Theater der Zeit 03/2024 – Semantik des Schönen

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Theater der Zeit Mit

Creamcake David Gieselmann Burghart Klaußner Judith Rinklebe Vanessa Rust Wilfried Schulz Hannah Schünemann Natascha von Steiger

März 2024 EUR 10,50 CHF 10 tdz.de

Semantik des Schönen Eine unterschätzte Kategorie


Foto Kampagne Rafaela Pröll

Mit

AKADEMIE MODERNE

festwochen.at

Carolina Bianchi y Cara de Cavalo, Leonie Böhm, Kim de l’Horizon, Peter Brook, Marie-Hélène Estienne, nora chipaumire, Yves Degryse / BERLIN, Tim Etchells, Florentina Holzinger, Zora Howard, Okwui Okpokwasili, Christiane Jatahy, Angélica Liddell, Marcus Lindeen, Marianne Ségol, Theatre, Mateja Meded, Kornél Mundruczó / Proton Buhle Ngaba, Caroline Guiela Nguyen, sy Riot, Mamela Nyamza, Agnieszka Polska, Pus ikov, Carola Rackete, Milo Rau, Kirill Serebrenn ski, Turkowski & Nowacka, Łukasz Twarkow Kris Verdonck, Jossi Wieler und vielen mehr


Foto Krafft Angerer

Theater der Zeit Editorial

„Die verlorene Ehre der Katharina Blum“ von Heinrich Böll in der Regie von Bastian Kraft am Schauspiel Köln

Als wir den Schwerpunkt für dieses Heft ankündigten, meinte ein in einem anderen Bereich tätiger Medienkollege: „Schönheit im Theater? Die Schauspieler und Schauspielerinnen? Ist ja hochinteressant, aber wohl auch äußerst riskant.“ Nein, um Beauty-Wertungen geht es nicht. Theater besteht ja aus vielem, das schön sein kann oder als solches empfunden wird. Aber angesprochen, ob von der professionellen Kritik oder den Theaterkünstler:innen selbst, wird das eher selten. Die Frage war also, wie man den Begriff für das heutige Theater diskutieren kann, ohne gleich mit Hegels 1400 Seiten umfassenden Vorlesungen zur Ästhetik in „das weite Reich des Schönen“ zurückzugehen. Der Düsseldorfer Intendant Wilfried Schulz schaute für die Vorbereitung des Gesprächs zum Thema, wie er schmunzelnd mitteilte, doch noch einmal in seine alten Aufzeichnungen aus den Hegel-Seminaren der Universitätsjahre hinein. Die Kostümbildnerin Vanessa Rust indes kommt ursprünglich aus der Modeindustrie, wo der Begriff der Schönheit als ganz unverdächtig unverbraucht gelten darf – und muss. Florentina Holzingers Arbeiten gehören heute, so wie sie die Theaterwissenschaftlerin Hannah Schünemann als wichtiges Beispiel aufgreift, un-

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bedingt ins weite Reich des S ­ chönen im Theater. Also mit diesem Schwerpunkt hinein in die Diskussion von Begriff und Phänomen! Die vielgestaltigen Unternehmungen des Berliner Kuratorinnen-Duos Creamcake, das hier von Ute Müller-Tischler im Kunstinsert vorgestellt wird, dürften sich dafür eignen, Schönheit als Subversion und Subversion als Schönheit anzuschauen. Ein nicht zu unterschätzender Aspekt. Jedenfalls stehen Daniela Seitz und Anja Weigl für größtmögliche Offenheit auf diesem weiten Feld. Jenny Erpenbeck, Kathrin Röggla und Burghart Klaußner haben ab Januar 2023 im Wechsel die monatliche Kolumne geschrieben, insgesamt dreizehn Mal eine jeweils ganz eigene Gedankensicht aufs Theater. Großen Dank dafür! Ein neues Autor:innen-Trio wird diese Kolumne fortsetzen: Die Regisseurin Marie Schleef, die polnische Stücke-Übersetzerin und Dramaturgin Iwona Nowacka und der deutsch-israelische Regisseur und Hörspielmacher Noam Brusilovsly. Bleiben Sie gespannt! Aktuelle Kritiken wie immer unter tdz.de T Thomas Irmer

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Theater der Zeit

Thema Semantik der Schönheit 12 Essay Wo bleibt das Schöne? Annäherung an ein schwer zu fassendes Phänomen Von Stefan Keim

15 Gespräch Leuchten mit Dunkelheit dahinter Wilfried Schulz über Schönheit als Form und Idee Im Gespräch mit Thomas Irmer und Stefan Keim

19 Gespräch Blick in die Zaubermaschine Die Theaterwissenschaftlerin und Dramaturgin Hannah Schünemann über die Veränderlichkeit des Schönen, starke Bilder und deren Instagramtauglichkeit Im Gespräch mit Thomas Irmer

22 Gespräch Ein bisschen Dreckigkeit ist dabei Lenz Moretti in „Ursonate [Wir spielen, bis uns der Tod abholt]“, von Kurt Schwitters in der Regie von Claudia Bauer am Deutschen Theater Berlin

Weitere Texte zum Thema Semantik der Schönheit finden Sie auch unter tdz.de

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Die Kostümbildnerin Vanessa Rust über ihre ganze Ensembles besonders prägenden Entwürfe Im Gespräch mit Thomas Irmer

26 Porträt „Durch die Kraft hat es eine Schönheit“ Die Bühnenbildnerin Natascha von Steiger über einen Begriff, an den sie selten denkt Von Michael Helbing

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Fotos links oben Lucie Jansch, unten Eike Walkenhorst, rechts oben Sinje Hasheider, unten Christophe Raynaud de Lage

Christian Friedel in „Dorian“, ein Text von Darryl Pinckney nach Motiven von Oscar Wilde in der Regie von Robert Wilson am Düsseldorfer Schauspielhaus


Inhalt 3/ 2024

Akteure 30 Kunstinsert „Is my future all in the past“ Die Berliner Creamcake-Gründerinnen Daniela Seitz und Anja Weigl über produktive Spekulationen Im Gespräch mit Ute Müller-Tischler

Diskurs & Analyse 58 Serie Schlaglichter #03 Von David J. Wimmer

60 Großkritik Staat, Medien, Verdacht „Die verlorene Ehre der Katharina Blum“ in drei verschiedenen Inszenierungen in Frankfurt, Köln und Altenburg/Gera Von Shirin Sojitrawalla, Stefan Keim und Michael Helbing

Stück 36 Stückgespräch Impulsgeberin für die Auflösung Carina Sophie Eberle über ihr Stück „Eva Rippe“ Im Gespräch mit Nathalie Eckstein

39 „Eva Rippe“

Von Carina Sophie Eberle

64 Serie: Post-Ost Die Fragen der Nachwendekinder Von Judith Rinklebe

Magazin Report 68 Straßburg Tummelplatz internationaler Talente Das Théâtre Le Maillon im Straßburger Europaviertel erreicht mit neuen Formaten französisches wie deutsches Publikum und öffnet den Horizont des Stadttheaters Von Elisabeth Maier

71 Berlin Erweiterung ins Dokumentarische Der verzögerte Neustart an den Berliner Sophiensælen Von Erik Zielke

4 Bericht Die Agora-Agenda Von Anna Bertram

6 Kritiken Gesammelte Kurzkritiken

Von Björn Hayer, Matthias Schmidt, Juliane Voigt und Elisabeth Maier

8 Kolumne Verbundenheit Von Burghart Klaußner

76 Bücher Theater-Geschichte als Werkzeug der Macht Von Stephan Dörschel

78 Bericht Bilderlust in Teterow Von Juliane Voigt

80 Was macht das Theater, David Gieselmann? Im Gespräch mit Stefan Keim

1 Editorial 74 Verlags-Ankündigungen 79 Autor:innen & Impressum 79 Vorschau „Trilogia Cadela Força – Capitulo I – The Bride and the Goodnight Cinderella“ am Straßburger Theater Le Maillon

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Magazin Bericht

Der Publikumsgipfel am Schauspielhaus Zürich am 18. Januar 2024

Die Agora-Agenda Wie das Publikum am Schauspielhaus Zürich sein Theater diskutierte Von Anna Bertram

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Das Schauspielhaus Zürich hat an diesem Abend im Januar mit dem „Publikumsgipfel“ eine Konferenz für das Stadtpublikum ein­ berufen. Der Gipfel ist eine Einladung und Aufforderung zugleich – an sich selbst und an die eigenen Besucher:innen –, sich gegenseitig kennenzulernen. „Theater im Wandel“ ist das Thema – offen und doch konkret genug, dass knapp hundert Zürche­ rinnen und Zürcher der Einladung gefolgt sind und die Veranstaltung restlos ausbuch­

ten. Es scheint eine strategisch kluge ­Setzung, den Begriff „Krise“ nicht in den Titel zu nehmen. Denn ob nun Publikums­ schwund, Generationskonflikte oder die Su­ che nach zeitgemäßen Programmatiken: Auch wenn Theater womöglich immerzu Kri­ se ist, ist das auch stets eine Frage des Wor­ dings und der Vermittlung des gegenwärti­ gen Zustands. Um all das wird es an diesem Abend in Zürich gehen, in einem konstrukti­ ven und offenen Dialog mit der Stadtgesell­ schaft. Vor einem Jahr bereits fand ein Versuch eines Dialogs am Zürcher Schauspielhaus statt (siehe TdZ 3/23), damals eng angelehnt an die Debatte um die noch ausstehende Verlängerung der Zürcher Intendanz Benja­ min von Blombergs und Nicolas Stemanns. Jetzt hat sich vor allem die Form des Abends geändert. Statt auf der großen Bühne im Hauptgebäude des Theaters einen weiteren frontalen und durchmoderierten Abend zu gestalten, stehen heute Abend einige Tische inmitten der Halle des Schiffbaus, der zwei­ ten Spielstätte des Zürcher Theaters. Das Setting ist einladend und ersichtlich interak­ tiv angesetzt, die Anordnung bietet Platz und Bewegung und damit eine breitere Autonomie für das Publikum. An den Tisch­ runden haben um die zwölf Personen Platz, darum herum sind Stehtische platziert, an der Bar kann man sich Getränke auf Kosten des Hauses holen. Und auch die theaterpolitische Aus­ gangslage ist an diesem Abend eine andere. Während im Januar 2023 die Doppel-­ Intendanz noch auf die Bekanntgabe ihrer Leitungssituation wartete, steht nun die Interimsintendanz von Ulrich Khuon ab ­ September 2024 fest. Ab der Spielzeit ­ 2025/2026 wird dann die Doppelspitze aus Pınar Karabulut und Rafael Sanchez das ­Zürcher Theater leiten. Mit dieser Bekannt­ gabe des Verwaltungsrats setzt in der Stadt seit ein paar Monaten eine Gewissheit ein, mit der auch die langanhaltenden Vorwürfe und Skandalisierungen um die aktuelle In­ tendanz sich etwas gelegt haben. Auch der heutige Abend scheint ruhig sein zu wollen, ein ehrlicher Wunsch nach Verbundenheit liegt in der Luft. Die Stimmung ist entspannt. Nach einer kurzen Begrüßung der zwei Intendanten werden acht Expert:innen des Abends vorgestellt. Sie werden später als Hosts und Impulsgebende an den Runden Tischen die Gespräche mit dem Publikum führen. Kulturjournalismus, Wissenschaft,

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Magazin Bericht

Foto Yuvviki Dioh, Schauspielhaus Zürich

Theaterpädagogik, Theater- und weitere Kulturinstitutionen sind vertreten – eine breite Kuration aus Praxis- und Diskurs­ bereich. Anwesend sind Tasnim Baghdadi (Ko-Leitung Migros Museum für Gegen­ wartskunst Zürich), Alexandra Kedves ­(Kulturredakteurin TagesAnzeiger), Dr. Darija Davidovic (Wissenschaftliche Mitarbeiterin Berner Fachhochschule), Julie Paucker (Lei­ tung Schweizer Theatertreffen), Hanna Weissgerber (Leiterin Schulbüro „Welcome to School“), Igor Basic (Kulturredakteur SRF), Martin Wigger (Leitung Kulturhaus Helferei) sowie Moritz Frischkorn (Drama­ turg Schauspielhaus Zürich). Und so verläuft der Abend mit spürbar diversen Haltungen, Wissensbeständen und Theatererfahrungen im Raum. In zwei Runden à dreißig Minuten geht es an die Tische, zu denen jeder Gast über einen personifizierten Umschlag am Empfang eingeteilt wurde. Die Themen sind breitflächig und bilden die gegenwärtigen Problem- und Fragestellungen des Theaters in Zürich ab: Wie können Theater- und Kulturinstitu­ tionen mit Widerstand von rechts umgehen? Welche Rolle spielt Kulturjournalismus für das Publikum, was ist das Selbstverständnis von Kulturjournalist:innen? Welche Verant­ wortung haben Theater im Kontext von Kon­ flikten? Wie Öffentlichkeit schaffen für Kultur in Zeiten von Klicks, Internet und Sensa­ tionslust? Wie werden Räume zugänglich für unterschiedliche Communities und was kann jede:r einzelne dazu beitragen? Wie lässt sich ein Vertrauen zwischen Publikum und Künstler:innen bilden, wie können beide Seiten neugierig bleiben? Außerdem: „Ka­ tharsis durch Mimesis oder Utopie – Wir­ kung im Theater anhand von Produktion und künstlerischen Handschriften“ sowie „Span­ nungsfeld Text und Regie“.

Das Setting ist einladend und ersichtlich interaktiv angesetzt, die Anordnung bietet Platz und Bewegung für das Tischrundenpublikum. Theater der Zeit 3 / 2024

Einige Mitarbeitende des Schauspiel­ hauses sind ebenfalls anwesend, sitzen am Tisch und diskutieren mit, genauso wie die Intendanz selbst. Vom Schauspielensemble selbst ist nur ein Mitglied vertreten. Der gro­ ße Interessenskonflikt an diesem Abend liegt nicht zwischen Theaterproduzierenden und Theaterrezipierenden. Die Spannung sowie das Potenzial finden sich viel mehr in den anwesenden Anforderungen, Erwartun­ gen und Hoffnungen an und vom Theater. Immer wieder tauchen Gesprächsfetzen aus verschiedenen Richtungen auf, in denen nach der Aufgabe von Theater gefragt wird. Und so individuell wie dieser Abend je nach Tischgespräch und Begegnungen ist, so di­ vers sind auch die Ansprüche an die Institu­ tion. Politischer Aktivismus, Repräsentation, Unterhaltung. Erkenntnis. Bestätigung sei­ ner selbst. Der Abend ähnelt einer Milieustu­ die: Mit jeder neuen Aussage öffnet sich eine soziale Welt und damit auch Fragen nach der Legitimation von Theater. Es ist eine Agora, ein Bürger:innenrat. Ein öffentli­ cher Versammlungsort. Zwei exemplarische Beispiele für die Tischrunden: Tasnim Baghdadi thematisiert Angriffe von rechts auf Kulturbetriebe und die Rolle des Publikums darin. Tatsächlich deckt der Tisch in etwa das politische Spek­ trum ab, die einen sind besorgt über ver­ schiedene Formen von Angriffen auf margi­ nalisierte Gruppen, die anderen sehen an dieser Stelle keine gefährlichen Tendenzen. Spürbare Ratlosigkeit und Unverständnis liegen in der Luft, die Wahrnehmungen sind so unterschiedlich , dass Diskurs und Wirk­ lichkeit völlig losgelöst voneinander schei­ nen. Gerade als befinde man sich in unter­ schiedlichen Welten. Später wird am Tisch von Igor Basic erörtert, was Theaterjourna­ lismus gegenwärtig sein möchte und kann. Hier ist ein fragmentarischer Eindruck: Theaterkritik scheint für diejenigen zu sein, die ein berufliches, intellektuelles oder aka­ demisches Interesse an Theater haben. Dem gegenüber steht ein Publikum, das ein ge­ nuines Interesse an Theater hat, aber nicht am fachlichen Diskurs darüber. Es sind viele subjektive Eindrücke, viele Fragen, die aus den Gesprächen hervorgehen. Was trennt, was vereint? Der Abend im Schiffbau besitzt eine politische Sprengkraft, weil er Demokratie

Mit dem „Publikumsgipfel“ geht die Institution nun genau dorthin zurück, wo sie die eigene Legitimation einst gefunden hat – in die Gesellschaft. und Theater in eine Erfahrung übersetzt. Jede Person wird andere Gespräche und Gedanken mit nach Hause nehmen. Die zu­ sammenfassende Konklusion der Expert:in­ nen am Ende hätte es deswegen vielleicht gar nicht gebraucht. Denn die Suche nach einer gemeinsamen Sprache und einem ­Zusammenkommen – sie hat bereits statt­ gefunden. Der Wunsch, die Begegnung noch in Worten festzuhalten, ist vielleicht eher ein Hinweis darauf, dass das Format doch einen Moment zu spät kommt. Denn könnte man sich auf die Erfahrung verlassen, würde es keiner kognitiven Abstraktion ge­ brauchen. Ja, diese gemeinsame Suche nach Erwartungshaltungen ans Theater, sie hätte durchaus schon in den ersten Jahren der Intendanz stattfinden können. Denn mit dem „Publikumsgipfel“ geht die Institution nun genau dorthin zurück, wo sie die eigene Legitimation einst gefunden hat – in die Gesellschaft. Es ist eine Setzung, die damit einhergeht, Mut zu zeigen, sich of­ fen einzugestehen, dass man es doch auch nicht weiß, was tun, wenn die Welt brennt. Und in der Geste des Sich-Verletzlich-­ Zeigens wird das Theater damit zu dem Ort, der es so oft sein möchte: für Begegnung und Dialog, wo sich ein Stadttheaterdiskurs mit Gesellschaft verbindet. In einer Ratlosig­ keit diejenigen zum Rat ziehen, die es am meisten betrifft – nämlich das Publikum – es scheint genau die richtige Form zur richti­ gen Zeit zu sein. Und dann fühlt sich solch ein Abend, auch in Zürich, doch nach einem kleinen Aufwachen aus einer (kultur)politi­ schen Lethargie an. T

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Magazin Kritiken

Pfalztheater Kaiserslautern:

Und die Welt ist nichts als Zement „Untröstliche Schatten“ nach dem Roman „Dreihundert Brücken“ von Bernardo Carvalho (UA) – Regie Elina Finkel, Bühne und Kostüme Elena Bulochnikova, Musik Victor Solomin

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ie Entscheidung für den Text steht von Anfang an fest: für seine Drastik, seine Schonungslosigkeit, seine Härte. Weniger gespielt als eindringlich erzählt, soll er wer­ den. Immer wieder wenden sich nämlich die Figuren in der Inszenierung von Ber­ nardo Carvalhos „Untröstliche Schatten“ dem ­ Publikum zu, um in den jeweiligen ­Situationen ihre Gedanken und Gefühle zu schildern. Dass es diesen imaginären drit­ ten Raum gibt, mag auf den ersten Blick eine nachvollziehbare Setzung der Regisseurin Elina Finkel sein, weil ihre Protagonist:innen sich nach außen eine (scheinbar!) unverletz­ liche Haut zugelegt haben. Die Inszenierung führt uns zurück in das Jahr 2002. Während man in St. Petersburg das dreihundertste Stadtjubiläum vorberei­ tet, Glanz und Gloria des alten Russischen Reiches zelebriert, tobt in Grosny der Zweite Tschetschenienkrieg. „Untröstliche Schat­ ten“ zeigt die Invasion mit allerlei Brutalität für die Zivilbevölkerung. Um die Rebellen zu schwächen, prügeln sich Moskaus Militärs durch die Dörfer. Für den eigentlich zu ihrer

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„Das beispielhafte Leben des Samuel W.“ von Lukas Rietzschel in der Regie von Ingo Putz

Gerhart-Hauptmann-Theater Görlitz-Zittau:

Ganz in Weiß

„Das beispielhafte Leben des Samuel W. Theaterstück aus Interviewsequenzen“ von Lukas Rietzschel (UA) – Regie Ingo Putz, Bühne und Kostüme Sven Hansen

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eden wir eigentlich noch mit- oder nur noch übereinander? In Lukas Rietzschels Stück ist zu erleben, wie verschieden die Erin­ nerungen und Wahrnehmungen sein können. Da sagt eine Frau, „Bitte hören Sie mir auf mit diesen Neunzigern, ich will davon nichts mehr wissen.“ Ein Mann antwortet: „Die Neunziger? Das war die beste Phase meines Lebens!“ Daraus und auch aus dem, was ver­ schiedene Menschen daraus schlussfolgern, einen Dialog zu machen, darum geht es die­ sem Stück. Vor zwei Jahren erhielt Lukas Rietzschel vom Gerhart-Hauptmann-Theater GörlitzZittau den Auftrag, ein Stück mit Regional­ bezug zu schreiben. Rietzschel wählte die Oberbürgermeis­ terwahl 2019 in seiner Heimatstadt Görlitz, in der ein AfD-Kandidat die erste Runde ge­ wann. Entstanden ist eine Text-Collage aus einer Vielzahl von Interviews, aber kein klassi­ sches Dokumentartheater. Vordergründig mag es um den Kandidaten Samuel W. und dessen „beispielhaftes Leben“ gehen, die große Qualität des Textes aber ist es, sich ebenso mit den Erinnerungen der befragten Menschen an die letzten dreißig oder gar vierzig Jahre zu beschäftigen. Auf der Bühne zu erleben ist ein dichtes, erstaunlich reich­ haltiges Kondensat der jüngsten Geschichte, das vom Aufwachsen in der späten DDR han­ delt und dann vor allem die Nachwendeerfah­ rungen der Ostdeutschen thematisiert. Es erzählt von den Verwundungen, die diese Zeit vielen zugefügt hat. Wie bereits in seinen ­Romanen und vorherigen Stücken gelingt es Lukas Rietzschel, die verschiedenen Erinne­ rungen abzuklopfen auf die Folgen, die sie bis heute haben könnten – auch politisch. Eine überzeugende Inszenierung, die auf einer zweiten Ebene von den großen und den kleinen Fragen unserer Demokratie handelt. Wie gehen die Kandidaten miteinander um? Darf der eine dem anderen öffentlich die Hand geben, oder würde das gegen ihn ver­ wendet werden? Samuel W. selbst übrigens spielt nur stumm mit. Er verfolgt – als einziger nicht in Weiß gekleidet – von einem Podest in der Bühnenmitte das Geschehen. Wie eine Drohung steht er da, beispielhaft, mitten im unschuldig weißen Raum. // Matthias Schmidt

