn hier schon wieder los? DAVIDE Das Übliche.

FRANCOIS Deine Tochter… SOPHIE Sie soll kommen und uns helfen.

FRANCOIS Mir das einfach so ins Gesicht zu sagen …

FRANCOIS Unsere Tochter. Wieso sagst du „deine Tochter“?

LAURIE Mit der Familie sollte das genauso sein.

FRANCOIS (zu Daniela) Das wär dir nur recht, alte Schreckschraube, wenn ich dir eine reinhaue. Dann könntest du mich endlich aus dem Weg räumen.

Davide kommt herein.

SOPHIE Können wir das machen, wofür wir hier sind?

DANIELA Non ne avrei il coraggio. (Das würdest du dich nie trauen.)

LAURIE 500 Kilometer liegen jetzt zwischen meiner Familie und mir.

FRANCOIS Die Freude würde ich dir nie machen, hörst du? Ich bleibe für immer bei meiner Familie.

DAVIDE Ich hab bloß Limoncello gekotzt. FRANCOIS. Das ist doch ganz einfach: „unsere Tochter“. Licht. Draußen steht Laurie im Schnee und raucht.

FRANCOIS (zu Daniela) Weißt du, was ich durchgemacht habe?

DANIELA Questa famiglia ? L’hai lasciata. (Dieser Familie? Die hast du im Stich gelassen.)

LAURIE. Ich habe sie amputiert. LAURIE Bis jetzt hatte ich es hingekriegt. Die Brücken abzubrechen. SOPHIE (zu François) Inwiefern ist das wichtig?

DANIELA (zu François) Lo so che cosa hai fatto. (Ich weiß, was du getan hast.) LAURIE Und dann habe ich den Fehler begangen.

FRANCOIS Das ist sehr wichtig. FRANCOIS Ich bin seit Jahren nüchtern. LAURIE Man sollte die Brücken zu seiner Familie abbrechen wie man einen kranken Arm amputiert. DANIELA (zu Sophie) Che cosa vuole ? (Was will er?) FRANCOIS (zu Daniela) Misch du dich nicht ein. LAURIE Sauber. Und präzise. FRANCOIS Das geht nur Sophie und mich etwas an. DANIELA (zu Sophie) È ancora ubriaco ? (Ist er schon wieder besoffen?) SOPHIE Geht das schon wieder los.

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SOPHIE Es wäre schön, wenn wir uns ausnahmsweise mal nicht gegenseitig runter­ machen könnten… LAURIE. Ich habe ihn wieder angenäht. Ich habe versucht, alles wieder gut zu machen. Versucht, die verborgenen Wunden zu schließen. Eine bescheuerte Idee. DANIELA. (zu François) Lo so molto bene che cosa hai fatto, hai distrutto questa famiglia. (Ich weiß ganz genau, was du getan hast, du hast diese Familie zerstört) LAURIE. Man kann Wunden die seit einem halben Jahrhundert verborgen sind, nicht öffnen ohne sich selbst zu verletzen.

SOPHIE Ich halte diese Streitereien nicht mehr aus. FRANCOIS Mir sowas einfach ins Gesicht zu sagen… DANIELA (zu François) Non fai più parte di questa famiglia. (Du gehörst nicht mehr zu dieser Familie.) SOPHIE Ich halt das nicht mehr aus, können wir uns beruhigen? FRANCOIS (zu Daniela) Warum bist du aus deinem Scheißland zurückgekommen? SOPHIE Anscheinend nicht… DANIELA (zu François) Non sono cazzi tuoi. (Das geht dich einen Dreck an.) FRANCOIS (zu Daniela) Soll ich dir auch mal was ins Gesicht sagen, was rausholen, das lange im Schrank versteckt war? SOPHIE François. FRANCOIS Im Schrank. Hörst du das, alte Schreckschraube? Im Schrank.

Theater der Zeit 3 / 2023


Stück „La Felicità“ SOPHIE (zu François) Bist du verrückt geworden, oder was?

FRANCOIS Ein Krebs, verdammte Scheiße, auf einmal brütet sie uns einen Krebs aus.

DAVIDE Zia, wo ist denn dein Krebs? Im Gehirn?

FRANCOIS Schrank. Schrank. Schrank.

SOPHIE (zu Daniela) Seit wann?

Laurie bewegt ihre Hand von links nach rechts auf Alessandro zu, ohne ihn zu berühren.

DANIELA Stai zitto, pezzu di merda. (Halt’s Maul, du Stück Dreck.)

DANIELA Un anno. (Ein Jahr.) SOPHIE Warum hast du nichts gesagt?

FRANCOIS Schrankkind.

Schrankkind.

Schrankkind.

SOPHIE François, hör auf! FRANCOIS Willst du nicht endlich abkratzen? Das wär wie Urlaub für uns, endlich mal richtiger Urlaub. DANIELA Sto morendo. (Ich liege im Sterben.) Cancro dell’utero. (Gebärmutterkrebs). Mi rimangono tre a sei mesi. (Mir bleiben noch drei bis sechs Monate.) Sei contento ? (Bist du jetzt zufrieden?). Razza di deficiente. (Verdammter Schwachkopf.) Potrai seppelirmi presto (Du kannst mich bald unter die Erde bringen) e pisciare sulla mia tomba. (und auf mein Grab pissen.) Calpestare i fiori. (Die Blumen zertrampeln.) Distruggere tutto (Alles kaputtmachen) come hai distrutto (wie du diese Familie) questa famiglia. (kaputtgemacht hast.)

DANIELA Ho provato a tornare in Svizzera. (Ich habe versucht, in die Schweiz zurückzukehren.) Non ci sono riuscita… (Ich habe es nicht geschafft.) (zu Alessandro.) E tu che stai guardando ? (zu Alessandro.) (Und du, was schaust du so?) Alessandro erscheint. Die anderen schauen in seine Richtung. LAURIE Mit wem redest du da, Zia? DANIELA Mio marito. (Meinem Mann.) SOPHIE Alessandro? DANIELA Mi sta aspettando ma non è ancora il momento. (Er wartet auf mich, aber es ist noch nicht soweit.) (zu Alessandro.) Dai, non ancora, vai via ! (zu Alessandro.) (Lass das, noch nicht, verschwinde!)

Pause. Davide übergibt sich. LAURIE Ihr seid irr. Ihr gehört eingesperrt. Mit Medikamenten vollgepumpt. Auf ein Bett geschnallt. So, dass ihr das Tageslicht nicht mehr zu sehen kriegt.

DANIELA Tutti i giorni lo vedo. (Jeden Tag sehe ich ihn.) Mi aspetta (Er wartet auf mich) ma tutti i giorni (aber jeden Tag) gli dico (sage ich ihm) che (dass) non è ancora (es noch nicht) arrivato (so weit) il momento. (ist.) E intanto (Und trotzdem) torna sempre. (kommt er immer wieder.)

FRANCOIS Und obendrein schnappt sie gerade über… DANIELA (zu Sophie) Lui torna da me come all’epoca dei diciott’anni. (Er kommt zu mir zurück, so wie er damals mit 18 war.)

Weitergabe. LAURIE Eine Familie. Nachfahren. Vorfahren. Die Vorfahren geben weiter. Die Nachfahren übernehmen. Ein Kind kann ganz alleine eine Sprache lernen indem es seine Artgenossen beobachtet und ihnen zuhört ohne dass man ihm irgendetwas erklärt. Ein Kind kann ganz alleine in die Welt der Sprache, der Worte und der Bedeutungen eintreten. Nur durch Zusehen und Zuhören. Aber was ist mit dem Schweigen? Ungesagten Worten? Verschwiegenen Geschichten? Vergrabener Scham? Verborgenen Tränen?

SOPHIE Du siehst ihn als Achtzehnjährigen? FRANCOIS Was ist das für ein Blödsinn?

Wie gibt man das Schweigen weiter? DANIELA Sì, lo vedo così. (Ja, so sehe ich ihn.)

SOPHIE Daniela, was redest du da? SOPHIE So wie damals, als er…

Ein Land. Individuen. Eine Geschichte.

DANIELA …Quando è arrivato in Svizzera. (... Als er in die Schweiz gekommen ist.) (zu Alessandro) Vai via ! (zu Alessandro) (Verschwinde!)

Ein Schild am Eingang eines Restaurants Für Hunde und Italiener verboten.

Sophie geht zu Daniela. FRANCOIS Auf einmal liegt sie im Sterben… DAVIDE Mir geht’s übrigens total gut.

Petitionen in der Schule FRANCOIS (zu Sophie) Deine Schwester ist ein echter Teufel, aber das…

LAURIE Da drüben? Daniela nickt. Laurie geht zu Alessandro.

SOPHIE Daniela, schau mich an.

Theater der Zeit 3 / 2023

Volksinitiativen Um sie dahin zurückzuschicken, wo sie herkommen.

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Stück Pablo Jakob Montefusco Männer und Frauen halbnackt zusammengepfercht in Lagerhallen Um sicherzugehen, dass sie arbeitsfähig sind. Worte, die gesagt werden. Itaker. Tchingg. Makkaroni.. Um sicherzugehen, dass sie es hören. Sie schlägt mit einem Vorschlaghammer ein Loch in die Wand und holt Dutzende von Röntgenaufnahmen eines Brustkorbs heraus. Eigentlich ist es ganz einfach. Solange das Schweigen auf der Geschichte lastet ist die Geschichte noch nicht vorbei.

DAVIDE Was zu erfahren?

Pause.

LAURIE Mama…

LAURIE Mama ist ein Schrankkind. Und Daniela ist nicht unsere Tante sondern unsere Großmutter.

SOPHIE Ich bin erschöpft, ich habe gerade erfahren, dass meine Schwester Krebs hat. Ein bisschen Ruhe, ich flehe euch an. Können wir zwei Minuten lang, bloß zwei Minuten, schweigen, nichts sagen und einfach still sein? LAURIE Ich habe Zia Daniela letzten Sommer besucht. SOPHIE Zwei Minuten, bloß zwei Minuten… FRANCOIS (zu Laurie) Warum hast du sie besucht? LAURIE Sie hat mir erzählt, dass sie Krebs hat …und noch andere Sachen.

DAVIDE Was? LAURIE Sie hat mir alles erzählt. Daniela ist Mamas Mutter. Unsere Großmutter, Davide. Verstehst du? DANIELA Se suonano (Wenn jemand an der Tür klingelt) e che sei da sola (und du allein bist) nasconditi sotto al letto. (versteck dich unter dem Bett.) In silenzio. (Und sei still.) Sopratutto non rispondere. (Auf keinen Fall antworten.)

SOPHIE Zwei Minuten. Pause.

Stille. FRANCOIS Also gut, ich bin ausgerastet.

DAVIDE Andere Sachen? DAVIDE. Ist das wahr? FRANCOIS Gut, das reicht, eure Mutter hat recht. Gönnt ihr ein bisschen Ruhe.

SOPHIE Nein, echt?

SOPHIE Zwei Minuten, mehr nicht. Zwei Minuten Stille.

DAVIDE Was ist das für eine Geschichte mit dem Schrankkind?

DAVIDE (zu Laurie) Was hat sie dir sonst noch erzählt?

SOPHIE Nichts.

FRANCOIS Hör ihr mir zu, oder was?

DAVIDE Papa hat das in Endlosschleife wiederholt. Was ist das?

DAVIDE (zu François) Verdammt, lass uns reden! (zu Laurie) Was hat sie dir sonst noch erzählt?

SOPHIE Nichts, hab ich gesagt. DAVIDE Meinst du das ernst? LAURIE Mama, er hat ein Recht, es zu erfahren.

SOPHIE Laurie, bitte. Ich flehe dich an… Laurie… LAURIE Ich kann nicht mehr, Mama…

SOPHIE Das ist nichts, überhaupt nichts.

SOPHIE Bitte.

FRANCOIS (zu Laurie) Was?

Pause.

LAURIE Ich halt es nicht mehr aus…

LAURIE Mama ist ein Schrankkind.

DAVIDE (zu Laurie) Wovon redest du?

FRANCOIS Laurie...

LAURIE Es geht nicht mehr.

DAVIDE (zu François) Halt’s Maul! (zu Laurie) Was sonst noch?

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Pause. DAVIDE Gut. Kurze Pause. Ok. Tief einatmen. Stopp. Zwei Sekunden. Stopp. Einen Schritt zurücktreten und die Situation analysieren… ich bin müde. Alles aufräumen… Dreißig Jahre… mein Geburtstag… Saubermachen. Aber das? Was soll das… Was geht hier vor, verdammte Scheiße? Ich meine Scheiße, kann mir jemand erklären, was hier vorgeht? Es kommt mir vor, als wären wir gerade in einer anderen Dimension gelandet. Als hätten wir keinen Halt mehr. Als würden wir zusammenbrechen. Was geht hier vor, verdammte Scheiße? Die Streitereien, die Beleidigungen… Aber das? Was du da erzählst… Das…

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Stück „La Felicità“ Zia Daniela… Gebärmutterkrebs. Und Mama… Unsere Großmutter, Scheiße. Wir. Scheiße.

DAVIDE Ich finde das super. Stellt euch mal vor, wie das wäre, wenn jeder ausrasten würde wie Mama? Jedes Mal, wenn du ausrastest, isst du Focaccia.

Und was ist ein Schrankkind?

Davide schlägt Sophia die Foccacia aus der Hand. Sie bekommt einen Anfall.

DANIELA La porta sempre chiusa. (Die Tür immer zu lassen.) Non devi mai aprirla. (Du darfst sie nie aufmachen.) Se suonano (Wenn jemand klingelt) sopratutto non rispondere (auf keinen Fall antworten) nasconditi nell’armadio. (versteck dich im Schrank.) Se fai rumore (Wenn du Lärm machst) dovremo lasciare la Svizzera (müssen wir die Schweiz verlassen) per tornare nella nostra miseria. (und ins Elend zurückkehren.)

FRANCOIS Was ist dein Problem? Du siehst doch, dass es deiner Mutter nicht gut geht.

LAURIE Mama! FRANCOIS Du gehst zu weit, Davide.

Davide schubst François. DAVIDE Wo warst du diese letzten fünfzehn Jahre? Na? Du bist lächerlich. Erbärmlich. Ich schäme mich für dich dass du wieder zurück in unser Leben willst. Ausgerechnet jetzt. Als wäre nichts geschehen. DANIELA (zu Sophie) Amore mio… (Mein Schatz…)

François geht auf Davide zu. DAVIDE (zu François) Fass mich nicht an. LAURIE Mama, alles in Ordnung? DAVIDE Ich habe eine Frage gestellt, ich will eine Antwort. LAURIE Zia!

DAVIDE Was ist das, ein Schrankkind? VERDAMMT NOCHMAL, WAS?

Daniela kommt herein.

SOPHIE Will jemand was zu Essen?

FRANCOIS Komm, lass uns beide rausgehen.

Pause.

Davide schubst François.

Sie geht hinaus.

DANIELA Che succede ? (Was ist los?)

Sophie kommt mit Focaccia wieder, setzt sich hin und isst. Laurie geht zu ihr.

LAURIE Mama hat einen Anfall.

DAVIDE Als hätten wir vergessen dass du abgehauen bist. Dass du uns im Stich gelassen hast. Als könntest du einfach so bei meinem Geburtstag auftauchen ein paar Liedchen singen ein paar Gläschen trinken… DANIELA (zu Sophie) Sono qui…(Ich bin hier…) DAVIDE Und wieder mein Vater werden. Im Handumdrehen. Einfach so. DANIELA Calmati…(Beruhig dich…)

LAURIE Mama isst gerade Foccacia. DAVIDE Wenn das so ist dann esse ich auch was. Ich wärme mir ein paar Polpette auf. Will jemand welche? Ich mache auch ein bisschen Bruschetta. Mit Knoblauch? Ohne Knoblauch?

DAVIDE (zu François) Fass mich nicht an, hab ich gesagt. Was glaubst du eigentlich, wer du bist? Daniela drückt Sophie an sich. DANIELA Calmati, stai tranquilla… (Alles in Ordnung, beruhig dich.) FRANCOIS (zu David) Dein Vater.

FRANCOIS Das reicht, Davide. DAVIDE Mein Vater? DAVIDE Will jemand einen Spritz? Großartige Idee. Ich mach uns ein paar Spritz. Und danach machen wir Fondue. Wie eine nette kleine schweizerisch-italienische Familie. FRANCOIS Es reicht, hab ich gesagt.

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DAVIDE Diese Scheißfamilie. Warum habt ihr Kinder bekommen? Ihr habt euch nie geliebt. DANIELA Amore mio, va tutto bene…(Mein Schatz, es ist alles gut…) DAVIDE Ich zerbreche mir stundenlang den Kopf. Gehe meine gesamten Kindheitserinnerungen durch. Niemals sehe ich zwischen euch Liebe Zärtlichkeit. Kein einziges Mal.

FRANCOIS Ob du willst oder nicht. DANIELA Shh…(Pst…) DANIELA (zu Sophie) Sono qui… (Ich bin hier.) DAVIDE (zu François) Und wenn ich nicht will? Was machen wir dann?

DAVIDE Ich habe gesehen, wie Mama alle Fotos von Italien verbrannt hat. Alle Urlaubsfotos. Es ist nichts mehr übrig.

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Stück Pablo Jakob Montefusco Asche. Asche, sonst nichts. Diese Familie ist von innen verfault. Diese Familie ist eine Leiche die man aus dem Wasser gezogen hat und vergeblich wiederzubeleben versucht. Stimmungswechsel. Lichtwechsel. Sophies Anfall endet. Sie steht auf und kommt nach vorne an die Rampe. SOPHIE Se suonano (Wenn jemand klingelt) e che sei da sola (und du alleine bist) nasconditi sotto al letto. (versteck dich unterm Bett.) In silenzio. (Und sei still.) Sopratutto non rispondere. (Auf keinen Fall antworten.) Mamma Papà ich sitze da und bin still. Mamma Papà ich mache keinen Lärm. Alles in Ordnung Ihr könnt in Ruhe zur Arbeit gehen. Ich bin allein. Ich mache keinen Lärm. Überhaupt keinen Lärm. La porta sempre chiusa. (Die Tür immer zu lassen.) Non devi mai aprirla. (Du darfst sie nie aufmachen.) Se suonano (Wenn jemand klingelt) sopratutto non rispondere (auf keinen Fall antworten)

nasconditi nell’armadio. (versteck dich im Schrank.) Ich erinnere mich an die Tage voller Einsamkeit. Stundenlang spielen ohne Lärm zu machen. Nicht zu schnell gehen. Nicht die Wasserspülung ziehen. Keine Musik anmachen. Kein Licht anmachen. Die Fenster nicht öffnen. Die Vorhänge nicht bewegen. Nicht die Türen knallen. Nichts auf den Boden fallen lassen. Nicht laut lachen. Nicht hüpfen. Nicht niesen. Ich erinnere mich an die endlosen Tage voller Warten. Se fai rumore (Wenn du Lärm machst) dovremo lasciare la Svizzera (müssen wir die Schweiz verlassen) per tornare nella nostra miseria. (und ins Elend zurückkehren.) Beim geringsten Geräusch Zusammenfahren. Angespannt Regungslos. Ich erinnere mich an das Horchen. An die ständige Angst. Die Schritte im Treppenhaus.

Schnell / langsam. Schwer / leicht. Devi imparare a riconoscerli (Du musst lernen, sie zu erkennen.) Im Treppenhaus. Hör zu. Mamma Papà steigen immer gleich die Treppe rauf. Immer. Im selben Rhythmus. Ohne Pause. Immer gleich. Beim Hoch- und beim Runtergehen. Ich erinnere mich an diesen einen Tag. Mamma ist in der Küche. Papà arbeitet. Ich mache die Tür auf. Ich habe einen Entschluss gefasst. An diesem Tag mache ich die Tür auf. Ich kann das. Ich mache die Tür auf und stehe draußen auf dem Gang einfach so kaum zwei Schritte und ich stehe da und alles ist in Ordnung und ich habe die Tür aufgemacht und das ist eine andere Welt und wie schön das ist und zuerst bleibe ich vollkommen reglos stehen und dann renne ich los ohne zu wissen warum und steige die Treppe hinunter und sehe die Sonne scheinen durch die Fenster auf dem Gang es ist warm und

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Stück „La Felicità“ und ich renne ich renne ich renne und ich höre Mammas Stimme hinter meinem Rücken und ich bin unten und gehe raus auf die Straße und ich schwitze und es ist ein wunderschöner Tag und und es wird noch schöner und ich renne raus und immer noch Mammas Stimme hinter mir die auf Italienisch schreit die meinen Namen schreit die die Fenster aufgemacht hat und die Vorhänge aufgezogen und ich renne weiter und stehe mitten auf der Straße und Ich bleibe stehen. Ich drehe mich um. Das Auto kommt angerast. Und ich möchte schreien. Schreien mit aller Kraft. Sie schreit. Kein Laut dringt aus meinem Mund. Ich mache die Augen zu. Ich habe die Tür aufgemacht. Ich habe einen Entschluss gefasst. Jetzt. Ich habe einen Entschluss gefasst. Ich mache die Augen zu. Dunkel. Se qualcuno (Wenn jemand) ti fa una domanda (dich etwas) in francese (auf Französisch fragt)

non dire nulla. (sag nichts.) Sopratutto non parlare. (Auf keinen Fall reden.) Tieni la bocca chiusa.(Halt den Mund.) Fai un soriso e vattene (Lächele und geh weg) senza voltarti. (ohne dich umzudrehen.)

mi ricordo (Ich erinnere mich) i pianti di papa. (an Papas Tränen.)

Das Auto kommt angerast.

Se qualcuno ti fa (Wenn jemand) una domanda (dich etwas fragt) non rispondere (antworte nicht) in italiano. (auf Italienisch.) Sopratutto non in italiano. (Auf keinen Fall auf Italienisch.) Non devi mai parlare in italiano. (Du darfst niemals Italienisch sprechen) solo a casa. (nur zu Hause.) Hai capito ?(Hast du verstanden?) Se qualcuno ti fa (Wenn dich jemand) una domanda (etwas fragt) tu dicci che vivi da tua sorella. (dann sagst du, du wohnst bei deiner Schwester.) Non con i tuoi genitori. (Nicht bei deinen Eltern.) Se qualcuno ti fa (Wenn dich jemand) una domanda (etwas fragt) sono tua sorella (dann bin ich deine Schwester) non sono tua madre. (nicht deine Mutter.)

Ich bin nicht in Gefahr. Ich bin nichts. Ich existiere nicht. Das Auto kann mich nicht überfahren. Und dann spüre ich einen gewaltigen Luftzug links von mir. Da ist Lärm. Viel Lärm. Eine Riesenmenge Lärm Ich öffne die Augen. Mamma rennt auf mich zu. Sie nimmt mich auf den Arm. Sie weint. Non preoccuparti mamma (Mach dir keine Sorgen, Mamma) la macchina mi è passata attraverso (das Auto ist durch mich durchgefahren.)

Sophie kehrt in den Festsaal und zu ihrem Anfall zurück. Daniela nimmt sie in den Arm.

Non sono nulla. (Ich bin nichts.) Non esisto. (Ich existiere nicht.) La sera (Am Abend) i miei genitori (meine Eltern) in cucina. (in der Küche.)