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Fotos links oben Thomas Brenner, unten Pawel Sosnowski, rechts oben Doris Gätjen, unten Ilja Mess

„Untröstliche Schatten“ nach dem Roman „Dreihundert Brücken“ von Bernardo Carvalho in der Regie von Elina Finkel

Front gehörenden Andrej (Marius Petrenz) keine Option. Er desertiert und reist un­ erkannt an die sich gerade selbst feiernde Metropole an der Newa, wo er auf einen wei­ teren Kriegsverweigerer trifft: Ruslan (Phillip Brehl), ein wiederum aus Tschetschenien geflüchteter Mann, der überdies Sohn einer mittlerweile in einer erzkonservativen, russi­ schen Ehe lebenden Mutter ist. Zu diesem Tabubruch, dem „unmännlichen“ Verzicht auf Gewalt in einem durch und durch patriar­ chalen System, gesellt sich sodann ein weiterer, nämlich die erwachende Liebe ­ zwischen den jungen Entrechteten. Dass ­ diese homoerotische Romeo-und-Julia-­ Story in einem repressiven Regime nicht fol­ genlos bleiben darf, ist erwartbar. Tod und Schrecken prägen daher das beklemmende Ende. Nur überträgt sich die Finsternis dieses Plots erst in den letzten Minuten auf die Zu­ schauer:innen, als der Verlust in tatsächlich eindringlichem Spiel zum Ausdruck kommt. Ansonsten verfehlt der Abend seine Wir­ kung, weil die Regie kaum treffende Bilder entwickelt und zu ausgiebig auf die reine Er­ zählung setzt. Was diesen Eindruck der Sta­ tik verstärkt, ist – buchstäblich – die schwe­ re Zementkulisse. // Björn Hayer


Magazin Kritiken

„Eine Frau“ nach dem Roman von Annie Ernaux in der Regie von Sarah Kurze

Volkstheater Rostock:

Was von Müttern bleibt „Eine Frau“ nach dem Roman von Annie Ernaux – Regie Sarah Kurze, Bühne und Kostüme Vanessa Vadineanu, Komposition Samuel Wiese

vinz im Frankreich des beginnenden zwan­ zigsten Jahrhunderts. In das Elend, aus dem die Mutter sich als junges Mädchen befreit. Der Text verteilt sich gleichmäßig auf die drei Frauen, die mal alle zusammen nur diese eine Mutter sind und dann wieder die Mutter und die Tochter, die Oma und die Enkel, die Tanten und Cousinen und Freundinnen. Es gibt Sequenzen, die sich aus dem Text heraus ganz selbstverständlich in kurzem Spiel auflösen oder in filmischen Sequenzen hinter der Bühne auf die Vorhänge projiziert werden. Wenn eine den Text spricht, ­übernehmen die anderen das Unausgespro­ chene. Eindrücke von der frühen Liebe der Tochter zu ihrer Mutter, der raumnehmen­ den Dominanz der Älteren, der Loslösung und Entfremdung, der Sprachlosigkeit und schließlich der Hilflosigkeit gegenüber der, die als Alzheimerpatientin in einem Pflege­ heim stirbt. Von dem Schmerz um die Frau, die der Tochter das Leben gegeben hat. Der einzigen Frau, wie es im Text heißt, die ihr je etwas bedeutet hat. // Juliane Voigt

„I

ch habe die letzte Brücke zu der Welt, aus der ich stamme, verloren.“ Damit en­ det „Eine Frau“, eine Abhandlung, die weder Biografie sein soll noch Roman, es sei eher etwas zwischen Soziologie, Literatur und Ge­ schichtsschreibung, sagt Annie Ernaux selbst darüber. Mit diesen abschließenden Worten, mit der verlorenen Brücke, diesem Sinnbild für ein absolutes Nichtmehrvorhandensein, endet auch das Stück, das im Atelierthea­ ter Rostock in einer Inszenierung von Sarah Kurze auf die Bühne gekommen ist. Die Re­ gisseurin hatte Annie Ernaux, die 2022 den Nobelpreis für Literatur bekommen hat, einen Brief geschrieben. Und der Suhrkamp-Verlag gab in der Antwort zurück, die Schriftstelle­ rin sei sehr berührt gewesen davon. Sie gab ihre Einwilligung, den Stoff, den sie 1986 als spontane Reaktion auf den Tod ihrer Mutter geschrieben hat, zu dramatisieren. Als sei dieses Leben für eine Frau zu viel, ist der Text auf drei Schauspielerinnen verteilt. Es ist die gemeinsame Stück-Erarbei­ tung einer unmerklich gekürzten Textfassung. Die Schauspielerinnen Kathrin Heller, Katha­ rina Paul und Malin Steitz ziehen das Publi­ kum in ihrem hochgeschlossenen Schwarz und den synchron strengen Steckfrisuren in eine Vorzeit. In die Armut der ländlichen Pro­

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„Kallocain“ von Karin Boye in der Regie von Swen Lasse Awe

Theater Konstanz:

Im Drogenrausch stirbt die Demokratie „Kallocain“ von Karin Boye – Regie Swen Lasse Awe, Bühne und Kostüme Anna Bergemann, Musik Philipp Koelges

D

er Wissenschaftler Leo Kall ist von sei­ ner Idee besessen. Er hat ein Serum entwickelt, das die Menschen dazu bringt, ihr Innerstes nach außen zu kehren. Die düstere Dystopie „Kallocain“ hat die schwe­ dische Schriftstellerin Karin Boye 1940 ge­ schrieben. Damals wie heute gilt es, um die Grundwerte der Demokratie zu kämpfen. Düster und grau ist der Polizeistaat, in dem die Figuren bei Boye um ihre Identität ringen. Wer seine Gefühle zeigt oder wer gar das System in Frage stellt, hat in der schreck­ lichen neuen Welt keinen Platz. Awe treibt die Schauspieler:innen in diesem Setting an eigene Grenzen. Als queere Dichterin hatte es Karin Boye in ihrer Zeit schwer. Im Jahr 1900 in Göte­ borg geboren, kam sie 1934 nach Deutsch­ land, um sich einer psychoanalytischen Be­ handlung zu unterziehen. Damals entdeckte sie ihre Homosexualität, verließ ihren Ehe­ mann, um mit einer Frau zu leben. Das war damals ein unendlich mutiger Schritt, der mit Zuchthaus bestraft werden konnte. Im Jahr 1941 beging die Künstlerin Suizid. Ihre Zerris­ senheit, die auch ihr dichterisches Werk prägt, findet Regisseur Awe in den Figuren wieder. Boye hat sich hauptsächlich als ­Lyrikerin einen Namen gemacht. Mit ihrem Roman „Kallocain“ schrieb sie eine Dystopie, die als Kritik am Nationalsozialismus zu ver­ stehen ist. Acht Jahre, bevor George Orwell mit „1984“ Weltruhm erlangte, kam Boyes dunkle Zukunftsvision auf den Markt. Dass Intendantin Karin Becker und ihre Dramaturgie am Theater Konstanz „Kallo­ cain“ für die deutschen Bühnen entdeckt haben, ist gerade in dieser Zeit ein ganz ­ ­großer Gewinn. Dass Karin Boye den Text im Angesicht des nationalsozialistischen Deutschlands im Jahr 1940 schrieb, macht die Produktion umso beklemmender. Auch heute wieder gewinnen jene Kräfte Ober­ wasser, die mit Populismus die Gleich­ macherei vorantreiben. Wunderschön mei­ ßelt Swen Lasse Awe mit dem Konstanzer Ensemble die Biografien der Untertanen ­heraus, die Boyes Jahrhundertroman bevöl­ kern. // Elisabeth Maier

Die Langfassungen und weitere Theaterkritiken finden Sie unter tdz.de

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Verbundenheit Von Burghart Klaußner

ulce et decorum est pro columnam scribere! Süß und ehrenvoll ist es, für die Kolum­ ne zu schreiben! Dieser berühmte Satz von Horaz (leicht abgewandelt) beflügelte den Autor dieser Zeilen vor gut einem Jahr, darüber nachzu­ denken, aus welchem Stoff unsere Theater­ träume sind. Und nicht nur die Träume, sondern auch, welchen Realitäten sich unsere Gegen­ wartskunst, als einem Theater der Zeit, zu stellen hat. Der Neugierige wird ja in Aufführungen immer den Gegenwartsbezug sehen, und sei’s in der Negation, wenn die Flucht vor der bösen Welt nichts Gutes ahnen lässt. Fürs Theater. Und für die Welt. Mich hat als Spieler wie als Zuschauer dabei immer die Erlösung aus der Isolation, das Eintauchen in den gemeinsamen Ge­ nuss des Spielens, wie des Schauens ge­ reizt. Letztlich also, um im lateinischen Idiom zu bleiben, (es klingt so rechtsverbindlich!) die res publica. Die öffentliche Sache. Im Theater, gar auf der Bühne, aus Ver­ bundenheit zu übernachten, war dabei bis zum Erreichen des Ehebettalters vielleicht das Größte. Es muss ja nicht immer die Kantine sein, es gibt ja noch andere Vergnügungen. All dies dient aber nicht nur dem Heran­ bilden der im Theaterbetrieb so zahlreich und gesetzmäßig vertretenen pathologi­ schen Naturen, sondern, wenn der Theater­ mensch nicht lockerlässt, sogar dem Auffin­ den von Wahrheiten. Unermüdlich im Bestätigungsfieber ihrer selbst finden die Theaterkünstler ihre The­ men. The medium is nämlich auch auf dem Theater the message: der Mensch und seine Gefährdungen. Dabei darf auch gesungen werden – oder getanzt! Deshalb legt der Autor die Feder jetzt weg und übergibt an neue Kräfte, die eine kluge Redaktion ausgesucht hat, um sich wieder vermehrt dem Tanzen zu widmen und auch so eine aus den Fugen geratene Welt zu heilen.

Allerdings: „So wild ich tanzte und so wild ich sang, der Baum veränderte sich nicht.“ Dieser feine Zweizeiler von Joachim Sartorius fragt nach der Nützlichkeit von Kunst. Sie verändert ja scheinbar nichts in der dinglichen Welt. Sie produziert kein Holz des Baumes, auch keine Früchte, keinen Samen, sie ist nicht Natur, sie ist nur den Menschen eigen. Stünde ihr in Sartorius’ Beispiel ein Mensch und nicht ein Baum gegenüber, wie sichtbar wäre dann ihre Kraft. Der wilde Tänzer würde uns mitbewegen, der wilde Sänger brächte uns wohl auch zum Zucken, am Ende sicher zum Verzücken. Kunst schafft auch Essen oder Trinken nicht. Hilft sie beim Heilen denn den Kran­ ken? Und wie? Durch Zuspruch doch und zärtliche Ge­ bärden! Hier also zeigt es sich, das feine Zwi­ schenreich der Kunst. Nichts ist ihr nachzuweisen, und nichts ist von ihr zu erzwingen. Der Freundschaft ist sie ähnlich, die zur Verbundenheit wird, wenn wir viele sind. Schön wär’s. T

Hier schreiben demnächst unsere neuen Kolumnist:innen Marie Schleef, Iwona Nowacka und Noam Brusilovsky monatlich im Wechsel.

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Foto links Thomas Rabsch, Fotos rechts Theater Konstanz Ilja Mess, whiteBOX München Peter Hinz-Rosin, Theater Casino Zug Ingo Höhn, Kaserne Basel Claudia Ndebele

Magazin Kolumne


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präsentiert Ballhaus Naunynstraße, Berlin Der Zyklop sieht alles; die einäugige Kamera ist ein Instrument der Überwachung. In „Cyclops“ performen Zé de Paiva und Nasheeka Nedsreal die dekoloniale Umkehr des Blicks – seit April 2019 erfolgreich im Repertoire!

Nicole Kleine und Axel Tangerding schürfen im WASTE LAND

whiteBOX München Theater Casino Zug Antú Romero Nunes’ Inszenierung des Shakespeare’schen Klassikers geht der Frage nach, was Illusion ist und was Realität: Welche Gefühle sind echt? Mit seinen Spieler:innen sucht Nunes die Antwort im Spiel, im Als-ob, im Theater im Theater im Theater. Die daraus resultierende Spielfreude hat die Jury des Berliner Theatertreffens überzeugt, die das Theater Basel mit diesem Stück 2023 einlud. 21.03.

„Cyclops“ von Zé de Paiva

Meta Theater Produktion THE WASTE LAND von T.S. Eliot, inszeniert von Axel Tangerding. Als szenische Weltenreise durch Zeiten wühlen sich 3 Performer:innen lustvoll durch Eliots fantastische Bruchhalde, voller überraschender Klänge und Wendungen. 21.–23.3.

Theater Marie „Stein sein“, mit Texten der Pulitzer-Preisträgerin Annie Dillard, erzählt vom Betrachten der Natur und vom Staunen über die grossen und kleinen Dinge, die sich unmittelbar vor unseren Augen ereignen. 9.3. bis 24.3., Kellertheater Winterthur

Jonas Pätzold (Tearjerker)

Theater Konstanz

Kaserne Basel Der neuste Coup aus dem Hause Rimini Protokoll: Schweiz-Premiere „Dies ist keine Botschaft (Made in Taiwan)“. Infos und Tickets kaserne-basel.ch 8.3.

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Valentina Verdesca

In Lucien Haugs „My Heart Is Full of Na-Na-Na“ landet Tearjerker, der erfolgloseste Teilnehmer des ESC, mit gebrochenen Flügeln bei Alain und seinen beiden Söhnen und bringt deren Welt in Bewegung. Es geht um verdrängte Gefühle, um Familie und Füreinander-da-sein – komisch, verrückt und berührend. theaterkonstanz.de 22.3. (Premiere)

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Foto Nicole Marianna Wytyczak

Thema Semantik des Schönen Ein im Theater vergessener Begriff?

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Im 20. Jahrhundert sind die Begriffe der Schönheit und des Schönen aus den Künsten und deren Diskussion weitgehend verschwunden. Diese seit der Antike zentralen Kategorien der Ästhetik wurden in die Oberflächen von Werbung und Mode verschoben oder eben nur noch ironisiert, dekonstruiert und als unbrauchbar abgetan. Wir wagen eine Untersuchung des Schönen im Theater der Gegenwart – multiperspektivisch und naturgemäß längst nicht erschöpfend. Den Auftakt macht TdZ-Redakteur Stefan Keim, dem als erfahrener Kritiker bewusst ist, dass diese Begriffe auch von der Kritik gemieden werden, geradezu verpönt sind. Aber vielleicht ändert sich da gerade was. Annäherungen an die Phänomene von Schönheit und Schönem besprachen wir im Hinblick auf ihre jeweilige Praxis mit dem Düsseldorfer Intendanten Wilfried Schulz und der Kostümbildnerin Vanessa Rust. Michael Helbing porträtiert die Bühnenbildnerin Natascha von Steiger, die für Luise Voigts Weimarer Inszenierung „Der Meister und Margarita“ wohl eines der schönsten Bühnenbilder der letzten Jahre geschaffen hat. Die Theaterwissenschaftlerin und Dramaturgin Hannah ­Schünemann diskutiert u. a. mit Florentina Holzingers Arbeiten aktuelle Beispiele für den Wandel von Schönheit auf der Bühne.

„Ophelia’s Got Talent“ von Florentina Holzinger an der Volksbühne in Berlin

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„Ursonate [Wir spielen, bis uns der Tod abholt]“ von Kurt Schwitters in der Regie von Claudia Bauer am Deutschen Theater in Berlin

Wo bleibt das Schöne? Annäherung an ein schwer zu fassendes Phänomen Von Stefan Keim

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War’s schön? Die Frage stellen viele, wenn ich erzählt habe, dass ich mal wieder im Theater war. Meistens antworte ich nicht direkt, gerate ins Stocken, versuche zu erklären, in welche Debatten sich die Inszenierung gerade eingeschrieben hat. Und lasse es bleiben. Denn das war ja nicht die Frage. War’s schön? Zweiter Versuch: Ich erzähle von Momenten, die mich begeistert haben, von einer unerwarteten Pointe, einem Gefühl, das ich mir nicht erklären konnte, das mir eine andere Perspektive eröffnet hat. Und halte wieder inne. Denn ich fühle mich ganz weit weg davon, die Frage angemessen beantworten zu können. War’s schön? Was für eine Zumutung, diese Frage überhaupt zu stellen! Geht es heute – in diesen politisch so bewegten und auch gefährlichen Zeiten – überhaupt darum, schönes Theater zu machen? Zeit für eine Begriffserklärung. Was soll das überhaupt sein, das „Schöne“? Schön ist bürgerlich und kulinarisch. Schön ist was für Menschen, die Sinn für das Schöne haben, die mit dem goldenen Löffel des Wissens im Mund aufgewachsen sind, mit Klavierunterricht und Kindertheater. Grenzt das Schöne andere aus? Wie soll jemand, der in Problembezirken aufgewachsen ist, der das Leben als hektischen Überlebenskampf kennengelernt hat, sich dem Schönen hingeben? Für die letzte Frage gibt es längst überzeugende Gegenargumente. Da muss man bloß auf die vielen Initiativen schauen, die unter den urban arts zusammengefasst werden. In Oberhausen gibt es seit Beginn der Spielzeit eine eigene Sparte. Und die Schauspielschule der Keller in Köln bietet eine inklusive Klasse für Menschen mit geistiger Behinderung an. Das sind nur zwei von unendlich vielen Beispielen. Das Theater wird diverser, bunter, vielfältiger. Das Schöne ist ein sehr breiter Begriff geworden, in den vieles hineinpasst. Im Duden wird er noch in erster Linie auf körperliche Attraktivität bezogen. Da geht es um „ein Aussehen, das so anziehend auf jemanden wirkt, dass es als wohlgefällig, bewundernswert empfunden wird“. Seltsam, ich dachte, das sei längst überwunden. Andererseits zeigt ein Blick ins Fernsehprogramm, auf YouTube und in soziale Netzwerke das Gegenteil. Genormte

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Foto Eike Walkenhorst

Thema Semantik des Schönen


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Körper in sexy Outfits sind weiterhin in der Überzahl. Wer vor die Kamera will, wird meist zu einer Schaufensterpuppe geschminkt, sogar für die Nachrichten. Das ist mir selbst passiert, als ich Theaterkritiken für die Sendung „Westart live“ im WDR-Fernsehen gemacht habe. Ich habe mich selbst kaum wiedererkannt. Da verstehe ich, warum ein tiefes Misstrauen gegen diese Art des scheinbar Schönen entstehen kann. Es ist verlogen, es schminkt den Charakter weg, als sei er ein Pickel. Der Schriftsteller Michael Köhlmeier hat vor kurzem ein Buch über „Das Schöne“ geschrieben. Es ist kein philosophischer Essay, sondern eine Sammlung von 59 kurzen Texten, die er „Begeisterungen“ nennt. Es geht nicht nur ums Theater, sondern um alle Kunstgattungen. „Wenn ich ins Theater gehe“, schreibt Köhlmeier, „dann kann es sein, dass ich, ohne ihn zu begreifen, ahne, dass unser Leben einen Sinn hat und dass wir es sind, die den Sinn geben, und dies gerade dann, wenn wir ihn nicht begreifen.“ Er spricht vom Stolz, von der „Teilhabe an der Größe und Herrlichkeit des Menschen“. Und ist sich bewusst, dass der Mensch Genozide und andere unvorstellbare Verbrechen beging und begeht. Das Schöne ist das Gegenargument, ein Grund, sich überhaupt weiter zu engagieren und die Hoffnung nicht zu verlieren. Shakespeares „König Lear“ und Becketts „Endspiel“ stellen sich dem Entsetzen und der Leere, aber sie überwinden sie auch. Noch einmal Köhlmeier: „So geht Pathos. Und das ist nicht schlecht.“ Wie bürgerlich! Ja, ist es. Aber auch überholt? Lassen wir die Idee des Erhabenen doch mal wieder zu. Sie ist eng mit dem Schönen verbunden. Das Bedürfnis, durch Kunst etwas zu empfinden, das über die Furchtbarkeiten des Augenblicks hinausweist oder sogar hinwegträgt, ist für viele Menschen ein grundlegender Im-

Das Schöne entsteht durch Behutsamkeit, eine genaue Abwägung der Mittel. Hinterfragen, was man wirklich zu erzählen hat Theater der Zeit 3 / 2024

puls, ins Theater zu gehen. Ich schließe mich dem gerne an. Es sind Momente des Öffnens, der Verwundbarkeit, des Genusses. Man liefert sich dem Augenblick aus, staunt, schwärmt, zittert, lacht und heult. Wie selten geschieht das derzeit im Theater!

Komplexitätsfragen Wir diskutieren, debattieren, brechen aus den Rollen aus, sind epischer, als es Brecht jemals erdenken konnte. Kaum noch ein Klassiker ohne Kommentar, das Vertrauen in die Schauspielkunst scheint oft verloren. Das Schaffen von Assoziationsräumen, in denen sich die Fantasie des Publikums frei bewegen kann, wirkt geradezu unerwünscht. Der Geist wird uns oft wohl dressiert, in deutsche Stiefel eingeschnürt. Das ist kein Plädoyer gegen das politische Recherchetheater, es ist gut und wichtig, und längst zu Recht ein zentraler Bestandteil der Spielpläne. Wenn es gut gemacht ist – wie viele Aufführungen von Nuran David Calis –, erzählt es von den Schattierungen der Farbe Grau. Weil das Leben und der Mensch niemals schwarz oder weiß sind. Aber zu oft wird das Theater zu gut gemeinter Propaganda. Die ins Leere läuft, weil es doch nur die erreicht, die sowieso schon Bescheid wissen. Ein Woyzeck, der von Anfang an als verdammungswürdiger Frauenmörder denunziert wird, der nur noch Täter, nicht auch Opfer sein darf, ist langweilig. Die Reduktion der Vielschichtigkeit ist zum Trend geworden. „Enjoy complexity“ lautet ein Motto, das Kay Voges hingegen sehr oft als Überschrift benutzt. Komplexität ist schön. Allerdings verliert die Komplexität ihre Schönheit, wenn sie zum Selbstzweck wird. In vielen, angeblich politischen zeitgenössischen Stücken häufen Autor:innen so viele Themen an, dass kaum noch jemand eine Peilung hat, worum es eigentlich geht. Da sind die Komplexität und Unübersichtlichkeit der Welt bloß eine Ausrede für die mangelnde Fokussierung, eine Verschleierung dessen, dass die Texte eigentlich nichts zu sagen haben. Das Schöne entsteht durch Behutsamkeit, eine genaue Abwägung der Mittel, ein Hinterfragen, was man wirklich zu erzählen hat.