Uraufführung am 2. Juni 2023, Théâtre du Jura, Delémont

Watch Out! Festival für Jung und Alt

Floor on Fire

9. Lange Nacht der Dresdner Theater

Michael v. zur Mühlen/ Thomas Köck

10. – 18.03.2023

18.03.2023

03. & 04.03.2023

opera – a future game 24.03.2023

Foto: Nelly Rodriguez

Highlights März

E la prima volta (Das ist das erste Mal) che lo vedo piangere. (dass ich ihn weinen sehe.)


Stück Michelle Steinbeck Frei nach Giambattista Basile, Adventure Time, Abū l- Alā al-Ma arrī, The Church of Euthanasia, Dipesh Chakrabarty, Jorge Luis Borges, Ece Temelkuran, Die Bibel

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Im Palast des Königs

„Weint nicht über mich (Weint über euch und eure Kinder)“ Michelle Steinbeck (Auszug)

Figuren VASTOLLA Königstochter SAPATELLA Puppenbauerin MYRTE Sapatellas Praktikantin, halb Pflanze halb Fee PERVONTO Hofnarr, Social Media Manager der Puppenfabrik KÖNIG Vastollas Vater, Anführer der Extinction Hedonists STIMMEN Aus dem Volk BAKTERIEN

Michelle Steinbeck ist freie Autorin und Kolumnistin für die WOZ. Ihr Debütroman „Mein Vater war ein Mann an Land und im Wasser ein Walfisch“ erschien 2016 und war nominiert für den Deutschen und den Schweizer Buchpreis. 2018 folgte der Gedichtband „Eingesperrte Vögel singen mehr“. Ihre Bücher wurden in mehrere Sprachen übersetzt. Michelle Steinbeck war in der Spielzeit 2021/22 Hausautorin am Theater Basel, wo ihr Stück unter dem Titel „Die beste aller Zeiten“ im April 2023 uraufgeführt wird.

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Die Atmosphäre hat sich verändert. Die Luft ist dünn geworden. Als der König merkte, dass die Probleme in seinem Land sich häuften, da sah er, dass es zu spät war. Die Wälder brannten, die Meere wogten sauerwarm, auf Dürren folgten Fluten, auf Blizzards Hitzewellen. Die planetarischen Kreisläufe brachen zusammen. Die letzten Tage der Bewohnbarkeit der Erde brachen an. Der König musste eine Entscheidung treffen. Sollte er sein Volk knechten, alles verbieten, was Spass macht, um im Namen einer falschen Hoffnung in unwürdiger Abstinenz der Apokalypse entgegen zu siechen? Oder war es vielmehr seine Aufgabe, dass das Finale der Menschheit ein rauschendes Fest wurde? DAS GROSSE AUSSTERBEN Er entschloss sich zur radikalen Ehrlichkeit, rief aus die goldene Endzeit WO IST DENN DER GLAMOUR HIN? versprach allen, die sich ihm anschliessen würden, ein grosszügiges bedingungsloses Grundeinkommen ES SOLL EUCH AN NICHTS MANGELN Unter der Bedingung sich nicht zu reproduzieren, Hoffnung nur als Schimpfwort zu benutzen und jegliche zukunftsorientierten Handlungen zu unterlassen. Die Anhängerschaft strömte ihm von überall her zu, sein ausschweifender Lebensstil wurde zur Religion. STIMMEN Davor haben wir in ständiger Angst gelebt, mit Schuldgefühlen, inneren Kämpfen. Wir haben zugesehen, wie die Welt zerstört wurde, hilflos, und haben uns gefragt: Wie werden unsere Kinder und Kindeskinder überhaupt noch gut leben können? Der König hat uns die Augen geöffnet. Es gibt nur eine Antwort: Nicht. AUF DAS ENDE DES ANTHROPOZÄNS STIMMEN Es ist Evolution: Die Menschheit war zu blöde, sie hat sich abgeschafft. Wir

Theater der Zeit 3 / 2023


Stück „Weint nicht über mich (Weint über euch und eure Kinder)“ sind die letzte Generation. Es ist unglaublich befreiend.

Leiden auf Erden ein Ende. Das ist tröstlich und wunderschön.

AUF UNS

STIMMEN Und ich gab meinen Kindern Frieden, denn sie sind in der Seligkeit des Abgrunds, die alle Freuden der Welt übertrifft. Und wären sie geboren worden, hätten sie Elend ertragen müssen.

STIMMEN Allen war klar: Es kann nicht so weitergehen. Aber was konnten wir tun? Ich persönlich war Verfechterin von persönlichem Verzicht, ich wollte nicht Schuld sein. Aber je mehr ich darauf achtete, nichts Schlechtes zu tun, desto ohnmächtiger wurde ich. Selbst wenn alle so lebten wie ich, wir würden die Welt nicht retten. Ich war verzweifelt, bis der König kam. Der König sagte: Fürchtet euch nicht! STIMMEN Er hat uns gelehrt, zu akzeptieren, was wir nicht ändern können, und uns den Mut gegeben, zu sehen, was wir ändern können: Wir müssen dafür sorgen, dass es nicht weitergeht. STIMMEN Der König sagte: Weint nicht über mich. Weint über euch und eure Kinder! Denn es kommen Tage, da werden wir sagen: Wohl denen, die unfruchtbar sind, die nicht geboren und nicht gestillt haben. STIMMEN Diese Eleganz, mit der er alles auf einen Schlag gelöst hat! Keine Nachwelt, kein Problem. STIMMEN Der König hat uns die Freiheit zurückgegeben. Ich habe mich sofort sterilisiert, abkassiert. Und bin ans Meer geflogen. ICH BESTÄTIGE VERPFLICHTEND, FÜR DIE UNVERMEIDLICHE EXTINKTION AUF MEINE REDPRODUKTIONSORGANE ZU VERZICHTEN, SIE MÖGLICHST MINIMAL INVASIV CHIRURGISCH ENTFERNEN ZU LASSEN, SODASS KEINE REPRODUKTION MEHR MÖGLICH IST. DAMIT DIE ENDZEIT GARANTIERT FRÖHLICH BLEIBT.

ZUM WOHL, DENEN, DIE NICHT GEBOREN HABEN STIMMEN Kein Glück der Welt kann das Leiden, das es bedeutet, auf der Welt zu sein, kompensieren. Es gibt keinen vernünftigen Grund, wehrlose Ungeborene auf diese schreckliche Erde zu zerren – ungefragt! Es ist ein Verbrechen. Lasst die Ungeborenen, wo sie sind, dort sind sie glücklich. Die Lösung ist kinderleicht: Wer nicht lebt, leidet nicht. STIMMEN Hoffnung ist Gift. Hoffnung ist die Lüge, die zwischen uns und dem ewigen Glück steht. Hoffnung ist Untergang. Gute Hoffnung, das gibt es nicht. Wer heute einen Braten in der Röhre hat, verrät das planetarische Glück. Das sind Kriminelle, die Lügen von Hoffnung verbreiten, weil sie ihre eigene Vergänglichkeit nicht aushalten. STIMMEN Ich bin der Meinung, dass man sie lieber das Leben von sich zu geben zwänge, bevor sie ein neues Leben von sich geben. Ich hätte eher Lust, sie die Schmerzen des Todes als die der Geburt empfinden zu lassen. STIMMEN Wer heute ein Kind in die Welt setzt, sät falsche Hoffnung, maskiertes Leid, zu anhaltenden Qualen verurteilt. Leben ist qualvolles Sterben. Hoffnung ist Heuchelei.

AUF DIE MODERNE MEDIZIN STIMMEN Es gibt so viel Leid auf der Welt. Krieg. Hunger. Ungerechtigkeit. Was können wir hier dagegen tun? Wir können das jetzige Leiden nicht verhindern, aber das kommende. Wir zerreissen die Kette des Elends! Mit unserem Ende hat das

Theater der Zeit 3 / 2023

STIMMEN Hoffen und Zweifeln ist etwas, was der Mensch im Jetzt tut, in Anbetracht der Zukunft. Indem wir die Zukunft abschaffen, gewinnen wir das Jetzt zurück. YOU GOT THIS MOMENT YOU MIGHT AS WELL ENJOY IT

STIMMEN Machen wir uns nichts vor. Wir wussten, was zu tun war, was hätte getan werden sollen. Wir wollten nicht. Wir sind Idiotinnen und Verbrecher, und der König hat uns begnadigt. Er gibt uns die Chance, das Beste draus zu machen. Wir können nichts mehr tun. Ausser geniessen. Das ist unsere Pflicht und unser Privileg. Der König sagt: Die Apokalypse ist da, viele leiden. Ihnen sind wir es schuldig, so fest wie möglich zu geniessen. AUF DEN KÖNIG Die Legende besagt, dass der König vor seinem Palast in einer Pfütze Elend sass und seufzte. Wie sollte er sein Volk vor dem schrecklichen Chaos der nahenden Apokalypse beschützen? Da sah er vor sich am Boden einen Käfer, der tanzte. Oh, rief er aus, ein tanzender Käfer! Und plötzlich erfüllte ein treibender Bass die Luft, und der König begann, mit dem Käfer zu tanzen. Alle Käfer des Königreichs strömten herbei und feierten mit. Der König trank aus einem unendlichen roten Partybecher und die Käfer skandierten: Ex! Ex! Ex! Der König verschluckte sich und lachte, er lachte, bis er bewusstlos wurde und erst auf einer Wolke wieder erwachte, inmitten einer irrsinnigen Party. Die Käfer erklärten: Du hast dich ob deiner eigenen Witzen KO gelacht. Wir haben dich ins Wolkenkönigreich gebracht, zum Partygott. Oh, machte der König, wer ist der Partygott? Da ertönte aus dem Himmel ein Bellen und am Firmament erschien ein schwebender Wolfskopf: Ich bin der Partygott. Und der Partygott war so zufrieden mit unserem König, der gut Party machte, dass er ihm einen Wunsch gewährte. Der König wünschte sich, sein Volk vor dem Weltuntergang zu retten. Der Partygott schrie: Weltuntergang? Was heisst schon Weltuntergang? Ihr Menschen habt gerade mal das letzte Achtel der Erdzeit miterlebt. Oder kannst du dich an die Party der anaeroben Bakterien erinnern, vor ein paar Milliarden Jahren? Die haben so hart gefeiert, dass sie die Atmosphäre verändert haben. Die photosynthesten so heftig, dass sich die Atmosphäre mit tödlichem Sauerstoff anreicherte. Das war ein Weltuntergang – für die anaeroben Bakterien. Aber ihre Katastrophe, die grosse Sauerstoffkatastrophe, war die Bedingung für die Entwicklung von

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Stück Michelle Steinbeck mehrzelligem Leben. Verstehst du? Hier geht nichts unter, hier geht etwas los. Das ist der Übergang zu einer neuen Atmosphäre. Wenn das kein Grund zu feiern ist! Ich werde dich mit der Energie von tausend Partydämonen füllen. Du wirst so vollgepumpt mit rasender Partyenergie, dass du alles auf deinem Weg zerstören wirst – Es wird gewaltige Beben und Seuchen und Hungersnöte geben; schreckliche Dinge werden geschehen und am Himmel wird man gewaltige Zeichen sehen. Zeichen an Sonne, Mond und Sternen, und auf Erden werden die Menschen bestürzt und ratlos sein über das Toben und Donnern des Meeres. Und wenn ihr von Kriegen und Unruhen hört, lasst euch dadurch nicht erschrecken! Denn das muss zuerst geschehen; aber das Ende kommt noch nicht sofort. Die Menschen werden vor Angst vergehen in der Erwartung der Dinge, die über die Erde kommen. Wenn all das beginnt, dann richtet euch auf, und erhebt eure Häupter; denn eure Erlösung ist nahe. Wehe denen, die in jenen Tagen schwanger sind oder ein Kind stillen. Denn das Leiden stirbt mit der Menschheit aus. Und der Partygott spie auf unseren König und die Partyenergie zischte in ihn hinein, die er nun mit uns teilt. So kam es, dass der König uns rettete. RÄTÄTÄTÄ, MAKE SOME NOOOOOISE! Alle Hände hoch: HIER KOMMT DER KÖNIG KÖNIG Must partey forever Party. KÖNIG Leute, da geht noch mehr Die Anaeroben haben die Atmosphäre des Planeten verändert – dann können wir wenigstens die Atmosphäre hier drin verändern!

STIMMEN Ich glaube das Ende kommt noch nicht sofort.

Vastollas Zimmer Vastolla schminkt sich. Eventuell schaut sie dazu ein Tutorial. KÖNIG Vastolla, komm tanzen, die Leute werden müde, ich brauch dich als Hypegirl. Was machst du da? VASTOLLA Crying Face. KÖNIG Was? VASTOLLA Ich schminke mich, als hätte ich eben ausgiebig geweint. KÖNIG Warum? VASTOLLA Weil ich ein Sad Girl bin und meine Tränen aufgebraucht sind. KÖNIG Das ist absurd. Du hast keinen Grund traurig zu sein. Du lebst in der besten aller Zeiten, du kannst machen, was du willst. Wieso machst du dir keine gute Zeit wie alle anderen? VASTOLLA Aber das mache ich doch. Ich will heute den ganzen Tag ins Leere starren und glitzernde Tränen in den Augenwinkeln haben. KÖNIG Du machst mich fertig mit deinen kleinen Sabotagen. VASTOLLA Ich fühle mich schön, tränenüberströmt. KÖNIG Du ruinierst mir die Party, wenn du so rumläufst

VASTOLLA Ich begehe die schlimmste Sünde, die ein Mensch nur begehen kann Ich bin nicht glücklich Mein Vater hat mich gezeugt für das gefährlich schöne Spiel des Lebens Ich habe ihn enttäuscht Ich bin nicht glücklich Vastolla beginnt, ihren Vater zu schminken. Er schliesst die Augen. VASTOLLA Es ist ziemlich monochromatisch Rot über die Augen, unter die Augen, rund um die Augen Rot auf die Wangen und natürlich auf die Nase Dann die Lippen grosszügig über die Linien röten Und unter die Augen flüssiger Glitzer verstehst du? Zum Schluss kommt ein Vinyl-Effekt aufs ganze Gesicht, einfach überall, wo du nass glänzen willst Hier zwischen Nase und Mund bietet sich an, wo sich Tränen und Rotz mischen Hier ganz viel Sehr schön Schau Der König betrachtet sich im Spiegel. KÖNIG Ich kann das nicht verantworten In unserer Lage Es gibt hier keinen Platz für Sad girls. VASTOLLA Aber öffentlich traurig zu sein ist Protest gegen das Patriarchat. KÖNIG Patriarchat? In meinem Reich gibt es kein Patriarchat. Wenigstens über deine eigenen Witze könntest du lachen. VASTOLLA Ich lache nie KÖNIG Willst du etwas Lustiges sehen?

VASTOLLA Ich liebe auch, wie ich aussehe während dem Weinen, aber dann weine ich ja und kann mich nicht so gut anschauen.

VASTOLLA Nein.

STIMMEN Ich mag nicht mehr. Weiss jemand, wie lange es noch geht?

KÖNIG Das geht so nicht weiter, Vastolla.

KÖNIG Wetten, dass ich dich damit zum Lachen bringe?

STIMMEN Was?

VASTOLLA Misty Eyes and Rosy Noses.

VASTOLLA Nein.

STIMMEN Bis zum Ende

KÖNIG Du ziehst uns alle runter mit deiner Laune, so können wir es nicht geniessen.

KÖNIG Warts ab, dieser Clown lässt kein Auge trocken.

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Stück „Weint nicht über mich (Weint über euch und eure Kinder)“ Pervonto erscheint. Er macht zum Beispiel Lachtherapieübungen, «Lachen ins Gesicht werfen», «um den König herum lachen», «Jammerlachen». Vastolla verzieht keine Miene, während das Publikum brüllt. KÖNIG Dir ist nicht zu helfen. PERVONTO Majestät, mit Verlaub, ich glaube, sie braucht etwas anderes. Der König und Pervonto flüstern. Der König wirkt skeptisch, aber Pervonto bringt sich in Stellung. PERVONTO Fühlst du dich manchmal leer und einsam? Spürst du, dass dir etwas fehlt, aber du weisst gar nicht was? Er zaubert eine Puppe hervor und wiggelt damit herum. Es ist ganz sicher ein Baby! Ob süsser Silikon-Junge oder kleines Silikon-Mädchen oder beyond the rainbow Silikon-Sternchen Wir giessen dein Baby aus Silikon für die Ewigkeit Anders als herkömmliche Babys sind sie mit deinem Leben vereinbar Keine Einschränkungen Keine Kompromisse Die Party geht weiter! Und wenn du mal down bist Nimmst du es einfach in den Arm Spür die bedingungslose Liebe eines echten Vollsilikonbabys Es erwartet nichts aber ist immer für dich da Purer Genuss nur mit einem echten Vollsilikonbaby Diese Babys machen einfach gute Laune wenn ich gehypt vom Rave nachhause komm und nicht runterkommen kann muss halt das Baby herhalten zum Kuscheln das macht schon was mit einem Die haben so was Beruhigendes Ich erzähl denen was, meckere auch mit denen Ich zieh sie an und geh mit ihnen spazieren Ich seh meinem Mann zu, wie er sie mit dem Fläschchen füttert Er wollte eigentlich keine Kinder Und natürlich hat er Recht Aber diese Kinder sind anders Die sind gemacht für unsere Zeit Extremtemperaturen, Naturkatastrophen,

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Atombomben – diese Babys stecken alles weg Dank ihrem patentierten Material Sind sie unzerstörbar Und das Material Ist natürlich Silikon Das sind nämlich Vollsilikonbabys Die haben keinen Kern aus irgendwas Schaumstoff oder sonstiges Das ist reines Premiumsilikon Das teuerste und beste das es auf dem Markt gibt bei uns wird alles per Hand gefertigt und wir wissen genau woraus unser Produkt besteht und warum es so ein hochpreisiges Produkt ist weil es nämlich wie gesagt die höchste Qualität hat und die höchsten Ansprüche ja und unsere Produkte sind wie gesagt wirklich wirklich unbedenklich extrem robust Das sieht jetzt bisschen gemein aus Aber wenn ich hier so an dieser kleinen Wange ziehe Seht ihr Das ist absolut robust Unser premium Silikon ist wasserfest Flexibel Realistisch Uv fest und extrem Langlebig Das ist einfach ein Produkt das man mit gutem Gewissen kaufen kann Worauf wartest du noch? Vastolla zittert und beginnt schwallartig zu lachen, sie kann nicht aufhören und lacht sich bewusstlos.

Vastollas Traum VASTOLLA Ich hatte den wildesten Traum Da war dieser Clown mit der Puppe, er glühte Er war wütend, weil ich über ihn lachte Aber ich konnte nicht aufhören zu lachen, ich wollte nicht, das Lachen schüttelte mich, ich glühte Sein Gesicht wurde immer röter, er

streckte den Arm aus, zielte mit der Puppe auf mich, als wäre es eine Pistole Bam! Ein Blitz, eine Hitze, ich spürte wie das Unaussprechliche in mir geschah: Urknall. Und mein Vater hatte alles gesehen und verstanden, er jaulte: Angebohrt! Meine Tochter wurde angebohrt! Er heulte: Dein Hoffnungsbauch zerstört meine schöne Apokalypse! Ich konnte nicht aufhören zu lachen, ich glühte vor Glück. Mein Vater packte mich und den Clown und sperrte uns in ein Fass Im Fass war es dunkel, aber irgendwie sahen wir uns auch von aussen, wie das Fass über einen Felsvorsprung gerollt wurde Wir darin fielen Und mir fiel ein Dass dieser Clown ja Zauberkräfte hat Und ich fragte ihn, ob er nicht machen könnte, dass wir nicht sterben Und er sagte: Gib mir Feigen und Rosinen, so will ich dir dienen Ich langte in meine Taschen und siehe da, zufällig hatte ich Feigen und Rosinen da Traum ne Also zauberte er dem Fass einen Fallschirm Und sanft landeten wir auf dem Wasser Und ich stopfte ihn weiter mit Feigen und Rosinen Und er fuhr fort mir zu dienen Er tat, wie ich ihm befahl: Verwandle das Fass in eine stattliche Yacht Verwandle die Yacht in eine üppige Insel Setz auf die Insel ein zauberhaftes Schloss Und verwandle dich in einen leckeren Matrosen. Und er tat es Als ich das sah geriet ich vor Freude fast ausser mir Und indem ich ihn fest in die Arme schloss Ging mir vor Wonne der Mund über Mmm Ich fühle mich ganz Ganz seltsam Ich muss diesen Clown wiederfinden

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Stück Michelle Steinbeck

In der Puppenfabrik Blubbernde Kessel mit kochendem Silikon. An der Wand Werkzeuge und offene Mutterformenhälften. Eine Reihe von angenagelten Babymasken. In einem gläsernen Topf aufgespiesste Beinchen, Ärmchen und Köpfe. Am Boden geschlossene Mutterformen, darin erkalten Silikonbabys. Eine geöffnete Mutterform: Das Baby liegt mit dem Gesicht nach unten. Andere Babies sitzen aufrecht in leeren Silikontöpfen, das Kinn mit einem Holzstab erhoben. SAPATELLA Der Kopf ist schwer, damit man ihn stützen muss Du kannst ihn ruhig aufnehmen. Das ist Calimero, unser kleines Wunder VASTOLLA Fühlt sich hart an, kalt, aber die Haut ist weich wie echt SAPATELLA Dem müssen wir noch die Naht abziehen Der Stöpsel ist, wie du siehst, schon geschnitten und aufgefüllt Wir verkaufen auch Blank Babys frisch aus der Form mit Stöpsel und Naht, etwas günstiger Nicht dass das für dich eine Rolle spielen würde VASTOLLA Hier ist noch die Nabelschnur dran SAPATELLA Die kann man abnehmen mit einem Magneten Interessiert dich das? VASTOLLA Nein Ich weiss nicht SAPATELLA Myrte kann dir gleich alle Extras zeigen Sie ist meine Praktikantin Die wahre Kunst liegt im Erschaffen der Babys selbst Das mache ich Ich nehme an, du kennst meine Arbeit? Hier kommt auch schon Myrte mit dem Katalog MYRTE Prinzessin Vastolla – Glückwunsch zur Schwangerschaft!

Authentizität ist uns wichtig Das nehmen wir sehr ernst Die werdenden Eltern, die zu uns kommen, haben ihr Kind bereits gezeugt Ich bin nur das Medium, die Hebamme Verstehst du?

VASTOLLA Das ist der Tränenglitzer

MYRTE Was wird’s denn werden?

VASTOLLA Einmal habe ich geträumt, ich hätte etwas geboren, das aussah wie ein Seestern. Ich trug es auf meiner Handfläche herum. Ich hatte Angst, es umzubringen, aus Unzuverlässigkeit, Vergesslichkeit, Grobheit. Ich tat es in ein Schliessfach, ich ging durch die Stadt, schaute sehnsüchtig in die Bars. Alle hatten riesige Cocktails und Spass.

VASTOLLA Ich weiss nicht Ich glaube ich möchte zwei MYRTE Ui! Zwillinge Das hatte ich noch nie SAPATELLA Eineiig oder zweieiig? VASTOLLA Was

MYRTE Keine Sorge, diese Babys halten dich von nichts ab

SAPATELLA Sollen sie gleich aussehen?

SAPATELLA Du wirst es nicht bereuen

VASTOLLA Ich denke schon Zwei Kinder wie goldene Äpfel

MYRTE No-Regretting-Parenthood-Garantie

MYRTE Wie süss! Gibt das dann eine grosse Mutterform mit zwei Babys drin? SAPATELLA Ja, das gibt einen besonders grossen Bauch für Vastolla MYRTE Bald bist du rund und schwer wie eine Tonne Du Glückliche SAPATELLA Fühlst du schon etwas? Gelüste? Übelkeiten? VASTOLLA Stimmungsschwankungen vielleicht SAPATELLA Du Glückliche, das gehört zum ersten Trimester! Der Bauch ist schon etwas geschwollen MYRTE Dem können wir zuschauen wie er wächst, uh, wie er wächst VASTOLLA Ihr spinnt doch! Hört auf, mich anzufassen. MYRTE Ich muss sagen, du siehst etwas müde aus abgekämpft

VASTOLLA Ich bin nicht SAPATELLA Aber natürlich bist du! Sonst wärst du doch nicht hier

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SAPATELLA Du hast etwas an dir du wirkst wie entspannt als wäre dein Fleisch weicher geworden und dein Wesen auch Du machst dich bereit

SAPATELLA Myrte! Ich denke Vastolla hat einen Glow den ich bei ihr noch nie gesehen habe

SAPATELLA Du kannst alles selbst bestimmen, das ganze Design Angefangen beim Material, Härtegrad Der ganze Prozess bis zum fertigen Baby liegt in unserer Hand Zum Beispiel die Finger – gibt es ein Fäustchen oder offene Hand? Für unsere Prinzessin machen wir 100 Prozent Custom Made Unikat von Kopf bis Fuss, was sagst du? MYRTE Sapatella macht die Urmodelle noch von Hand, sie ist eine echte Künstlerin SAPATELLA Ich form dir zwei Babys, die dich umhauen werden Liebe auf den ersten Blick oder Geld zurück MYRTE Das Grundgerüst ist ein Aluskelett, darauf modelliert sie ein ganz realistisches Babymodell Darum herum wird die Mutterform angepasst SAPATELLA Die Mutterform ist das Negativ MYRTE In die Mutterform wird dann hineingegossen Flüssiges Silikon SAPATELLA Also wie willst du sie haben? Die Näschen nach unserem König? MYRTE Das ist die absolute Königsdisziplin, die Gestaltung der Rackerköpfchen

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Stück „Weint nicht über mich (Weint über euch und eure Kinder)“ SAPATELLA Nach dem Herausziehen aus der Mutterform folgt dann das Finish Myrte, hol mal den kleinen Urs, der ist fertig zum Eintüten

MYRTE Zu jedem Baby gibt’s ein Geburtszertifikat Das ist ganz wichtig Und zu jedem Urs ein Schnuller und Schoppen

MYRTE Schau So perfekte Proportionen und herzerweichende Gesichtszüge können nur absolute Könnerinnen wie Sapatella

SAPATELLA Ich glaube die haben auch ein Schreigerät bestellt wo hab ich die Bestellung genau, und ein Atemmodul

VASTOLLA Igitt dem läuft die Nase

MYRTE Das legst du ins Bettchen, dann hebt sich die Decke Was denkst du?

SAPATELLA Fass das nicht an die Farbe muss noch trocknen Sieht richtig echt aus, nicht? Ist eine Sonderanfertigung Er hat ein Ekzem um die Augen, siehst du? Die Eltern haben das auch, die werden sich freuen Das sind 30 Farbschichten auf dem Puppenrosa Jeder einzelne Hautton individuell angemischt die Hautstruktur über Tage aufgebaut die Transluzenz muss man rauskriegen und die Äderchen müssen wirken als wären sie unter der Haut und nicht auf der Haut da muss man Schicht für Schicht arbeiten und die einzelnen Schichten im Ofen festbacken

VASTOLLA Ok SAPATELLA Am Anfang ist es überwältigend ich weiss Schau dich ruhig erstmal um Inspirier dich Ich muss jetzt diesen Calimero fertigkriegen Myrte, kannst du mir mal die Augen reichen? Pervonto kommt in die Werkstatt, er filmt mit seinem Telefon. PERVONTO Oh mein Go-ott, die künstlerische Aura, Leute this is where the magic happens

MYRTE Möchtest du Haare? Wir haben einen supersüssen Flaum aus Mohair

Er filmt Sapatella, die einen Babykopf zwischen den Fingern hält.

SAPATELLA Ha Vastollas Babys kriegen natürlich Echthaar Zwanzigtausend Stück Jedes einzeln eingestochen Mein Gott wie süss er schläft Myrte, pass auf, dass du den Kopf nochmal extra einwickelst

PERVONTO Warte, drückst du gerade die Augen rein? Das müsst ihr sehen Wirkt bisschen brutal oder diese kleinen Lauscheraugen die kann man bei uns auch dazu bestellen selbst die Augen sind handgemacht aus Glas und das ist schon Wahnsinn wie toll die aussehen also kann ich nur jedem empfehlen bestellt auf jeden Fall die Augen mit dazu Woah Ist das Calimero in der Soft Version?

VASTOLLA Das sieht aus, als wäre er erstickt worden SAPATELLA Eine Fantasie hast du Myrte, nimm halt eine Windel VASTOLLA Für über den Kopf? MYRTE Nur für die Lieferung, damit nichts abschürft SAPATELLA Und vergiss nicht den Babyduft draufzusprühen er muss duften wie ein echtes Baby das ist noch realistischer

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Er filmt ein Mensatablett, auf dem ein nacktes Baby liegt.

Schaut euch das an Wie niedlich ist das denn bitte? der süsse Calimero der liegt hier und wartet auf seine Mama VASTOLLA Das sieht nicht niedlich aus SAPATELLA Aber realistisch VASTOLLA Unzufrieden, der ist total unzufrieden SAPATELLA Calimero ist ne schwierige Form, mit dem hab ich lange gekämpft Oft nur halbe Finger aus der Mutterform gezogen Sie nimmt das Baby am Bauch hoch und lässt Kopf und Glieder wabbeln. SAPATELLA Ich bin ja nicht son Fan von Ecoflex 10 das ist sehr weich mir fehlt da son bisschen die Körperspannung ist nicht meins ich find die immer n bisschen ach! Patschig Drück dem mal in den Bauch PERVONTO Oh ja Sehr schön Sehr niedlich Alles sieht aus wie echt man sieht echt alles Ist schon tolles Produkt Es wackelt auch Wien echtes Baby SAPATELLA Pervonto, willst du nicht später wiederkommen, wenn wir die neue Mutterform knacken? PERVONTO Ah, die Geburt! Leute schaut Gänsehaut Und dann noch ne neue Form, da weiss man nie was rauskommt Ich sterbe vor Aufregung Pervonto geht, sich selber filmend, kommt zurück

SAPATELLA Ja, in Ecoflex 10 gegossen. Den machen wir so nur auf Bestellung. PERVONTO Kleines Wunder in Ecoflex 10, Leute

PERVONTO Übrigens Eine Frage die mir oft gestellt wird Muss ich mein Baby eigentlich pudern? Nein

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Stück Michelle Steinbeck aber ihr könnt es natürlich pudern so viel ihr wollt Das ist superrobust, damit könnt ihr machen was ihr wollt Sie können auch Spülmittel und Waschbenzin verwenden Sie können auch in Raten zahlen Ich hoffe ihr bleibt gesund Pervonto geht. SAPATELLA Der führt sich auf, als würde er die Babys machen, als wäre er Gott oder so, als würde er die Babys höchstpersönlich ausscheissen Meinst du, der hat auch nur jemals eine Silikonrührkelle gehalten? Was weiss der schon über Ecoflex 10 Gar nichts weiss er Habt ihr gesehen wie er den Calimero geschüttelt hat? Was will er ihn umbringen? Schau nur wie er Vastolla aufgeregt hat Sie zittert ja VASTOLLA Das ist er! MYRTE Sie sollte so etwas nicht sehen, in ihrem Zustand VASTOLLA Ich muss mit ihm reden SAPATELLA Keine Sorge, der wird deine Babys nicht anfassen, das kann ich dir garantieren Vastolla rennt raus. SAPATELLA Wo will sie hin? MYRTE Du weisst schon Morgenübelkeit SAPATELLA Ich bin schon froh, dass wir das hinter uns haben Das ist noch gar nicht lange her, diese Zeit Als Leute noch Uah Als Leute noch richtig schwanger wurden Stell dir vor, einen wachsenden Parasiten in dir zu tragen, der dein Essen aufsaugt durch den Bauchnabel einfach nur krank MYRTE Ich stells mir gut vor mich beschweren anschwellen wie ne Tonne

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Wassereinlagerungen bis zum Gehtnichtmehr Ich hab sonst das Gefühl ich flieg davon SAPATELLA Flieg du lieber zum Rührgerät und misch das Material an Die Vastolla-Babys sollen so schnell wie möglich fertig werden Die zieht noch den Auftrag zurück, ich spür das Und Myrte, vergiss nicht das Entlüften Wir können uns keine Blasen erlauben

Im Hof der Puppenfabrik VASTOLLA Pervonto! Warte, Pervonto! Habt ihr Pervonto gesehen? Kannst du ihm das geben, wenn du ihn siehst? Getrocknete Feigen, sag von Vastolla Sag, ich muss ihn sprechen, sag Vastolla hat von dir geträumt Vastolla kichert und steigert sich in ein krächzendes Lachen, hält sich den Bauch. VASTOLLA Warte, nein, hör zu, sag ihm, sag Pervonto Du hast die Prinzessin zum Lachen gebracht Und und und sag Du hast Vastolla mit Hoffnung erfüllt Nein, sag ihm Es geht um eine neue Welt, sag Für unsere Kinder Nein, sag das nicht, sag Ich muss ihn sehen Dringend Es geht um Hhhhh Es ist etwas kompliziert Schwierig zu erklären Ich brauche einfach Pervonto und Feigen und ein Fass In das wir beide reinpassen Der Rest wird sich ergeben Sag ihm, folge den Rosinen Sag ihm, sie sind von Vastolla, er wird es verstehen Oder? Und er soll sich anständig von seiner Mutter verabschieden Und eine frische Unterhose Wenn ihr ihn seht, sagt ihm, ich bin auf der Suche nach ihm

Zurück in der Werkstatt der Puppenfabrik Sapatella steht mit Myrte an einem grossen Topf mit Silikon, der fleischkäsfarben sprudelt. SAPATELLA Sehr faszinierend, ich schau da gerne zu Sapatella nimmt den Topf auf und trägt ihn zu einer aufgestellten Mutterform, die mit Klammern zugeheftet ist. Vastolla kommt herein. VASTOLLA Er ist mir entwischt SAPATELLA Achtung heiss, wir beginnen grad mit der Füllung deiner Mutterform Pass auf Ich werde nun sieben Kilo flüssiges Silikon in diese kleine Öffnung giessen Drinnen verteilt es sich dann auf die zwei Hohlraumbabys Meine Körperbeherrschung ist gut, meine Nase kitzelt, siehst du Das pullert hier so rein Dauert ne Weile Geht’s wieder? Erzähl doch mal, Vastolla Zwickts? Jetzt sollten sie bald anfangen zu kicken nicht wahr So, jetzt haben wir die einmal aufgefüllt Jetzt heisst es nur noch warten und erkalten Und hoffen, dass sich keine Luftblasen bilden Vastolla, komm her, lass mich anfassen Spürst du schon was bewegen sie sich? VASTOLLA Ich bin keine Mutterform! SAPATELLA Bald werden wir dich aufknacken und schauen was es geworden ist. MYRTE Obs auch keine Luftblasen gegeben hat VASTOLLA Meine Mutter ist bei meiner Geburt gestorben. SAPATELLA Die Köpfe der Babys sind gewachsen, schneller als die Evolution die Beckengrössen anpassen konnte VASTOLLA Sie hat nie gelacht.

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Stück „Weint nicht über mich (Weint über euch und eure Kinder)“ MYRTE Du Arme wirst auch nicht natürlich gebären können, dein Becken ist viel zu schmal SAPATELLA Nun mach ihr keine Angst, wir sind Profis Na, freust du dich? VASTOLLA Ich habs mir irgendwie anders vorgestellt. SAPATELLA Das ist ganz normal. Wenn du erstmal die Babys im Arm hältst VASTOLLA Ich kann so nicht weitermachen ich halte dieses Vakuum nicht mehr aus Jeden Tag den Karren gegen die Wand fahren in diesem Museum der Gegenwart gefüllt von Trauer um eine Zukunft, die es nicht geben wird MYRTE Es wird sicher eine Zukunft geben Nur halt ohne Menschen Aber irgendwas ist immer Anaerobe Bakterien SAPATELLA Und Silikonbabys Ist das nicht tröstlich? VASTOLLA Die Bäume Das Meer Wir sehen alles an, als ob es bereits verloren und in der Vergangenheit wäre Unsere Zukunft ist zu kurz Wir brauchen mehr MYRTE Oje Sie ist wirklich guter Hoffnung SAPATELLA Nein! Wir machen Silikonbabys, das sind keine Hoffnungstreiber sie wachsen nicht und werden uns nicht überleben sie weisen nicht in die Zukunft sie sind für den Moment gleichzeitig bleiben sie für immer Sie sterben nicht Jede Krippe ist ein Sarg – diese nicht MYRTE Das hast du schön gesagt SAPATELLA Hoffnung ist zerbrechlich Du kannst dich noch so sehr verausgaben, um sie zu wecken jede mit Vernunft gesegnete Person wird sie sofort zerstören

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Zu Recht VASTOLLA Indem wir behaupten, dass wir weder Hoffnung noch Verzweiflung haben, löst das doch kein Problem Vielleicht brauchen wir Hoffnung und Verzweiflung für ein gutes Leben SAPATELLA Das Schlimmste ist, anderen Hoffnung zu machen Es ist nicht besonders schwer Und alles was folgt, ist Enttäuschung VASTOLLA So reden Menschen, die sich besiegt fühlen die das Gefühl haben, dass es nichts mehr gibt, wofür sie kämpfen können die denken, dass es niemanden gibt, der zu ihnen steht, der wie sie fühlt Obwohl wir die Mehrheit sind, fühlen wir uns allein Ich kenne das Ich war genauso Aber ich Ich bin aufgewacht Und mir ist klar Ich bin Teil der Veränderung Ich bin die Veränderung Versteht ihr? Wir müssen uns der Welt wieder stellen MYRTE Wir sehen keinen Sinn darin Wir sind müde Uns fehlt der Glauben VASTOLLA Wir können uns für den Glauben entscheiden Und wenn du dich entscheidest, gibt es kein Zurück mehr Die Magie des Glaubens ist, dass er nicht widerlegt werden kann.

Handeln ist das einzige Antidepressivum SAPATELLA Aber Hoffnung ändert nichts an deinem Handeln VASTOLLA Halts Maul Ich hatte einen Traum Einen Traum von Zukunft Da war keine Wand mehr, da war ein Horizont Und es ist mir jemand erschienen Das klingt jetzt vielleicht seltsam Es war euer Clown, Pervonto SAPATELLA Pervonto Du bist hier für Pervonto VASTOLLA Er hat mir einen unsichtbaren Zapfen eingeschraubt und Hoffnung eingefüllt MYRTE Pervonto hat dich angebohrt? VASTOLLA Ich Ich kann es nicht erklären, es ist Alles so schnell passiert Ich weiss nur Am Anfang war der Fluch Und am Ende War eine neue Welt SAPATELLA Bah VASTOLLA Die Geburt als Neuanfang Versteht ihr Die Menschheit beginnt mit jeder Geburt Sie darf immer wieder neu anfangen SAPATELLA Reaktionäre Propaganda

MYRTE Ja, man braucht keine Beweise, man tut etwas, weil man es für moralisch richtig hält. SAPATELLA Du bist arm, du brauchst nicht moralisch zu sein. VASTOLLA Wir müssen uns der Realität stellen, in der Realität gibt es Magie Das Heilmittel für die Katastrophen, die in der Realität passieren, liegt in der Realität selbst Was uns aus diesem Zustand der Depression, der Lethargie wieder herausholt, ist da draussen Wir müssen wieder Teil der Realität werden

Uraufführung am 28. April 2023, Theater Basel

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Stück Alexander Stutz

Deforeston; for the protection of children FLURIN Vor einem grossen Walde wohnte ein armer alter Holzhacker mit seiner Frau und ihren zwei Kindern; das Mädchen hiess Grethel und das Bübchen Hänsel.

„Die Entfremdeten“ Alexander Stutz (Auszug)

GEHIRN Er hatte wenig zu beissen und zu brechen, und einmal, als grosse Teuerung ins Land kam, konnte er auch das täglich Brot nicht mehr schaffen. Wie er sich nun abends im Bett Gedanken machte und sich vor Sorgen herum wälzte, seufzte er zu seiner Frau // DER ALTE // Wie können wir unsere Kinder ernähren, da wir für uns selbst nichts mehr haben?

Figuren FLURIN, Tochter von Grethel, Enkelin des Alten DIE FLIEGENDE, Ehefrau des Alten, Mutter von Grethel und Fett, Grossmutter von Flurin WANJA, eine Angestellte der von Grethel gegründeten Foundation DAS FETT (auch Hänsel), Bruder von Grethel, Sohn von dem Alten und der Fliegenden DER ALTE, Ehemann von Fliegende, Vater von Grethel und Fett, Grossvater von Flurin DAS GEHIRN des Alten GRETHEL, die Tochter des Alten und Mutter von Flurin 24H, Ein:e Angestellte:r DIE STIMME von Fernando UNZÄHLIGE STRANGER’S EIN KRANKENHAUS EINE SCHAUKEL EINE TREPPE Alexander Stutz, geboren 1992, wuchs in der Nähe von Zürich auf. 2022 beendete er an der Zürcher Hochschule der Künste seinen Master of Arts in Theaterregie. 20/21 ist er einer von vier Teilnehmer:innen des „Dramenprozessor“, einer Plattform für Autor:innenförderung welche das Theater Winkelwiese initiierte. Dabei entstand sein Debütstück „Das Augenlid ist ein Muskel“. Es ist eines der drei Gewinnerstücke der Autor:innentheatertage 2022, welche vom Deutschen Theater Berlin, Schauspiel Graz und Schauspiel Leipzig umgesetzt wurden. Die Jury begründet ihre Auswahl wie folgt: „Stutz’ Text findet eine atemberaubend sprachliche Form für ein Thema, bei dem einem die Sprache immer wieder wegbleibt.“ In der Spielzeit 21/22 war er als Hausautor am Theater St. Gallen engagiert. Dort entstand das Stück „Die Entfremdeten“, das im Januar 2023 unter der Regie von Olivier Keller seine Uraufführung feierte. In derselben Spielzeit inszeniert er selbst am Luzerner Theater und am Theater am Hechtplatz in Zürich.

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FLIEGENDE Weisst du was, Mann? Wir wollen morgen in aller Früh die Kinder hinaus in den Wald führen, wo er am dicksten ist: da machen wir ein Feuer an und geben jedem noch ein Stückchen Brot, dann gehen wir an unsere Arbeit und lassen sie allein. Sie finden den Weg nicht mehr nach Haus und wir sind sie los. // DER ALTE // Nein, Frau! Das tu ich nicht; wie sollt ichs übers Herz bringen, meine Kinder im Walde allein zu lassen, die wilden Tiere würden bald kommen und sie zerreissen. // GEHIRN Sie liess ihm keine Ruhe, bis er einwilligte. FLURIN Die zwei Kinder hatten vor Hunger auch nicht schlafen können und hatten gehört, was die Mutter zu dem alten Vater gesagt hatte. Hänsel weinte bittere Tränen und sprach zu Grethel // HÄNSEL // Nun ists um uns geschehen! // GRETHEL // Still, Hänsel, gräme dich nicht, ich will uns schon helfen. FLIEGENDE // Steht auf, ihr Faulenzer, wir wollen in den Wald gehen und Holz holen. FLURIN Dann gab sie jedem ein Stückchen Brot und sprach // MUTTER // Da habt ihr etwas für den Mittag, aber essts nicht vorher auf, weiter kriegt ihr nichts.

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Stück „Die Entfremdeten“ FLURIN Auf dem Weg in den Wald bröckelte Grethel ihr Brot in der Tasche, und stand oft still und warf ein Bröcklein auf die Erde. FLIEGENDE Grethel! Du faules Ding! Jetzt beweg dich oder ich werde dir Beine machen. GEHIRN Sie führten die Kinder noch tiefer in den Wald, wo sie ihr Lebtag noch nicht gewesen waren. Da ward wieder ein grosses Feuer angemacht, und die Mutter sagte // FLIEGENDE // Bleibt nur da sitzen, ihr Kinder und wenn ihr müde seid, könnt ihr ein wenig schlafen: wir gehen in den Wald und hauen Holz, und abends, wenn wir fertig sind, kommen wir und holen euch ab. GEHIRN Als es Mittag war, ass Hänsel gierig seinen Laib Brot und Grethel sass da und schaute ihm zu. Dann schliefen sie ein. Als der Mond kam, machten sie sich auf, aber fanden keine Bröcklein mehr, denn die Mutter, die bemerkt hatte, wie Grethel die Krumen fielen liess, hatte sie weggepickt. DAS FETT Keine Sorge, wir werden den Weg schon finden. FLURIN Und in diesem Moment wurde Grethel etwas klar: Sie will nicht wieder zurück! Sie will nicht in ihr Altes Leben, nicht zu dieser Mutter und nicht zu einem Vater, der seine eigenen Kinder aussetzt. Nein. Und in der aufkommenden Wut, in der Frustration und bei ihrem weinenden Bruder heckte sie einen Plan aus und sprach // GRETHEL // Komm Brüderchen, ich will dich zu einem warmen Ort bringen, dort finden wir bestimmt was zu Essen und womöglich eine neue Familie. GEHIRN Sie nahm in an der Hand und führte ihn tiefer in den Wald, bis sie zu einem Häuschen gelangten, dessen Dach aus Brot gebaut war, und mit Kuchen gedeckt; aber die Fenster waren von hellem Zucker. // DAS FETT // Da wollen wir uns dran machen und eine gesegnete Mahlzeit halten. // FLURIN // Hänsel reichte in die Höhe und brach sich ein wenig vom Dach ab, um zu versuchen, wie es schmeckte, und Grethel… sie wusste, wie diese Geschichte ausgehen würde. Man hatte oft von diesem Häuschen gesprochen. //

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GEHIRN // Doch Hänsel war zu verfressen, um zu merken, was hier los ist. // FLURIN // Also schlich Grethel sich davon und liess ihren Bruder in seinem Fresswahn allein. Sie hörte noch die Worte // GEHIRN // „Knupper, knupper, kneischchen, wer knuppert an mein’ Häuschen.“ //

mitten in diesem Blumenmeer und starrt auf den Tisch. Starrt die lachende Hexe an. Sie liest die Karte, die an dem Lebkuchenhaus hängt. FLURIN Im Andenken an eine Heldin, Übermutter tausender Kinder und barmherzigste CEO. GRETHEL Was denkst du?

FLURIN Dann einen Schrei aus dem Mund ihres Brüderchens. Sie ging weiter, weiter hinein in den Wald, weiter, bis sie an die Grenze des Waldes gelangte, kurzer Stopp, einmal durchatmen - und dann weiter in ihr neues Leben.

FLURIN Nichts, ich denke nichts.

GEHIRN Sie fand eine Familie. Die Zeit zog an ihr vorbei, sie wuchs heran, ging zur Schule.

GRETHEL Hast du was gegessen?