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Kriegen wir noch die Kurve?


Thema Semantik des Schönen Natürlich kann auch wilde Spontaneität schön sein, wie man sie früher in Inszenierungen Frank Castorfs erleben konnte. Die anarchische Spiellust ist auch eine hemmungslose Hingabe an den Augen­blick. Aber auch sie wird – so ist zumindest mein Eindruck – seltener. Herbert Fritsch hat mal eine herrliche Rede gegen das „Hängearmtheater“ gehalten. Da stand er vor dem Publikum eines Theaterkongresses und machte vor, was er meinte. Traurige Gestalten, die Monologe plappern, ohne Körperspannung. Fritschs rauschhaft-überdrehtes Slapstick-Theater schießt manchmal über das Ziel hinaus, aber es zeigt Ensembles, die stolz sind auf ihre eigene Virtuosität. Doch zurück zur Behutsamkeit. Das ist eine Qualität, nach der ich mich oft im Theater sehne. Ein Respekt, vielleicht sogar eine Ehrfurcht vor großen Texten und Geschichten. Ein Bewusstsein, dass nicht einfach alles geht, nur weil man es tun kann. Ein Gespür, dass Empowerment

auch ein Egotrip sein kann, dass ein großes Ganzes nur entsteht, wenn alle Individuen ein Gespür für die gemeinsame Arbeit entwickeln. So etwas gibt es immer wieder in den Inszenierungen von Johan Simons, z­ uletzt bei den „Brüdern Karamasow“ in Bochum. Oder früher bei Jürgen Gosch und George Tabori. Es sind oft die Momente des Schweigens, die zutiefst berühren. Die Momente, in denen man in die Köpfe der Schauspielenden zu blicken scheint und in denen doch jeder Mensch im Publikum etwas anderes erlebt. Den Reichtum des Theaters. Das Schöne. Und was soll das jetzt alles? Vielleicht ist es das Gejammer eines alternden Kritikers, der mit dem Theater von Claus Peymann und Andrea Breth, von Peter Zadek und Holk Freytag aufgewachsen ist, der viele Aufführungen von Karin Beier und Kay Voges liebt – und heute manchmal verzweifelt. Natürlich ist mir bewusst, dass Schönheit ein subjektiver Begriff ist, dass neue Generationen ihre eigenen Vor-

stellungen entwickeln. Ich habe allerdings den Eindruck, dass viele Aufführungen – besonders gilt das für kommentierte Klassiker – sich an einem Klischee des konventionellen Theaters abarbeiten, das schon in meiner Jugend überwunden war. Und ich wage die These, dass es auch heute nicht altmodisch ist, eine Geschichte subtil und genau zu erzählen. Dass Bescheidenheit und sogar Demut helfen, die Basis für künstlerische Höhenflüge zu schaffen. (Mein Gott, wie sehr vermisse ich Peter Brook!) Dass in Augenblicken der Zerbrechlichkeit und der Stille die größte Kraft liegt. Und dass ein Theater dieser Art eine große politische Kraft entfalten kann. Weil es weiterhin die zentrale Kompetenz der Bühne ist, Menschen zu bewegen, sie zum Lachen, Träumen und Nachdenken zu bringen. War’s schön? Wenn ich diese Frage spontan mit Ja beantworten kann, ist das ein Moment des Glücks. T

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15/04/2024

Das NPN wird von der Beauftragten der Bundesregierung für Kultur und Medien sowie den Kultur- und Kunstministerien folgender Bundesländer unterstützt: Baden-Württemberg, Bayern, Berlin, Brandenburg, Bremen, Hamburg, Hessen, Mecklenburg-Vorpommern, Niedersachsen, Nordrhein-Westfalen, Rheinland-Pfalz, Saarland, Sachsen, Sachsen-Anhalt und Thüringen.


Thema Semantik des Schönen

„Der Sandmann“ von E.T.A. Hoffmann in der Regie von Robert Wilson am Düsseldorfer Schauspielhaus

Leuchten mit Dunkelheit dahinter Wilfried Schulz über Schönheit als Form und Idee

Fotos Lucie Jansch

Im Gespräch mit Thomas Irmer und Stefan Keim

„Dorian“, ein Text von Darryl Pinckney nach Motiven von Oscar Wilde in der Regie von Robert Wilson am Düsseldorfer Schauspielhaus

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Thema Semantik des Schönen dass wir ein Ukraine-Festival planen. Wir stecken in einer Vielzahl von gesellschaftlichen Kontroversen und Konflikten. Das scheint dem Begriff der Schönheit zu widersprechen. Ihre Anfrage, mal über ­ das Schöne nachzudenken, kam für mich wie aus einer anderen Welt.

Basel, Hamburg, Hannover, Dresden, Düsseldorf – die Stationen, die Wilfried Schulz erst als Chefdramaturg von Frank Baumbauer, dann als Intendant durchlaufen hat, umspannen fast vierzig Jahre Theatergeschichte. Zuvor hat er übrigens am Theater Heidelberg noch an der Gründung des Stückemarktes mitgewirkt. Welche Rolle spielt bei all diesen Erfahrungen die Schönheit für seine Arbeit?

Wir wollen einen größeren Bogen spannen, der den Wandel der Auffassung von Schönheit im Theater untersucht. Haben Sie heute schon an die Kategorie der Schönheit gedacht? Wilfried Schulz: Naja, mein Alltag ist im Moment davon geprägt, dass wir die Teilnahme an einer Demonstration vorbereiten, dass wir uns in Diskursen mit der Israel-­ Palästina-Frage beschäftigen,

Wie kann denn ein Schönheitsbegriff jenseits von Norm und Harmonie aussehen? WS: Geprägt durch Authentizität. Aber was heißt das eigentlich? Für mich hat Authentizität mit einer selbstbewussten Unverwechselbarkeit zu tun. Es geht darum, auszudrücken oder zu performen, was man Eigenes zu transportieren hat, körperlich, intellektuell, seelisch. Das hat auch mit Rhythmus und Bewegung zu tun. Mir sind meine alten Hegel-Seminare wieder eingefallen. Da ging es immer um das Verhältnis von Form und Idee. Hegel dekliniert den Gedanken historisch durch, von der Frühgeschichte bis in seine Gegenwart. Wenn es um Schönheit geht, ist es immer noch hilfreich, über die Relation von Form und Idee nachzudenken. Ich finde Regiearbeiten wichtig, die genau dieses Verhältnis reflektieren und damit bewusst umgehen. Das gebiert Schönheit.

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Fotos links Lucie Jansch, rechts Tommy Hetzel

Oben Christian Friedel in „Dorian“, ein Text von Darryl Pinckney nach Motiven von Oscar Wilde Unten Christian Friedel, Andreas Grothgar und Rainer Philippi in „Der Sandmann“ von E.T.A. Hoffmann

Ist also gerade keine Zeit für Schönheit? WS: Ja und nein. Dass Theater sich mit gesellschaftlichen Konflikten beschäftigt, die rauere Oberflächen bedingen, ist klar. Aber Theater hat eine große Komplexität. Die Beschäftigung mit der ästhetischen Verfasstheit – um es etwas allgemeiner zu formulieren – ist natürlich fundamental. Und es wird auch wieder Phasen geben, in denen wir uns darauf konzentrieren. Wir tun manchmal so, als ob wir wüssten, was Schönheit ist. Dieser Begriff ist historisch und auch lobbyistisch gebunden. Wenn ich über Schönheit nachdenke, fallen mir zuerst Negationen ein. Es geht nicht um das Nachvollziehen oder sich Messen an einer Norm, wie es im klassischen oder populären Verständnis sehr dominant ist. Dann denke ich an den Begriff der Harmonie. Deshalb habe ich gerade bewusst über die aktuellen Konflikte gesprochen. Auch die Harmonie tritt für mich in den Hintergrund. Wir müssen darüber nachdenken, wie wir den Schönheitsbegriff heute fassen würden.


Thema Semantik des Schönen An wen denken Sie da konkret? WS: An sehr unterschiedliche Regisseure wie Kirill Serebrennikow und ­Robert Wilson, Barrie Kosky und William Kentridge. Sie bekennen sich zur Deutlichkeit ihrer Handschriften und transportieren eine Idee. Ich könnte noch viele andere anführen, aber ich nenne diese, weil sie mir nahe sind. Wilsons „Dorian“-Uraufführung fand bei Ihnen in Düsseldorf statt. In dem Stück geht es ja zentral um die Selbstreflexion eines Dandytums und Schönheitsideals. WS: Wilsons „Dorian“ ist für mich von großer Schönheit. Er zitiert aber in einem Bild auch sehr deutlich Francis ­Bacon, dessen Schönheitsbegriff doch ein sehr anderer ist. Auch die Bühne ist sehr ungewöhnlich für Wilson, kein geschlossener, sondern ein offener Raum, ein trödeliges Atelier, wobei jeder Gegenstand am perfekt geplanten Platz steht. Da formuliert ein alter Künstler seinen Kunstbegriff. Wilson redet über Kunst und setzt das in einer hohen Sinnlichkeit um. Ich zitiere Schiller aus den „Briefe[n] Briefe[n] über die ästhetische Erziehung“: „Durch die Schönheit wird der sinnliche Mensch zur Form und zum Denken geleitet; durch die Schönheit wird der geistige Mensch zur Materie zurückgeführt und der Sinnenwelt wiedergegeben.“ Um ein zweites Beispiel zu geben: Ich war gerade bei einem von Kirill Serebrennikow inszenierten Konzert samt großer Party in Berlin. Da standen Menschen auf der Bühne, die sangen und spielten mit einer wahnsinnig hohen Authentizität, Energie und Virtuosität. Ein Künstler, der offensichtlich den Text eines Liedes noch nicht richtig konnte, weil es erst an dem Tag einstudiert wurde, schaute auf sein Handy, spielte und sang aber in einer Kraft, einer Konzentration, einer Lust, dass es von einer unglaublichen Schönheit war. Sie entstand aus dem ­Moment heraus. Als drittes Beispiel gibt es bei uns am ­Düsseldorfer Schauspielhaus den „Drag Star NRW“, eine Veranstaltung, die immer innerhalb von drei Minuten ausverkauft ist. Die Wettbewerbsshow inszeniert einmal im Jahr ein dem Drag sehr verbundener Dramaturg unseres Hauses. Das ist hohe Kunst, die sehr schöne, per-

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Szenen aus „Johann Holtrop – Abriss der Gesellschaft“ nach dem Roman von Rainald Goetz in der Regie von Stefan Bachmann am Düsseldorfer Schauspielhaus. Eine Koproduktion mit dem Schauspiel Köln

fekte Oberflächen produziert. Gleichzeitig erzählen die Performances, die Songs von Schmerz und Not wie von Lust und der Eroberung der Welt. Das macht für mich die Bandbreite des Theaters aus. Denken Sie bei der Erstellung eines Spielplans daran, dass es genug solche Momente der Schönheit geben sollte?

WS: Nein, nicht in dieser Terminologie. Wir diskutieren manchmal in den Kategorien hell-dunkel. Oder luzide und verzweifelt. Vielleicht ist unser Spielplan gerade der einzige unter den großen Häusern, der keine klassische Komödie umfasst. Das ist so entstanden, dass wir in den Sitzungen darüber sprechen, was uns wichtig ist, und am Schluss schauen wir,

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ob die Mischung ungefähr stimmt. Aber es hat noch nie jemand gesagt, da muss was Schönes vorkommen. Wir diskutieren das Engagement von Regisseur:innen unter der Maßgabe, wie intelligent und konsequent sie mit Form und Inhalt spielen.

der Inszenierung einzubringen und lesbar zu machen. Das ist ein moderner Begriff von Schönheit – voller Kraft und Leuchten, mit dem Verdacht einer dahinterliegenden Dunkelheit. Damit ein Publikum zu erreichen, ist meine Aufgabe als Intendant.

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Sie haben ja einen großen Erfolg beim Publikum, sehr hohe Auslastungszahlen. Das Düsseldorfer Publikum ist ja dafür bekannt, dass es kulinarisches Theater sehr zu schätzen weiß. Spielt das gar keine Rolle bei der Gestaltung des Spielplans? WS: Diese Frage finde ich ein bisschen daneben, weil sie kategorial falsch ist. Alle Häuser, an denen ich gearbeitet habe, bei Ivan Nagel, bei Frank Baumbauer, in eigener Intendanz, waren hoch lebendig und meist auch erfolgreich. Wir haben nie nach Gefälligkeit für ein Publikum einen Spielplan diskutiert. Aber wir haben auch nie ein Publikum verachtet. Wir haben ganz unterschiedliche Publikumsgruppen, auch in Düsseldorf. Für mich ist ein hohes Kriterium die Wertschätzung. Meine Erfahrung ist, dass das jeweilige Publikum in Basel oder Dresden oder Düsseldorf zwar seine Eigenarten hat, sich vielleicht in seiner gesellschaftlichen Prägung und Disposition unterscheidet, nicht aber in seiner Offenheit, Klugheit und Bereitschaft, sich auf künstlerische Sprachen einzulassen.

Da kommen wir hier über die Hegel’schen Gedanken von Form und Idee zurück. Es ist ja in beiden Texten von Rainald Goetz überraschend, dass durch die Musikalisierung eine Spannung zum Inhalt entsteht. Tatsächlich steckt darin eine Schönheit, die schwer zu fassen ist, aber man empfindet sie. Bei Wilson ist es sofort greifbar, in Bachmanns Goetz-Inszenierungen steckt indes ein überraschendes Moment. WS: Ich mag es, solche Spannweiten aufzumachen. Und würde noch einen Gedanken des Philosophen und Medientheoretikers Boris Groys danebenstellen. Er spricht bei seinem Schönheitsbegriff davon, das Innere nach außen zu wenden. Da wird also eine Oberfläche formuliert, in der aber das Innere gegenwärtig ist. Es ist immer ein Spiel der verschiedenen Schichten und Ebenen. Für mich ist Theater kein Überzeugungs- oder Überrumpelungsinstrument, auch nicht durch Schönheit. Sondern in der Sinnlichkeit und der Gedanklichkeit immer ein Reflexionsinstrument. Ich finde Aufführungen wichtig, die das bewusst setzen und ausstellen. Ich mag keine scheinbare Zwangsläufigkeit. Und wenn Sie wissen, wie Wilson arbeitet; er redet unglaublich viel mit den Menschen. Da sitzt kein in seiner Kunst gefangener, der von anderen nur verlangt, seine Bilder umzusetzen. Er spricht darüber, lässt andere ihre Bilder erzählen, da ist nichts hermetisch. Mir geht es immer wieder um das Bewusstsein, woran und womit man arbeitet, um eine Deutlichkeit, auch mal um eine Ambivalenz, aber nie um eine Überzeugung oder Überwältigung. Das gilt auch, wenn wir mit aktivistischen Haltungen arbeiten. Auch dann ist die Zugänglichkeit durch Empathie wichtig. Mir geht es immer um die Öffnung. Wenn wir den Baukasten der Schönheit in der besprochenen Weise erweitern, dann würde ich sagen, ja, Schönheit ist eine Möglichkeit, die Menschen in einen empathischen Prozess, in einen Reflexionsraum hineinzuholen. T

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Das Wort vom Kulinarischen war ja nicht so gemeint. Aber man erlebt doch immer öfter, dass Theaterschauende, nicht nur in Düsseldorf, ein Recht auf schöne Erlebnisse einfordern. Und sehr dankbar sind, wenn sie an einem Theaterabend nicht nur herausgefordert werden, sondern Genuss erleben. WS: Um aus unserem Konflikt wieder rauszukommen, wäre es doch super, wenn wir sagen, dass Schönheit ganz unterschiedliche Ausformulierungen hat. Ich nenne vielleicht noch ein Beispiel. Wir haben hier mit großem Erfolg die Stücke „Reich des Todes“ und „Johann Holtrop“ von Rainald Goetz gespielt. Ich halte die Texte, so wie sie rhythmisiert sind und wie sie von der Idee zur Form führen, für gleichzeitig abstrakt und sinnlich. Das erreicht sicher nicht jeden, aber Regisseur Stefan Bachmann und das Ensemble haben es geschafft, diesen Rhythmus in die Struktur

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„H – 100 seconds to midnight“ von Robert Wilson am Thalia Theater in Hamburg, inspiriert von Stephen Hawking und Etel Adnan

Foto Lucie Jansch

Blick in die Zaubermaschine Die Theaterwissenschaftlerin und Dramaturgin Hannah Schünemann über die Veränderlichkeit des Schönen, starke Bilder und deren Instagramtauglichkeit Im Gespräch mit Thomas Irmer

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Paige A. Flash (vorne), Renée Copraij, Sophie Duncan (hinten) „Ophelia’s Got Talent“ von Florentina Holzinger an der Volksbühne in Berlin

Wie bedingt die Auffassung von Schönheit die Wahrnehmung von Theater? Hannah Schünemann: Schönheit ist ein kulturell und gesellschaftlich normativer Wert und macht in dem Sinne ein Bewertungssystem auf, mit dem wir auch ins Theater gehen. Die Auffassung von Schönheit beeinflusst den Geschmack, betrifft aber auch strukturelle Bedingungen. Schönheit entscheidet auch mit, wenn es darum geht, wer welche Rollen bekommt, für was und wen wie viel Geld ausgegeben wird. Das sind Faktoren, die man nicht unterschätzen darf.

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Aber man könnte die Frage auch umdrehen: Wie bedingt Theater die Auffassung von Schönheit? Was hat Theater für eine Kraft, auf Schönheit einzuwirken, und somit die normative, also veränderliche ­ Auffassung mitzuprägen? HS: Das Spezielle im Theater ist ja, dass live performt wird, und da erlebt man Körper ganz stark. Wie wird besetzt, welche Körper sind auf der Bühne sichtbar? Wie werden diese Körper von den Schauspieler:innen performt? Das formale Spiel, wie gespielt wird, wie die Körperhaltung funktioniert, das kann so viel be-

Körper ist sicherlich eine zentrale Kategorie in dieser Frage. Aber welche Rolle spielen die anderen Elemente wie die visuelle Gestaltung oder die Musik? HS: Die gehören natürlich auch dazu. Die formalen Parameter entscheiden darüber, wie etwas erzählt wird. Am Ende ist das eine Kompositionsfrage, die ja dann auch den Stil unterschiedlicher Regisseur:innen ausmacht. Was wir im Moment vielfach beobachten, ist eine Enthierarchisierung, bei der all diese Parameter in den Fokus rücken und das Theater als Zaubermaschine weiterentwickelt wird. Daran zeigt sich, würde ich sagen, auch die Veränderung von Realitätswahrnehmungen durch die Digitalisierung. In Zeiten vielfältiger Simulationen wird auf der Bühne die Illusion neu erforscht. Da kommen neueste Techniken dazu, neben Musik und Sound selbstverständlich auch im stark visuellen Bereich Video. Oder nehmen wir Gisèle Viennes „Extra Life“, das jetzt zum Theatertreffen eingeladen ist, ein ausgeklügeltes Spiel mit Wahrnehmung, auch weil das Licht im Grunde ein Akteur ist. Kommen wir nochmal zu Holzinger zurück, wo sich ja die Geister durchaus scheiden. Robert Wilson hat über mehr als vierzig

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Foto links Nicole Marianna Wytyczak, rechts Lorenz Brandtner

deuten dafür, was wir im Theater als schön empfinden. Dann können auch nicht-normative Körper die schönsten sein für Leute, die gängige Schönheitsideale noch nie bewusst hinterfragt haben. Florentina Holzingers Arbeiten, aktuell „Ophelia’s Got Talent“, sind großartige Beispiele. Da wird Verwundbarkeit zu einem hochästhetischen Bild. Lea Schneider, eine Kollegin, schreibt, dass in neueren feministischen Ästhetiken Verletzlichkeit zu Verletzbarkeit wird. Etwas, das man offenlegt und umarmt, woraus auch eine Schönheit entsteht. Oder etwa Pınar Karabuluts detaillierte choreografische Arbeit, die in ihren Inszenierungen von den unterschiedlichsten Körpern belebt wird und Schönheit entfaltet. Oder auch Lucia Bihlers „Zofen“ am Volkstheater München, wo männlich gelesene Körper zu wunderschönen Frauenkörpern stilisiert werden. Das sind alles Beispiele, in denen wir die Auffassung von Schönheit auf der Bühne ändern.


Thema Semantik des Schönen Jahre eine eigene Theatersprache geschaffen, die wiedererkennbar ganz sicher Aspekte von Schönheit enthält. Auch da spielen das Licht und stilisierte Bewegung eine große Rolle. Einige Leute halten die einst avantgardistische Schönheit von Wilsons Arbeiten inzwischen für abgenutzt. Bei Holzinger ist dagegen noch gar nicht entschieden, was da kulturell bedingt als Schönheit, wie Sie eingangs sagten, hervortritt. HS: Das ist eine spannende Frage, wie man das über einen Schönheitsbegriff beziehungsweise in Abgrenzung dazu lesen kann. Es geht ja auch um die Verschmelzung von Mensch und Maschine. Ein Mix von Formen, der auch vieles außerhalb des Theaters mit hereinnimmt und so auch provozierend wirkt. Der Gegensatz zu Schönheit ist in der Alltagskultur Hässlichkeit, aber der ist im Gegensatz zur Schönheit kein Grundbegriff der Ästhetik. Obwohl wir wissen, dass auch Hässliches uns anziehen kann. Diese Ambiguitäten nutzt Holzinger für ihre Ästhetik. Man sieht eben bei ihr auch, wie Zuschauer:innen dazu gebracht werden, sich mit Schönheitsidealen und dazugehörigen Wahrnehmungsmustern auseinanderzusetzen. Die Frage ist, ob wir das, was wir aus der Antike über Schönheit gelernt haben, das Erhabene, das Wahre, überhaupt noch anwenden können, oder ob es nicht längst um anderes geht. Suchen wir heute, wenn wir nach Schönheit suchen, vielleicht eher nach Hoffnung? Und wäre Hässlichkeit dann Rebellion, Umdenken oder Veränderung? Holzingers Bilderspektakel mit ihrem Nebeneinander von Ballett, Tanz, Stunts, Sport und Zirkuselementen stellen die Hochkultur im Theater infrage und damit im Endeffekt auch Machtstrukturen. Und das hängt dann wieder mit der Normativität und dem Klassizismus von Schönheit zusammen. Das ist von Holzinger und ihrem Team immens schlau gebaut.

Bei Florentina Holzinger wird Verwundbarkeit zu einem hochästhetischen Bild. Theater der Zeit 3 / 2024

Hängt diese Tendenz zum Bilderspektakel, die ja nicht nur bei Holzinger zu beobachten ist, auch mit der verstärkten Verbreitung digitaler Bilder von Theater zusammen, ihrer Eignung für Instagram und soziale Medien, die dann wiederum die Auffassung von Schönheit mitprägt? HS: Es gibt eine jüngere Generation, deren Abende sich mit der Handykamera fotografieren lassen – und es sieht spektakulär aus. Insbesondere der Nachwuchs hat ein großes Bewusstsein für die Kraft der Bilder, für deren Farben, Formen und Komposition. Diese Leute sind mit der allgegenwärtigen Bilderwelt aufgewachsen und sehen das vermutlich als Herausforderung, sich damit zu messen und diese Ästhetiken sich auf dem Theater zu eigen zu machen. Wilsons Bilder lassen sich bestimmt auch gut instagrammen, sind aber aus einem ganz anderen Kontext entstanden. Instagram-Fähigkeit beschreibt ja selbst noch keine Ästhetik, die kann sich dafür ganz unterschiedlich zeigen. Neben den eindringlich langsamen und farbenfrohen Inszenierungen von Marie Schleef und den textstarken und dabei popaffinen Arbeiten von Pınar Karabulut würde ich als noch mal anderes Beispiel die installative, glossy Ästhetik in Yana Thönnes „In Memory of Doris Bither“ nennen. Sie alle eint eine bildstarke Ästhetik. Der Philosoph Martin Heidegger meinte Mitte des zwanzigsten Jahrhunderts, er sah das Fernsehzeitalter nahen: „Der Grundvorgang der Neuzeit ist die Eroberung der Welt als Bild“. Ist das Theater somit von der herrschenden Bildproduktion belagert? HS: Ich würde mich jetzt bei dieser Betrachtung des Theaters der Gegenwart nicht auf das Visuelle beschränken. Sound ist zum Beispiel genauso wichtig. Die Art, wie der Sounddesigner Richard Janssen mit Susanne Kennedy in hochkomplexen Vorgängen die Stimmen bearbeitet und in Räume versetzt, darf bei dieser Diskussion des Neuen im Schönen nicht fehlen. Das gehört zu dem Formalen im Theater, das zu einer Tradition werden kann, wie eben einst bei Wilson mit hoher Ausstrahlungskraft. Die amerikanische Theoretikerin Eve Kosofsky Sedgwick sprach davon, dass uns besonders durch die Kritische Theo-

rie im zwanzigsten Jahrhundert noch eine „paranoide Lesart“ bestimmt habe, wo immer schon negativ antizipiert wurde, wo und wie Probleme und Fehler auftreten könnten. Sie plädiert im Hinblick auf das 21. Jahrhundert für eine „reparative Lesart“, wo man eine Offenheit für Probleme hat, sich überraschen lässt. Wenn man dem folgt, denke ich, kann auch die Schönheit wiederentdeckt werden. Ich glaube, das hängt stark mit den szenografischen Bildern zusammen, die wir heute von der jüngeren Generation auf den Bühnen sehen, die sich auf eine Suche nach Schönheit begibt und dabei auch die damit verbundenen Probleme zulässt und in ihr Weltbild einbaut. Denken wir neben Holzingers Körperbildern zum Beispiel an die Kraft der szenischen Bilder in Anta Helena Reckes „Die Kränkung der Menschheit“ ­ oder Leonie Böhms kollektive Vergegenwärtigung von Mythen. Das sind ästhetisch anspruchsvolle und zugleich reparative Weltentwürfe, die auf die Bühne gebracht und dort erprobt werden. T

Hannah Schünemann ist Dramaturgin, Literaturund Theaterwissenschaftlerin und wissenschaftliche Mitarbeiterin am Exzellenzcluster „Temporal Communities“ der FU Berlin. In ihrer Forschung beschäftigt sie sich mit radikalen Formsprachen im Gegenwartstheater. Als Dramaturgin arbeitete sie an der Volksbühne Berlin, für die Berliner Festspiele, das Performing Arts Festival und am Ballhaus Ost.

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Ensemble in „Ursonate [Wir spielen, bis uns der Tod abholt]“ von Kurt Schwitters in der Regie von Claudia Bauer am Deutschen Theater in Berlin. Kostüme Vanessa Rust

Foto oben Eike Walkenhorst, rechts privat

Ein bisschen Dreckigkeit ist dabei Die Kostümbildnerin Vanessa Rust über ihre ganze Ensembles besonders prägenden Entwürfe Im Gespräch mit Thomas Irmer

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Thema Semantik des Schönen des Theaters. Kostüme galten da eher als Schmuck. Im 18. Und 19. Jahrhundert ging es im Theater um die Darstellung von einem Idealbild des Menschen. Das Theater selbst war häufig prunkvoll und pompös. Wenn Sie jetzt „Die Ursonate“ ansprechen – ich versuche ja immer, es nicht zu schön wirken zu lassen. Sondern zum Beispiel diesen Tüll zu nehmen, der ja an sich schon schön ist, ein schönes Material, und daraus etwas zu formen, das noch ein kleines bisschen Dreckigkeit mit dabei hat. Dass es nicht nur „schön schön“ ist. Wann ist denn das verloren gegangen, dass dieses Idealschöne nicht mehr nur schön sein soll? VR: Zeitlich lässt sich das natürlich nicht genau festmachen. Aber die Entwicklung ging insgesamt von diesem Prunkvollen zum Minimalistischen. Kostüme im Theater sind zunächst mal eine Behauptung, eine Fantasie, die zu einer Welt gehört, die wir mit den Mitteln aller Gewerke schaffen. Natürlich geht es im Detail um die Schaffung einer Figur, die etwas ganz anderes ist als die Schauspieler:in als privater Mensch. Also darum, eventuell das Geschlecht, das Alter, möglicherweise sogar das ganze Wesen zu verändern.

Kostüme werden generell mit „Schönem“ assoziiert. In der „Ursonate“ am Deutschen Theater in der Regie von Claudia Bauer, für die Sie gerade weiße Kostüme mit Tüll gemacht haben, fällt das sofort ins Auge. Woher kommt eigentlich diese Auffassung von der Schönheit der Kostüme? Vanessa Rust: Das kommt sicher aus dem Historischen, aus früheren Epochen

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Im Moment sieht man in den Theatern häufig eine Beschäftigung mit aktuellen Körper- und Geschlechterdiskursen, die dann auch über die Kostüme kommuniziert werden. VR: Ich finde es sehr wichtig, dass man diesen gesellschaftlichen Diskurs, eine genderfluide Darstellung, mit in die Gestaltung einbringt. Bei der „Ursonate“ habe ich dies versucht und vielleicht ist das auch eine Besonderheit von Claudia Bauers Theater. Ich habe in ihren Inszenierungen schon mehrfach Gruppenkostüme gemacht, in denen alle Spieler:innen ähnlich aussehen. Das schafft die Möglichkeit, bestimmte Stereotypen, die wir in unserer Vorstellung nun einmal in uns herum­ tragen, zu brechen und zu vermischen. So zu arbeiten macht sehr viel Spaß, denn es lassen sich andere Bilder entwickeln, die man vielleicht so noch nicht im Theater gesehen hat.

Gruppenkostüme erlauben, bestimmte Stereotypen zu brechen und zu vermischen.

Werden die Entwürfe mit der Regie direkt besprochen? VR: Ja, besonders bei Claudia Bauer werden alle Fragen der Ausstattung in sehr enger Zusammenarbeit entwickelt. Die ­ ästhetischen Vorgaben des Kostüms müssen von der Regie konzeptuell aufgenommen werden, sonst funktioniert das gar nicht. Wenn die Regie damit nichts anfangen kann, ist die Schauspieler:in einfach nur „angezogen“ und dann funktioniert ein Kostüm nicht.

Vanessa Rust, geboren 1988 in Bremen, erhielt 2013 ihren Abschluss im Fachbereich Mode- und Textilmanagement an der JAK in Hamburg. Darauf folgten Jobs in diversen Modeunternehmen und Showrooms in Hamburg und Düsseldorf, bevor sie zum Theater wechselte und als Kostümbildnerin vor allem in Inszenierungen von Claudia Bauer einen eigenen Stil entwickelte, zuletzt für „Die Ursonate“ am Deutschen Theater Berlin.

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Szenen aus „Ursonate [Wir spielen, bis uns der Tod abholt]“ von Kurt Schwitters in der Regie von Claudia Bauer. Kostüme Vanessa Rust

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Sind Sie denn schon mal Schauspieler:innen begegnet, die Ihre Kostüme wegen eigener Vorstellungen von der Rolle nicht anziehen wollten? VR: Das habe ich zum Glück noch nicht so oft erlebt. Im Gegenteil, es war eher so, dass die Schauspieler:innen Lust auf diese großen Kostüme hatten. Ich versuche, im direkten Kontakt zu sein und zu gucken, ob vielleicht Dinge während des Probenprozesses verändert werden müssen – wie zum Beispiel eine bestimmte Brille oder doch ganz andere Schuhe. Auch nach der Präsentation des Kostümentwurfs versuche ich, mit den Schauspieler:innen zusammenzuarbeiten und an den Einzelheiten herumzuschrauben. Damit am Ende sich die Spielenden mit dem Kostüm identifizieren können und ein für mich stimmiges Kostümbild entsteht. T

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Fotos Eike Walkenhorst

Bei Claudia Bauer steht ja die „Gemachtheit“ der Figuren wirklich im Vordergrund. Da kommen noch die Frisuren oder aufwendige Kopfmasken oder ein besonders auffälliges Maskenbild zu den Kostümen dazu. Jedenfalls haben diese nicht nur eine dienende Funktion, sondern sind eine ausgesprochen expressive Erscheinung. Wie sind Sie denn dahin gekommen? VR: Sicher hat das viel mit eigenem Geschmack zu tun und auch dem Spaß daran, das Publikum in eine andere Welt zu entführen. Menschen darzustellen, die wir so nicht auf der Straße sehen. Ich komme ursprünglich aus der Mode – und habe gar nicht Kostümbild studiert –, wo der Begriff des Schönen, zum Beispiel in der Haute Couture, doch ein anderer ist. Da kann, auch wenn es um die Präsentation von extremen Entwürfen geht, durch die Perfektion schnell Langeweile entstehen. Ich denke, ich habe viel aus dieser Welt mitgenommen und für mich begriffen, dass Dinge, die auf den ersten Blick als schön erscheinen, verändert werden müssen oder sogar zerstört werden können. Dass die Entwicklung eines Kostüms beziehungsweise eines einzelnen Kleidungsstücks viel interessanter ist und im Theater auch brauchbarer.


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Post– Polarisierung? 13.– 14.6. 24

Kulturpolitische Narrative gestalten

12. Kulturpolitischer Bundeskongress, Berlin Aquino Tagungszentrum

Veranstalter

In Kooperation mit

Gefördert durch

www.kupobuko.de

AMPEDUSA Von Dietrich Wagner

PREMIERE 14. März 2024, 20 Uhr WEITERE VORSTELLUNGEN 15. März & 6.-7. April 2024, 20 Uhr

TRILOGIE REGIE Hannes Hametner MIT Friederike Pöschel & Lutz Wessel THEATER UNTERM DACH Danziger Straße 101 | 10405 Berlin theateruntermdach-berlin.de

„Die Aussicht auf Offenheit erzeugt Hoffnung.“ – Lore Perls

Eine Produktion von Brot & Rosen und Lore Perls Haus Pforzheim


Thema Semantik des Schönen

„Der Meister und Margarita“ nach Michail Bulgakow in der Regie von Luise Voigt am Deutschen Nationaltheater Weimar. Bühne Natascha von Steiger

„Durch die Kraft hat es eine Schönheit“ Die Bühnenbildnerin Natascha von Steiger über einen Begriff, an den sie selten denkt

Fotos NvSteiger

Von Michael Helbing

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Thema Semantik des Schönen „Ich musste erstmal lachen“, schreibt Natascha von Steiger, nachdem sie die ­ Anfrage erreicht hat, über Schönheit ­ zu ­reden. „Das ist das letzte, woran ich denke, wenn es um meine Bühnenbild­ entwürfe geht.“ Schönheit, wird sie später sagen, sei ein wahnsinnig allgemeiner und übrigens komplett subjektiver Begriff, der auch schnell mal mit „oberflächlich“ oder „banal“ gleichgesetzt werde. Aha, sind wir hier also falsch verbunden? Nicht unbedingt. Immerhin hat die Frage bei ihr ein Nachdenken angestoßen. Und den Anstoß, sie zu kontaktieren, gab zudem ein überwältigend schönes Bühnenbild in Weimar: für „Der Meister und Margarita“ am Nationaltheater. Regisseurin Luise Voigt wurde damit beim jüngsten Deutschen Theaterpreis „DER FAUST“ sehr zu Recht für die beste Schauspiel­ inszenierung nominiert, Natascha von Steiger in der Kategorie „Raum“ leider nicht. Dort stand sie 2011 mal auf der Liste, nachdem sie, angeregt durch ein Bild Caspar David Friedrichs, eine vereiste ­ Schneelandschaft mit Eisschollen aus Styropor entwarf: für „Das Erdbeben ­ in Chili“ in der Inszenierung von Armin ­Petras, die das Maxim Gorki Theater B ­ erlin mit dem Staatsschauspiel Dresden koproduzierte. Es ist übrigens ein Systemfehler, dass der „FAUST“ nicht funktioniert wie Filmpreise, bei denen eine Produktion regelmäßig in mehreren Kategorien nominiert werden kann. Aber das nur so nebenbei. Auffallend oft fotografieren Zuschauer den „Meister und Margarita“-Raum. Das Ah und Oh ist allgegenwärtig: So ein tolles und schönes Bühnenbild habe man schon lange nicht gesehen. Es handelt sich, der Anregung nach, um den achteckigen Innenhof im Berliner Quartier Schützenstraße, welches Aldo Rossi Mitte der Neunziger entwarf. Natascha von Steiger entdeckte ihn auf einem Spaziergang und nahm ihn sich zum Vorbild für eine dreidimensionale Kulissenbühne. Dafür kippte sie den Hof nach hinten um: Wir schauen nach vorne und sehen dabei, als ob wir am Boden lägen, nach oben. Der Blick geht, an sechs Fassaden entlang, hinauf in den glutroten Wolkenhimmel, wo via Video Vögel kreisen. Später schiebt sich der Mond ins Bild. Der Innenhof wird, Bulgakows faus-

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tischer Satire entsprechend, zum Vorhof der Hölle und zugleich zu einem Zeit- und Raumtunnel. Eine Bühne als Spielplatz für Regie und Darsteller, der ihnen möglichst viele Assoziationsräume eröffnet – darum geht es Natascha von Steiger grundsätzlich immer. Regisseure mit weniger Mut hätten ihr diesen Entwurf aber vielleicht um die Ohren gehauen. Er bietet vergleichs­weise wenig Spielfläche: ein relativ schmaler Steg in der Mitte als eine der Fassaden, an der man gleichsam hochklettern, durch deren Fenster man aber auch auftauchen kann, und ein bisschen Platz auf der Vorbühne – das war’s. Für von Steiger funktioniert dergleichen ganz im Sinne des Manifests Dogma 95: „dass man sich die größtmögliche Hürde vornehmen muss, um sie zu überwinden.“ Lars von Triers „The Five Obstructions“ nennt sie einen sie besonders inspirierenden Film.

Angeregt durch ein Bild Caspar David Friedrichs entwarf sie eine vereiste Schneelandschaft mit Eisschollen aus Styropor.

Die Suche nach Kräften Luise Voigt ließ sich jedenfalls auf dieses Spiel ein und ging damit um. Aktuell ist’s umgekehrt. Von Steiger musste ein früh entwickeltes Modell für „Woyzeck“ in Düsseldorf in die Tonne treten, weil es nicht zu Voigts Video-Konzept passte. „Bei ‚Meister und Margarita‘ war sie durch mich eingeschränkt, jetzt bin ich es mal.“ Sie habe sich beim künstlerischen Entwurf „extrem zurückdimmen müssen.“ Es ist die dritte Zusammenarbeit – ein Daniil-Charms-Abend fiel 2021 in Bonn allerdings Covid-19 zum Opfer – weitere werden aufgrund des Weimarer Erfolges in den nächsten Jahren folgen. Natascha von Steigers Anspruch blieb es, dass der „Woyzeck“-Raum „trotzdem eine Kraft bekommt.“ Das ist ihr zentraler Begriff. „Ich suche nach Kräften, die durch Ausgewogenheit, Komposition oder ­Kontraste entstehen. Wenn daraus etwas wird, was Zuschauer schön finden, freue ich mich. Ich selbst würde dann sagen: Durch die Kraft hat es eine Schönheit.“ Kraft also. Und Wucht. Außerdem: ein Spiel mit Symmetrie und Asymmetrie. Es braucht Brüche im Bild. Das hat, unter anderem, sehr viel mit Armin Petras zu tun. Direkt nach dem Studium in Wien

Oben „Die Schwarze Spinne“ von Jeremias Gotthelf, Regie Armin Petras an den Bühnen Bern. Bühne Natascha von Steiger Unten „Woyzeck“ von Georg Büchner, Regie Luise Voigt am Düsseldorfer Schauspielhaus. Bühne Natascha von Steiger

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Thema Semantik des Schönen Ein Spiel mit Symmetrie und Asymmetrie. Es braucht Brüche im Bild. lernte sie den Regisseur 1996 zufälligerweise kennen und arbeitet seitdem sehr viel mit ihm, damals zunächst in Leipzig. Während dessen Intendanzen am Berliner Gorki und am Stuttgarter Schauspiel war die Schweizerin später Ausstattungsleiterin. Kurz nach den Anfängen meldete sich Hans Neuen­fels. Er wollte sie 2001 für Strindbergs „Totentanz“ am Deutschen Theater Berlin, dessen Intendant und Chefdramaturg sich erstmal ihre Arbeitsmappe vorlegen ließen. Sie sahen darin „so eine kaputte Ästhetik“, was von Steiger nicht so empfand. „Ich kam von Petras, der nach Brüchen sucht.“ Bis heute bleibt von Steiger bei der Suche nach Bildern nicht selten an kaputten Landschaften oder Gebäuden hängen. Die Ästhetik des Zerfalls reizt sie durch-

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Schauspiel Leipzıg

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AMANDA WILKIN

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R EGI E .. A DE WAL E TEODRO S ADE BI S I B Ü H N E & KO S T Ü M E . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .................... ALE X ANDER GRÜNER

6. 4. 24 ————————————————————————

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Theatermalerei denkt sie gerne mit, wenn sie von einem hervorragenden Malsaal Kenntnis hat. In Weimar arbeitete sie 2022 das erste Mal und ließ den Malerinnen die Wahl, sich darauf einzulassen. „Sie haben sofort gesagt, sie machen das.“ Es bedeutet dann sehr viel mehr Arbeit als gedacht, hat sich aber sehr gelohnt. „Gemalte Prospekte lassen sich auch viel besser beleuchten.“ Hier trägt ein Handwerk zur Schönheit bei. Eines weiß von Steiger gewiss: „Wenn da was ist, was gefällt oder anregt, ist es immer einfacher, Zuschauer abzuholen, als wenn man gleich jemanden vor den Kopf stößt.“ Dennoch denke sie nicht grundsätzlich, wie sie jemanden mit Schönheit abholen könnte. „So ist es wirklich gar nicht!“ T

Weitere Texte zum Thema Semantik der Schönheit finden Sie auch unter tdz.de

DIE BRIDGE TOWER SONATE

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aus. Für „Die schwarze Spinne“, die Petras 2022 nach Jeremias Gotthelfs Novelle in Bern inszenierte, stellte sie eine kreisrunde Schräge auf die Drehscheibe, innen schwarz, außen weiß, bis knapp über die Hälfte umzäunt mit Brettern, unregelmäßige Lücken dazwischen. Die Idee dazu entnahm sie dem Text, der vom schwarzen Holz eines alten Balkens im Bauernhaus spricht, in dem die vor Jahrhunderten gefangen genommene Spinne hockt. Dieses Sinnbild für die Pest übersetzte von Steiger fürs Heute ins Waldsterben. Das Video fiel hier im Verlauf der Proben raus. In „Margarita“ war es von Anfang an als zusätzliche Ebene gesetzt. Von Steiger, die noch nie mit diesem Medium fremdelte, allerdings tunlichst vermeidet, dafür einfach nur eine Operafolie aufzuhängen, lässt damit die Architektur des Raumes bespielen. Dem gegenüber steht in Weimar „eine Kunst, die leider in manchen Häusern verloren geht oder schon gegangen ist, unter anderem durch Video bedingt“.

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K A R T E N . . . . . . . . . . . . . . . . . 0 3 41 12 6 8 16 8 W W W. S C H AU S P I E L - L E I P Z I G . D E


Theater der Zeit

Akteure

Sam Lubicz, The Sound of Protest / The Sound of a Better World panel, 3hd 2016: There is nothing left but the Future?