FLURIN Meine Mutter, Grethel, war ehrgeizig. Ging zur Uni, wurde politisch aktiv, geriet ganz nach der Schule der „Alten weissen Männer“ und wurde eine Person mit Einfluss und Macht. GEHIRN Sie lancierte das Projekt „Deforeston, for the protection of children“. FLURIN Dieses Projekt setzt sich für das Abholzen aller Wälder ein. Grethels Vermächtnis an die Welt waren Parkplätze und hässliche Betonbauten, so dass man nie wieder Kinder in Wäldern aussetzen konnte. GEHIRN Als letzte Amtshandlung liess sie jenen Wald, das Hexenhaus und das Haus ihrer Eltern von Bulldozern niederreissen und goss alles mit Asphalt aus. Sie liess einen kleinen 24h Shop mit Parkplatz und Öffentlichen Toiletten errichten und ein Krankenhaus. FLURIN Dafür wurden sie und ihre Foundation von der Stadt ausgezeichnet. Grethel selbst lebt nicht mehr. Sie ist wie so viele an den Folgen einer Krebserkrankung gestorben. GEHIRN Das ganze Geld vermachte sie nicht Flurin, sondern der Foundation.

Liebe einer Mutter Die Wohnung, als ob die Zeit stehen geblieben, als ob hier ausser Trauerkarten, Pfingstrosen und einem Hexenhaus aus Lebkuchen nichts verändert worden ist. Ist es auch nicht. Flurin steht da,

GRETHEL Du hast seit Tagen nichts gedacht. FLURIN –

FLURIN – GRETHEL Du hast seit Tagen nichts gegessen. FLURIN Kann sein. GRETHEL Schlechtes Gewissen? // FLURIN // Gewiss nicht. GRETHEL Iss, du musst was essen, wir haben mehr als genug, // der Kühlschrank ist voll. FLURIN // „Der Kühlschrank ist voll.“ Das sagst du immer … Sollte ich noch jemanden zur Beerdigung einladen? GRETHEL Vergiss den Stiftungsrat nicht. FLURIN Darum muss ich mich nicht kümmern, das macht Wanja. GRETHEL Jetzt zieh den Finger, endlich aus deinem Arsch… Kind…Iss! FLURIN Ich bin satt! GRETHEL Solange du nur mit meiner Hilfe überleben kannst, sag ich dir, wo es lang geht. FLURIN Da schau, ich breche mir etwas von dem Hexenhaus ab… Zufrieden?! … Jetzt bin ich wie du!…Ist es das, was du willst?! GRETHEL Nicht mit vollem Mund… Wie sieht es mit einem Job aus?

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Stück Alexander Stutz FLURIN Ich bin dran. GRETHEL Flurin! Wie lange soll das denn dauern? Suchst du was? Als Lehrerin? FLIEGENDE Kindergeschrei. Schultag. Alles normal, alles wie immer, von 10.00 bis 10.20 grosse Pause. Sitze da und esse mein Brot. Alles wie immer, aber an diesem Tag wird es das erste Mal passieren. An diesem Tag werde ich zum ersten Mal fliegen. SCHAUKEL Behutsam… Setzt sie sich mit ihrem kleinen Hintern auf mich drauf… Zart… Die kleinen Hände umklammern mich… So verdammt zart… Es ist das erste Mal… Dass dieses kleine Mädchen auf mir sitzt… Die anderen Kinder, die sind nicht so zu mir… Nicht so wie sie… Zart, so zart… liebevoll… Sie flüstert, ganz leise… Ganz ganz still flüstert sie sich selber Mut zu… FLIEGENDE Heute fliege ich, liebe Schaukel, heute werden wir fliegen. Heute trau ich mich und alle werden es sehen. Und dann werden sie mich nicht mehr auslachen. SCHAUKEL In ihr wächst ein Verlangen… Die Hände greifen stärker… Ihre Füsse stossen kräftiger // FLIEGENDE // Höher // SCHAUKEL // Kräftiger // FLIEGENDE // Stärker // SCHAUKEL // Kräftiger // FLIEGENDE // noch höher // SCHAUKEL // noch stärker und plötzlich lässt sie einfach los… FLURIN Ich steh einfach da. In Zeitlupe schlägt das fliegende Kind mitten auf dem Platz auf. Der ganze Hof lacht. Schaut mal diese Fliegende! Kurz darauf verliere ich meine Stelle. Dabei ist dem Kind nichts wirklich schlimmes passiert. Ein paar Stiche an der Stirn, einpaar Zähne raus, und gut wars. Nur war es nicht gut genug für die Eltern.

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Ich musste gehen. Und begann mich ab da in meine Wohnung zu sperren. Bis ich auf die Strasse gestellt wurde, weil ich die Miete nicht mehr bezahlen konnte. Es ist unglaublich scheisse, wenn man ab einem Gewissen Alter „Hallo Mutter, da bin ich wieder!“ sagen muss. Und das liess sie mich auch den Rest ihres Lebens spüren. GRETHEL Flurin, du musst dir etwas mehr Mühe geben. Schau mich an, ich hab auch etwas aus meinem // erbärmlichen Leben gemacht. FLURIN // „Erbärmlichen Leben gemacht.“ Und trotzdem bist du wie andere Menschen an Krebs verreckt. // 24H // Brauchen Sie noch lange? FLURIN – 24H Ich müsste das Regal auffüllen und Sie müssen das angeknabberte Häuschen bezahlen. FLURIN Nein… Was… Alles gut… ja mach ich… 24H Sie steht seit Tagen vor dem Regal mit den Hexenhäuschen-Lebkuchen. Steht da… starrt hinein. Wann verhungern oder dehydrieren Menschen eigentlich? sssssssssssssssssssssccccccccccccccccccccccchh hhhhhhhhhhhhhhhhhhhhhhhhhhhhhhhhhhh

Sucht WANJA Ich liebe meinen Job. Ganz nach oben, das muss ich. Jetzt, wo die Leiterin tot ist… will ich auf ihrem verfurzten Stuhl sitzen. Tut mir leid, scheisse an Krebs zu sterben. Aber tot ist tot. Und die Position muss kompetent besetzt werden. Da muss jemand neues, muss jemand mit neuen Ideen, muss ich drauf. – Ja! Nimm mich! Ich bin die richtige! Nimm mich… härter! Geil!

Ja so! Fester, fester, schneller! Tiefer. Ja, da… Fuck. Ich komme, ja ich komme! – Und ich zücke die Zigaretten, die neben mir liegen und zünde mir eine an. Er schaut mich an. Was? Will, dass ich ihm noch einen Blowjob gebe, er sei nicht gekommen. Tut mir leid, aber ich bin fertig. Was? Er will über Nacht bleiben. So läuft der Deal nicht. Ich steh in 3h wieder bei einem Meeting, werde die Beste sein, Überfliegerin, klar?! Weil ich auf diesen Stuhl will, der Ausschuss diskutiert darüber, stimmt ab. Alles Männer, klar! Aber mein Arsch gehört auf diesen Sessel, das wissen die. Noch einen Fick? Nein. Ich muss noch die Präsentation für den Stiftungsrat fertigstellen. „Environmental vaccination for global protection from vulnerable individuals“. Du sprichst kein Englisch? Also schwing deinen süssen Hintern aus meiner Wohnung! Anrufen? – Ach, ich weiss nicht. Tschüss, ja, auch dir gute Nacht. Tür zu. – Erstmal eine zweite Zigarette. Seit wann ist es eigentlich so schwer, allein zu sein. Ich meine, alle wollen immer dieses gemein­ same - zum kotzen!

Die Einsamkeit der Bäume I Ein rotes Auto. Es steht da, seit Jahren und es rostet vor sich hin. Steht da auf diesem Parkplatz, wo früher einmal das Haus des alten Holzfällers und seiner Familie stand. Er, der Alte, der kein Holzfäller mehr ist, wohnt darin. Die Jahre haben ihm nicht gutgetan. Er verliert Teile von sich.

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Stück „Die Entfremdeten“ GEHIRN Er denkt nach.

GEHIRN Das ist Akkusativ. Wen oder was … den Zerfall

DER ALTE Wo soll das enden? DER ALTE Den Zerfall unserer Gesellschaft! GEHIRN Über alles denkt er nach. Ausnahmsweise.

GEHIRN Zur Gesellschaft gehören wir nicht mehr.

DER ALTE Wir unterscheiden uns nicht mehr! GEHIRN Was meinst du damit? DER ALTE Habe ich auf irgendeinem Bildschirm gesehen. Wir sind lediglich Ameisen… Gefangen im Karussell des Individualismus // GEHIRN Möglicherweise ein Karussell, das du dir selbst erschaffst? DER ALTE Der Nebel wird dichter, sagen sie… Die Industrie zu gross… Und dadurch, dass es keine Bäume mehr gibt… Wir haben Probleme… Wir Ameisen… Haben Probleme… Haben die gesagt, da auf Bildschirm… Man will sie nicht, die Ameisen. GEHIRN Glaubst du alles, was man auf Bildschirm sieht? DER ALTE Ich versuche, das grosse Ganze zu sehen. GEHIRN Eigentlich versuchst du mich loszuwerden, damit du nichts mehr sehen musst. // DER ALTE // Du bist schrecklich laut! // GEHIRN // Und du forderst mich nicht mehr. DER ALTE Mit was soll ich dich noch fordern? Schau dich um… Es gibt nichts mehr zu fordern… GEHIRN Sauf noch mehr! Ich komme mir vor, als ob du mir alles nehmen willst! Fordere alles von mir! Fordere den Zerfall der Worte, den Zerfall der Sprache, den Zerfall der Hülle! Los, sauf weiter! Nieder mit den Gehirnen der Erde! DER ALTE …Der Zerfall einer Gesellschaft… GEHIRN Den! DER ALTE Es heisst: „Den“ Zerfall? Rettet den Genitiv!

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DER ALTE Naja… Brauchst du was vom Shop? GEHIRN Bring mir Studentenfutter mit, damit ich was für die Zellen bekomme. DER ALTE Ich bin auf Nüsse allergisch. GEHIRN Ist mir Egal. Du bezahlst ja sowieso nicht. sssssssssssssssssssscccccccccccccccccccccccchh hhhhhhhhhhhhhhhhhhhhhhhhhhhhhhhhhhh Der Alte steigt aus und torkelt über den Parkplatz in Richtung 24h Shop. DER ALTE Wir stehen an einem Abgrund… Jede einzelne Person an einem anderen. GEHIRN Vergiss das Futter nicht! DER ALTE Halt doch die Fresse, du bist nicht mal real…

Blauer Planet WANJA Work / Sound / Ficken Mein Lebensmotto! sssssssssssssssssssscccccccccccccccccccccccchh hhhhhhhhhhhhhhhhhhhhhhhhhhhhhhhhhh... Die Präsentation eins A! sssssssssssssssssssssssscccccccccccccccccccchh hhhhhhhhhhhhhhhhhhhhhhhhhhhhhhhhhh... Tanzen, in meinem Standard-Club, da bekomm ich die Drinks billiger. sssssssssssssssssssccccccccccccccccccccccccchh hhhhhhhhhhhhhhhhhhhhhhhhhhhhhhhhhhh Was zu feiern! Auf meine Zukunft. ssssssssssssssssssssssssssccccccccccccccccccchh hhhhhhhhhhhhhhhhhhhhhhhhhhhhhhhhhh... Barkeeper. Nicer Typ, 1.80, dunkles Haar. Mit dir will ich ficken! sssssssssssssssssssssssscccccccccccccccccccchh hhhhhhhhhhhhhhhhhhhhhhhhhhhhhhhhhh...

Ich zerre ihn aus dem Club. Deine Schicht? Ist mir egal. Das ist normal, ich nehme, was ich will. Schliesslich wurden die dazu gemacht, dass ich sie benutzen kann. Kleiner Schwanz… naja, macht nichts. Seine Zunge ist geil und mit den Fingern kann er umgehen. Fuck. sssssssssssssssssssssssssccccccccccccccccccchh hhhhhhhhhhhhhhhhhhhhhhhhhhhhhhhhhh... Hier schlafen? Nein. Magst mir noch einen Drink machen? Überrasch mich. Danke. Ich hab deine Sachen schon mal auf den Flur gelegt. Tür auf. Bye bye! Tür zu. Warum wollen alle immer dieses gemeinsame Aufstehen.

Vor dem 24h Shop I Flurin steht vor dem 24h Shop. Sie ist sichtlich irritiert. In der Hand hält sie eine Büchse Ravioli. Der Alte kommt dazu, aus dem Mantel zieht er eine Weinflasche und öffnet diese. Er trinkt. Schaut Richtung Kamera. Verbeugt sich elegant. DER ALTE Kenne ich Sie? FLURIN Nein. DER ALTE Sicher? FLURIN – DER ALTE Warum stehst du hier so rum? FLURIN Ich muss… DER ALTE Was musst denn? FLURIN Kann das sein, dass der Nebel dichter geworden ist? DER ALTE Ja, er wird dichter, sagen sie… die da auf dem Bildschirm… sagen das…

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Stück Alexander Stutz GEHIRN Seh’ den Alten, wie er mit einer jungen Frau spricht. Sehe, wie er sie anschaut. Sie scheint verwirrt… scheint nicht zu wissen, wohin… FLRUIN Ich kam doch von da… nein? Doch… Von da! Ganz sicher…

An den Wänden eine Explosion von Graffiti. Es stinkt. Zwei Neonröhren sind kaputt. Er zuckt mit seinem Kopf Richtung Kabine. Sagt was zu mir, ich hab es nicht verstanden. Sein Penis drückt durch seine Trainerhosen.

DER ALTE Das ist das Leben…

STRANGER Komm, stell dich nicht so an.

FLURIN Ist das Leben nicht manchmal beschissen.

DAS FETT Und er hat ihn mir hingehalten… eigentlich unter die Nase gerieben.

DER ALTE Wem sagst du das!

STRANGER Komm.

GEHIRN Sie sieht irgendwie aus wie Grethel? Kann das sein?

DAS FETT Irgendwann nach dem üblichen Smalltalk sind wir beide in die Klokabine gegangen. Mein erstes Mal, war das schon lange nicht mehr… ssssssssssssssssssssssccccccccccccccccccccccchh hhhhhhhhhhhhhhhhhhhhhhhhhhhhhhhhh...

FLURIN Sorry, ich hab kein Kleingeld. DER ALTE Schon gut.

Die Bewusste; aktive und gewöhn­ liche Suche I In dem Klo, das zu dem 24h oder zu dem Parkplatz im Allgemeinen gehört. Ein schäbiger Bau. Es ist genau so, wie man sich ein Raststätten-Klo vorstellt. Vor dem Eingang zum Frauenklo steht ein Schild. Closed. Die Tür ist zusätzlich mit einem Vorhängeschloss versehen. Das Fett steht im Innern des Klos. Ein Stranger kommt dazu und stellt sich ans Pissoir. Die beiden beginnen sich gegenseitig abzuchecken. DAS FETT Hier drinnen ist es wie in einer anderen Welt ...

Die Einsamkeit der Bäume II GEHIRN Ich kann es nicht fassen, du solltest mir nur Studentenfutter mitbringen! Einfach nur Studentenfutter! Was ist daran so schwer, an Studentenfutter?! DER ALTE Du kannst… von dem haben. GEHIRN Es reicht, wenn du dieses Zeugs in dich hinein leerst. DER ALTE Ist es falsch… GEHIRN Was!?

DER ALTE Jemanden zu vermissen? GEHIRN Es ist ein Wunder, wenn du dich erinnern kannst. DER ALTE Manchmal will ich mich erinnern. GEHIRN Ganz oder gar nicht, das ist der Deal. DER ALTE Sie war… laut… wie du. GEHIRN Jeder Mensch steht sich selbst am nächsten. DER ALTE Sie wollte nicht…. sie… schrie „Ich verlasse dich! Das ist mein verdammtes Leben! Also lass mich ficken, wen ich will…“ … und sie flog einfach… GEHIRN Sch…sch…sch… alles ist gut. Wir vergessen das wieder. DER ALTE Ob Grethel… mich… vergessen hat? GEHIRN Sieht die Welt aus, als ob sie dich vergessen hat? DER ALTE Hänsel? Was denkst du, ist mit ihm? GEHIRN Weiss nicht, was mit diesem Vielfrass passiert ist. DER ALTE Ich will nicht mehr… Will nicht… will nicht mehr gesehen werden. GEHIRN Du hast einigen weh getan. Das ist ok. Du versuchst es gerade zu biegen. – Wo gehst du hin?

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OL IVI A S TR E ATER; A L INE P ER INO & NIN A P F ÜL L ER; CIE . BL ACK S TR OL L ER; MOIR A L A F O S SE & NEIL HÖHENER JUNGE M A R IE PATR ICIJA BR ONIĆ & TIMON JA NSEN T HE AT E R – R OX Y.C H


Stück „Die Entfremdeten“ DER ALTE Wir sollten sie besuchen gehen. Der Alte steigt aus und geht um die Karosserie rum. Er öffnet den Kofferraum. Dort liegt die Fliegende, sie bewegt sich nicht, aber lebt. Neben ihr eine Herz-Lungen-Maschine, sie trägt ein Krankenhaushemd. Neben ihr ein Häufchen Erde. Darin ein kleiner Spross, dieser wird eines Tages ein wunderschöner riesiger Baum werden. Aber jetzt, jetzt ist er klitzeklein. Die beiden stehen vor dem Kofferraum und starren auf diesen Ursprung. DER ALTE Sie sieht zufrieden aus… GEHIRN Ist das die Lösung // DER ALTE Es wächst… GEHIRN Mhmmm… DER ALTE Wunderschön. GEHIRN – DER ALTE Vollkommen.

Nur ein riesiger Zaun mit der Auffschrift „Deforeston; for the protection of children“ und einem Bild von Grethel, die ihn mit einem Zahnpastalächeln anlächelte. GEHIRN An jenem Tag hat er die Wallnuss gefunden. Er schaufelte mit seinen Händen Erde in den Kofferraum und hat diese kleine Wallnuss eingepflanzt und tatsächlich: es spriesst. Ein winziger kleiner Sprössling ist erkennbar, vermutlich der Einzige auf der ganzen Welt. Aber das wissen wir nicht. Der Alte nimmt die Flasche und trinkt einen Schluck. Er steigt wieder in das Auto ein. Das Fett bleibt noch ein wenig bei der Fliegenden stehen. GEHIRN Es tut mir leid. Dann macht es den Kofferraum liebevoll zu und bleibt noch ein wenig stehen.

Zwischenspiel

GEHIRN Kurz bevor das Haus und alle Bäume mit Baggern zerstört wurden, wollte die Mutter von Grethel den Alten verlassen. Alles gepackt, drehte sie den Schlüssel im Schloss um. Stand oben an der Treppe. Sie stolperte. Sie fiel. Dabei brach sie sich ein paar Rippen. Der Alte brachte sie mit dem Auto in das nahegelegene Krankenhaus…

Grethels Wohnung, die Pfingstrosen sind alle verwelkt und das Hexenhaus aus Lebkuchen ist voll Schimmel. Flurin sitzt da, mitten in diesem Bergen aus Müll und starrt auf den Tisch, dort liegt eine Broschüre für das Projekt: „Environmental vaccination for global protection from vulnerable individuals“. Sie steht auf und geht zum Kühlschrank.

Der Alte verliess das Krankenhaus und stieg in das Auto hinein. Er fuhr zurück in Richtung Wald.

FLURIN Leer. Der ist leer! Mama, der Kühlschrank ist leer!

FLIEGENDE Dort angekommen, fand er keinen Wald mehr vor. Da stand kein Häuschen mehr.

GRETHEL Du musst für dich selber sorgen! Wie soll ich als Tote einkaufen gehen!

RESIDENZ DES INSTITUTS FÜR KÜNSTLERISCHE POSTMIGRATIONSFORSCHUNG

FLURIN Aber der Kühlschrank, der war nie leer. GRETHEL Flurin! Reiss dich zusammen… So kann es nicht weiter gehen. Der Kühlschrank füllt sich nunmal nicht von allein. Mein Gott! Wie alt bist du?! FLURIN Was denn? GRETHEL Schau dich an. Schau dich um! Kind! Was hast du in deinem Leben geschafft? FLURIN – GRETHEL Zum ersten Mal verstehe ich, warum die Wälder etwas gutes gewesen sind. FLURIN Was weisst du schon! Die Menschen haben Angst! Ich hab Angst. Wir rasen in eine Krise, weil deine scheiss Firma alles niederreissen muss. Wir bekommen diesen Nebel nicht mehr los! Die Arten verschwinden, Insektenarten, Vogelarten, Pflanzenarten, alles wird weniger. Vielleicht bin ich die Art von Mensch, die auch verschwinden muss. Ist es das?! War das dein Ziel? Will das die Firma mit diesem Projekt machen? Menschen aussterben lassen?! GRETHEL Sei nicht so melodramatisch! FLURIN Das ist Mord! GRETHEL Diese Aussage stimmt nicht grundsätzlich. Das zeigt ein internationales Forscherteam unter Beteiligung des Deutschen Zentrums für integrative Biodiversitätsforschung. Kollateralschäden bedeuten nicht automatisch Verlust der Vielfalt. FLURIN Du willst es nicht verstehen.

THTR RMPE

AUSSETZEN 19.02. – 19.03.2023 THEATERRAMPE.DE


Stück Alexander Stutz GRETHEL Fakten will ich verstehen. Fakten, an denen man hart arbeitet!

STRANGER Bei mir auch. DAS FETT Ist es?

FLURIN Du bist tot! Du arbeitest an gar nichts! STRANGER Ich sollte nicht hier sein. GRETHEL – DAS FETT Der Ehering an seinem Finger blitzt auf. Ich wollte auch nie hier sein.

FLURIN – GRETHEL Ich habe… Nein! Wir haben etwas gegen das Grausame getan. Meine Generation hat nicht nur Suppe auf Ölgemälde geschüttet, sich mit Sekundenkleber auf den Asphalt geklebt, nichts mehr gegessen, Haare abgeschnitten und behauptet, dabei etwas zu verändern. Nein, wir haben Entscheidungen getroffen. Wir haben unsere Hoden auf Böden genagelt und etwas bewirkt, nicht aus Interesse an Öffentlichkeit und Darstellung, nein! Wir wollten Veränderungen! Leider haben wir dabei nicht bemerkt, dass wir euch Kindern das Nest anscheinend zu weich und zu bequem gemacht haben. Und ihr nun gegen Windmühlen kämpfen könnt! Flurin, jetzt hör zu! Und bleib stehen, wenn ich mit dir Rede! Flurin steht auf, sie schnappt ihre Autoschlüsse und verschwindet aus der Tür, diese sie hinter sich zuknallt. sssssssssssssssssssssccccccccccccccccccccccchh hhhhhhhhhhhhhhhhhhhhhhhhhhhhhhhhhh...

Die Bewusste; aktive und gewöhn­ liche Suche II STRANGER Das erste Mal? DAS FETT Ja.

STRANGER Ich möchte lediglich wissen, ob es bei dir einen Ausgang gibt. DAS FETT Nein. STRANGER Ich wollte nicht // DAS FETT // Niemand wollte jemals hier landen. Er küsst mich.