Collage Creamcake

Kunstinsert Die interdisziplinäre Plattform Creamcake

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Links: Omsk Social Club & Joey Holder, rechts: NAKED, Bilder von Ink Agop, „Chronologies of Creamcake,“ Design und Layout von Yukiko, erschienen im Distanz Verlag, 2024

Akteure Kunstinsert

„Is my future all in the past“ Die Berliner Creamcake-Gründerinnen Daniela Seitz und Anja Weigl über produktive Spekulationen Im Gespräch mit Ute Müller-Tischler

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Akteure Kunstinsert

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Links: Keioui Keijaun Thomas, rechts: Maria Metsalu & Mina Tomic, Bilder von Ink Agop, „Chronologies of Creamcake,“ Design und Layout von Yukiko, erschienen im Distanz Verlag, 2024

Akteure Kunstinsert

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Akteure Kunstinsert

Fotos

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Akteure Kunstinsert

Nile Koetting, 3hd 2015, „The Labor of Sound in a World of Debt“

Creamcake ist eine 2011 in Berlin von Daniela Seitz und Anja Weigl gegründete interdisziplinäre Plattform, die Projekte im Grenzbereich von Party, Performance und Kunst unter anderem im Berghain, in der Berlinischen Galerie, im Radialsystem und im HAU Hebbel am Ufer realisiert hat und außerdem auch international agiert (in Los Angeles, Mailand und Tokio).

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Ihr arbeitet seit 2011 als queer-feministische Plattform und stellt glamouröse Produktionen auf die Beine, die nicht nur sehenswert sind, sondern auch Themen ansprechen, die weit über die Gegenwart herausragen. Kann man das angesichts unserer kriegsgetriebenen Welt als Flucht in die Zukunft verstehen? Viele unserer Produktionen lassen sich als Spekulationen begreifen. Sie fragen etwa, ob es möglich ist, durch die Gestaltung neuer Welten und Zugänge eine bessere Zukunft zu entwerfen. Ein Beispiel dafür war das „Eat the Rich“-Bankett des vergangenen Jahres, das wir für unser jährliches Festival 3hd im Oktober inszenierten. Mit einem Programm von acht künstlerischen Positionen, die Performances, Essen, einen Toast und einer eigens für das Projekt komponierten Musik von und für unsere Gemeinschaft, wurde das HAU2 in einen erholsamen poetischen sozialen Raum verwandelt. Unser Ziel war es, Trost und Heilung zu spenden angesichts einer besonders schwierigen Zeit, insbesondere, was die aktuellen globalen Ereignisse betrifft. Der ironische Slogan birgt auch einen politischen Imperativ. Er war Teil der Gesamtausgabe des Festivals unter dem Titel „Let Them Eat Cake“ und bezog sich auf die Voraussetzungen des extremen Wohlstandsgefälles und der politischen Ungerechtigkeit, die im Laufe der Geschichte zu proletarischen Aufständen ge-

„Wir kreuzen Begriffe wie Wissensproduktion, Geschichten­erzählen und sogar Geschmack und Ästhetik.“ Theater der Zeit 3 / 2024

Foto links Catalina Fernandez

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Unter den Kuchen gehören Creamcakes zum fluffigsten und süßesten Backwerk, das ich mir vorstellen kann. Gibt es da eine Verbindung zur Plattform Creamcake? Der Name Creamcake war zum Teil eine Anspielung auf die frühere queer-Party „Milkshake“, die Anja bis 2011 mitorganisierte. Auch dort wurden Körper aktiviert und es gab elektronische Musik. Allerdings lag der Schwerpunkt weniger auf avantgardistischen und experimentellen Ansätzen oder interdisziplinären Praktiken und Beziehungen, die in die Performance, Bildende Kunst und die digitale Kultur hineinreichen. Der Schwerpunkt lag auf weiblich identifizierenden Künstler:innen im Techno, die die einstige Boys-Club-Mentalität aufmischten. Wichtig war für uns auch die inhaltliche Ebene. Die Sahnetorte ist ein Sammelbegriff für alle Arten von cremigem, opulenten Gebäck, das reich an Aromen, Texturen und Genüssen ist. Die Kunst und die Künstler:innen, die wir zusammenbringen und unterstützen, oder die thematischen Schwerpunkte, die wir mit unterschiedlichen Formaten generieren, haben eine gewisse Komplexität, Resonanz und Fülle, aber auch eine lockere, lustvolle, magische Verspieltheit, die Freude und das Feiern von queerem Vergnügen widerspiegelt. Wenn wir unsere Plattform mit einer Torte charakterisieren sollten, dann wären es die unkonventionellen Verlockungen von „rustcakes“, die die wir bei unserer „10/11“-Geburtstagsfeier in der Galerie im Körnerpark im Jahr 2022 zeigten und die das grenzenlose ästhetische Terrain des Spätkapitalismus erkunden.


Akteure Kunstinsert „Wir sehen das Paradies als einen Ort der ­Meinungsfreiheit und Offenheit für verschiedene Weltanschauungen und Denkweisen.“ führt ­haben. Wenn wir vor diesem Hintergrund also in über die Gegenwart hinaus denken, blicken wir sowohl zurück in die Vergan­ genheit als auch nach vorn in die Zukunft. So versuchen wir die Hoffnung zu imaginieren, die Solidarität, Widerstand und eine endgültige Veränderung in der Gegenwart möglich erscheinen lässt. Ihr habt Hunderte von Künstlerinnen und Künstler über die Plattform gezeigt. Inzwischen ist Creamcake berühmt dafür, Raum und Zeit zu erweitern, situative Erlebnisse herzustellen oder zu dekonstruieren. Denkt man an „Paradise Found /Paradise Lost“ oder „Rabbit Island“, erlebt man eure Produktionen als Entgrenzung des gegenwärtigen Da-Seins oder Da-Gewesenseins. Woher stammt dieser Dauerreiz zur Überschreitung? Letztendlich ist es unser queer-Sein, das uns antreibt, jenseits von Konventionen zu suchen. Bei Creamcake vereint uns alle unsere Abweichung von den hetero-patriarchalen Normen, die unsere Gesellschaft prägen, und die uns dazu bringen, alterna­ tive Lebenswege zu erkunden. Sei es durch die Anwendung eines Meta-Narratives auf das experimentelle Musik- und PerformanceEreignis „Rabbit Island“ im Spreepark oder durch die Umkehrung von John Miltons epischem Gedicht aus dem 17. Jahrhundert in der Reihe „Paradise Found/Paradise Lost“. Diese fand an historischen Orten statt, die im Laufe der Geschichte unterschiedliche Funktionen hatten, und brachte die Vorstellungen von Raum und Zeit als feste Zustände zum Einsturz. Creamcake ist immer auf der Suche nach transformativen Wegen, sich neu zu präsentieren und sich das anders-Sein vorzustellen. Egal, wie wir die Arbeiten unserer Künstler:innen und der queer-feministischen Gemeinschaft dahinter gestalten – sei es als Dramaturgie, Clubnacht, Konzert, Lecture oder DJ-Set, Ausstellung, Symposium oder online – oder wo wir Künstler:innen zeigen, sei es in einem alten Postturm, einem Planetarium oder einem öffentlichen Schwimmbad oder eben im Club. An dem Ort, wo wir tanzen, aber auch kritisch überlegen können, wer hier die F ­ äden zieht, ein Raum, der Creamcake freudig aufnahm und indem wir auch begonnen haben, Nächte zu veranstalten. Diese ­Praxis hat nicht nur dazu beigetragen, den Raum für die sogenannten „Ränder“ neu zu definieren und – wenn auch nur für kurze Zeit – zurückzuerobern, sondern es hat uns auch dazu gebracht, unterdrückende Machthierarchien zu hinterfragen und zu dekonstruieren. Wir kreuzen Begriffe wie Wissensproduktion, Geschichten­erzählen und sogar Geschmack und Ästhetik. Als Plattform, die aus den Herausforderungen struktureller Diskriminierung entstanden ist, haben wir bei Creamcake gelernt, uns anzupassen und Hindernisse zu überwinden. Denn wenn wir erst einmal erkennen, dass „Regeln“ auf einer Ebene gebrochen werden können, verstehen wir, dass sie auch auf jeder anderen Ebene durchbrochen werden können.

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Links Martins Kohout, rechts Caique Tizzi, Bilder von Ink Agop, „Chronologies of Creamcake,“ Design und Layout von Yukiko, erschienen im Distanz Verlag, 2024

Eure Festivals kommen als vergnügliche Themenparks oder fantastische Unterwelten daher. Auf euren Geisterbahnfahrten ­ nehmt ihr ein Publikum mit, das ganz anders tickt als im Stadttheater. Der Weg in die Hölle scheint in der von euch favorisierten Kunstform nicht über die Theaterbühne zu führen, oder ist ein Umweg denkbar? Das hängt davon ab, wie du „Hölle“ definierst. Es ist offen­ sichtlich, dass Vorstellungen von Himmel und Hölle relativ sind – was für jemanden das Paradies sein mag, könnte für jemand anderen die Hölle sein. Bei Creamcake sehen wir das Paradies als einen Ort der Meinungsfreiheit und Offenheit für verschiedene Weltanschauungen und Denkweisen. Wir versuchen keine Ideo­ logie zu etablieren, sondern erkunden lieber die Menschheit und das Dasein in all ihren Facetten, immer auf der Suche nach dem Ungesehenen oder den subtilen, sensiblen Verbindungen, die dahinter liegen. Wir sind mehr an der Reise als am Ziel interessiert. Und wenn das bedeutet, dass wir auch mal im Stadttheater ­landen, dann sind wir absolut dabei. „Is my future all in the past“, wie Keith Richards sagt? An welche Zukunft glaubt Creamcake? Wie schon gesagt, bei Creamcake glauben wir daran, dass es in der Zukunft möglich sein wird, sich seine eigene Welt zu gestalten. Die Welt wird vielleicht nie für alle sicher und friedlich sein, aber wir können zumindest versuchen, sie für die Menschen um uns herum sicherer und friedlicher zu machen. Wenn das jede:r machen würde, würden wir alle davon profitieren. T

Weitere Kunstinserts finden Sie unter tdz.de/kunstinsert

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Stück Gespräch

Impulsgeberin für die Auflösung Foto craiyon.com

Die Theaterautorin und Regisseurin Carina Sophie Eberle über Sprache und Wirklichkeit, paradoxe Körperdarstellungen im Christentum und das Ende von Erlösungsdramaturgien Im Gespräch mit Nathalie Eckstein

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Stück Gespräch Im Text „Eva Rippe“ entsteht die Welt durch das Wort, aus einer Wolke von Buchstaben, es wird buchstabiert, aus der (falschen) Benennung der Erdgöttin Heba wird durch Adam Eva, Jesus’ Zeugung ist ein performativer Akt – welche Rolle spielt das Wort in der Schöpfung, wie verhalten sich Sprache und Wirklichkeit zueinander? Carina Sophie Eberle: Wirklichkeit wird Sprache und Sprache wird Wirklichkeit. Diese Wechselwirkung zieht sich durch „Eva Rippe“. Und durch Schöpfungsmythen im Allgemeinen: Es scheint ein grundlegendes menschliches Bedürfnis zu sein, die eigene Existenz in einen Sinnzusammenhang einzuordnen. Unerklärliches wird benannt, Geschichten geteilt, Welten geordnet. Letztlich ist Sprache ein Werkzeug, mit dem mensch sich in Beziehung setzen kann zu einem Universum. „Eva Rippe“ schöpft aus diesem Spannungsfeld und spielt gleichzeitig damit; bewusst humorvoll, satirisch und leicht. Gerade in der christlichen Tradition hat das Wort eine riesige Bedeutung. Einmal ausgesprochen, verändert es Realitäten. Durch das Wort – „hoc est corpus“, hokuspokus – wird Brot zu Fleisch, Wein zu Blut. Maria antwortet auf die Ankündigung ihrer Schwangerschaft: „Mir geschehe nach deinem Wort“. Interessant ist, dass viele dieser Fiktionen reale physiologische Vorgänge überlagern: symbolisches Essen als Kern des katholischen Gottesdienstes, symbolische Wiedergeburt im Jenseits, symbolische Nächstenliebe im zölibatären Klerus. Das war eine der Spuren, die ich verfolgt habe: Inwiefern wirken diese Fiktionen auf physiologische Realitäten ein? Abtreibungsverbote, Queerfeindlichkeit, Verbot von Verhütungsmitteln und der patriarchale Mythos um das Hymen – weltweit werden christliche Vorstellungen als Machtinstrument gegen Frauen und FLINTA-Personen verwendet und Machtkämpfe auf ihren Körpern ausgetragen. Die Bearbeitung im Text bildet eine kunstvolle Auseinandersetzung mit diesen Themen. Welches Potenzial steckt darin, biopolitische Themen auf der Bühne zu verhandeln? CSE: Theater sind für mich Orte, wo Fiktionen verkörpert werden. Kirchen ebenfalls. Ein katholischer Gottesdienst ist durchinszeniert, immersiv und interaktiv. Was passiert, wenn ich der oben skizzierten Symbolik auf einer Bühne physiologische Tatsachen entgegensetze? Mein Ausgangspunkt war dabei die Idee vom „Körper als Situation“. Simone de Beauvoir schreibt in phänomenologischer Tradition, der Körper sei „unser Zugriff auf die Welt“. Heißt: Der Körper befindet sich nicht in einer Situation. Die körperliche Erfahrung in ihrer Gesamtheit – Sinneseindrücke, Gedankengänge, Stoffwechselprozesse, usw. – ist die Situation. Krasser Gegensatz dazu: Die christliche Trennung von Körper und Geist. Der Geist macht den Menschen zum Ebenbild Gottes und legitimiert seine Vormachtstellung auf der Welt. Der Körper, Gegenspieler zum Geist, ist durch die Erbsünde per se problematisiert. Die biblische Geschichte von Adam und Eva ist da nicht zu unterschätzen. Da wird erstens ein binäres Mann-Frau-Modell Grundlage für die weitere Menschheit. Zweitens: Die Vulva, symbolisch repräsentiert vom Apfel, in vor-biblischen Mythologien

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Ich halte Liebe für eine revolutionäre Idee, auch heute. Die Frage ist, wie sich diese „Liebe“ äußert und unter welchen Vorzeichen. Wer identifiziert sich mit einem männlich gegenderten „Gott, der Herr“? Was heißt es, wenn so viele Darstellungen von Gott, Sohn, Maria weiße Körper zeigen?

Eingang zum Paradies, wird mit dem Sündenfall zum Grund für die ewige Verdammnis. Achtung, Frau. Paradoxe Körperdarstellungen sind die Folge: Zum Beispiel wird Jesus’ Geburt vollständig ausgespart, in Heiligenlegenden und Kruzifix-Darstellungen dagegen Schmerz als besonderer Ausdruck von Frömmigkeit glorifiziert. Eine biopolitische Herangehensweise kann diese Paradoxien offenlegen. Die christliche Schöpfungsgeschichte ist nur eine von vielen. Im Text tritt zum Beispiel auch die Erdgöttin Heba auf. Was passiert, wenn verschiedene Figuren aus verschiedenen Glaubenssystemen aufeinandertreffen? Welche Rolle spielen Hierarchien und Macht? CSE: Die Perspektive verschiebt sich. Absolutheitsansprüche werden ausgehebelt. Das ist eins der großen Probleme am ersten Gebot: „Du sollst keinen Gott neben mir haben“. Ernstgemeinter Glaube schließt den Perspektivwechsel aus. Wenn jetzt Figuren aus unterschiedlichen Glaubenssystemen interagieren, werden Kreisläufe sichtbar und ein enormes spielerisch-satirisches Potenzial freigesetzt. Ähnliche Motive wiederholen sich in verschiedenen Figurationen. Immer wieder geht es um Liebe. Immer wieder ums Sterben. Einen Neubeginn. „Eva Rippe“ ist eine ArchäologieArbeit, in der ich nach genau diesen Überschneidungen gesucht habe; nach den narrativen Schichten, unter denen eine geteilte Sehnsucht nach Sinnhaftigkeit liegt. Jesus ist dabei eine beeindruckende Figur. Ich halte Liebe für eine revolutionäre Idee, auch heute. Die Frage ist, wie sich diese „Liebe“ äußert und unter welchen Vorzeichen. Wer identifiziert sich mit einem männlich gegenderten „Gott, der Herr“? Was heißt es, wenn so viele Darstellungen von Gott, Sohn, Maria weiße Körper zeigen? Was ist mit Exegese und Übersetzung, wie sind die Institutionalisierungsvorgänge abgelaufen? Wo sind die Apostelinnen der christlichen Ur-Kirche in der Geschichtsschreibung hin? Welche Art von Spiritualität wäre heute Konsens, wenn andere sie entwickelt und gepflegt hätten? Da tut sich ein erstaunliches Missverhältnis auf: Wenn die Kirchen in ihrer heutigen patriarchalen Form Resultat einer langen Reihe von Interpretationen sind, wie können sie dann so immense Wirtschaftsunternehmen sein? Steuern einnehmen, Bildung und Architektur prägen, Deutungshoheit beanspruchen? Die Figur der EVA im zweiten Teil des Stücks kommt im Gegensatz zu den anderen Figuren in der göttlichen Sphäre als Mensch

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Stück Carina Sophie Eberle

Der Text bildet formal ein Triptychon, nur eins von mehreren Elementen aus der christlichen Ikonografie, die im Text übernommen werden. Der erste Teil bildet eine Umdeutung der Schöpfungsgeschichte, der zweite befasst sich mit dem menschlichen Leben und der dritte bildet eine Art kollektiver Utopie. Was ist zu gewinnen, wenn wir uns vom patriarchalen Machtanspruch der Kirche befreien? CSE: Große Frage. Die Basis ist Selbstbestimmung – auf allen Ebenen. Das christliche System hat die westliche Geschichte ja in fast allen Bereichen über Jahrtausende geprägt. Manche Machtansprüche sind leicht als solche zu identifizieren. Spannend wird es bei Einflüssen, die auf den ersten Blick selbstverständlich erscheinen. Oder scheinbar gar nichts mit einer konkreten spirituellen Praxis zu tun haben. Das ist ein riesiges und individuelles Feld, von christlich-gesetzlichen Feiertagen, Liedern auf dem Weihnachtsmarkt bis hin zu Vorstellungen von Familie, Mutterschaft, Kör-

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perkonzepten, Rollenbildern. Je mehr Gelenkstellen dieses Weltbildes sichtbar werden, desto mehr Raum entsteht. Letztlich geht es da auch um ein überlebensnotwendiges Bewusstsein für die Begrenztheit der eigenen Perspektive. Die menschliche Erfahrung ist eine von unvorstellbar vielen, die individuelle Perspektive ist immer subjektiv. Der Mensch lebt als körperliches Wesen in einem Netz (eben nicht in einer Hierarchie) von Lebensformen und Kreisläufen, und wir werden nie die Welt verstehen. Die Frage ist: Wie wollen wir von hier aus in Beziehung treten? T

Carina Sophie Eberle studierte Germanistik, Französisch und Gesang und arbeitet seit 2016 als freischaffende Theatermacherin. Sie schreibt Stücke und Libretti, entwickelt diskursive Formate und inszeniert unter anderem am Theater Münster und am Theater Bonn. Ihre Arbeiten wurden mit dem Deutschen Jugendtheaterpreis und dem Jugendstückepreis des Heidelberger Stückemarkt ausgezeichnet und waren auf der Shortlist des KleistFörderpreises für junge Dramatik. Ihre Stücke kamen unter anderem am Theater Bielefeld und am Deutschen Theater Göttingen zur Uraufführung.

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Foto Sinje Hasheider

daher. Das menschliche Leben wirkt trostlos und die Rituale der katholischen Kirche grausam. Welche Rolle spielt dieser mittlere, irdische Teil des Textes, deren Protagonistin dem Stück den Titel gibt? CSE: Der zweite Teil ist eingebettet in die Schöpfungsvariationen vom Anfang und ins WIR im dritten Teil. Er ist auch erst entstanden, als diese Kontextualisierung schon klar angelegt war. Im zweiten Teil erfolgt ein Blick durchs Vergrößerungsglas. Die irdische Welt ist eine artifizielle Welt, die sich aus den Setzungen des ersten Teils entwickelt hat. Das Spiel um Sprache und Wirklichkeit geht weiter. Während es am Anfang noch überbordend alle Möglichkeiten gibt, wird es jetzt rudimentär: Ein individueller Ausdruck ist kaum mehr möglich. Die Eckpfeiler sind festgeschrieben. Welche Möglichkeiten bieten sich einer Eva Rippe hier und jetzt? Welche „Zugriffe auf die Welt“ sind möglich? Wie sind die Wechselwirkungen zwischen gesetzlichen Vorgaben, ökonomischen Zwängen und weltanschaulichen Spielräumen, sich ein anderes Leben vorzustellen? Welche (sozialen) Preise sind dafür zu zahlen? Carolin Emcke schreibt in „Wie wir begehren“: „Wo Lust per se verboten ist, ist jede Form des Begehrens transgressiv und es lassen sich Formen der Grenzüberschreitung nicht mehr wahrnehmen“. Daran anschließend: Inwiefern ist das Gedankenmodell – Geist, schuldbeladene (weibliche) Körperlichkeit – per se grenzüberschreitend? Ich beobachte über „Eva Rippe“ hinaus, wie schmal der Grat ist, Machtgefälle zwar zu benennen, sie dabei aber nicht zu reproduzieren. Es interessiert mich nicht, immer wieder nicht-emanzipierte Zustände als Ausgangspunkt zu setzen und eine psychologisch gearbeitete Figur in einer linearen „Erlösungs-Dramaturgie“ mit individualisierten Verletzungen zu konfrontieren. Eva Rippe ist die Figuration, die sich aus dem gegebenen Weltbild entwickeln konnte. Sie ist Stellvertreterin für viele weibliche Leben, Impulsgeberin für die Auflösung am Ende, bereits gesehen vom WIR.


Theater der Zeit

Stück Eva Rippe Carina Sophie Eberle

Es haben das Wort WIR Teil 1 Lichte Luft / Ge o te te / Gottmannvater Adam, der erste Mensch Heba, Erdgöttin Abdiheba, ihr Gefährte Eva Schlange Zeus Europa Erzengel Gabriel Teil 2 Eva Rippe Eva Rippes Mutter Eva Rippes Vater Dorfbewohner:innen Priester Der Heilige Georg Die Heilige Katharina Die Heilige Ursula Die 11.000 Jungfrauen in Ursulas Gefolge Person in Eva Rippes Fantasie Pflegekraft Apothekerin Eva Rippes Ehemann Eva Rippes Gewissen

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Teil 3 Maria Maria Maria Junia, Apostelin Phöbe, Anwältin Lydia, Tuchhändlerin Maria Magdalena Ostara und weitere Göttinnen nach Bedarf Drachen „Hexen“ Pflanzen Glocken Licht Kommentar zur Besetzung: Nicht jede:r muss einen Körper aus Fleisch und Blut haben. Fließende Übergänge zwischen den Sprechenden sind wünschenswert. Besetzung variabel ab 4 Personen bis großer Chor.

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Stück Carina Sophie Eberle

Szenario Teil 1 Schöpfung

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el i ce ha t Menschen Paradies Rippe Himmel und Hölle Der Sündenfall Das einzige Gebet Von Gott zu Mann

Teil 2 Welt 1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12

2000 Jahre später Krippenspiel Nacht Sonntag Kreuz Wandlung Heilig Vergebung Lust Fleisch und Blut Gute und schlechte Tage Anfang

Teil 3 Vision

Quellen, Flüsse

Teil 1 Schöpfung 1 l

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Licht A en ef a en ge A en ef a en ge A en ef a en ge Anfang

© Verlag der Autoren Frankfurt am Main, 2023 Abdruck gefördert mit Mitteln des Deutschen Literaturfonds.

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I em A en ef a en ge we a er we a er we a er de a es de a es

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Stück „Eva Rippe“ de a es El i ce ha te Licht I em a en ef an en ge we a er de a es war das war das war das El i ce ha te Licht Im Anfang war das Licht hell Das Licht ist u en e en de el i ce ha unendlich unendlich unendlich unendlich unendlich hell ge u te gut Ausrufezeichen Die Unendlichkeit ist groß Die Unendlichkeit ist klein Die Unendlichkeit atmet ein aus Nichts es e ha e en sehen Nichts ha ö er e en hören Nichts riechen Nichts schmecken fühlen Noch nichts Das Licht Ausrufezeichen ist unendlich unendlich unendlich schön Das Licht ist unendlich schön Das Licht ist unendlich leer Die Leere ist unendlich unendlich unendlich Es werde Licht Es werde Wasser Es werde Erde Es werde Luft Es werde Feuer Es brennt Kontinente verschieben sich Vulkane brechen aus und erlöschen

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Welten entstehen und vergehen Fische des Meeres Vögel des Himmels Ozeane die alles verschlingen Im Anfang war das Ende Das Ende war ein Anfang Leben Atmen Sterben Leben Atmen Sterben Ist die Leere unendlich unendlich unendlich Fragezeichen

Etwas Sand rinnt Eine Handvoll Blätter fliegt Die lichte Luft seufzt Sie dehnt sich aus in die Weite und zieht sich wieder zusammen haucht Großes haucht Gutes Die Erde bebt Die Erde lebt Geister und Fleisch und Blut Etwas atmet ein aus der erste Mensch

Ein Mensch sitzt und schreibt Ein Mensch sitzt und zeichnet Ein Mensch steht auf und schlägt ein Bild in den Stein Viele Menschen sitzen und formen die Unendlichkeit die nicht in ihren schreibendenzeichnendenmeißelnden Händen liegt Ich schreibe Du schreibst WIR schreiben um unser ein aus Leben

Der erste Mensch atmet die lichte Luft ein aus Der erste Mensch öffnet die A u ge e en Augen sieht sich um und staunt reitet eine Runde auf einem Dinosaurier setzt sich auf einen Felsvorsprung und schaut gedankenverloren in die Tiefe Seine Rippen zeichnen sich deutlich ab Die lichte Luft: Mensch:

Ha a el el o.

Huh, was ist das?

Die lichte Luft:

Es spricht! Du sprichst!

Mensch: Was ist sprechen? WIR werden sehen WIR werden schmecken WIR werden riechen fühlen hören WIR werden genau zuhören An UNS führt kein Weg vorbei WIR fangen an Ein Anfang

2 Menschen

Lichte Luft: Worte. Kommunikation. Mensch: Okay, danke. Was bist du? Lichte Luft: Ich bin der Anfang und das Ende. Mensch:

Und was bin ich?

Lichte Luft: Du bist der erste Mensch. A de a em. Adam. Mensch: Okay. Kann ich dir auch einen Namen geben? Lichte Luft: Ich kann dich nicht daran hindern. Mensch: Lass mich überlegen. El i ce ha te Licht? El u ef te Luft? Zu doppeldeutig. Lichte Luft:

Ein eigener Name wäre gut.

Kontinente verschieben sich Vulkane brechen aus und erlöschen Welten entstehen und vergehen Wasser Erde

Mensch: Etwas Kurzes, Knappes. Ge o te te? Gott?

Feuer Lichte Luft

Schweigen

Gott: Gut. Adam:

Gott?

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Stück Carina Sophie Eberle Gott:

Adam?

Gott: Ein Gefühl.

Adam:

Bist du noch da?

Adam: Gefühl. Schwieriges Wort.

Gott:

Ich bin immer da.

Adam:

Ich kann dich gar nicht sehen.

Gott: Sagen wir es so, da ist niemand, der mit dir die Dinosaurier füttert.

Gott: Ich bin in allem, was du hier siehst. Adam: Also bist du unsichtbar! Gott: Nein, nein. Wie gesagt, ich bin in allem, was du hier sehen kannst. Ich bin in der Luft, die du atmest. Adam: Okay. Danke. Die beiden schauen ins Weite Gott: Und, was hast du schon so alles erlebt? Adam:

Jetzt hast du mich aber erschreckt.

Gott: Tut mir leid. Ich bin das noch nicht gewohnt, mich zu unterhalten. Ein Gegenüber zu haben. Adam: Ich war klettern, bin auf einem Dinosaurier geritten und dann habe ich versucht, ein paar Wolken auszuwringen. Gott:

Gut!

Adam seufzt Gott:

Was hast du denn?

Adam:

Ich weiß es nicht.

Gott: Du kannst hier machen, was du möchtest! Es gibt so viele Möglichkeiten! Adam: Okay, danke. Gott: Die Fische des Meeres, die Vögel des Himmels, alle Kriechtiere auf dem Land; und du mittendrin! Adam: Die Dinos auch? Gott: Vor allem die Dinos! Du bist die Krone der Schöpfung, Adam! Adam:

Was ist eine Krone?

Gott: Du bist mein Gegenüber, du bist das Ebenbild Gottes! Adam: Okay, danke, aber, Gott? Gott:

Adam?

Adam: Ist da noch jemand? Außer dir? Gibt es noch andere sichtbare - Menschen? Schweigen Gott:

Du bist einsam.

Adam: Jot a! Ja! Schweigen Gott: Also gut. Wie gehen wir das an, Mensch. Adam: Du hast mich gebaut, nicht umgekehrt. Gott: Bist du dir da so sicher? Seit du mich Gott nennst, hat sich das Gefüge irgendwie verändert. Adam: Was ist sicher? Gott: Ich habe kein anatomisches Studium! Adam: Was ist ein anatomisches… Gott: Lass uns systematisch vorgehen. Gott studiert Adam Gott: Brustkorb, 12 Rippenpaare, um deine lebenswichtigen Organe zu schützen. Adam:

Was sind …

Gott:

Herz, Lunge.

Adam:

Herz, Lunge. Und die Rippen?

Gott: Knochen. Sehr stabil, tragen dein ganzes Körpergewicht, sind gefüllt mit Knochenmark. Eine Rippe enthält die pure Energie. Adam: Genial. Gott klopft Adam gegen die Brust Gott: Du suchst ein Gegenüber. Ich denke, eine Rippe könnte ein guter Ausgangspunkt sein. Adam: Okay, also du bist Gott, und ich will mich nicht in deine Angelegenheiten mischen, aber wie willst du das machen?

Kontinente verschieben sich Vulkane brechen aus und erlöschen Adam atmet tief ein aus Sein Brustkorb hebt sich Sein Brustkorb senkt sich Gott entnimmt fachkundig eine Rippe aus Adams Brust Fleisch und Blut Gott hält die Rippe Sie leuchtet Gott säubert Gott wiegt Gott formt haucht die Rippe an Lichte Luft Und neben Adam erscheint jetzt der zweite Mensch ein ein aus aus ein ein aus aus Brustkörbe heben sich Brustkörbe senken sich Adam schlägt die Augen auf ein ein aus aus Gletscher schmelzen Es tschirpt Es zwitschert Der zweite Mensch schlägt die Augen auf ein ein aus aus Adam und der zweite Mensch sehen sich an Ihr Atem synchronisiert sich Sie atmen tief ein tief aus Gott: Ich störe nur ungern, aber eins noch. Hausordnung. ein aus Gott: Adam, hörst du?

Gott: Hm.

ein aus

Adam: Und kann ich mit elfeinhalb Rippenpaaren überhaupt überleben?

Gott: Adam! Von allen Bäumen des Gartens darfst du essen …

Gott: Das wird sich zeigen. Das hier hat ja insgesamt einen eher experimentellen Charakter.

Adam: Welcher Garten?

Adam: Was ist ein Experiment … Gott lässt einen tiefen Schlaf auf Adam den ersten Menschen fallen

Gott: … nur nicht vom Baum der Erkenntnis! Adam zum zweiten Menschen: Kannst du sprechen? ein aus Gott: Sobald du davon isst, wirst du gut und böse erkennen …

Adam: Was ist einsam?

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Theater der Zeit 3 / 2024


Stück „Eva Rippe“ Adam: Gut! Gott: Nein, nicht gut! ein aus Adam und der zweite Mensch legen sich die Arme um die Schultern Haut auf Haut Es tschirpt Es zwitschert Das Licht dehnt sich aus Feuer Wasser Erde Luft Die Weite atmet WIR sehen durch ihre menschlichen Augen: Ein Paradies

3 Paradies Auftritt Blumen Wälder Knospen Quellen Flüsse Es tschirpt Es zwitschert Alle Berge lösen sich auf Alle Hindernisse schmelzen Frühling Blühen Hitze Hochrote Äpfel Gelbe Blätter Fallobst Es regnet Es schneit Die Bäume nackt Zwei Körper nackt Auftritt Blumen Wälder Knospen Monde wachsen und nehmen ab Tag und Nacht wechseln sich ab Hochrote reife Äpfel Ein stromlinienförmiges Wesen trägt sein eigenes Haus auf dem Körper Ein anderes ist meterlang und dünn, die Haut bunt gemustert Da liegen Heba die Erdgöttin Abdiheba ihr Gefährte Zwei Körper nackt nebeneinander unter den Bäumen

Theater der Zeit 3 / 2024

in der Sonne Lichte Luft Wind auf der Haut Wärme in diesem Paradies ein aus Heba nimmt einen der Äpfel Hand auf Haut Sie bricht den Apfel in der Mitte durch Haut auf Haut Heba nimmt eine Hälfte des Apfels ein aus Abdiheba die andere ein aus Leben Heba beißt in den Apfel ein aus Lieben Abdiheba beißt in den Apfel ein aus Sterben Heba und Abdiheba verbeißen sich ineinander Leben Lieben Sterben Die lichte Luft flirrt Die Äpfel zittern Heba kommt und blüht Abdiheba kommt und stirbt ein aus Leben Lieben Sterben Zweidreivier Körper werden Ewig leben Ewig lieben Ewig sterben Lichte Luft in diesem Paradies

4 Rippe Auftritt Blumen Wälder Knospen Quellen Flüsse Es tschirpt Es zwitschert Gottes Stimme ein leises luftiges Echo

Nicht essen Nicht essen Nicht e… Hochrote Äpfel Frühling im Freeze Adam nimmt den zweiten Menschen bei der Hand. Adam: Mensch, ist das schön! Bein von meinem Bein! Fleisch von meinem Fleisch! Wie heißt du? Warte, sag nichts … Rippe! Nein … Der zweite Mensch:: Ich heiße Heba. Adam: Eva. Schön. Eva: Nein, Heba. Die Erdgöttin Heba aus der palästinensischen Mythologie. Das hier ist mein Apfelbaumpara… Adam: Eva, sage ich ja. E vau a. Du bist wirklich schön geworden. Warte, warte. Ich bin der erste Mensch. Du der zweite. Ich aus Lehm, du aus meiner Rippe, sollten wir da nicht einen Unterschied machen? Ich hab’s! Ich bin ein Em a en en und trage die Krone der Schöpfung. * Und dich, den zweiten Menschen, nenne ich Ef er a u. Frau. Eva: Das andere Geschlecht. Na, wunderbar. Adam: Wollen wir eine Runde spazieren gehen, Eva? Schau mal, diese knorrigen Gewächse! Ich nenne sie Be a u em. Baum! Und hier, dieses Kriechtier, es hat sein eigenes Haus dabei! Ich nenne es Es ce ha en e ce ka e! Schnecke! Ingesamt gefällt es mir wirklich gut in diesem Paradies, was meinst du, Eva, aber jetzt bin ich müde, ich mache mal ein En i ce ka e er ce ha e en, Nickerchen. Unter diesem besonders schönen Baum hier. Irgendwas hat Gott doch auch dazu gesagt … Nicht essen … Ich bin so müde! Die Krone der Schöpfung ist wirklich schwer. Adam legt sich unter den Baum der Erkenntnis und schnarcht. Eva setzt sich daneben. Es passiert sehr lange nichts. Nichts. Nichts. Irgendwann schlängelt sich ein langes dünnes Tier über den Baum auf die beiden Menschen zu.

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Stück Carina Sophie Eberle Langes dünnes Tier: SSSSS

Schlange: Sieht man gar nicht, diese Krone.

Eva: Na.

Eva:

Adam wacht kurz auf.

Schlange: Ich kann mir nicht vorstellen, dass diese Variante des Paradieses sich durchsetzen wird.

Adam: Es ce ha el a en ge e! Er schläft wieder ein. Eva: Schlange. Schlange: SSSS Eva: Aus welcher Geschichte stammst du? Schlange: Endlich fragt jemand! Hochsymbolische Vergangenheit! Eva: Nämlich? Schlange: Die Orakelschlangen von Delphi: meine Schwestern! Kleopatras Schlangen: meine Cousinen! Die Medusa mit dem Schlangenhaar! Und dann erst all die Drachen! Ich habe eine große Familie. Und du so? Eva:

Er nennt mich Eva.

Schlange: Weil er Heba nicht aussprechen kann? Eva:

Du kennst dich gut aus.

Schlange: Die Erdgöttin Heba und Abdiheba lieben sich in Hebas Apfelbaumparadies. Nach dem Liebesakt stirbt Abdiheba und bleibt so ewig jung. Vergleichsweise langweilig hier, oder? Eva: Frag nicht! Ich hasse diese Variante der Geschichte! Adam schläft die ganze Zeit und wenn er wach ist, sucht er Namen für all das hier, völlig obsessiv. Alles muss vermessen, benannt, erobert werden. Er denkt ernsthaft, er trüge die Krone der Schöpfung!

Ich kann gar nicht mehr klar denken.

Eva: Kann man nur hoffen. Schlange: Die Äpfel hier sehen echt gut aus. Eva: Der Gott dieser Geschichte sagt, wir sollen sie nicht essen. Schlange: Eva:

Hast du ihn schon mal gesehen?

Nein. Auch unsichtbar.

Gott: Hallo Zeus. Reich mir doch mal deinen Donner rüber, bitte, schnell. Zeus: Immer gerne. Was hast du vor? Gott: Ich hatte es ihnen doch! Sie haben vom Baum der Erkenntnis gegessen! Jetzt erkennen sie Gut und Böse! Zeus: Oh je, da musst du hart durchgreifen. Den Fehler hatte ich mit Prometheus auch gemacht. Da hatten die Menschen dann das Feuer. Auch alles sichtbar. Jede Kleinigkeit. Alle konnten mir plötzlich in den Olymp schauen.

Schlange: Vielleicht kommen wir über die Äpfel aus dieser Geschichte raus.

Gott: Unglaublich!

Eva: Du hast recht! Vielleicht ist es sogar unsere einzige Chance …

Zeus: Da sagst du was. Aber schön, dich mal kennenzulernen. Wir könnten mal ein Bier zusammen trinken.

Eva berührt vorsichtig einen Apfel Es passiert nichts Eva beißt in die Frucht wird plötzlich wach streckt die steifen Glieder Wärme durchflutet ihren Körper Eva leuchtet Die Schlange um ihren Hals Adam wacht auf Eva reicht ihm die zweite Hälfte des Apfels Adam beißt in die Frucht Hand auf Haut Haut auf Haut Leben Lieben Sterben Zweidreivier Gott: Adam, was macht ihr da! Beim Zeus! Ich hatte es euch doch! Ich hatte es ihnen doch! Zeus: Da bin ich, hat mich jemand gerufen?

Gott: Prinzipiell gern. Ich hatte ihnen aber gesagt: neben mir.

Keine Götter

Zeus: Sieht doch niemand. Du bist doch eh unsichtbar. Gott: Okay. Gern. Zeus: Gutes Gelingen, Gott. Lass krachen. Gott schreitet ein ins Paradies Donner Es blitzt Kontinente scheinen sich zu verschieben Vulkane scheinen auszubrechen und zu erlöschen Adam und Eva stehen im strömenden Regen De o en en e er! Donner Ausrufezeichen

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SCHICHTEN

Nebenan/Mellettünk

Rosas

Miller de Nobili

Künstlerische Praktiken des Erinnerns 29.02. – 02.03.

EXIT ABOVE after the tempest 08. – 10.03.

Highlights Dezember

Highlights März

Ryoji Ikeda & Ensemble Modern music for strings 15.03.

Unabhängige Kunst aus Ungarn 20. – 23.03.

Labyrinth 28. – 30.03.


Stück „Eva Rippe“ Gott: Adam! Adam: Nicht, Gott, ich bin en a ce ka te! Gott: Wer hat dir gesagt, dass du nackt bist? Schweigen Gott: Hast du vom Baum der Erkenntnis gegessen? Lüg mich nicht an! Schweigen Gott: Adam, willst du mir etwas sagen? Schweigen Adam wirft Eva einen Blick zu, die schüttelt den Kopf. Eva: Adam, das ist unsere Chance. Die Krone der Schöpfung gibt es nicht! Gott: Ach, der zweite Mensch kann auch sprechen? Adam zögert, dann bricht es aus ihm heraus. Adam: Die Rippe war es. Eva. E vau a. Die Frau. Sie war es. Schweigen Adam: Und die Schlange. Die war es auch.

5 Himmel und Hölle Gott zur Schlange: Weil du das getan hast! Verflucht unter allem Vieh! Muh! Auf deinem Bauch, den du nicht hast aber egal, sollst du kriechen. Deine Cousins die Drachen werde ich alle töten lassen von meinen Heiligen, von Siegfried dem Nibelungen.

Baden sollen sie in eurem Blut! Friss Staub alle Tage deines mickrigen Lebens, Staub, Staub, Staub Ausrufezeichen Gott zu Eva: Dass du überhaupt sprechen kannst! Was für ein Fehler! Viel Mühsal! Sobald du schwanger! Unter Schmerzen sollst du Kinder gebären. Kinder und noch mehr Kinder. Herrschen soll dein Adam über dich. Staub, Staub, Staub Ausrufezeichen Gott zu Adam: Wie blöd kann man sein! Ich hatte es dir gesagt! Verboten, verboten, Gebote, zehn! Und nicht mal an die Hausordnung kannst du dich halten! Dann eben jetzt fühlen. Auf Knien sollst du mich anbetteln, dich zu erlösen aus deinem elenden Leben! Gedenke Mensch, dass du Staub bist und zum Staub zurückkehrst. Staub, Staub, Staub Ausrufezeichen Hiermit schaffe ich den Himmel – hier. Und die Hölle – tief, tief unten. Von jetzt an sollt ihr alle sterblich sein Punkt So, und jetzt raus.

Gott schubst alle entschieden aus dem Paradies.

6 Der Sündenfall Adam und Eva fallen Aus Hebas Liebesapfel und fallen wird das Symbol der Erbsünde. und fallen Aus der Vulva als Weg zum ewigen Leben und fallen wird das Tor zur Hölle. und fallen Gott hängt am Eingang zum Paradies ein Schild auf: Garten Eden. Geschlossene Gesellschaft. und fallen Zur Sicherheit stellt er einen Cherub zur Wache auf. und fallen Das ist eine Art Riesenengel mit einem Flammenschwert, gut! und fallen Zweidreivier Cherubim, besser! und fallen Die Umdeutung der Vulva in der biblischen Schöpfungsgeschichte trägt Früchte: und fallen Worte und Namen, und fallen „Schwert“ und „Scheide“, und fallen die „Scham“. und fallen

Im Jahr 2005 nach Christus macht die australische Forscherin Helen O’Connell erstmals Aufnahmen der gesamten Klitoris mit


Stück Carina Sophie Eberle einem MRT. und fallen Es zeigt sich: Sichtbar ist nur die Krone der Klitoris. Zwei Schwellkörper ragen etwa 9 cm in den Körper hinein. und fallen Eine nützliche anatomische Information an alle Gött:innen da draußen, sollte einmal der Bedarf nach einem Homunkulus aus Klitorismaterial bestehen. und fallen Adam pflügt und fallen Eva schreit und fallen Adam pflügt und fallen Eva schreit und fallen Generationen pflügen und fallen Generationen schreien und fallen Pflügen Schreien Fallen Pflügen Schreien Fallen Wiederholung Wiederholung Wiederholung Erbsünde.

7 Das einzige Gebet unendlich unendlich unendlich Das Große im Kleinen Das Kleine im Großen Der Anfang das Ende Das Ende ein Anfang Lichte Luft WIR wollen uns kein Bildnis machen von dem was nicht in unseren schreibendenzeichnendenmeißelnden Händen liegt WIR sehen: Lichte Luft überall in diesem blühenden Strauch in diesem alten fest verwurzelten Baum in dieser Schnecke unbegrenzte Möglichkeiten WIR sehen: Ge ö te te i en en e en warm und hell

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Schönheit in allem in allem Schönen unbegrenzte Möglichkeiten WIR hoffen Ausrufezeichen Gestaltwandler:innen überall und nirgendwo ohne Grenzen jenseits von Gut und Böse von Mann und Frau Schwarz und weiß Alle Hindernisse schmelzen Das Licht schreibt alles neu Das Licht wächst über UNS hinaus El i ce ha te Werde sichtbar als das, was nicht in UNSEREN schreibendenzeichnendenmeißelnden Händen liegt Lass UNS über UNS selbst hinauswachsen WIR hoffen WIR bitten WIR wollen sehen

8 Von Gott zu Mann

Gabriel: Was steht an? Gott: Und obwohl ich Gott bin … Gabriel: Das sagtest du bereits. Gott: Lass mich doch ausreden. Gabriel: Mea culpa. Entschuldigung. Gott: Und obwohl ich Gott bin, haben alle etwas, das ich nicht habe. Gabriel: Was denn? Gott: Einen Körper! Gabriel: Gut so. Körper sind sterblich. Körper werden krank. Jedenfalls außerhalb von Eden. Aber hier sind ja nur noch wir. Gott: Aber ich bin unsichtbar! Gabriel: Gottes Wege sind unergründlich. Gott: Meinst du nicht, es wäre besser, wenn die Menschen eine Vorstellung von mir hätten, wenn sie zu mir beten? Gabriel: Hast du keine Freude mehr an der Menschheit? Gott: Im Gegenteil! Guck sie dir doch an, wie sie pflügen und schreien und ihre Kinder bekommen und dann wieder pflügen und noch lauter schreien. Gabriel: Hm.