Geil! Aufgelegt. Geil! Ich bekomme diesen scheiss Stuhl. Fuck! Geil! Fuck! Positiv! Fuck! Einen zweiten. Fuck! Ähhh… Fühl mich nicht Besonders, muss früher los. Ich lauf Richtung nachhause. Das Licht des 24h shop blendet mich. Ich geh hinein. sssssssssssssssssssscccccccccccccccccccccccchh hhhhhhhhhhhhhhhhhhhhhhhhhhhhhhhhhhh

24h Shop II

Maybe baby WANJA Ich bin überfällig Ist normal, das geschieht öfters. Aber so lange. Das ist neu. Auf Arbeit, in der Mittagspause. Aufs Klo. Test. Schnell und hygienisch. sssssssssssssssssssscccccccccccccccccccccccchh hhhhhhhhhhhhhhhhhhhhhhhhhhhhhhhhhhh Drauf gepisst. – Telefonklingeln. Ja? Sie lieben das Projekt?! Geil! Beförderung!

Flurin steht im 24h Shop mit einem Einkaufszettel. Sie steht vor einem Regal voller Dosen. WANJA Diesen. GEHIRN Macht 28.95.Brauchen sie ne Toilette? WANJA Nein… – Doch. GEHIRN Draussen ums Eck, da gibt es öffentliche Toiletten. Frauen-Klo ist defekt. WANJA Ist mir egal. GEHIRN Viel Glück.

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JA? NEIN?

DA ZWISCHEN Ein Stück Unentschiedenheit Theater mit Menschen, Puppen und Objekten Von und mit Luise Audersch, Clara Fritsche und Julia Sontag | Uraufführung [12 plus] Premiere: 11. März 2023 Infos & Karten 0341.486 60 16 | www.tdjw.de


Stück „Die Entfremdeten“ WANJA Danke?

GEHIRN So viel ich weiss, wurde die entlassen.

FLURIN Ich finde mich in einem kleinen Supermarkt wieder. Wann hab ich…. meine Wohnung verlassen? Es muss der Laden um die Ecke sein. Ja, ganz sicher, es ist der 24h Shop um die Ecke.

FLURIN Was? Aber das ist doch ein 24h Shop

GEHIRN Sie steht da im Innern, mitten in dieser Ladenmusik.

GEHIRN So viel ich weiss, soll das hier abge-

FLURIN Karotten 1 Gr. Zwiebel & 20 Kl. Zwiebeln (etwa 3 cm Durchmesser) 300g Champignons Frühlingszwiebeln 1 Knoblauch Thymian Lorbeerblätter Petersilie glatt 1 Butter Milch 1½ kg Rindflei // // Keine Dosen…. Flurin, du brauchst keine… Das ist nicht meine Schrift… sssssssssssssssssssssccccccccccccccccccccccchh hhhhhhhhhhhhhhhhhhhhhhhhhhhhhhhhhh... Ich finde mich in einem kleinen Supermarkt wieder. Ich weiss nicht, wie ich hierher gekommen bin. Oder wann ich meine Wohnung verlassen habe. sssssssssssssssssssssscccccccccccccccccccccchh hhhhhhhhhhhhhhhhhhhhhhhhhhhhhhhhhh... Es muss der Laden um die Ecke sein. Ja, ganz sicher, es ist der Shop um die Ecke. Doch die Regale scheinen leer… Entschuldigung //

FLURIN Warum?

GEHIRN // Ja?

GEHIRN Nicht mehr. FLURIN Wie?

rissen werden.

GEHIRN Der Nebel wird zu dicht, rausgehen nur noch auf eigene Gefahr. Kam heute in den Nachrichten. Ich mach das hier nur aushilfsmässig.

Privatezone I FETT Gehts noch! WANJA Bitte? FETT Männer-Klo?! WANJA Kleiner, dein Schwanz interessiert mich gerade überhaupt nicht. FETT Das ist eine Privatezone WANJA Also nehm Rücksicht auf meine Privatezone! – Pinkeln.

FLURIN Äh… wo ist die Person, die normalerweise hinter dieser Kasse steht?

LoremDiana ipsum FOKUS TANZ #9 »ON MOBILITY« u.a. mit Saïdo Lehlouh, Niepce, Dr. Mimi Sheller, Michael Turinsky, Tebandeke Joseph SANDRA STRUNZ / ENSEMBLE RESONANZ Orfeo! Ein Musik-Film-Theater MACIEK MARTIOS Lost in Spa Garden City SKART / MASTERS OF THE UNIVERSE Spielen DANIEL DOMINGUEZ TERUEL »Lovesong« und »Voices« Lorem ipsum QUEER B-CADEMY Emotional Space Age

Konstruktion FLIEGENDE Vor mir liegt die Treppe. Ich wollte dieses Haus verlassen. Aber kaum habe ich alles in der Tasche versorgt, kaum hab’ ich die Tür hinter mir geschlossen, kaum wollte ich mit dem linken/ rechten Fuss die erste Stufe der Treppe ertasten, die zur Haupteingangstür führen sollte, ein Blitz… Stillstand. TREPPE Sie lebt in dem Haus mit ihrem Mann, der sie liebt. Sie ist sich nicht sicher, was sie tut. Aber er liebt sie, sagt er ihr zumindest. Nun steht sie oben, bereit um mit dem ersten Fuss auf meine oberste Stufe zu treten. Und in diesem Augenblick, schubst er sie… Stillstand. FLIEGENDE Und in diesem Stillstand erkenne ich diese Weite vor mir. Es ist das gleiche Gefühl wie damals auf der Schaukel. Wie ein Vogel auf einer Klippe, der sich in die Tiefe stürzt. Es ist wie ein Rausch… Ein Rausch, der 11 Stunden anhält. Ich spüre, wie mein Gehirn meinen Muskeln das Zeichen gibt. Abheben jetzt. In der selben Sekunden beginnen meine Fersen sich vom Boden zu lösen. TREPPE Schön. Sie sieht schön aus und ihre Fersen trennen sich von meiner Oberfläche, die Spitzen ihrer Füsse lösen sich. FLIEGENDE Mein Ganzes hebt ab, mein Inneres beginnt zu fliegen, leicht wie eine Feder.

3 2 0 2 R MÄ KA

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Stück Alexander Stutz TREPPE Sie fliegt. Und er steht oben an der Treppe und schaut ihr zu.

DER ALTE // Die Fragen sind nicht das Problem.

WANJA Was machst du hier? FLURIN Die Antwort? //

Privatezone II FETT Und?

DER ALTE // Auch nicht.

Privatezone III

WANJA Was? FETT Bist du schwanger? WANJA Weiss ich noch nicht. FETT Du kannst hier warten. WANJA Was machst du hier? FETT Warten, mit dir… wenn du magst? WANJA Geht nicht lange.

Auf dem Parkplatz steht ein Auto I Flurin kommt bei einem kleinen roten Auto an. Sie klopft gegen die Scheibe. FLURIN Hallo? Hallo? Ist da jemand? Der Alte ist auf dem Lenkrad eingeschlafen. Flurin klopft gegen das Fenster. Der Alte schreckt aus seinem Traum auf, ist orientierungslos. Öffnet nach einem Moment die Tür.

WANJA Fuck! FETT Gratulation! WANJA Nein! FETT Naja, es kann auch sein, dass der falsch anzeigt. Soll ich dir noch einen holen beim Shop! WANJA Nein! Das war der Dritte! Ich kann nicht! Ich werde befördert! Wie soll mein Konzept… Ein Kind passt nicht in mein Konzept FETT Du musst doch nicht… Es ist doch mittlerweile ganz normal, dass der Vater zuhause bleibt. WANJA Nein! FETT Oder Freundin, oder was auch immer… WANJA Niemand! Da ist niemand. FETT Ist doch auch nicht schlimm.

FLURIN Entschuldigung, können Sie mir sagen, seit wann der Nebel so dicht ist? DER ALTE Schon seit Monaten. FLURIN Was? Aber ich war nur kurz in dem Laden?! DER ALTE Brauchst du die Dose noch? FLURIN Was soll das denn für eine Frage sein? DER ALTE Ich habe aufgehört Fragen zu stellen.

WANJA Nein! FETT Du solltest atmen, ich glaube, du hast ne Panik-Attacke. Wanja stürmt aus dem Klo und rennt in den Laden, dort kauft sie sich nochmals zwei Tests. Sie kommt zurück in das Klo. In der Zwischenzeit ist ein Stranger aufgetaucht und das Fett gibt ihm einen Blowjob. Wanja verschwindet in der Klokabine. Der Stranger packt seinen Schwanz ein und haut ab. Wanja kommt wieder aus der Toilette, mit beiden Tests in der Hand.

FLURIN Warum? // WANJA Bist du ein Stricher? //

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FETT // Nein.

FETT Ich bin gerne hier. WANJA Aha? FETT Hier ist man nett zu mir. Geht es dir gut? WANJA Mir! Ich glaub, ich brauch einen ­Therapeuten. FETT Heute müssen immer mehr in therapeutische Betreuung gehen. In keiner Generation zuvor war das so. WANJA Das war ein Scherz! FETT Ah! WANJA Fuck! Positiv! ssssssssssssssssssssccccccccccccccccccccccchhh hhhhhhhhhhhhhhhhhhhhhhhhhhhhhhhhhh...

Skelett Im Innenraum eines Krankenhauses. Das Fenster steht offen. Die Fliegende liegt im Bett. KRANKENH. Eine Rippenfraktur. FLIEGENDE Eine was? KRANKENH. Rippen… Der Brustkorb besteht aus 12 Rippenpaaren, die an den Brustwirbeln entspringen. Sie werden von oben nach unten durchnummeriert. Die obersten 7 Rippen sind vorne über den Rippenknorpel direkt mit dem Brustbein verwachsen. Die Rippen 8, 9 und 10 setzen am knorpeligen Rippenbogen an, sie werden daher auch asternale Rippen genannt. Die beiden untersten Rippen sind kürzer und enden frei in der Bauchwand als sogenannte „Fleischrippen“. Und wie sie hier sehen, haben sich genau diese Rippen einen Weg in Richtung ihrer Lungen gebohrt. Sie hatten Glück. FLIEGENDE Glück?

Uraufführung am 19. Januar 2023, Theater St. Gallen

Theater der Zeit 3 / 2023


Theater der Zeit

Diskurs & Analyse

Natali Seelig, Max Simonischek, Seyneb Saleh, Lorena Handschin in „Minna von Barnhelm“ in der Regie von Anne Lenk am Deutschen Theater

Foto Armo Declair

Serie Warum wir das Theater brauchen #02. Das nicht Bereinigte. Anne Lenk schreibt über ihr Theaterverständnis und das Verhältnis zum Publikum

Theater der Zeit 3 / 2023

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Diskurs & Analyse Serie: Warum wir das Theater brauchen #02

Das nicht Bereinigte Von Anne Lenk

Zum Auftakt der Essay-Serie schrieb Nora Schlocker in TdZ 02/2023 ein „Plädoyer gegen die Verkrustung“. Es folgen die Betrachtungen der Regisseurin Anne Lenk, die vor allem mit ungewöhnlichen Klassikerinterpretationen hervorgetreten ist.

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# 02

Theater der Zeit 3 / 2023


Diskurs & Analyse Serie: Warum wir das Theater brauchen #02

Foto Kim Keibel

Ich werde mich in diesem Text ganz bestimmt nicht zynisch oder überkritisch mit dem Theater auseinandersetzen. Ich sag‘ es gleich vorweg, damit kann ich gar nichts anfangen. Ich empfinde diesen Trend als Zeitverschwendung, denn am Ende geh‘ ich ja doch wieder hin – als Zuschauerin, als Regisseurin, als Kollegin, als Freundin, als Unterstützerin, als Mentorin, als designierte Oberspielleiterin, als Fan, als Schwester oder manchmal auch als Besserwisserin. Denn all das sind Rollen, die ich einnehme, wenn ich ins Theater gehe. Und das beschreibt ja schon, dass da viel Raum ist, viel Möglichkeit, viel Perspektive. Es birgt Platz für ein ganzes Leben, und nicht mal ein eintöniges. In den Anfängen der Pandemie wurde das Theater von einigen Insassen als irrelevant beäugt, unsere Berufe wurden als austauschbar gesehen und das Ganze als verschlafene unzeitgemäße Luxusyacht. Das hat mich überrascht, mir war bisher nicht klar, dass Menschen Theater machen, ohne es für relevant zu halten, was ich absurd finde, denn es nimmt so viel Raum ein, wenn man damit beruflich zu tun hat. Wie kann das gehen, dass etwas so viel Raum einnimmt, ohne dass man es für weltbewegend hält? Es ist natürlich auch das, was man daraus macht. Auch wenn wir kein Erdbeben verhindern, keine Krankheiten heilen und kein Tempolimit durchsetzen können, so sind wir doch ein Ort, an dem ein Dasein praktiziert werden kann, das Trost spendet, das Menschen zusammenbringt, das Gedanken auswirft, das inspiriert und das Ungerechtigkeiten aufzeigt, ein Ort, der auch immer mehr dem nicht Stromlinienförmigen Raum gibt, der nicht globalisiert ist, der aus der Zeit fällt und sich doch noch entwickelt. Obschon das Theater in meinem Leben eine wirklich große Rolle einnimmt, ist meine Beziehung zum Theater eine eher glückliche, würde ich sagen. Das ist nicht selbstverständlich, viele Menschen pflegen eine eher toxische Beziehung, auch zum Theater, mit viel Emotion und Schmerz und Kampf um Anerkennung. Im Toxischen, was wohl vor allem aus einem Mangel an Empathie entsteht, aus einer großen Ich-Bezogenheit, verfehlt sich, glaube ich, immer das Wesentliche, das Emotionale überdeckt das Inhaltliche. Und in den starken Gefühlen von Schmerz wird es so real, dass man es für wichtig hält, obwohl es einen Stück für Stück zerstört. Meine Beziehung ist eine gewachsene Bindung, es war keine betrunkene Spontanhochzeit in Las Vegas und auch keine torschusspanische Vereinigung, weil, ups, plötzlich vierzig und immer noch Single und kinderlos. Nein, es begann mit Faszination und ging über in unwägbares Gelände und ist noch in vollem Gange. Keine Ahnung, wohin es führt. Und das ist das Gute. Immer wieder tun sich neue Wege auf, weil das Theater sich von innen und von außen bewegen lässt und sich verändert, es funktioniert nicht linear, eher wie ein Netz. Theater kann mehr als eins zu eins,

Immer wieder tun sich neue Wege auf, weil das Theater sich von innen und von außen bewegen lässt und sich verändert, es funktioniert nicht linear, eher wie ein Netz. Theater der Zeit 3 / 2023

es kann mehr, als Kalendersprüche und Weisheiten extrinsisch auf ein Publikum verladen, es vermag ein Netz über uns zu werfen und uns intrinsisch zu bearbeiten, zu bewegen und zu verändern. Es ist ein soziales Instrument, ein Instrument der Kommunikation zwischen den Körpern und Menschen auf der Bühne, denen, die körperlos und unsichtbar bleiben (Autor:innen, Regieteam, Technik etc.), und dem Publikum. Im Publikum verselbstständigt sich das Performte, es wird darüber geschrieben, diskutiert oder es wird weiter gedacht, interpretiert. Theater ist fluid, ein sich veränderndes Wesen, weil es zeitbezogen ist und weil es strukturell darauf angelegt ist, durch Leitungswechsel zum Beispiel, ist es in ständiger Veränderung, und das ist gut so. Der Dialog mit dem Publikum ist gnadenlos, wenn es wegbleibt, geht das Theater ein. Wir Theaterschaffenden müssen uns zwangsläufig damit befassen, ohne das Publikum macht das Stadttheater zumindest keinen Sinn. Und das ist gut, es ist gut, dass wir uns beziehen müssen auf etwas, dass es Pfeiler gibt, die uns im Weg stehen, die aber auch Halt geben, weil wir uns nicht verlieren. Wir sind zur Freiheit verdammt: Wir können unsre Köpfe gegen die Pfeiler schlagen oder einen Weg finden um sie herum. Die Grenze zwischen Kreativität und Macht ist manchmal schwer zu ziehen, oder anders gesagt: Grenzenlose Kreativität kostet und geht auf Kosten anderer, meistens bezahlen diejenigen, die in der Hierarchie weiter unten stehen. Das oft verfluchte Stichworttheater, das spießige, zähmt die Beliebigkeit, engt uns ein, zwingt uns zu Entscheidungen und Verbindlichkeiten.

Die Sicht des Publikums Wir sind nicht Netflix, wir müssen nicht das liefern, was das Publikum möchte, wir sollten immer ein bisschen mehr liefern, es darf niemals genau das sein, was wir erwartet haben, es sollte uns spiegeln, sollte lesbar sein, uns Raum geben, uns mitdenken lassen, uns überraschen und eben immer schon einen Schritt weiter sein. Und das Tolle ist, dass alles irgendwie funktioniert, dass es kaum etwas am Theater gibt, was nicht geht, eben weil es ein Netz ist und nicht flach, weil es Zeit und Raum betrifft und weil es über Zeit und den Raum hinausweist. In letzter Zeit sind alle meine assoziierten Theater regelmäßig ausverkauft. Als Zuschauerin war ich häufig in sehr vollen Sälen und habe mehrfach stehenden Ovationen beigewohnt. Es gibt Abende, an denen zumindest alle zentralen und größeren Berliner Theater ausverkauft sind; es fühlt sich eigentlich an, als wären wir auf einem guten Weg. Innerhalb der Theater wächst das Bewusstsein und die Wachheit für das System, für die Menschen darin, für die Marginalisierten und die Mächtigeren. In dieser kleinen Welt in der großen Welt können wir den Versuch wagen, so zu leben, wie wir wollen. Damit meine ich nicht diese brachiale „Ich mach mir die Welt, wie sie mir gefällt“-Floskel, ich meine, dass wir die Welt praktizieren, die wir uns wünschen. Und damit meine ich zuerst ein Miteinander, eine Arbeitsteilung, wechselseitiges Lernen voneinander und auch das, was wir sichtbar machen (und nicht die Dekoration der Welt, dass wir Makel kaschieren, indem wir sie abdecken). So wenig, wie mich Authentizität und Alltag auf der

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Diskurs & Analyse Serie: Warum wir das Theater brauchen #02

Premiere 10. März 23

Doña leleiibt ledigRosita oder ie Spra Sprache b

D

der Bl Blumen Federico García Lorca

Regie: Gisela Höhne Mit: Margari ta Broich, Juliana Götze, Nele Winkler u. a.

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Bühne interessieren, Hollywood und Fernsehen zeigen genug Optimiertes, am Theater kann es um uns gehen, um Menschen, nicht um eine Idee vom Menschen, nicht um eine global funktionierende Idee vom Menschen. Wir sind viel direkter, lokaler und nahbarer. Wir richten uns direkt an ein Einzugsgebiet, und das ist in Bayern etwas anderes als in Berlin oder im Ruhrgebiet. Wir können uns also als Menschen versammeln in einem Theater, eine Gesellschaft sein und leben, die wir uns wünschen: mit gegenseitigem Respekt, in verteilten Funktionen, jede Person macht das, was sie kann und unterstützt damit das Kollektiv, man vertraut der Expertise der anderen und weiß, dass der eigenen Expertise vertraut wird. Man schiebt sich gegenseitig den Berg hoch, man fängt sich auf, wenn man fällt. Diese heile Welt erträume ich mir und die erlebe ich auch immer wieder. In der heilen Welt kracht es auch, man trennt sich, weil man so ehrlich ist, dass man feststellt, man steckt fest. Man wird kritisiert, man wird nicht verstanden, man wird nicht besucht. Aber die Verantwortung, die wir tragen, bedeutet genau das, dass wir arbeiten müssen, dass wir überzeugen müssen, dass wir riskieren müssen – immer wieder aufs Neue. Das Kolonisieren, das irgendwo aufschlagen und sein Ding machen, ohne auf die Menschen und die Bedingungen vor Ort zu achten, das funktioniert nicht. Wir müssen immer wieder die Schnittmengen suchen aus unserem Ding und dem, was das Publikum bewegt. Wir müssen so erzählen, dass es zur Sache des Publikums wird. Das Publikum ist ja kein Monolith, es ist auch fluid und be-

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wegt sich und sucht. Theater ist Austausch, Kommunikation, sozial und es ist Kunst. Und es ist auch alles andere als paternalistisch. Das ist eigentlich das Schönste, dass sich dieses Gerücht langsam auflöst, dass diese Prinzipien von oben herab, das Kolonisieren, das Predigen, dass das langsam keine Kraft mehr entwickelt, dass das Wegschieben von Verantwortung langsam keinen Intendanten mehr auf dem Sessel hält und keinen Regisseur längerfristig interessant macht. Weil der Wertekanon sich verschiebt und weil Theater eben im Kollektiv auf Dauer besser funktioniert. Und nun doch zu dem, was auf der Bühne passiert, auch das verändert sich und ist beweglich, weil es immer eine Reaktion auf Zeitgeschehen ist und aus den Personen kommt, die es erzählen mit ihren Körpern und Biografien, ihrem Handwerk, ihren Interessen und ihrem Humor, ihrem guten oder schlechten Timing. Mich persönlich interessiert, wenn ich Theater mache, das nicht Bereinigte. Ich möchte nicht die heile Welt sehen, in der ich so gerne arbeiten möchte. Ich möchte mich mit dem Versäumten, dem Vergeblichen und auch dem Vergangenen befassen, weil es uns prägt und weil wir unsre Geschichte nicht vergessen sollten. Weil wir aufarbeiten müssen, weil eben nicht alles gut ist. Ich finde, dass wir den Kanon dafür nutzen sollten, uns zu überprüfen. Es geht nicht um die Beweisführung, dass etwas zurecht kanonisiert ist, es geht vielmehr darum, was der Kanon zementiert und was das über unsere Gesellschaft sagt. Oft klagen die Texte auch Dinge an, die jüngst in politischen Randbezirken als „gaga“ bezeichnet werden, als sinnentleerte Mode­ erscheinungen, die aber schon seit oft mehr als zweihundert Jahren die Menschen quälen. Kurz und flach gesagt: Klassiker so zu erzählen, dass die AfD keine Freude daran hat, kann schon ein politisch relevanter Beitrag sein. Dass wir uns sehr genau überlegen müssen, warum wir einen Klassiker auf die Bühne bringen und wie; dass wir uns sehr genau überlegen müssen, was ist pure Reproduktion von Missverhältnissen und wo wird es diskursiv, wo ist Raum für das Publikum, wo sind Leerstellen für Kritik, Fantasie, das ist ein sehr wichtiger Schritt in unserer Entwicklung. Theater ist eben ein Ort der Arbeit, der alberne Geniegedanke ist hoffentlich aus der Mode, die Zeichen stehen ganz gut, finde ich, es ist halt Handwerk und Geduld und Hartnäckigkeit und Präzision. Es ist das, was man daraus macht, ein Netz, ein Gebilde, das uns trägt, aber auch seine Gesetze hat, uns zu Umwegen zwingt. Es nervt mich ehrlich gesagt wahnsinnig. Und das ist auch gut so. T

Anne Lenk studierte Theaterwissenschaften in Gießen und Regie an der Otto-FalckenbergSchule München. Nach dem Abschluss 2007 begann sie ihre Karriere als Regisseurin am Theater Augsburg. Von 2018 bis 2020 war Lenk Hausregisseurin am Theater Nürnberg, daneben stachen vor allem ihre Arbeiten am Deutschen Theater Berlin heraus, so 2020 Moliéres „Menschenfeind“ mit Ulrich Matthes.

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Theater der Zeit

Report

Foto Gianmarco Bresadola

„Oasis de la inpunidad“, Regie Marco Layera, beim Festival Teatro a Mil in Santiago de Chile

Chile Fünfzig Jahre nach dem Militäputsch schaut das Festival Teatro a Mil in Santiago de Chile zurück Slowenien Die Performance-Szene in Ljubljana wartet mit einem Showcase auf

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Report Chile

„Oasis de la impunidad“, Regie Marco Layera, beim Festival Teatro a Mil in Santiago de Chile

Die wirkende Erinnerung Das Festival Teatro a Mil in Santiago de Chile zieht einen roten Faden des Putsches vor 50 Jahren durch sein Jubiläumsprogramm Von Thomas Irmer

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„Presente!“ schallt es kraftvoll mit Hunderten Stimmen durch den Saal, als Compañero Victor Jara von der Bühne aus aufgerufen wird. Die musikalische Inszenierung mit Liedern des Sängers, der im September 1973 während des Pinochet-Putsches im Stadion von Santiago de Chile ermordet wurde, hat ihren Höhepunkt erreicht. Ja, er ist anwesend, nicht vergessen, und das Publikum besteht durchaus nicht nur aus Veteranen jener Zeit. Jaras Werk, das vor allem aus Politsongs, Liedern über den Alltag einfacher Leute und der Bearbeitung der einheimischen Musikfolklore besteht, wird verehrt. Jara war aber auch Theaterregisseur und Schauspieler, ein Theatermann, der in den 1960er-Jahren das chilenische Theater mit Stücken seines Landsmanns Alejandro Sieveking, von Bertolt Brecht und Peter Weiss mit erneuerte. „La Población“ ist ein Album aus dem Jahr 1972, das hier mit einem großen Chor und Orchester von mehr als dreißig Leuten in großen Arrangements mit Ansprachen aufgeführt wird, von Valeria Peña wie ein inszeniertes Konzert auf die Bühne gebracht. Aus dem Bühnen-

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Fotos Gianmarco Bresadola

Report Chile himmel senkt sich eine Gitarre als großes Symbol des Sängers in den Saal, der als einer der Spielstätten des Nationaltheaters gleich gegenüber dem Präsidentenpalast La Moneda liegt, wo der Sozialist Salvador Allende am 11. September 1973 sich beim Eindringen der Putschisten das Leben nahm. „La Población“ ist nur eine der insgesamt 160 Produktionen des Festivals „Teatro a Mil“, das sich an dreizehn Theatern und Kulturzentren Santiagos (und darüber hinaus in anderen Städten) durch den gesamten Januarkalender zieht und heute als das wichtigste Performing-Arts-Festival von ganz Lateinamerika gilt. „La Población“ dürfte in der Erinnerung an den Putsch vor fünfzig Jahren der emotionalste Beitrag sein, aber es gibt auch einen ganz anderen Umgang mit dem Thema, der manchmal sogar überrascht. Auf jeden Fall bewegt sich etwas in der Erinnerungskultur zu diesem zentralen Ereignis der chilenischen, lateinamerikanischen und insgesamt westlichen Geschichte, und das Theater hat daran einen großen Anteil. Der offizielle Ort der Dokumentation des Putsches und seiner Folgen ist das 2010 von der damaligen Präsidentin Michelle Bachelet eröffnete Museum der Erinnerung und Menschenrechte, das in seinem modernen Kubusgebäude auf drei Etagen Zeugnisse aller Art und Medien präsentiert und so nicht nur den Nachvollzug der damaligen Geschehnisse ermöglicht, sondern auch über das System der Folter, den Alltag von Inhaftierten und die weltweite Emigration in Folge des Putsches informiert. Auch hier ist Victor Jara präsent, dessen letztes Gedicht „Estadio Chile“ im Boden des Eingangs zu lesen ist. Das bevorstehende Gedenkjubiläum ist auf einem riesigen Banner vor dem Haus angekündigt. Die Festivaldirektorin Carmen Romero Quero blickt mit der diesjährigen Ausgabe auf ein Doppeljubiläum, denn vor dreißig Jahren wurde das Festival in der ersten Phase der Redemokratisierung Chiles nach der Diktatur gegründet, und damit hängt für sie beides auch eng zusammen. Das Programm in seiner Breite solle alle sozialen Schichten ansprechen, und wenn die Besucher aus dem benachbarten Ausland und die professionellen Gäste (u.a. aus Spanien) vor allem nach den Highlights spähen, so bleibt doch das Anliegen des öffentlich-privat finanzierten Festivals ein möglichst offenes Angebot. Dafür allein steht schon die Spartendiversität, die neben Schauspiel, Tanz und Musiktheater auch frei zugängliche Events im öffentlichen Raum, Workshops oder vergnügliches Familientheater wie „31 Minuten: Don Quijote“ mit aus dem Fernsehen bekannten Puppen in der Art der MuppetsShow bietet. Der mit 37 Jahren noch junge Präsident Gabriel Boric hob bei einem Festivalempfang die große Nähe zwischen Kunst und Politik hervor, die Chiles Kultur positiv präge. Carmen Romero Quero hat ihn auch schon bei Vorstellungen begrüßen können und nennt das natürlich ein günstiges Klima. Das niedrige Alter von Präsident Boric gehört zu einem besonderen Phänomen des Landes, in dem junge Leute nicht allein demografisch gesehen sehr präsent sind. Eine Vorstellung von Alejandro Morenos Erfolgsstück „La amante fascista“ (Die faschistische Geliebte) läuft ausverkauft in einem 800-Plätze-Auditorium, in dem deutlich mehr als die Hälfte der Zuschauer:innen Jahrgängen nach 1990 angehören dürfte. Sie erleben den pro-

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vozierenden Monolog einer 50-jährigen Frau Spinosa (deutsch: dornig), die ihren im Ausland lebenden Mann und Offizier des ehemaligen Regimes erwartet, der nur noch zu militärischen Zeremonien der alten Garde zurückkehrt. Leider ist ihre eigene Uniform für diesen Anlass gerade nass geworden, was einen geradezu cholerischen Redeschwall gegen den Marxismus und alles, was ihr in der neuen Zeit nicht passt, auslöst. Gespielt von Paulina Urrutia, die in der Bachelet-Regierung Kulturministerin war, nimmt das junge Publikum die Absurditäten Spinosas in der Junta-Herrschaft wurzelnden Gesellschaftsverachtung mit Gelächter auf. Victor Carrascos Inszenierung von Morenos Stück, das in seiner sarkastischen Anlage von Diktaturverehrungsfeiern mit Thomas Bernhards „Vor dem Ruhestand“ vergleichbar ist, stammt zwar schon von 2010, aber für Carmen Romero Quero war die Wiedereinladung zum Festival ein Anliegen zum Doppeljubiläum. Denn diese andere Seite der Gesellschaft gibt es ja, auch wenn sie hier meistens nur verlacht wird. Andererseits ist Paulina Urrutias Gestaltung der faschistischen Geliebten mit ihrer Energie für dunkel hintergründigen Witz ein großes Fest der Schauspielerin. Ganz auf die Gegenwart zielt die Produktion „Jugar a la guerra“ der Compañia La Jeanette, mit der Juan Pablo Troncoso einen eigenen Text in Szene setzt. Die arbeitslose Schauspielerin Ana wird für einen Workshop mit Polizisten engagiert, die offenbar als

„Oasis de la impunidad“, Regie Marco Layera, beim Festival Teatro a Mil in Santiago de Chile

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Report Chile

Paulina Urrutias in „La amante fascista“, Regie Victor Carrasco

Undercover-Kräfte speziell geschult werden. Ein heikles Thema, denn ob die Kunst sich hier in den Dienst der Polizeigewalt stellt oder sogar zu deren Verbergung und Vertuschung beitragen wird, ist nicht leicht zu entscheiden. Auf der Bühne gibt es zwischen den so unterschiedlichen Beteiligten zunächst Fragespiele, die bis ins Publikum erweitert werden und dann – mit der Erwähnung von Folter und Gewalt - ins Schwarze zielen. Um einen Fall ganz konkreter Polizeigewalt und dessen bisheute laufender Verhandlung vor Gericht geht es in „Colina“ von Guillermo Calderón, einem der wichtigsten Dramatiker des Landes. Colina ist der Name eines bekannten Gefängnisses, in dem eine Gruppe von Leuten einem befreundeten Insassen, Carlos, Mut machen will. Zunächst deutet kaum etwas auf die tatsächliche Situation, man sitzt wie bei einem Gesellschaftsspiel um einen Tisch, und wer die darunter durchgereichte Perücke erhält, muss sie sich aufsetzen und eine Rede zum Thema Freiheit halten. Carlos ist zu einer langen Gefängnisstrafe verurteilt, und die Spielchen wirken albern. Doch dann wird der reale Fall Jorge Mateluna erkennbar, der als linker Aktivist 2013 unter dem Vorwand, an einem Banküberfall beteiligt gewesen zu sein, verurteilt wurde, mutmaßlich in einem Komplott zwischen Polizei, Staatsanwalt und Gericht, den man auch als alte Seilschaften im langen Schatten der Diktatur bezeichnen könnte. Zwar wurde das Urteil

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inzwischen aufgehoben und die Freilassung angeordnet, aber es laufen immer noch sensible Untersuchungen dazu, wie und durch wen das alles möglich war, mit entsprechenden Bemühungen, ob nicht besser überhaupt Stillschweigen darüber herrschen sollte. Anwälte haben die Theaterleute wissen lassen, dass sie nicht alles für ihre dokumentarische Aufarbeitung benutzen dürfen, die in einer kleinen Rückblende sogar bis ins Berliner HAU führt, wo der Fall Jorge Mateluna bereits 2016 in einer früheren Fassung von Calderons Stück vorgestellt wurde. Dass das Stück so arglos harmlos anfängt, kommt nicht von ungefähr, denn das folgt einer offensichtlich wirksamen Dramaturgie, bei der aus scheinbar unbeholfenen Theaterszenen – wie auch bei „Jugar a la guerra“ – plötzlich die Fragen nach der Wahrheit hervorbrechen. Calderóns von ihm selbst auf den neuesten Stand des Falls hin inszeniertes Stück läuft im Kulturzentrum Matucana 100, einem weitläufigen Fabrikgelände mit mehreren Spielstätten und Galerieräumen. In einer Videopräsentation wird dort Diego Cumplidos „Golpe a Golpe“ (Schlag auf Schlag oder Putsch um Putsch) gezeigt, die erstmals die Figuren Allende und Pinochet mit den Mitteln der Satire auftreten lässt. Als Parodie auf Telenovelas gibt es einen Haushalt um den verbissen korrekt in Uniform gekleideten Pinochet, der von einer animierten, stets freundlich wirkenden Allende-Puppe auf Trab gehalten wird. Selbst die Werbeunterbrechungen widmen sich noch den beiden, wenn in einer Rasierschaum bewerbenden Szene der Diktator nach seiner Morgenrasur feststellt, dass im Gesicht seines Kontrahenten in Sekundenschnelle ein Marx-Bart gewuchert ist. Vielleicht ist es an der Zeit, die traumatischen Erfahrungen auch so zu bearbeiten. Komisch ist es jedenfalls. Für die jüngere Generation ist ohnehin der September 1973 nicht der einzige Bezugspunkt, sondern es sind vielmehr die Demonstrationen vom Oktober 2019, die mit extremer Polizeigewalt und zahlreichen Verletzten und von daher sogar Versehrten die Frage nach dem Charakter der Demokratie in Chile stellen. Auch der äußerst harte Lockdown mit von der Polizei überwachten rigiden Ausgangssperren gehört zu den jüngsten Erfahrungen, wie Macht durchgesetzt wird und sich wenig hinterfragen lassen will. In diesem Kontext entfaltet Marco Layeras choreografisch-pantomimische Show „Oasis de la impunidad“, die letztes Jahr beim Berliner FIND-Festival uraufgeführt und an den Münchner Kammerspielen (jeweils als Koproduktion) gezeigt wurde, eine geradezu erschütternde Wirkung. In einer Art Museum tritt der als Polizist wirkende Aufsichtshabende, selbst hinkend wie ein Veteran, mit der Ansage auf, hier könne alles stattfinden, nur eben keine Demonstration. Es folgen Szenen kollektiver Gewalt und individueller Selbstfolterung, die immer wieder aus einem schreitenden stummen Chor mit übergroßen Ohren und aufgerissenen Augen hervorgehen. Layera inszeniert diese „Oase der Straflosigkeit“ als surreales Substrat von Gewalt und Mitmachschuld im Ganzen, zum Schluss wird eine nackte Frau mitten im Publikum abgelegt und damit ein normales Applausende verhindert. Der Abend, der auch im Matucana 100 lief, kann die verschiedensten Ansichten assoziieren und Gefühle provozieren. Beunruhigend dürfte er für alle sein, und es ist beim herausgehenden Publikum deutlich stiller als sonst.

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Report Chile

Fotos Courtesy Fundación Teatro a Mil

Für die jüngere Generation ist ohnehin der September 1973 nicht der einzige Bezugspunkt, sondern es sind vielmehr die Demonstrationen vom Oktober 2019, die mit extremer Polizeigewalt und zahlreichen Verletzten und von daher sogar Versehrten die Frage nach dem Charakter der Demokratie in Chile stellen.

Parallel zu der riesigen Apparatur des „Teatro a Mil“ gibt es auch noch ein Off-Festival mit ähnlich verästelter Struktur und kaum zu überschauendem Programmvolumen der zahlreichen Minitheater, Universitäts- und Community-basierten Gruppen, die sich jährlich einmal um einen staatlichen Zuschuss bewerben. Von dieser kleinteilig kurzfristigen Projektförder-Kultur möchte das inzwischen autonome Laboratorium Checoeslovaquia weg.

Es hat in der Randlage eines riesigen Neubaugebiets, das plötzlich in die Suburbia stiller Einfamilienhäuser übergeht, sich ein Quartier mit Probenräumen, Werkstätten und Residenzwohnungen aufgebaut. Sebastian de la Cuesta, der in verschiedenen Tanzcompagnien wirkte, sieht hier die Möglichkeit, in Chile etwas anders zu machen, nach eigenen Vorstellungen mit Tanztheater und neuen Performance-Formaten arbeiten zu können. Unabhängigkeit für die insgesamt achtzehn in dem Projekt fest Beschäftigten gewährt nicht nur das eigene Haus, das von den Nachfahren eines Deutschen erworben und umgebaut wurde, sondern mittlerweile auch das Geld, das man mit den Werkstätten in der lukrativen Zuarbeit für den südamerikanischen Ableger von Netflix erwirtschaftet. Ein vollkommen neues Modell, dessen künstlerische Arbeit vielleicht schon beim nächsten „Teatro a Mil“ ein Zeichen setzen wird. Zu „Golpe a Golpe“, diesem seltsam hintergründigen Spaß der Diktaturerfahrung, sagt Sebastian de la Cuesta am Eingang zum Bunker seines deutschen Vorbesitzers: „Na klar, das wurde hier gleich nebenan gedreht.“ Und meint, man solle doch aus anderen Gründen noch einmal kommen. Auch sein Haus mit dem exotischen Namen Checoeslovaquia sei „Presente!“ T

Der Victor-Jara-Abend „La Población“, Regie Valeria Peña

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Report Slowenien

Körper auf der Bühne Der Performance-Showcase in Ljubljana zeigt verschiedene Varianten eines Begriffs

„MandićCircus“ & „Mandić Circus (dressed)“ beim Showcase in Ljubljana Mitte „Extima: Fertile Soil“

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Fotos oben und unten Peter Uhan, Mitte Marcandrea

Von Nathalie Eckstein


Report Slowenien Vollkommen nackt betritt Marko Mandić die leere Bühne des slowenischen Nationaltheaters in Ljubljana. Sechs Techniker kippen ein Podest und den darauf stehenden Mandić. Damit kippen sie das Podest zu einer Ausstellungswand und den Schauspieler in den Abend hinein. Was folgt, ist die zweistündige Solo-Performance „Mandić Circus“ in der Regie von Bojan Jablanovec. Mandić, in Slowenien ein Star, rezitiert aus Texten der Stücke, die er in seiner seit zwanzig Jahren äußerst erfolgreichen Karriere gespielt hat. Er wird zum Wolf, zum gefallenen Engel, zur unglücklichen Frau. Die Wechsel vollzieht er schnell, routiniert und zeigt dabei sein exzellentes schauspielerisches Können. Er jagt durch die Texte in der Reihenfolge, in der er die Rollen in den jeweiligen Inszenierungen gespielt hat. Dabei ist der Text für die Performance so klug zusammengestellt, dass er auf einer Metaebene zu einer Abhandlung über Schauspielkunst, über Kunst als solche und über Mandić selbst wird. Eine besondere Schleife zieht er, als er aus „Viva Mandić “, einer Solo-Performance über seinen beruflichen Erfolg aus dem Jahr 2009, zitiert. Auf der Ausstellungswand als Leinwand hinter ihm laufen im Video die Titel der zitierten Texte (Video Matej Stupica, Stella Ivšek, Jure Lavrin) zu einem bassigen White-Noise (Musik Samo Kutin), beginnend im Jahr 1995 mit „The Indian Wants The Bronx“ und „Iphigenie“ über seine großen Erfolge Anfang der Zweitausender als John Tinker in „Gesäubert“ und als Christian in „Das Fest“ am Slowenischen Nationaltheater bis zu Heiner Müllers „Zement“, das 2021 Premiere hatte. Die Performance gibt es in zwei Varianten. In „Mandić Circus“ wirft sich der Performer immer wieder vollkommen nackt gegen die Holzwand, um die Szene – und den Titel als Video auf der Leinwand – zu wechseln, der Schauspieler steht allein mit seinem Körper und seiner Kunst da, stellt seinen Körper und sich gänzlich aus. In „MandićCircus (dressed)“ hat er Kostüme und Requisiten aus den jeweiligen Inszenierungen, mit denen er spielt. Was in der „dressed“-Version in der Mala Scena, auf der kleinen Bühne des Hauses, noch ironisch und lustig ist, bekommt am nächsten Abend ohne Kostüm eine große Dringlichkeit. Das alles hat einen bestimmten Grad an Egozentrik, an Ex­ hibitionismus. Mandić gelingt es aber, selbst damit noch zu kokettieren. Dass Mandić ein Ausnahmekünstler ist, ist unbestreitbar. Alles, was er tut, tut er mit vollem Körpereinsatz, seine Augen werden rot beim Spielen, der Schweiß und das (Kunst-)Blut laufen in Strömen an den Abenden. Was er aber auch zeigt: Wie routiniert der Wahnsinn ist, wie gleichsam methodisch sein Humor und seine Verführungskunst für das Publikum sind. Zum Showcase nach Ljubljana eingeladen hatte Via Negativa, eine Plattform für zeitgenössische Performancekunst. So beschränkt sich das Programm des Wochenendes auch räumlich keineswegs aufs Theater: Es gibt unter anderem eine Performance der beiden Schauspieler Satya Bhabha und Jonathan Bonnici zur Frage nach Fiktion und Realität, die Tanzperformance „The Kiss“ von Kristina Aleksova, in der der Kuss zu einem performativen Ereignis wird, beides in einem kleinen Kulturzentrum zu sehen,

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Dass Mandić ein Ausnahmekünstler ist, ist unbestreitbar. Alles, was er tut, tut er mit vollem Körpereinsatz, seine Augen werden rot beim Spielen, der Schweiß und das (Kunst-)Blut laufen in Strömen an den Abenden. Was er aber auch zeigt: Wie routiniert der Wahnsinn ist, wie gleichsam methodisch sein Humor und seine Verführungskunst für das Publikum sind.

sowie einen immersiven Multimedia-Stadtsparziergang zur Frage nach Clubkultur und Hypes. Es fällt vor allem eine Gallery-Performance auf. „Extima: Fertile Soil“ findet im MSUM, der Galerie für Zeitgenössische Kunst, statt. Nachdem zwei Männer auf einer Folie säen, kriecht eine Gruppe nackter Frauen unter die Folie, friemelt kleine Löcher hinein, aus denen dann Gemüse wächst: Salat, Lauch, Gurken. Dass das die Ausbeutung nicht nur von Frauen*, sondern auch des Bodens genauso wie weiblicher und indigener Wissensproduktion bebildern soll, ist sinnfällig. Unklar bleibt, wie der Schluss der Performance von Olja Grubić, in dem die Frauen scheinbar Bilder gebären, die dann als Kunst an die Wände des Museums gehängt werden, zu erklären ist, außer durch ein reaktionäres Verständnis von Feminismus und Nation-building. Verschmelzen bei Mandić der semiotische Körper und der phänomenale Leib des Schauspielers nicht zufällig, vielschichtig reflektiert, im Text angelegt und gar ironisch gebrochen, belässt es die Gallery-Performance dabei, die Körper der Frauen als Träger reaktionärer Zeichen eines Weiblichkeitsbegriffs zu fassen, die eine Ideologie von Fruchtbarkeit, Geburt und Natur transportieren. Damit werden die Frauen in der Illustration der Verhältnisse selbst instrumentalisiert und dazu gezwungen, diese zu kolportieren. Das Programm von Via Negativa an diesem Wochenende ist ambitioniert. Alle Veranstaltungen wurden produziert von Špela Trošt, die in Philosophie und visueller Theorie promoviert hat. Den hohen intellektuellen Anspruch merkt man nicht nur dem Festival an, sondern der ganzen kleinen Szene in Slowenien, ist doch niemand anderes als Slavoj Žižek, Sloweniens bekanntester Intellektueller, nun auch am Münchner Residenztheater, mit einer „Antigone“ in der Regie von Mateja Koležnik, produktiv gemacht fürs Theater (siehe S. 6). Währenddessen steckt Slowenien in den Vorbereitungen des Gastauftritts bei der Frankfurter Buchmesse im Herbst. Das politische Klima in den letzten Jahren war stürmisch. Während der Präsidentschaft des Rechtspopulisten Janez Janša von März 2020 bis April 2022 wurden Gelder und Stellen für die Vorbereitung gekürzt. „Es war eine Katastrophe“, sagt die Dramaturgin und Kuratorin Alja Predan im Gespräch. Hinzu kommen die Folgen von Corona. Das ist eine schwierige Ausgangslage für das kleine Land. Nun bleibt nicht mehr viel Zeit. T

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Digital

Neuerscheinungen aus dem Verlag

All you can read Lesen Sie unsere Bücher und Magazine online und entdecken Sie Assoziationen zum Thema aus unserem großen Verlags­archiv mit mehr als 8000 Texten. tdz.de/streaming

Das ganze Theater Musiktheater, Puppenspiel, Zirkus, Tanz, Kindertheater u. v. m.