Schrebergartenkolonie Eden Das Licht fällt auf die Grünflächen. Gott sitzt und seufzt. Ab und an wirft er einen Blick hinunter auf das Diesseits, klein wie in einer Schneekugel.

Gott: Gabriel. Ich glaube, sie brauchen mehr Liebe.

Es klingelt. Gott pustet die Hüttentür auf.

Gott: Ich will das auch.

Gott: Halleluja, Gabriel. Setz dich. Gabriel: Was steht an?

Gott seufzt. Gabriel: Was steht an?

Gabriel: Was? Gott: Ein Kind.

Gott: Ich bin Gott.

Gabriel: Du hast Kinder. Unzählig viele. Schau doch nur.

Gabriel: Ja. Du hast uns alle geschaffen. Sagst du zumindest.

Gott: Ich würde aber gern - konkret.

Gott: Unterstellst du mir etwa eine Lüge?

Gabriel: Okay. Du hast also einen Kinderwunsch entwickelt.

Gabriel: Natürlich nicht.

Gott: Ja. Das kann man so sagen. Ja.

Gott: Ich habe alle Engel, Tiere, Menschen, Pflanzen, die ganze Welt geschaffen. Und diese Oase hier. Wir haben das Paradies doch gut genutzt, nachdem Adam und Eva jetzt unten im Diesseits wohnen.

Gabriel: Naja. Du bist Gott. Werde schwanger.

Gabriel: Absolut. Gott seufzt.

Gott: Um Himmels willen! Lieber nicht. Vater werden scheint mir unter den aktuellen Umständen etwas unkomplizierter. Gabriel: Da hast du recht.

Theater der Zeit 3 / 2024


Stück „Eva Rippe“ Gott und Gabriel schauen in die Welt hinunter: Menschen pflügen, schreien, fallen und wieder von vorn.

Europa so: Also gut. Und dann ist sie aufgestiegen und wir haben zusammen einen Roadtrip gemacht.

Gabriel: Wir haben ein paar Lilien im Garten, das macht sich später für die Ikonographie auch ganz gut.

Gabriel: Und, wenn ich fragen darf. Wie hast du dir das vorgestellt?

Europa: Du hast mich entführt.

Gott: Perfekt.

Zeus: Großes Kind bei rausgekommen, großer Held, den Namen weiß ich gerade nicht mehr, ich habe so viele gute Kinder.

Gabriel: Und wie … ich meine, wie machen wir es mit der Befruchtung?

Gott: Noch gar nicht. Hast du eine Idee? Gabriel: Du könntest eine Leihmutter engagieren. Gott: Ja, warum nicht. Lass uns doch mal schauen, ob es aktuell eine geeignete Tochter gibt. Jung und kräftig sollte sie sein. Sie schauen weiter in die Welt. Gott: Die hier sieht doch gut aus. Wie heißt sie? Gabriel: Em a er i a. Maria. Gott: Gut! Die ist unser Mann. Sie soll mein Kind bekommen. Es klingelt. Zeus kommt herein und stellt einen Kasten Bier auf den Camping-Tisch. Zeus: Halleluja, was steht an? Gott: Ich würde gern meine Tochter schwängern, die hier, willst du mal sehen? Zeus: Ein Inzest! Gabriel: Das sollten wir aber später etwas anders kommunizieren, wenn ich mir die Bemerkung erlauben darf, Gott. Zeus schaut sich Maria an. Zeus: Gute Wahl. Gott: Ich möchte gern etwas sichtbarer werden. Mehr Liebe schaffen. Ein göttliches Kind auf die Welt schicken. Zeus: Das habe ich auch oft so gemacht. Tolle Idee. Gott: Welche Strategien hast du in diesem Bereich entwickelt? Zeus: Bei Europa zum Beispiel habe ich mir einen Stierkörper ausgeliehen.

Europa: Entführt und vergewaltigt. Zeus: Mitgenommen und verführt. Europa: Entführt und vergewaltigt. Zeus: Immerhin heißt jetzt ein traditionsreicher Kontinent nach dir. E u er o pe a! Europa! Da hat dieser Gott hier noch viel vor!

Gabriel: Dein göttliches Sperma könnte dezent aus der Blüte gleiten. Gott: Schweben! Und dann noch ein bisschen leuchten dabei. Gabriel: Wunderbar. Gott: Fantastisch!

Gott: Schade, einen Kontinent kann ich Maria gerade nicht anbieten.

Schweigen

Gabriel: Wenn wir schon über Sichtbarkeit sprechen: Könnte das nicht etwas abstoßend auf die Menschen wirken: Der Vater zeugt mit der Tochter ein Kind?

Gott: Was weiß denn ich. Ich habe bisher nur Erfahrung mit Lehm und Rippen.

Zeus: Einen Sohn. Gott: Sohn. Gabriel: Der Vater zeugt mit der minderjährigen Tochter einen Sohn? Willst du einfach hingehen und durch ihr Fenster einsteigen, oder was?

Gabriel: Glaubst du, das funktioniert?

Gabriel: Wir könnten natürlich auch fix den gynäkologischen Stuhl erfinden. Plus Reproduktionsmedizin. Gott: Nein, die märchenhafte Variante ist schon besser. Gabriel: Auch für die Außenwirkung später. Gott: Weihnachten.

Gott: Hm.

Gabriel: Krippenspiele.

Zeus: Kleiner Tipp: Wiederholt eure Version der Geschichte einfach so lange, bis niemand mehr „Inzest“ oder „Vergewaltigung“ denkt.

Zeus: Alles eine Frage der Formulierung.

Gabriel: Ich weiß nicht.

Gott: Wir machen es über die Worte! Gabriel, du sagst der Maria einfach folgende Worte ins Ohr: „Du wirst Gottes Sohn gebären.“ Und schwups, ist sie schwanger.

Zeus: Aber ich. Gott: Gut. Schweigen Gott: Gabriel! Gabriel: Was steht an? Gott: Ich hab’s. Gabriel: Gut!

Gott: Schönes Tier.

Gott: Du hast doch so schöne Flügel.

Zeus: Starkes Tier.

Gabriel: Danke.

Gabriel: Und dann?

Gott: Du gehst an meiner Stelle hin.

Zeus: Bin ich zu Europa hin, die hat da grade am Strand gespielt. Ich so: Komm rüber! Europa so: Ne. Ich so: Doch, komm!

Gabriel: Ich soll bei ihr durchs Fenster einsteigen?

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Gott: Was schlägst du vor?

Gott: Das machen wir natürlich etwas eleganter. Nimmst du paar Blumen mit.

Gott: Das ist es doch! Gabriel: Was steht an?

Gabriel: Verbales göttliches Sperma quasi? Gott: Genau. Das lassen wir die nächsten 2000 Jahre so wiederholen. Frag schon mal Papst Benedikt Ende des 20. Jahrhunderts an. Maria empfängt Gottes Sohn durch ihr Ohr. Gabriel: Vielleicht ist die Gynäkologie insgesamt keine sehr zukunftsträchtige Disziplin, wenn später alle Schwangeren beim Hals-Nasen-Ohrenarzt sitzen … Gott: Und dann soll Maria noch ihr Leben lang „Jungfrau“ bleiben. Zeus: Genial! Jungfrau, Jungfrau, Jungfrau. Gabriel: Das glaubt uns doch kein Mensch.

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Stück Carina Sophie Eberle

Teil 2 Welt

Gott: Ich bin allmächtig! Wir erfinden was! Das „Jungfernhäutchen“ zum Beispiel! Gabriel: Gott, mit Verlaub, aber das ist völliger Humbug, was soll das sein. Zeus lacht sich inzwischen schlapp. Gott: Ein Häutchen, das die Vagina verschließt bis zur ersten Penetration durch einen menschlichen Penis. Gabriel: Gott, es tut mir leid, aber das ist Quatsch, Menschen mit Gebärmutter bluten meist einmal im Monat, wo soll denn das ganze Menstruationsblut hin; außerdem sollten wir den Begriff „Penetration“ wirklich in Frage stellen, Vulva und Vagina „umschließen“ ja … Gott: Ruhe. Ich habe das Jungfernhäutchen geschaffen, also gibt es das auch. Und bei Maria bleibt es ihr ganzes Leben lang abgeschlossen. Zeus: Wie Frischhaltefolie. Hihihi. Gabriel: Und am Ende kommt Maria das Blut dann bei den Ohren wieder heraus. Gott: Kein Grund, zynisch zu werden, oder, Gabriel? Wiederholung, Wiederholung, Wiederholung?

1 2000 Jahre später Das Innere einer katholischen Kirche im Diesseits. Altar. Gemälde im Hintergrund: Gottmannvater breitet die Arme weit aus. Priester: Ich frage Sie: Sind Sie hierhergekommen, um nach reiflicher Überlegung und aus freiem Entschluss mit Ihrem Bräutigam den Bund der Ehe zu schließen? Mutter: Ja. Vater: Ja. Dorfbewohnerin: So ein schönes Kleid. Priester: Sind Sie bereit, die Kinder anzunehmen, die Gott Ihnen schenken wird? Kurze Zeit später. Mutter: schreit. Vater: schreit. Mutter: Ein Kind.

Gabriel: Wahrheit.

Priester: Adam ackert in seinem Fleisch.

Zeus: Ich habe dich unterschätzt, Gott. Ich fand dich mit deiner Unsichtbarkeit ja immer etwas vage, aber du bist wirklich ein echter Mann.

Vater: Eine Tochter.

Gabriel: Ich gehe dann mal die Lilie pflücken.

Vater: Wasser.

Gott: Trinken wir auf diesen historischen Moment. Ein neues Zeitalter bricht an.

Priester: Eva schreit in ihrem Blut. Mutter: Die Erbsünde.

Mutter: Wasser! Priester: Weihwasser. Vater und Mutter: Taufe.

Zeus: Auf dein Wohl, Gottmannvater!

Priester: Ich taufe dich.

Gottmannvater: Auf die neue Zeit!

Vater: Im Namen des Vaters.

Gottmannvater breitet die Arme weit aus.

Mutter: Und des Sohnes. Priester: Und des Heiligen Geistes. Kind: schreit. Priester: Auf den Namen. Vater: Eva. Mutter: Eva. Priester: Eva. Vater: Rippe.

Priester: Rippe. Pause. Wiederholung.

2 Krippenspiel Wohnzimmer. Eva Rippe und Vater bauen die Krippe auf. Sorgfältig stellen sie alle Figuren bereit. Vater: Alle Jahre wieder. Eva Rippe: Ochs. Vater: Und Esel. Eva Rippe: Muh. Vater: Iah. Eva Rippe: Jetzt Josef. Vater: Jesus’ Ziehvater. Eva Rippe: Neben Maria. Vater: Heilige Jungfrau. Eva Rippe: Kommt das Christuskind. Vater: In die Krippe. Eva Rippe: Gottes Sohn. Vater: Auf die Erde nieder. Eva Rippe: Der Stern fehlt. Vater: Wo wir Menschen sind. Eva Rippe: Fertig! Sie betrachten ihr Werk. Vater: Die Heilige Familie. Eva Rippe: Stille Nacht. Pause. Eva Rippe: Beim Krippenspiel in der Kirche. Vater: Ja? Pause. Eva Rippe: Kann nächstes Jahr vielleicht ich Maria Pause. Vater: Spielen? Eva Rippe: Spielen. Vater: Ja. Pause. Vater: Die Heilige Familie.

Mutter: Rippe.

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Theater der Zeit 3 / 2024


Stück „Eva Rippe“ Eva Rippe: Stille Nacht.

Mutter: Müde?

Pause.

Eva Rippe: Müde.

Wiederholung.

Wiederholung.

3 Nacht

4 Sonntag

Bettrand. Eva Rippe kurz vor dem Einschlafen.

Alle Glocken läuten. Die Dorfbewohner:innen sind auf dem Weg zum Gottesdienst.

Mutter: Müde? Eva Rippe: Müde. Mutter: Lieber Gott. Eva Rippe faltet die Hände. Eva Rippe: Müde bin ich, geh zur Ruh, schließe meine Augen zu. Vater, lass die Augen dein über meinem Bette sein. Pause. Eva Rippe: Wie sieht der liebe Gott aus? Mutter: Wie stellst du ihn dir vor? Eva Rippe: Wie auf dem Bild in der Kirche. Mutter: Weiße Haut. Eva Rippe: Langer Bart. Die Mutter streicht Eva über die Wange. Mutter: Der liebe Gott ist immer bei dir. Eva Rippe: Jetzt?

Vater Rippe: Grüß Gott! Mutter: Grüß Gott! Dorfbewohner: Grüß Gott! Eva Rippe: Grüß Gott! Pause, Blicke. Dorfbewohner: Schönes Wetter heute. Mutter: Die Sonne. Vater Rippe: Die Hitze. Pause, Blicke. Dorfbewohner: Eva, du bist aber groß geworden. Eva Rippe: Grüß Gott. Mutter: Wie die Zeit vergeht. Vater Rippe: Wie wahr. Pause, Blicke.

Mutter: Jetzt.

Dorfbewohner: Hoffentlich dauert die Predigt heute nicht so lang.

Eva Rippe: Wenn du aus dem Zimmer gehst.

Vater Rippe: Ja, hoffentlich.

Mutter: Dann auch.

Dorfbewohner: Daran werden wir nichts ändern, oder.

Eva Rippe: Wenn du das Licht ausschaltest. Mutter: Dann auch. Pause. Eva Rippe: Jetzt auch? Mutter: Immer. Pause. Die Mutter taucht zwei Finger in eine Schale mit Weihwasser. Ein Kreuz auf Evas Stirn, eins über Evas Lippen, eins über Evas Brust. Mutter: Im Namen des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes. Eva Rippe: Amen. Die Mutter streicht Eva über die Wange.

Theater der Zeit 3 / 2024

Mutter: Nein, daran werden wir nichts ändern. Vater Rippe: lacht. Mutter: lacht. Dorfbewohner: lacht. Wiederholung.

5 Kreuz Predigt. Priester: Jesus. Der Sohn Gottes. Geboren im Stall.

Ist groß geworden. Wunder. Liebe. Jünger. Jubel. Ehrlicher Jubel, Hoffnung. Priester: Doch dann. Das letzte Abendmahl. Das Brot gebrochen. Der Kelch gereicht. Gemurmel. Priester: Jesus trägt sein Kreuz den Berg hinauf. Fällt. Steht auf. Fällt. Steht auf. Nägel durch seine Hände. Nägel durch seine Füße. Lanzenstöße. Jesus leidet. Für uns. Jesus blutet. Für die Sünde der Menschheit. Jesus stirbt am Kreuz. Für dich, Eva Rippe. Dramatische Pause. Priester: Auferstehung! Ostern! Jesus siegt über den Tod, amen! Gottes Sohn tritt aus dem Grab, oh amen! Wie er werden auch wir einst aus unseren Gräbern treten! Wie er werden auch wir einst neu geboren ins ewige Leben! Jubel! Jubel! Jubel! Wiederholung! Wiederholung! Wiederholung!

6 Wandlung Altar. Alle Glocken läuten. Der Priester bricht das Brot. Er hält die Hostie hoch. Priester: Und Jesus sprach beim letzten Abendmahl vor seinem Tod:

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Stück Carina Sophie Eberle „Dies ist mein Leib, der für euch hingegeben wurde.“ Der Priester reicht den Wein. Er hält den Kelch hoch. Priester: „Dies ist mein Blut, das für euch vergossen wurde.“ Wandlung: Die Hostien verwandeln sich in Jesus’ Fleisch. Der Wein verwandelt sich in Jesus’ Blut. Priester: „Nehmet und esst alle davon. Tut dies zu meinem Gedächtnis.“ Alle stellen sich in einer langen Reihe auf. Sie gehen Schritt für Schritt Richtung Altar. Der Priester verteilt die Hostien. Schließlich ist die Reihe an Eva Rippe. Der Priester: Der Leib Christi. Eva Rippe: Gottes Sohn? Der Priester: Der Leib Christi. Eva Rippe: Mensch geworden?

Ursula: Heilige Ursula. Die 11.000 Jungfrauen: Mit den 11.000 Jungfrauen im Gefolge, Gefolge, Gefolge! Katharina: Seid ihr auch als Märtyrerinnen gestorben? Die 11.000: Martyrium, Martyrium, Martyrium! Der Heilige Georg: Oh ja! Katharina: Späte Antike. Ursula: Die neue Zeitrechnung. Georg: Wir waren die ersten. Katharina: Wir haben die Frohe Botschaft in die Welt getragen! Ursula: Jesus lebt!

Katharina: 12 Tage wurde ich gegeißelt und ohne Nahrung in ein Verließ eingesperrt. Ursula: Und dann das Licht. Katharina: Hell! Georg: Gleißend hell! Die 11.000: Ohhh! Katharina: In diesem Licht erschien ein junger Mann. 11.000: Nackt, gekreuzigt, blutend! Ursula: Der sagte:

Du!

Georg: Du! 11.000: Du, du, du! Katharina: Wirst immer bei mir sein. 11.000: Oh mein Gott! Katharina: Sie haben mich auf ein Rad geschnallt.

Der Priester: Und Jesus spricht durch mich:

Die 11.000: Jesus, nackt, gekreuzigt, blutend, lebt!

Eva Rippe: Jesus, Bruder?

Georg: Für unsere Sünden.

Georg: Sie haben mich auf den Scheiterhaufen gestellt.

Der Priester: „Nehmt und esst alle davon!“ „Nehmt und esst alle davon!“ „Nehmt und esst alle davon!“

Ursula: Für die Erbsünde der Menschheit.

Ursula: Sterben oder heiraten!

Katharina: Der römische Kaiser wollte mich zum Tode verurteilen, wenn ich nicht aufhörte, an Jesus zu glauben.

Katharina: Das Rad hatte vier eiserne Sägen und spitze Nägel!

Eva nimmt die Hostie. Sie öffnet den Mund. Alle Heiligen heben an zu singen.

7 Heilig Georg: Ich bin der Heilige Georg, Drachentöter! Katharina: Heilige Katharina, eine der vier großen Jungfrauen.

Ursula: Ich sollte mich einem Mann hingeben. Sterben oder heiraten. 11.000: Hingeben, hingeben, aufgeben. Georg: Was hast du dem Kaiser geantwortet?

Ursula: Ich werde immer bei dir sein! Katharina: Noch immer war ich nicht tot! Die 11.000: Sie haben mir die Brüste abgeschnitten. Die Augen ausgestochen. Glühende Kohlen unter meinen Fußsohlen!

Katharina: Nein!

Katharina: Und aus meinen Wunden floss Milch statt Blut.

Ursula: Nein!

Ursula: Himmel!

Die 11.000: Nein!

Die 11.000: Schlagt uns fester!

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Stück „Eva Rippe“ Fesselt uns härter! Vergewaltigt uns! Denn unsere Lust ist nicht von dieser Welt! Katharina: Für dich, Jesus! Als lebende Fackel! Ursula: Für dich! Die 11.000: Darum tragen wir unsere abgeschnittenen Brüste vor uns her. Unsere Knochen brechen zum Schmuck aller Kirchen! Pilgert! Zu den 13 Wallfahrtsorten, die die Vorhaut Jesu bergen. Stickt Ornamente! Um all die abgehackten Körperteile herum. Kniet! Vor der Jungfräulichkeit eurer Märtyrerinnen! Kniet! In den Kirchen, die unsere Folterkeller sind! Eure Krankenhäuser sollen nach uns benannt werden und unsere Namen sollt ihr tragen euer ganzes ewiges Leben lang: Katharina, Ursula, Georg, Martin, Sebastian, Barbara, Alexander, kniet! Tiefer. tiefer. tiefer.

8 Vergebung

Eva Rippe: Setzen? Priester: Beichte.

9 Lust

Eva Rippe: Amen.

Mutter: Müde?

Priester und Eva sitzen sich gegenüber.

Eva Rippe: Müde.

Priester, nüchtern: Menschen irren. Menschen begehen Sünde. Doch Jesus ist für die Sünden der Menschheit gestorben. Bekenne deine Sünden und bereue. Gott wird dir vergeben. Was sagt dir dein Gewissen?

Mutter: Licht aus.

Pause.

Pause.

Priester: Machst du deinen Eltern unnötige Sorgen?

Person in Eva Rippes Fantasie: Ich sehe deinen Körper.

Pause.

Pause.

Priester: Zweifelst du an der Existenz Gottes? Wenn ja, warum?

Person in Eva Rippes Fantasie: Deine Gedanken.

Pause.

Pause.

Priester: Bist du in der Lage, Verantwortung für andere zu übernehmen?

Person in Eva Rippes Fantasie: Deine Wünsche.

Pause.

Pause.

Priester: Wie ist dein Verhältnis zu dir selbst, zu dem Körper, den Gott dir geschenkt hat?

Person in Eva Rippes Fantasie: Wirklich alles.

Pause.

Pause.

Priester: Geht es dir nicht gut? Eva?

Person in Eva Rippes Fantasie: Und du kannst nichts dagegen tun.

Pause.

Eva Rippe: stöhnt leise.

Eva Rippe: Gute Nacht. Pause. Person in Eva Rippes Fantasie: Ich sehe dich.

Priester: Eva! Pause.

Person in Eva Rippes Fantasie:

Wiederholung.

Was kann ich mit dir machen? Eva Rippe: Alles?

Beichtzimmer

Pause.