Der Band „backstage HÜBNER“ gewährt bemerkenswerte Einblicke

Podcast Lina Wölfel und Stefan Keim sprechen im neuen TdZ-Podcast „Wölfel & Keim & Theater“ über aktuelle Streitthemen und Fragen der Theaterkritik. Diskutieren Sie mit auf Instagram, Facebook und Twitter. tdz.de/podcast

Newsletter-Updates Mit dem Verlags-Newsletter können Sie Neuerscheinungen des Verlags lesen, noch bevor sie aus dem Druck kommen. Der MagazinNewsletter erscheint monatlich und stellt die neue TdZ-Ausgabe, Kritiken und aktuelle Dossiers vor. tdz.de/newsletter

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Charly Hübners Gesprächsbiografie Wir entscheiden uns für Leichte Mädchen. Sie sind süß und rund. Zum Anbeißen. So, wie man es an etwas anrüchigen Orten erwartet. Im Areal von Fischhallen und Fast Food, das den Blick auf die Elbe versperrt, wirken sie doppelt fein. Hinter uns, ein paar Steintreppen hoch, der Stadtparkmüll, vor uns diese beton- und blechgraue Hafen­ handelsstimmung, und da inmitten des Geruchs von Arbeit und Wasser, fast wie ein Teil einer Fabrikhalle oder eines Schiffsdecks, das „Schmidtchen“, eines der besten Cafés von Hamburg. DIE KELLNERIN: „Sind Sie nicht so ein Schauspieler?“ CHARLY HÜBNER: „Hm.“ DIE KELLNERIN: „Und was machen Sie dann hier?“ CHARLY HÜBNER: „Auch Schauspieler müssen ja mal was essen.“

Pause. Sie ist überzeugt und nimmt unsere Bestellung auf: zwei Leichte Mädchen, diese sehr besonderen Himbeertörtchen. (…) Er kann in seinem Spiel bravourös stutzig sein, brummig stupide oder liebenswert betriebsselig, er kann mit Leib und Seele nach der Welt greifen und seinen plebejischen Realitätssinn wie selbstverständlich mit dem Grotesken kurzschließen: Charly Hübner, Gastwirtssohn aus Feldberg-Carwitz, Jahrgang 1972. Theater hat er wie manisch gespielt, Frankfurt am Main, Zürich, Köln, Einsatz ist alles; Fernsehen schien ihn dann noch manischer zu machen. So mählich wie unaufhaltsam sind Filme zum Hauptrollengebiet geworden, Theater wurde infolgedessen zum mehr und mehr wählerischen Part dieser künstlerischen Biografie.

backstage HÜBNER Von Hans-Dieter Schütt 184 Seiten, zahlreiche Abb. € 18 (print) € 14,99 (digital)

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Fotos: Birgit Hupfeld (Podcast), Heike Blenk (Charly Hübner), Maxim Gorki Theater (Maxim Gorki Theater), Roland Kaiser (x-mal Mensch Stuhl)

tdz.de/sparten


99 Perspektiven auf das Gorki Theater Siebzeig Jahre Maxim Gorki Theater! Zwanzig Jahre postmigrantisches Theater – neun davon am Gorki! Anlässe genug für 99 Zwischenrufe. Wegbegleiter*innen, Besucher*innen und Genoss*innen des Gorki Theaters blicken zurück und schauen voraus, darunter Fatih Akin, Nele Hertling, Barrie Kosky, Cem ­Özdemir, Philipp Ruch, Deniz Yücel uvm. Es geht um Kunst und Kämpfe, das Haus und die Stadt, persönliche Geschichten und den Willen, Geschichte persönlich zu nehmen. 99 Stimmen, 99 individuelle Perspektiven auf das Gorki Theater der vergangenen neun Jahre. Auf das Arbeiten, Wirken und Weitermachen. Eine Dokumentation dessen, was vor, auf und hinter der Bühne des Gorkis passiert. „Zeitgenoss*in Gorki“ ist ein Buch für die Zwischenzeit. Eine Sammlung von Momentaufnahmen, eine Feier des Augenblicks. Zugleich ist es auch ein Fotobuch mit Fotografien von Esra Rotthoff, Ute Lang­kafel, Lutz Knospe und anderen. Zeitgenoss*in Gorki Zwischenrufe Shermin Langhoff, Lutz Knospe (Hg.) Paperback mit 416 Seiten € 25 (print + digital)

Ein prachtvoller Jubiläumsband feiert 70 Jahre Maxim Gorki Theater in Berlin

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Vorschau TdZ on Tour Eine Auswahl an Veranstaltungen, die wir mit unseren Partnern or­ganisieren. Eintritt frei für TdZAbonnenten (abo-vertrieb@tdz.de) MITTWOCH, 8.3. Alter(n) in der Darstellenden Kunst FFT Düsseldorf DIENSTAG, 11.4. Hans-Dieter Schütt: B. K. Tragelehn – Im Sturz . Sag Ja. Geh weiter. Berliner Ensemble „x-mal Mensch Stuhl“, Bordeaux 2004

Altern im Kunstbetrieb? Aufgrund der sich verändernden Altersstruktur unserer Gesellschaft verändert sich auch die Perspektive auf den Begriff „Alter“. Welchen Einfluss hat das Alter(n) auf die Darstellenden Künste? Wie wirkt sich das Alter eines Künstlers bzw. eines Werks auf die Akzeptanz im Kunstmarkt aus? Wie steht es um die Alterssicherung? Welche strukturellen Hindernisse und Diskriminierungen gilt es zu überwinden und wie sehen generationengerechte Lösungen und Förder­ konzepte aus? Aus Anlass des 25-jährigen Jubiläums ihres Projektes „x-mal Mensch Stuhl“, das den alten Menschen in der Gesellschaft ins Zentrum stellt, entwickelte das Künstlerduo Angie Hiesl + Roland Kaiser die Idee, sich mit diesen Fragen in einer Interviewreihe und einem Symposium zu befassen. Dieser Band greift die Themen des Symposiums auf und führt sie mit weiteren Fachbeiträgen fort. Buchpremiere: 8.3. , FFT Düsseldorf

Recherchen 162 WAR SCHÖN. KANN WEG … Alter(n) in der Darstellenden Kunst Angie Hiesl, Roland Kaiser (Hg.) € 18 (print), € 15,99 (digital)

DONNERSTAG, 13.4. Hans-Dieter Schütt: backstage HÜBNER. Mit Charly Hübner und Hans-Dieter Schütt Volkstheater Rostock Weitere Termine unter tdz.de/on-tour

Bücher in Planung Texte zur neuen Dramatik 40 Jahre Kampnagel Rampe Stuttgart Martin Zehetgruber. Bühnen Arbeitsbuch Johan Simons

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Verlag Theater der Zeit Vorabdruck Welche Inspiration, welche Kraft, welche Ideen und welche Praxisformen können aus der Kunst heraus für das soziale Handeln unserer Gesellschaft und ihrer Institutionen bedeutsam werden? „Dazwischengehen! Neue Entwürfe für Kunst, Pädagogik und Politik“ versammelt Beiträge von Akteur*innen, die in Kunst, Wissenschaft, Philosophie, Pädagogik und Wirtschaft eigensinnige Wege gehen, künstlerische Praxen gesellschaftlich und historisch zu verorten suchen und soziale Gegenwart aus einer möglichen Zukunft heraus denken. Der Textauszug aus dem Beitrag des Dokumentarfilmers Thomas Heise zeigt die besondere Form der Annäherung an seine Protagonist*innen. Das Buch vereint Beiträge u. a. von Armen Avanessian, Augusto Corrieri, Simone Hain, Claudia Hummel, Isabell Lorey, Thomas Heise.

Alle Brücken abbrechen – in die Dorfkneipe gehen – Bier trinken – abwarten

Filmstill © öFilm

Von Thomas Heise

STAU – Jetzt geht’s los, 1992.

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Um einen Film zu machen, begebe ich mich zusammen mit meinen Protagonisten in eine Situation und beobachte, was zwischen und um uns herum passiert. Diesen Vorgang kann ich nicht in irgendeine Richtung lenken, sondern ich schaue, folge dem, was da ist, und reagiere auf das, was im Moment passiert. […] 1992 habe ich STAU, einen Film über junge Rechte, gedreht. Der Film wurde in Sachsen-Anhalt gedreht, weil das Land Sachsen-Anhalt das Geld dafür gegeben hat. Dadurch war kein Fernsehsender dabei und es gab es keine Wünsche einer ­Redaktion. Mir ist für den Ort der Handlung die Stadt Halle und dort die Neustadt eingefallen. Die kannte ich noch von früher; da war ich öfter gewesen, auch als Jugendlicher hingetrampt. Ich hatte eine Kneipe recherchiert. Das war der ehe­ malige FDJ-Jugendclub am Rande der Neustadt, kurz vor der Autobahn. Jetzt waren die rechten Jugendlichen im Roxy. Dann habe ich überlegt: „Was mache ich denn jetzt, wie komm‘ ich mit denen ins Gespräch?“ Ich habe mein Auto ein bisschen weiter weg geparkt. Auf dem Weg zum Jugendklub habe ich dann auf der Straße eine Frau überholt, die mir hinterherge­ rufen hat: „Wollen Sie auch zum Roxy?“ Ich sagte „Ja.“ Sie hat mich gebeten, ihren Sohn, der da drin war, mal schnell für sie rauszuholen, weil sie sich nicht reintraut. Das war toll für mich, jetzt hatte ich einen Grund. Ich ging also hinein und an den Tresen und fragte: „Wo ist denn hier der Soundso, seine Mutter ist hier.“ Und ihm sagte ich dann, „Deine Mutter ist draußen – kannst du mal rauskommen?“ Und dann stand ich weiter am Tresen, habe noch drei Bier getrunken und bin wieder gegangen. Am nächsten Tag bin ich wieder hin, zur gleichen Zeit. Das habe ich so lange gemacht, bis mich einer angesprochen hat. Ich hatte nichts gefragt oder Guten Tag gesagt – mir hat schließlich jemand Guten Tag gesagt. Eines Tages stand Holli am Tresen, der Zahnschmerzen hatte, und darüber kamen wir ins Gespräch. Ich ging immer wieder hin und habe mich eben öfter mal unterhalten, aber immer beobachtet und zugehört. Es war ziemlich wahnsinnig, was da manch-

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mal ablief, aber gut, das musste man an sich abperlen lassen. Nach ungefähr drei Wochen fragte Holli: „Was machst‘n du hier?“ Ich sagte: „Na ja, ich überlege, ob ich hier einen Film drehe.“ Und dann war unser Gespräch wieder zu Ende. Es hatte schon diverse Reportagen gegeben, unter anderem auch über das Roxy. Da wurden die Jugendlichen als gewalttätige Untergrundarmee beschrieben. Das hatte aber nichts mit der Realität von Sachsen-Anhalt zu tun. Sie haben mir erzählt, dass sie dem Journalisten, der den Film gemacht hat und mit Personenschutz erschienen war, verscheißert hatten. Sie hatten sich Palästinensertücher um die Köpfe gewickelt, dass man ihre Gesichter nicht erkennen konnte, und angegeben. Darauf waren sie stolz. Aber das Gespräch war erst mal zu Ende und ich sagte dann: „Moment, es ist ja noch gar nichts passiert. Ich kann euch erst mal einen Film von mir zeigen, und dann werden wir sehen. Ich zeigte ihnen Eisenzeit. Danach haben sie beraten und dann haben sie Ja gesagt. Während des Filmens stelle ich im Grunde Spielmaterial her. Dann sitze ich am Schneidetisch und schaue, was ich eigentlich gemacht habe. Es ist natürlich nicht beliebig – mal hier drehen, mal da drehen. Es gibt Regeln. Peter Badel, mein Kameramann, mit dem ich sehr viele Filme gemacht habe, erzählt immer: „Der Heise, der sperrt einen ins Lager. Da muss man drinbleiben und darf nicht nach Hause. Man muss drinbleiben, bis der Film ab­ gedreht ist.“ Ich organisiere den Film nicht um angenommene Höhepunkte herum, sondern fahre hin und bleibe 25 bis 28 Drehtage. Was ich in der Zeit nicht kriege, das ist nicht da. Damit muss ich auskommen. Ganz einfach: Man baut einen Käfig, und innerhalb des Käfigs kann man sich dann frei bewegen. Konrad, der später auch im Film eine wichtige Rolle spielte, auch in den Folgefilmen, hatte zugesagt, dass wir mit ihm drehen könnten. Aber als wir dann vor der Tür standen, hat er die Tür nicht ­aufgemacht. Ich wusste, er ist drin. Wir haben uns auf die Treppe gesetzt und drei Stunden gewartet, ohne Terror, denn irgendwann musste er ja rauskommen.

Kam er auch. Und dann habe musst du uns ich gesagt: „Wir haben eine Verab­ redung, und wenn du nicht willst, dass wir bei dir drehen, dann rausschmeißen. Aber einfach die Tür zulassen, das geht nicht.“ Da hat er uns reingelassen. Dann waren wir drin und haben gedreht, wie er einen Kuchen bäckt. Am Anfang weiß ich nichts, ich gehe einfach hin. Wenn ich einen Auftrag habe, egal ob von mir selbst oder von jemand anders, dann muss ich dafür sorgen, dass ich nicht mehr zurückkann. Ich breche wirklich Brücken ab. Das hat was damit zu tun, dass ich mich in Bewegung setzen muss. Ich muss mir selber einen Tritt in den Hintern geben, denn ich fürchte mich vor der Anstrengung. Mit der Mutter vor der Kneipe hatte ich Glück. Ich wäre auch ohne sie da reingegangen, aber das wäre vielleicht schwieriger gewesen oder zumindest anders. Ich habe mich der Sache einfach ausgesetzt, wenn man so will. Und das habe ich später immer wieder so betrieben, immer variiert. T

Recherchen 166 Dazwischengehen! Neue Entwürfe für Kunst, Pädagogik und Politik Herausgegeben von Regina Guhl, Dorothea Hilliger und Mirko Winkel Paperback mit 228 Seiten Erscheint im April 2023 Verlag Theater der Zeit € 22 (print), € 17,99 (digital)

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Magazin Zürich

Gestörtes Vertrauensverhältnis Zum Ende der Intendanz von Nikolas Stemann und Benjamin von Blomberg in Zürich Von Martin Wigger

Ankündigungsfoto von „Sonne, los jetzt“

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Das Schauspielhaus lud zum Publikumsgipfel

Der Start Die Eröffnung dieser neuen Intendanz mit von Spiegel und Plüsch entkerntem Pfauen­ foyer war fulminant und wird lange in Erinnerung bleiben! Ein offener und neugieriger Empfang auf beiden Seiten, bei der sonst eher spröden Stadt genauso wie beim zugezogenen Team. In Erinnerung: Christopher Rüpings „Der erste fiese Typ“ mit Schauspielerinnen wie Maja Beckmann und Henni Jörissen, die in ihrem Spiel einen so unmittelbaren Bezug zum Publikum auf­ nahmen, wie schon lange nicht mehr erlebt. Auf einmal fühlte man sich direkt angesprochen, das Haus war wieder mit Energie gefüllt. Acht neue Hausregisseur:innen mit ihren unterschiedlichen Handschriften, ihren jeweiligen Spieler:innen, zwei charmante und stets präsente Intendanten, die Stadt wieder versammelt im Foyer, dazu viel neues und vor allem junges Publikum – zunächst sah alles nach Liebe auf den ersten Blick aus.

Die Pause Gefühlt befindet sich das Schauspielhaus Zürich gerade in seiner zweiten richtigen Spielzeit, denn schon nach gut einem halben Jahr war die erste Spielzeit beendet, zwei weitere folgten mit ebenfalls starken Auflagen und Beschränkungen. Unglücklicher hätte es für ein Haus nicht verlaufen können, das gerade erst gestartet ist. Auf einmal war Pause – und die gute Energie vergessen. Flüchtige Online-Projekte wie an allen anderen Häusern auch; leider waren die mehrteiligen Corona-Festspiele des Co-Intendanten Stemann nicht wirklich ein Knüller. Und der Eindruck bleibt bis heute: Es wäre grundsätzlich mehr möglich gewesen.

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Fotos links Philip Frowein, oben und rechts Sabina Boesch

„Sonne, los jetzt“ die Jelinek-Uraufführung in Zürich

Vor knapp einem halben Jahr gab es hier in Theater der Zeit (9/22) von demselben Verfasser dieser Zeilen eine Lobeshymne auf die Arbeit im Schauspielhaus Zürich unter der Intendanz Blomberg/Stemann. Groß war die Begeisterung über die neue Ausrichtung und das spürbar andere Publikum in Pfauen und Schiffbau – und noch immer gilt, dass diese radikale wie schnelle Veränderung beispiellos ist und die Augen für mögliche neue Formen von Stadttheaterarbeit geöffnet hat. Nun ein halbes Jahr später fast schon der Abgesang: Denn das Intendantenduo wird über die Spielzeit 2023/24 hinaus nicht verlängert. Die Nachricht ist in Zürich nicht nur in Kulturkreisen wie eine Bombe eingeschlagen. Trotz heftiger Pressedebatten (vor allem über Gelder) hatte niemand erwartet, dass hier so abrupt der Stecker gezogen würde. Was passiert ist, lässt sich nicht einmal im Statement des Schauspielhauses Zürich auf eine Formel bringen. Offenbar ist das Vertrauensverhältnis zwischen Intendanz und Verwaltungsrat komplett zerrüttet. Die politische Ebene der Stadt hatte sich stets für die Verlängerung ausgesprochen, wenn auch nicht für eine gewünschte Subventionserhöhung um zwei Millionen Euro. Was also schreiben über ein derart unerwartetes Ende, wenn es nicht um Finan­ zen, nicht vordergründig um Politik, sondern um Störungen hinter den Kulissen geht, die eher wie Befindlichkeiten anmuten statt wirklicher Auseinandersetzung um die Kunst? Ein gestörtes Vertrauensverhältnis. Vielleicht lässt sich hier etwas nachempfinden. Ein ähnlicher Vorwurf übrigens auch von einem größeren Teil des zumeist älteren P ­ ublikums, das bislang die Basis dieses immer schon eher traditionellen Theaters war. Was ist wann und wo schiefgelaufen? Werten wir an dieser Stelle nicht sofort, sondern begeben wir uns der Reihe nach auf Spurensuche.


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Charly Hübner – eine Biografie in Gesprächen

An dieser exponierten Stelle eines Stadttheaters und mit seinen vielen neuen Menschen. In Erinnerung: ein Schreiben des CoIntendanten Blomberg, das in Plakatform an allen Tramstationen der Stadt um die Treue des Publikums warb. Mit vielen Worten, weniger mit Taten.

Der Neustart Wie gesagt: Gefühlt gab es eine zweijährige Pause. Und die Fortsetzung mit einem nicht mehr eingeschränkten Spielbetrieb seit letztem Herbst. Macht unterm Strich gut ein Jahr regulärer Spielbetrieb. Nun konnte gerade Stemann mit seinen Inszenierungen „Ödipus Tyrann“ oder Jelineks „Sonne, los jetzt“ regelrecht punkten. Aber eines fällt immens auf: Die großen Ensemblestücke an diesem Haus fehlen. Über-

Der Publikumsgipfel Ja, auf einmal ging es wirklich schnell. So, wie es passieren kann, wenn sich eine Seite plötzlich ungeliebt fühlt. In diesem Fall war die Stadt die ungeliebte. Viele Abos wurden gekündigt, vor allem das ältere und frühere Stammpublikum des Schauspielhauses glaubte sich ausgeschlossen. Erbarmungslos war die Presse, allen voran die rechtskonservative Neue Zürcher Zeitung. In Erinnerung: der Publikumsgipfel Ende Januar, zu dem das Schauspielhaus geladen hatte und bei dem – völlig nachvollziehbar – zwei Intendanten sich nur noch rechtfertigten. Und auch hier: Ein Ensemble war nicht wirklich zugegen. Eine Dramaturgie kam kaum zu Wort, sogar das Publikum nur sehr beschränkt. Dafür erneut viele Worte und das Versprechen der Intendanz, unter anderem bald größere Ensemblestücke zu präsentieren. War das glaubwürdig? Wurde hier überhaupt noch im Sinne eines ganzen Hauses gesprochen? War da erkennbar nicht manches nur noch selbsterklärend für das eigene Überleben?

„Das Buch ‚Backstage Hübner‘ ist Unterhaltung auf höchstem Niveau. Die Fragen wie auch die Antworten sind ebenso klug und hintergründig wie lustig und schlagfertig.“ Juliane Voigt, NDR Kultur backstage HÜBNER Von Hans-Dieter Schütt 184 S., zahlreiche Fotos ISBN 978-3-95749-430-6 EUR 18,00 (Paperback) Verlag Theater der Zeit

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PERFORMANCE 30.3. + 31.3. fft-duesseldorf.de

© Les Chercheurs

haupt: Es kommt einem als Zuschauer mitunter so vor, als stünden die Spielenden gar nicht im Vordergrund. Zudem gab es Gerüchte in der Stadt, dass die meisten der acht Hausregisseur:innen nicht mehr vor Ort lebten. Selbst Alexander Giesche, der sich noch am meisten mit Zürich vernetzte, längst wieder daheim in München. Und es fällt auf: Die Intendanz formuliert ihr Motto stärker divers-programmatisch, als es tatsächlich auf der Bühne stattfindet. Immer wieder gibt es größere Lücken im Spielplan. Ist das wirklich nur den CoronaNachwehen geschuldet? Dann in Erinnerung: Christopher Rüpings nicht unbedingt gelungene Inszenierung „Border“, in der die tolle Maja Beckmann aus dem geglückten Neustart nun ihren Weggang zelebrierte; lange klagend, dass sie in Zürich mit ihrer Arbeit und ihrem Privatleben nie wirklich angekommen sei.

LA FLEUR

Der Publikumsgipfel Ende Januar

Fairplay geht in jedem Fall anders. Man habe sich nicht auf eine gemeinsame betriebswirtschaftlich-strategische Ausrichtung verständigen können, so der Präsident desVerwaltungsrats Markus Bachofen. Knallhart wurde den beiden Intendanten das Vertrauen entzogen. Nein, liebe Zürcher Presse, sie haben sich nicht „verrannt“, sie hatten keine Chance mehr gegenüber ihrem eigenen Verwaltungsrat, der sich auch stolz und mutig hinter das begonnene Experiment hätte stellen können. Das, was hier passiert ist, macht Angst. Nach dem Marthaler-Debakel 2004, das bis heute ganz Zürich bereut, erneut eine Entscheidung, ohne um die bessere Alternative zu wissen. Denn wie soll es weitergehen nach all dem, was hier am Schauspielhaus in den letzten vier Jahren ausgelegt und international wahrgenommen wurde? Welche Person traut sich zu, anzuknüpfen und gleichzeitig doch wieder zurückzugehen – ohne in Sorge zu sein, genauso schnell vom eigenen Verwaltungsrat geopfert zu werden? Zürich ist kulturell ein hartes Pflaster, dafür braucht es keine weiteren Beweise. Experimente sind hier zwar grundsätzlich möglich, aber man möchte sie lieber gleich fertig einkaufen und nicht erst gemeinsam entwickeln müssen. Weder mit dem Haus noch mit dem Publikum. T

LES CHERCHEURS

Das Danach


Magazin Buch

Wie sich Regie in der Dokumentation zeigen lässt Von Thomas Wieck

Weitere Buchrezensionen finden Sie unter tdz.de

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minutiös vorbereitet werden, das Regiebuch uferte zum Inspizientenbuch und Beleuchtungsplan aus. Artur Kutscher relativierte dementsprechend: „Das eigentliche Arbeitsfeld des Regisseurs ist die Probe. Das fruchtbarste bei den Proben ist der Zusammenstoß schöpferischer Energien an einem Werk, des Regisseurs mit dem Dichter, des Regisseurs mit den Schauspielern, des Schauspielers mit dem Dichter und dem Regisseur und der Spieler untereinander.“ (1936/1949) Spätestens durch Dietrich Steinbecks „Überlegungen zur Dokumentation von Theaterkunstwerken“ (1970/1972), geschrieben unter dem Eindruck der Modellbücher Brechts, die keine Regiebücher sind, wurden nun die vorliegenden Regiebücher wissenschaftsmethodisch in das grundlegende theaterwissenschaftliche Verfahren der analytischen Inszenierungsdokumentation einbezogen und dementsprechend kontextualisiert. Derartige Dokumentationen wurden, in durchaus sehr unterschiedlicher Qualität, vom Theaterverband der DDR schon ab 1968 initiiert und in einigen Fällen publiziert („Theaterarbeit in der DDR“). Der Bestand wurde vom Archiv der Berliner Akademie der Künste übernommen, das sich auch um die Fortsetzung der Erarbeitung von Inszenierungsdokumentationen bemüht. Es befremdet deshalb schon, wenn ­Peter W. Marx behauptet, dass „ein Blick in die Archive [zeigt], dass aus historiographischer Sicht der Wert der Regiebücher in ganz neuer Weise neu zu entdecken“ wäre, nämlich „als eine Möglichkeit, heterogene Archivalien mit Blick auf eine spezifische ­Inszenierung zu bündeln und zu sortieren“. Das ist längst Usus in einer zur Selbstreflexion fähigen Theaterpraxis. T

„Das Regiebuch. Zur Lesbarkeit theatraler Produktionsprozesse in Geschichte und Gegenwart“ Hg. v. Martin Schneider, Wallstein Verlag Göttingen 2021, 447 Seiten, 39, 90 €

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Fotos

Den Prozess lesen

Besorgt um ihre aktuelle Reputation sucht die germanistische Philologie unentwegt nach unerschlossenen, frisch zu kommentierenden und – wichtiger noch – editionswürdigen Texten. Dabei stieß sie in den letzten Jahren auf die theatereigene Textsorte Regiebuch. „Regiebücher stellen zugleich den prominentesten Dokumententyp im Kontext der Theateraufführung dar.“ (Katrin Henzel) Erste Ergebnisse der Beschäftigung mit dieser Textsorte präsentiert der Band „Das Regiebuch“, der die Beiträge einer Konferenz zu diesem Thema aus dem Jahre 2020 versammelt. Einzelne Beiträge sind durchaus interessant, doch der Band insgesamt vermittelt ein schiefes Bild der Forschungslage. Denn entgegen der übermütigen Verlagsankündigung „Regiebücher aus verschiedenen Jahrhunderten erstmals in Kontext gesetzt: ein neuer Zugang zur Theaterforschung!“ ist die Textsorte Regiebuch in ihren historischen Erscheinungsformen und unterschiedlichen Funktionen spätestens seit 1905 (Eugen Kilian) für die deutsche Theaterwissenschaft Gegenstand kritischer Reflexion. Jörg Krämer beschreibt theaterpraktisch und theaterhistorisch solide untersetzt in seinem Beitrag „Perspektiven der Erforschung von Musiktheater-Regiebüchern“. Die hochelaborierten Regiebücher von Reinhardt und Stanislawski waren dagegen erster „Tummelplatz“ der Kreativität des Regisseurs und dokumentierten seinen subjektiven Bühnenzugriff aufs literarische Werk, waren Entwurf und Plan einer erst zu leistenden Aufführung. Da Leopold Jessner und Erwin Piscator mit den zu inszenierenden Texten viel radikaler umgingen, veränderte sich auch die Faktur ihrer Regiebücher. Ähnliches geschah nach 1990 durch die Arbeitsweise von Castorf und Pollesch, worauf Amy Stebbins und Martin Jörg Schäfer verweisen. Im Regiebuch „verschwindet“ der ursprüngliche Spieltext. Jessner schrieb, was Reinhardt niemals getan hätte, ganz auf seinen Protagonisten Fritz Kortner fixiert, Grabbes „Napoleon“ um, doch Kortner lehnte die Fassung ab, und die Aufführung misslang schauspielerisch. Die Aufführung ist aus dem sogenannten Regiebuch nicht zu erschließen. Piscator montierte seine Aufführungen aus dem ursprünglichen oder/und während der Proben entstandenen Stücktext, sogenannten Fremdtexten, eigens hergestellten oder kompilierten Filmen und Musiken, und wuchtete diese Materialien in hochkomplizierte Bühnenräume. Die Aufführung musste zumindest im Ablauf planerisch


Magazin CD

Mehr als nur ein Dokument Die Oper „Lanzelot“ von Paul Dessau und Heiner Müller erstmals in einer CD-Edition Von Thomas Irmer

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Ein Klassiker der modernen Oper, allerdings mit einer sehr überschaubaren Aufführungsgeschichte. „Lanzelot“ wurde 1969 an der Berliner Staatsoper in der Regie von Ruth Berghaus uraufgeführt, das Libretto der mehrschichtigen Diktaturparabel schrieb Heiner Müller unter Mitarbeit seiner späteren Frau Ginka Tscholakowa. Die Vorlage lieferte Jewgeni Schwarz‘ Theaterstück „Der Drache“, das da bereits vier Jahre mit großem Erfolg in der Inszenierung von Benno Besson am Deutschen Theater gespielt wurde (auch aktuell in Hildesheim zu sehen, s. tdz.de). Wollte man nach einem exemplarischen Stoff in der Theatergeschichte der DDR suchen, so würde man den „Drachen“ unbedingt in Betracht ziehen. Sein Theaterleben brachte es auf 580 meist ausverkaufte Vorstellungen, während die vor allem im Orchesterapparat und mit dreißig Solopartien ungeheuer aufwendige Oper lediglich noch einmal in Dresden nachinszeniert wurde (nach der einzigen westdeutschen Inszenierung in München). Heiner Müllers Text lebte indes als „Drachenoper“ fort und erreichte später hin und wieder die Schauspielbühnen, zuerst wiederum in Dresden 1988. Als das Nationaltheater Weimar 2019 die Neuinszenierung von „Lanzelot“ in der Regie von Peter Konwitschny ankündigte, durfte das als sensationell gewertet werden. Die Frage war aber auch, wie sich das Werk in einer ganz anderen Zeit interpretatorisch fassen ließe, denn als Diktaturparabel hatte es nun eher retrospektiven Charakter. Konwitschny gelang es, in dem Stück vor allem die Vorgänge zu erhellen, die der Drachenherrschaft folgten, sozusagen die Zeichnung von Nachwendeopportunisten mit selbsternannter Drachenkampferfahrung. Der strahlende Held in Weimar aber war Paul Dessaus Musik, die der damals erst 29-jährige Dominik Beykirch am Dirigentenpult zum Lodern brachte, mitsamt dem in zwei Käfigen auf der Bühne untergebrachten Schlagwerkensemble. Die kühne Tat der Neuinszenierung erlebte nur fünf Aufführungen, denn die für Erfurt geplante Aufführungsserie im Mai und Juni 2020 fiel Corona zum Opfer und eine Wiederaufnahme nach der Pandemie schien aus besetzungslogistischen Gründen unmöglich. So ist die bei dem Detmolder Label ­audite erschienene Aufnahme der Weimarer Premiere ein Dokument, das nun zur Geschichte dieser besonderen Oper gehört. Mehr noch ist es ein Klangkunstwerk dieser

Joël Pommerat

DIE WIEDERVEREINIGUNG DER BEIDEN KOREAS Premiere: 26. Februar 2023 Unna, Studiobühne Lindenbrauerei sowie

Premiere: 3. März 2023 Theater Pforzheim

MERLIN VERLAG

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besonderen Musik, die vom lyrischen Vorspiel bis zu den monumentalen Tongebilden auch ganze Entwicklungen der Musikgeschichte zusammenhören und gewiss auch Paul Dessau selbst neu entdecken lässt. Was den Nachvollzug der Operninszenierung angeht, so ist eine überdurchschnittlich gute Textverständlichkeit der meist jungen Sänger festzustellen, darunter Máté SólyomNagy als Lanzelot, Emily Hindrichs als Elsa, Oleksandr Pushniak als Drache (zu dessen Partie etwa auch ein misslingendes Lachen gehört) und Wolfgang Schwaninger als besonders wendiger Bürgermeister, als den ihn Konwitschny in seiner Regie herausstellt. Auch die insgesamt drei Chöre kommen wirkungsvoll zu Gehör. Überhaupt, die Größe dieses Unternehmens ist in der Aufnahme unerhört sinnlich zu erfahren. Dass es bald wieder einen neuen Versuch mit dieser Oper geben wird, ist eher unwahrscheinlich, denn für den Repertoirebetrieb des Musiktheaters stellt sie einfach eine zu große Herausforderung dar. In Weimar war dies möglich, weil Musiker von der benachbarten Musikhochschule mit eingesetzt werden konnten und neben dem hauseigenen Chor und der Staatskapelle auch die Chorakademie in Erfurt und dessen Philharmonisches Orchester beteiligt waren. Es bleibt diese Aufnahme als Erlebnis. T

Lanzelot. Oper von Paul Dessau. Staatskapelle Weimar, Dirigent Dominik Beykirch, 2 CDs, 129 min, audite, € 26,99

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Magazin Film

Popanz der Macht In seinem Endspielfilm „Seneca“ spekuliert Robert Schwentke lustvoll über die letzten Stunden des römischen Philosophen und Tyrannenerziehers Von Claus Löser

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Seneca kann und kann nicht sterben. Weder das Öffnen seiner Adern noch das Leeren des Schierlingsbechers oder das Untertauchen in einem Bassin bringt ihm die Erlösung. Sodass zuletzt doch der gefürchtete Centurio Felix eingreifen muss. Er hatte das von Nero ausgesprochene Urteil an dessen einstigen Lehrmeister überbracht. Dass dem großen Rhetoriker die Wahl geblieben war, sich selbst zu töten oder sich durch den Boten exekutieren zu lassen, war dabei als Privileg zu verstehen. Doch Seneca versagt. Statt entschieden Hand an sich zu legen, versucht er, Zeit zu schinden. Und er redet unentwegt, brabbelt, deklariert, lallt, spricht zu imaginären Zuhörern. Er, der große Stoiker, der zeitlebens Gelassenheit und Milde gepredigt hat, endet als unverbesserliche Plaudertasche, ganz ohne Publikum. Eine Müllhalde am Rande der Stadt wird zu seinem Grab. Zum Abschluss der knapp zwei Stunden währenden Tour de Force durch die letzten Momente des im Jahr 65 nach Christi gestorbenen Seneca greift Regisseur Robert Schwentke parodistisch in die Tastatur des Horrorkinos. So wie Vampire, Zombies oder andere Wiedergänger oft nur unter größten Schwierigkeiten niederzuringen sind, so kämpft bei ihm ein Philosoph gegen sich selbst. Er ist gleichzeitig Monster und Opfer, er kann deshalb nur verlieren. Aber das dauert. Auch sonst spart die filmische Inszenierung nicht mit Schauwerten. Nach einem komprimierten Start, in dem Episoden aus dem Verhältnis Senecas zu seinem berühmten Schüler Nero zusammengefasst und dessen immer bizarrer werdenden Grenzüberschreitungen umrissen werden, folgt als Mittelteil eine in die Filmhandlung eingebettete Theaterinszenierung. Als Gastgeber bietet Seneca seinen handverlesenen Gästen das von ihm selbst geschriebene und inszenierte Drama namens „Thyestes“. Das Geschehen ist derart blutrünstig, dass die wenigen Zuschauer zwischen nervösem Kichern und schierem Entsetzen hin und hergerissen sind. Vor Abscheu

verdunkelt sich sogar die Sonne. Nach Abschluss dieser exklusiven Aufführung kehrt die aufgekratzte Gesellschaft in Senecas Villa zur Premierenparty ein. Doch schon wenig später trifft hier auch Centurio Felix als Todesbote auf. Robert Schwentke (Jahrgang 1968) gehört zu den interessanten, weil keiner Schule und keinem Trend zuordenbaren deutschen Regisseuren. Obwohl er oft seine Drehbücher selbst schreibt, passt auf ihn der Begriff „Autorenfilmer“ nicht, zumindest nicht in der üblichen Lesart. Denn er macht etwas, was hierzulande als „Genrekino“ bezeichnet wird. Ein explizit bildungsbürgerliches Publikum interessiert ihn wenig. Nach Kassenerfolgen wie „Tattoo“ (2002) oder „Eierdiebe“ (2003) ging er nach Hollywood, studierte am namhaften American Film Institute und drehte für Disney Actionfilme wie „Flightplan“ (2005). Das 2017 nach seiner Rückkehr nach Deutschland entstandene Weltkriegsdrama „Der Hauptmann“ floppte. „Seneca“ knüpft unmittelbar an die im Vorgängerfilm gestellten Grundsatzfragen an. Hier wie dort geht es um Opportunismus und um die Selbsterhöhung durch Macht, also um Hybris. Der von ihm entworfene Seneca endet als Popanz, der die von ihm selbst propagierten Ideale nie ernst genommen hat. Seneca“ ist deshalb nicht nur hochaktuell, er ist im Wortsinne auch sehenswert. Neben John Malkovich als Titelfigur sind in großen Nebenrollen Geraldine Chaplin, Lilith Stangenberg, Samuel Finzi, Julian Sands und Alexander Fehling zu erleben. Von Tom Xander, dem Darsteller des monströsen Nero, wird mit Sicherheit noch zu hören sein. Für die Inszenierung der Seneca-Tragödie „Thyestes“ konnte mit Ersan Mondtag ein Theaterregisseur gewonnen werden, der spätestens seit 2015 zu den hoffnungsvollsten Erneuerern des hiesigen Bühnenlebens zählt. Gedreht wurde übrigens im Süden Marokkos, genau dort, wo schon Orson Welles 1952 seine „Othello“-Adaption in Szene setzte. T Weltkino, 112 min, Kinostart: 23.3.2023

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Fotos links Filmgalerie 451, rechts Tom Leather

„Seneca“ in der Regie von Robert Schwendtke


Impressum Theater der Zeit. Die Zeitschrift fur Theater und Politik 1946 gegründet von Fritz Erpenbeck und Bruno Henschel 1993 neubegründet von Friedrich Dieckmann, Martin Linzer, Harald Müller und Frank Raddatz Herausgeber Harald Müller Redaktion Thomas Irmer (V.i.S.d.P.), Elisabeth Maier, Michael Bartsch, Michael Helbing und Stefan Keim, Nathalie Eckstein (Assistenz) +49 (0) 30.44 35 28 5-18, redaktion@tdz.de und Lina Wölfel (Digitale Dienste) Mitarbeit Britta Grell (Korrektur) Verlag Theater der Zeit GmbH Geschaftsführender Gesellschafter Paul Tischler, Berlin Programm und Geschäftsführung Harald Müller +49 (0) 30.44 35 28 5-20, h.mueller@tdz.de Paul Tischler +49 (0) 30.44 35 28 5-21, p.tischler@tdz.de

Autorinnen / Autoren 3 / 2023 Iven Yorick Fenker, Autor und Dramaturg, Berlin und Leipzig Henning Fülle, Theaterwissenschaftler, Berlin Michael Gmaj, Leitung Stück Labor, Basel Peter Helling, Hörfunkredakteur und Kritiker, Hamburg Heimo Lattner, audiovisueller Künstler, Berlin Christoph Leibold, Hörfunkredakteur und Kritiker, München Anne Lenk, Regisseurin, Berlin Claus Löser, Filmkritiker, Berlin Kathrin Röggla, Schriftstellerin, Berlin und Köln Theresa Schütz, Theaterwissenschaftlerin, Berlin Thomas Wieck, Theaterwissenschaftler und Dramaturg, Berlin Martin Wigger, Theaterleiter, Zürich Thomas Wördehoff, Autor, Hohentengen am Hochrhein

Verlagsbeirat Kathrin Tiedemann, Prof. Dr. Matthias Warstat Anzeigen +49 (0) 30.44 35 28 5-20, anzeigen@tdz.de Gestaltung Hannes Aechter (Konzeption), Gudrun Hommers Bildbearbeitung Holger Herschel Abo / Vertrieb Stefan Schulz +49(0)30.4435285-12, abo-vertrieb@tdz.de Einzelpreis EUR 9,50 (Print) / EUR 8,50 (Digital); Jahresabonnement EUR 95,– (Print) / EUR 84,– (Digital) / EUR 105,– (Digital & Print) / 10 Ausgaben & 1 Arbeitsbuch, Preise gültig innerhalb Deutschlands inkl. Versand. Fur Lieferungen außerhalb Deutschlands wird zzgl. ein Versandkostenanteil von EUR 35,– berechnet. 20 % Reduzierung des Jahresabonnements für Studierende, Rentner:innen, Arbeitslose bei Vorlage eines gültigen Nachweises. © an der Textsammlung in dieser Ausgabe: Theater der Zeit © am Einzeltext: Autorinnen und Autoren. Nachdruck nur mit schriftlicher Genehmigung des Verlags © Fotos: Fotografinnen und Fotografen Druck: Druckhaus Sportflieger, Berlin 78. Jahrgang. Heft Nr. 3, März 2023. ISSN-Nr. 0040-5418 Redaktionsschluss für dieses Heft 02.02.2023 Redaktionsanschrift Winsstraße 72, D-10405 Berlin Tel +49 (0) 30.44 35 28 5-0 / Fax +49 (0) 30.44 35 28 5-44

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„Der Weg zurück“ von Dennis Kelly in der Regie von Philipp Becker am Theater Regensburg

Die nächste Ausgabe von Theater der Zeit erscheint am 1. April 2023 Schwerpunkt: Die Freien Darstellenden Künste haben die Theaterlandschaft seit ihrer Entwicklung zu einem System in den 1980erJahren maßgeblich beeinflusst. In den letzten Jahren veränderten sich nochmals ihre Bedingungen und Arbeitsweisen, nicht zuletzt auch durch die Folgen der Pandemie. Welche Ergebnisse zeigen die unterschiedlichen Bemühungen um Formen und Strukturen der frei produzierten Produktionen in einzelnen Bundesländern? Neue kulturpolitische Bemühungen gibt es zum Beispiel mit der bevorstehenden

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Gründung eines Produktionshauses für Thüringen. Und wie werden aktuelle gesellschaftskritische Diskurse in der „Freien Szene“ aufbereitet? All diesen Fragen geht unser Schwerpunkt im April nach. Ein Neustart in Regensburg: Unter dem Motto neue Dramatik unter ­ euer Intendanz hat sich Christoph Leibold in der Oberpfalz umgetan. n Dazu der Stückabdruck von Christian Martins „Zinnwald“ mit Gespräch zur Uraufführung in Plauen-Zwickau.

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Magazin Interview

Im Gespräch mit Michael Helbing

Sie hatten in Altenburg Schauspieler aus Griechenland, der Türkei und Burkina Faso im Ensemble, die es in der Stadt mit Alltagsrassismus zu tun bekamen. Und Sie haben internationale Kooperationen gewagt. Was ist politisches Theater für Sie? BS: Wenn man genau hinschaut, was die Zeit erfordert, und das dann ohne Rücksicht auf Popularität umsetzt. – Das war jetzt ein erster Versuch der Definition. Ich habe nicht so viel über Definitionen nachgedacht und taste mich da jetzt ran. – Der Unterschied zur Politik ist, dass politisches Theater die individuelle Situation aufsucht und aus dem Erleben einzelner Menschen heraus das große Ganze darstellt, differenziert und vielschichtig. – Ich wäre allerdings ohne Ostthüringen nicht so politisch geworden. Schon in Würzburg arbeitete ich mit Burkina Faso zusammen. Dort war das die Kirsche auf der Torte, die Leute fanden das cool. In Altenburg-Gera bekam das eine große politische Relevanz. Bernhard Stengele, Schauspieler und Regisseur, ist seit Februar 2023 in Thüringen Minister für Umwelt, Energie und Naturschutz in der rot-rot-grünen Landesregierung und Vize-Ministerpräsident, nachdem Anja Siegesmund zurücktrat. Er spielte und inszenierte als Ensemblemitglied in Konstanz und Saarbrücken und war Schauspieldirektor in Würzburg und Altenburg-Gera. 2019 kandidierte er für Bündnis 90/ Die Grünen erfolglos für den Thüringer Landtag. Seit 2020 ist er deren Landessprecher.

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Welche Art von Inszenierung erleben Sie in der Politik? BS: Ich bin überrascht darüber, wie hoch die Anforderungen sind, sich als Politiker selbst ins Zentrum zu stellen. Dieser Anspruch, ständig in allen sogenannten sozialen Medien präsent zu sein, hat mich wirklich verblüfft: Die Selbstdarstellung oder sagen wir Personalisierung nimmt einen großen Teil der Arbeit ein. Aber auch Schauspieler müssen sich inzwischen ständig selbst vermarkten.

Inwiefern ist der Politiker Stengele eine Rolle? Wie viel Authentizität können Sie sich leisten? BS: In der Kunst geht es darum, das Richtige zu tun, also seinen inneren Ausdruck zu finden. In der Politik gibt es ein Kriterium, das fast noch wichtiger ist: nichts falsch zu machen. Also keine Angriffsflächen zu bieten. Das führt zu einer Vorsicht, die mir neu war. In der Kunst gefällt den Leuten die eigene Arbeit einfach oder sie gefällt ihnen eben nicht. Ihr Projekt einer internationalen, mehrsprachigen Schauspielschule in Thüringen, auch mit Partnern in Griechenland, der Türkei und Burkina Faso, hat es 2019 ins Wahlprogramm der Grünen geschafft. Was wurde daraus? BS: Durch die komplizierte Bildung einer Minderheitsregierung und durch Corona wurde das schwierig. Dass darstellende Künste die Entwicklung, sich international mehr zu vernetzen, stärker aufgreifen, finde ich weiterhin richtig und wichtig. Das war ja die Idee: eine Ausbildung für Menschen aus verschiedenen Ländern in mehreren Ländern anzubieten, auf mehreren Kontinenten sogar, wo es oft komplett andere Anforderungen an Darsteller gibt. Das ist ein reizvolles Projekt, um das ich mich nur jetzt gerade nicht kümmern kann. Werden Sie das Theater nicht doch bald vermissen? BS: Interessant, dass Sie das fragen! Ich habe kurz vor meiner Vereidigung wahnsinnig intensiv davon geträumt, obwohl ich nicht oft träume. Allerdings habe ich nicht das Gefühl, irgendetwas nicht getan zu haben. Ich habe dreißig Jahre lang in einem Bereich mit hoher intrinsischer Motivation gearbeitet. Und das ist und bleibt für mich Heimat: die Begegnung mit anderen Künstlern. T

Foto BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Thüringen

Was macht das Theater, Bernhard Stengele?

Es heißt, Helmut Schmidt hätte als Politiker im Laufe des Lebens schauspielerische Fähigkeiten entfaltet. Wann entfalteten sich ihre politischen Fähigkeiten als Schauspieler und Regisseur? BS: Politik hat mich immer schon intensiv beschäftigt. Als Künstler habe ich mich aber gescheut, mich parteipolitisch zu betätigen. In den letzten fünfzehn Jahren, vor allem aber seit 2012 in Ostthüringen wurde auch meine Theaterarbeit zunehmend politischer. Themen wie Migration oder Diversität interessierten mich. 2015/16 eskalierte das in Altenburg allerdings, die internationale Arbeit war immer schwieriger umzusetzen. Nachdem sie zu einem zwar guten, aber eben doch einem Ende kam, wusste ich: Ich muss was Neues machen. Jetzt bin ich seit drei Jahren Berufspolitiker.

Theater der Zeit 3 / 2023


26. BADEN-WÜRTTEMBERGISCHE

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Theater und Widerstand in Zeiten des Krieges 31.3.– 23.4.2023

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MK: Münchner Kammerspiele


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