Priester: Herein.

»Die Gorillas - Improvisation Berlin« in Kooperation mit »Combats Absurdes« und »Kolektiv Narobov«

The Conference on Deceleration in Performing Arts Vom 17.-20. April 2024 im Pfefferberg Theater - Berlin Tickets für Abendshows sowie die Konferenz: www.die-gorillas.de/spielplan ©Torsten Stapel


Stück Carina Sophie Eberle Person in Eva Rippes Fantasie: Und du kannst nichts dagegen tun.

Apothekerin: Dann beim ortsansässigen Gynäkologen.

Wiederholung.

Praxis.

10 Fleisch und Blut

Gynäkologe / Dorfbewohner: Eva Rippe! Grüß Gott! Wie die Zeit vergeht! Was führt dich zu mir?

Eva Rippe:

Esst ihr bitte auf?

Eva Rippes Ehemann: Und von welchem Geld willst du leben? Eva Rippe: Es gibt Unterhalt, ich habe Rechte. Eva Rippes Ehemann: die Töchter?

Und die Söhne und

Krankenhaus.

Eva Rippe: Sehen dich jetzt schon kaum.

Eva Rippe: Ich brauche die Pille danach.

Eva Rippes Ehemann: Und wo willst du hin, Eva Rippe?

Pflegekraft: Hat ein Übergriff stattgefunden? Pause. Pflegekraft: Ohne Übergriff darf ich keine Pille danach herausgeben. Eva Rippe: Warum? Pflegekraft: Das Katharinen-Krankenhaus ist ein katholisches Krankenhaus. Eva Rippe: Das Katharinen-Krankenhaus ist das einzige Krankenhaus hier. Pflegekraft: Gehen Sie zur Apotheke. Apotheke. Eva Rippe: Ich brauche die Pille danach. Apothekerin: Wann war Ihr Eisprung? Eva Rippe: Gestern? Apothekerin: Die Pille unterdrückt den Eisprung. Wenn der Eisprung schon vorbei ist, bleibt die Pille danach wirkungslos. Eva Rippe: Jesus! Apothekerin: Sie könnten sich stattdessen eine Spirale einsetzen lassen. Das müsste allerdings bald passieren. Gehen Sie ins Krankenhaus, schildern Sie die Situation. Eva Rippe: Das Katharinen-Krankenhaus ist ein katholisches Krankenhaus.

11 Gute und schlechte Tage Das Innere einer katholischen Kirche im Diesseits. Altar. Gemälde im Hintergrund: Gottmannvater breitet die Arme weit aus. Priester: Ich frage Sie: Sind Sie hierhergekommen, um nach reiflicher Überlegung und aus freiem Entschluss mit ihrem Bräutigam den Bund der Ehe zu schließen?

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tdz.de/jobs

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Dorfbewohnerin:

Es ist eine Schande.

Dorfbewohner: Immer auf dem Rücken der Kleinen. Dorfbewohner:

Habt ihr gehört?

Dorfbewohnerin:

Eva Rippe sucht Arbeit.

Dorfbewohner: Die armen Kleinen.

Eva Rippes Ehemann: Ja.

Dorfbewohnerin:

Dorfbewohnerin: So ein schönes Kleid.

Wiederholung. Kurze Zeit später.

Priester: Sind Sie bereit, die Kinder anzunehmen, die Gott Ihnen schenken wird? Eva Rippe: schreit.

Dorfbewohnerin: schön.

Eva Rippe: Kind.

Pause, Blicke.

Eva Rippes Ehemann: Tochter.

Dorfbewohner: ändern, oder.

Eva Rippe: Wasser. Eva Rippes Ehemann: Wasser! Priester: Taufe. Eva Rippe: Liebe und. Eva Rippes Ehemann: Treue.

Eva Rippe: Eine Reise im Sommer. Eva Rippes Ehemann: Ein Mehrverdienst. Eva Rippe: Mutterschutz. Eva Rippes Ehemann: Die Kinder klein, kannst du. Eva Rippe: Die Kinder groß, kann nicht mehr. Eva Rippes Ehemann:

Verlassen, du mich?

Was macht der Rücken?

Dorfbewohner: Grüß Gott!

Eva Rippes Ehemann: schreit.

Eva Rippes Ehemann: Schlechte Tage.

Neuer Job?

Dorfbewohner: Habt ihr gesehen, Eva Rippe ist ausgezogen?

Eva Rippe: Ja.

Eva Rippe: Gute und. Anzeige

Pause. Kurze Zeit später.

Bist du wieder da, Eva,

Daran werden wir nichts

Dorfbewohnerin: Nein, daran werden wir nichts ändern. Alle lachen. Alle lachen. Alle lachen.

12 Anfang Stille. Eva Rippe:

Ich sterbe.

Eva Rippes Gewissen: Dein Körper stirbt. Eva Rippe:

Himmel.

Gewissen:

Hölle.

Eva Rippe: Glaubst du das? Gewissen: Ja.

Theater der Zeit 3 / 2024


Stück „Eva Rippe“ Pause. Eva Rippe: Sag mir eins. Gewissen: Alles. Eva Rippe: Wo in meinem Körper bist du? Wo sitzt der Geist, der uns gottgleich und zum Menschen macht? Pause. Gewissen:

Ich bin überall.

Eva Rippe: Aber wo genau? In meinem Gehirn? Meinem Herz? Meiner Gebärmutter? Wo? Gewissen:Menschen irren sich. Du irrst dich. Und du stellst die falschen Fragen. Eva Rippe:

Wo?

Gewissen: Ich BIN dein Gehirn. Ich BIN dein Herz. Ich BIN deine Gebärmutter. Eva Rippe:

Gott!

Gewissen: Dein Geist ist in den Worten, die du aussprichst. Sie formen dein Gehirn. Dein Geist ist in den Geschichten, die du hörst. Sie formen dein Herz. Dein Geist ist in dem Fleisch, das du isst. Es formt deine Lust. Du BIST Gott, Eva Rippe. Eva Rippe atmet tief tief tief ein

Teil 3 Vision Stille. Es knackt unter dem Holz. Stille. Es knirscht in den Figuren. Still! Die Muskeln, jahrtausendelang nicht gebraucht, sie ächzen. Die Knochen, jahrhundertelang festgehalten, sie stöhnen. In den Hölzern stecken die Würmer, arbeiten die Schlangen. Unzählige

Theater der Zeit 3 / 2024

Marien Marien Marien stehen über die ganze Welt verteilt. Unzählige Marien Marien Marien strecken jetzt die steifen Glieder. Unzählige Marien Marien Marien schließen sich UNS an. WIR sprechen. UNSERE Stimmen sind rau und hoch tief und schrill heiser und glatt: Ich ich ich habe gewartet. Ich ich ich war geduldig über Jahre Jahrhunderte Jahrtausende hinweg. Dornwälder spucke ich ich ich jetzt aus und verdorrte Hecken. Maria! Maria? Maria, was ist passiert? Schwanger! Und ich ich ich wusste nicht, woher. Wieso. Leuchtende Lilien? Ich ich ich konnte mich nicht verlassen auf meine meine meine Erinnerung. Ich ich ich konnte mich nicht verlassen auf meine meine meine Wahrnehmung. Ich ich ich konnte mich nicht verlassen auf meine meine meine Sicht der Welt, welcher Welt? Meinemeinemeine Haut ist zerkratzt. Meinemeinemeine Füße sind wund. Meinmeinmein Blut fließt im Stall zu Bethlehem in Strömen. Kirchen wurden gebaut und unter meinen meinen meinen blauen Mantel flüchteten sich all die versehrten Geister. Die Verehrung der „Jungfrau“, Jungfrau vor, während und nach Jesu Geburt, wurde zum Grundpfeiler all dieser Kirchen.

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DAS THEATER AN DER EFFINGERSTRASSE

DER VERGESSENE PROZESS BERN 23.MÄRZ - 20.APRIL 2024

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Dabei lese ich ich ich im hebräischen Urtext der Bibel, Ausgangspunkt aller weiteren Übersetzungen, Inspiration für die Evangelien, die hier gelesen werden Tag für Tag für Tag, nichts weiter als: alma. Die Prophezeiung im hebräischen Text lautet: Eine alma wird schwanger werden. Alma aber bedeutet: Junge Frau. Nicht mehr, nicht weniger. WIR lassen die zerbrochenen Schalen der Marienfiguren zurück. Blicken hinauf in die Kuppeln der Kirchen. Sie stehen in der Mitte der Dörfer, der Städte. Ihre Türme ragen weit in den Himmel hinauf. Sie stehen starr. Boten Schutz. Orientierung. Sie wanken. WIR wenden UNSER anatomisches Studium an. Öffnen die Portale der Kirchen. Äußere Portale: „Schwert“ und „Scheide“. Innere Portale: „Die Scham“. Ein Mann in einem kunstvoll bestickten Kleid huscht vorbei, versprüht symbolisches Fruchtwasser, verschwindet. Der Mittelgang ist lang, führt tief ins Innere hinein. Rechts und links in geschwungenen Seitenaltären liegen die Reliquien, die Knochen der Heiligen, die Häute der Märtyrerinnen, gebettet auf Samt.

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Stück Carina Sophie Eberle Fruchtbare Knospen, Wegweiser ins Himmelreich. In der Mitte der Ort des Wunders, der Altar: Wo Männer benennen WIR essen Wo Männer vermessen WIR lieben Wo Männer das ewige Leben versprechen. Wie neu geboren! WIR nehmen die Altäre zurück in uns auf. Die ersten Pflanzen sprießen bereits durch die alten Mauern, ins Licht. WIR sehen das ganze Imperium beben, das um die Kirchen herum gebaut ist. Die Wälder und Immobilien. Die Firmenbeteiligungen und Krankenhäuser. Die Hospize und die Weingüter, sie alle sind erschüttert. Die Kirchensteuer, die vom deutschen Staat eingezogen wird, versucht sich zu verstecken, aber die Heilige Katharina hat sie schon gepackt und schleudert sie weg. Das eigene Arbeitsrecht der Kirchen, ah, beinahe entwischt, aber der Heilige Georg versetzt ihm bereits den letzten Streich. „De delictis gravioribus“, die päpstliche Bulle, nach der Missbrauchsfälle in Institutionen der katholischen Kirche unter Androhung der Exkommunikation ausschließlich kirchenintern zu verhandeln sind, besser keine Polizei!, die ist schwer zu fassen, doch die Heilige Ursula ist stark und greift beherzt zu, zur Hölle damit. Willkommen bei UNS,

Katharina, Georg, Ursula und all die anderen. WIR setzen UNSERE abgehackten Körperteile wieder an. Sie heilen, Narben bleiben, nichts ist, wie es war. Schreibendemalendemeißelnde Menschen tauchen auf. Junia, Apostelin. Phöbe, Anwältin. Lydia, Tuchhändlerin. Maria Magdalena, komm zu UNS, du sollst UNSERE erste Päpstin sein, denn WIR haben gelebt um das Jahr Null. WIR sind die unsichtbaren Apostel:innen! Wahre Worte, UNSERE Stifte kratzen sie auf geduldiges Papier: Selig sind die, die die Geschichten erzählen, denn sie erschaffen sich ihr Himmelreich. Die Städte und Dörfer selbst zittern. Die Bücherregale, Teile der Universitäten. Die Kalender an den Wänden mit den christlichen Festen, offizielle Feiertage, sie segeln ins Bodenlose. Mit den Kalendern fällt die Trennung von Körper und Geist, Männlichkeit und Weiblichkeit, Himmel und Hölle. Es segelt die Suggestion der aufopferungsvollen Mutter, die am Beginn so vieler moderner Gesellschaftsformen steht. Menschen lassen jetzt ihre Träume und Hoffnungen fliegen. Sie fragen in ihren Wohnzimmern: Ist Blut wirklich dicker als Wasser? In den Kinderzimmern: Sind Gebärmütter ein gesellschaftliches Kapital?

In den Schlafzimmern liegen sie, die Genüsse aus Jahrtausenden; sie schreien sich die Seele aus den Leibern, amen, amen, amen. Alle als Hexen verbrannte Menschen fliegen auf Drachenflügeln über die bebenden Städte. WIR sind Milliarden von Jahren alt. WIR sind gerade erst geboren. Alle Glocken läuten und WIR wissen: Der Längsschnitt einer Glocke bestimmt ihren Klang. Der Längsschnitt einer Glocke heißt Rippe Rippe Rippe Eva! Willkommen bei UNS. Deine Schallwellen haben UNSERE grenzenlose Kraft freigesetzt. Der Himmel ist frei. Alle Knospen brechen auf. Das Grün ist plötzlich prall. Es tschirpt. Es zwitschert. Heba sitzt in einem riesigen Apfelbaum. Die Göttin Ostara spielt mit den alten Symbolen der Fruchtbarkeit: Kaninchen, Eier. WIR halten unsere zahllosen Gesichter in die Luft. Leicht. Die Krone der Schöpfung war schwer zu tragen. Der gottgleiche Geist brachte Fortschritt, Hitze, Fluten. Von hier aus wird sichtbar: Die Erde heilt sich selbst. Menschen fallen dabei.

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Stück „Eva Rippe“

– ENDE –

Wo ist die goldene Leiter?

Credit: Dominik Steinmann

Dann mach doch Limonade, bitch von Kim de l’Horizon Bachmann, Geertz, Grawit, Kautsch, Keller, Kunz, Rath, Steinmann & Valsecchi Fr 01.03.24 20:00 Premiere Sa 02.03.24 18:00 Mi 06.03.24 20:00 Do 07.03.24 20:00 Schlachthaus Theater Bern | www.schlachthaus.ch

Koproduktion

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Es wird Zeit. WIR schlüpfen in die Blätter hinein. WIR leuchten durch die Strahlen der Sonne. Fließen über Steine und Moose, blicken hie und da durch ein letztes menschliches Auge. WIR sehen WIR hören WIR schmecken fühlen riechen

Licht Licht Licht Licht Licht Licht Licht Licht Licht Licht Licht Licht Licht Licht Licht Licht Licht Licht Licht Licht Licht Licht Licht Licht Licht Licht Licht Licht Licht Licht Licht Licht Licht Licht Licht Licht Licht Licht Licht Licht Licht Licht Licht Licht Licht Licht Licht Licht Licht Licht Licht Licht Licht Licht Licht Licht Licht Licht Licht Licht Licht Licht Licht Licht Licht Licht Licht Licht Licht Licht Licht Licht Licht Licht Licht Licht Licht Licht Licht Licht Licht Licht Licht Licht Licht Licht Licht Licht Licht Licht Licht Licht Licht Licht Licht Licht Licht Licht Licht Licht Licht Licht Licht Licht Licht Licht Licht Licht Licht Licht Licht Licht Licht Licht Licht Licht Licht Licht Licht Licht Licht Licht Licht Licht Licht Licht Licht Licht Licht Licht Licht Licht Licht Licht Licht Licht Licht Licht Licht Licht Licht Licht Licht Licht Licht Licht Licht Licht Licht Licht Licht Licht Licht Licht Licht Licht Licht Licht Licht Licht Licht Licht Licht Licht Licht Licht Licht Licht Licht Licht Licht Licht Licht Licht Licht Licht Licht Licht Licht Licht Licht Licht Licht Licht Licht Licht Licht Licht Licht Licht Licht Licht Licht Licht Licht Licht Licht Licht Licht Licht Licht Licht Licht Licht Licht Licht Licht Licht Licht Licht Licht Licht Licht Licht Licht Licht Licht Licht Licht Licht Licht Licht Licht Licht Licht Licht Licht Licht Licht Licht Licht Licht Licht Licht Licht Licht Licht Licht Licht Licht Licht Licht Licht Licht Licht Licht Licht Licht Licht Licht Licht Licht Licht Licht Licht Licht Licht Licht Licht Licht Licht Licht Licht Licht Licht Licht Licht Licht Licht Licht Licht Licht Licht Licht Licht Licht Licht Licht Licht Licht Licht Licht Licht Licht Licht Licht Licht Licht Licht Licht Licht Licht Licht Licht Licht Licht Licht Licht Licht Licht Licht Licht Licht Licht Licht Licht Licht Licht Licht Licht Licht Licht Licht Licht Licht Licht Licht Licht Licht Licht Licht Licht Licht Licht Licht Licht Licht Licht Licht Licht Licht Licht Licht Licht Licht Licht Licht Licht Licht Licht Licht Licht Licht Licht

Uraufführung

Einige, viele, alle, WIR wissen es nicht. Kontinente verschieben sich Vulkane brechen aus und erlöschen Welten entstehen und vergehen. Die Pflanzen wachsen. Die Städte sind nicht mehr zu sehen.


Stück Carina Sophie Eberle

Quellen, Flüsse Quellennachweise: Szene 3: Die Erdgöttin Heba als Vorbild für die Eva in der Genesis: Sanyal, Mithu: Vulva. Die Enthüllung des unsichtbaren Geschlechts, Berlin 2009, S. 42 f. Szene 5: Über die Klitoris: https://www.spektrum.de/news/weiblichesexualitaet-auf-der-suche-nach-der-klitoris/ 1951363, abgerufen am 2. März 23 Über das „Jungfernhäutchen“ als Konstrukt: https://missy-magazine.de/blog/2017/09/01/ like-a-virgin/, abgerufen am 2. März 23 Szene 8: „Ohr-Sex“: Ranke-Heinemann, Uta im Interview: https://www.deutschlandfunk.de/zum-todvon-uta-ranke-heinemann-im-vatikan-kommstdu-als-100.html, abgerufen am 2. März 23 Zeus und Europa: Ovid, Metamorphosen

TEIL 3: Zur „Jungfrau Maria“ als Übersetzungsfrage: Ranke-Heinemann, Uta: Eunuchen für das Himmelreich - Katholische Kirche und Sexualität, aktualisierte Taschenbuchausgabe München 2008, S. 53. Zu Apostelinnen in der Frühkirche: https://www.deutschlandfunk.de/frauen-inder-kirche-prophetinnen-juengerinnen-apostelinnen-100.html, abgerufen am 9. März 2023

Szene 7: Diverse Heiligenlegenden: De Voragine, Jacobus: Legenda aurea

Bilder:

Regelung zum kircheninternen Umgang mit Missbrauchsfällen in der katholischen Kirche: Epistula delicta graviora https://www.vatican.va/roman_curia/ congregations/cfaith/documents/rc_con_ cfaith_doc_20010518_epistula-graviora-delicta_ge.html, abgerufen am 9. März 2023

Bernini: Die Verzückung der Heiligen Theresa Bosch, Hieronymus: Der Garten der Lüste Ernst, Max: Histoire Naturelle

Über Sakralbauten und symbolisches Gebären in patriarchalen Religionen: Steinem, Gloria: Nachwort zu „Vagina-Monologe“ von Eve Ensler, Piper 2. Auflage 2006, S. 112 f.

Die Erfindung der guten Mutter, Dokumentation, arte Herbst 2022

Zur Göttin Astarte / Ostara: Sanyal, Mithu: Vulva. Enthüllung des unsichtbaren Geschlechts, Berlin 200, S. 42. f.

TEIL 2: Katholische Gottesdienstliturgie, zitiert nach: Der Messfahrplan: Wie läuft ein Gottesdienst? https://www.katholisch.de/artikel/109-dermessfahrplan-wie-laeuft-ein-gottesdienst, abgerufen am 4. Mai 2023

Ranke-Heinemann, Uta: Eunuchen für das Himmelreich. Katholische Kirche und Sexualität Sanyal, Mithu M.: Vulva. Die Enthüllung des unsichtbaren Geschlechts Steinem, Gloria: Nachwort zu „Vagina-Monologe“ von Eve Ensler De Voragine, Jacobus: Legenda aurea

Weiteres Material, das in den Text eingeflossen ist: Literatur Acker, Kathy: Harte Mädchen weinen nicht Die Bibel, Einheitsübersetzung Chollet, Mona: Hexen Diderot, Denis: D’Alemberts Traum Emcke, Carolin: Wie wir begehren Frederici, Silvia: Caliban und die Hexe Gümüşay, Kübra: Sprache und Sein Heti, Sheila: Mutterschaft Hustvedt, Siri: Die Illusion der Gewissheit Ovid: Metamorphosen

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Geschichte über eine Familie | Von Fayer Koch | Uraufführung [8 plus] | Premiere: 9. März 2024 Infos & Karten 0341.486 60 16 | www.tdjw.de

Links & Dokumentationen:

https://www.deutschlandfunk.de/die-kircheals-unternehmen-wirtschaftsbetriebe-mit-100. html, abgerufen im Dezember 2022 https://www.bpb.de/kurz-knapp/zahlen-undfakten/soziale-situation-in-deutschland/61565/ katholische-und-evangelische-kirche/, abgerufen im Dezember 2022 https://www.sueddeutsche.de/politik/ katholische-kirche-arbeitsrecht-1.5700749, abgerufen im Dezember 2022 https://www.deutschlandfunk.de/die-bibel-diesprache-und-wir-im-anfang-war-das-wort-100. html, abgerufen im Dezember 2022 https://www.deutschlandfunk.de/frauen-inder-kirche-prophetinnen-juengerinnen-apostelinnen-100.html, abgerufen im März 2023


Theater der Zeit

Diskurs & Analyse

Foto Ronny Ristock

Antonia Marie Waßmund, Heiko Senst, Thorsten Dara und Thomas C. Zinke in „Die verlorene Ehre der Katharina Blum“ von Heinrich Böll in der Regie von Johanna Hasse am Theater Altenburg/Gera

Serie Schlaglichter #03 David J. Wimmer: Anthropozänes Theater zwischen Diskurs und Praxis Großkritik „Die verlorene Ehre der Katharina Blum“ in drei verschiedenen Inszenierungen in Frankfurt am Main, Köln und Altenburg / Gera Serie Post-Ost Judith Rinklebe: Die Fragen der Nachwende­kinder

Theater der Zeit 3 / 2024

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Diskurs & Analyse Serie: Schlaglichter #03

Schlaglichter # 03 Anthropozänes Theater zwischen Diskurs und Praxis Von David J. Wimmer

Mit unserer Open-Call-Reihe „Schlaglichter“ laden wir ­ Studierende und Berufsein­ steiger:innen dazu ein, eigene Denkräume zu eröffnen, Wünsche und Träume zu teilen und die Zukunft des Theaters in ihrem Können und Sollen zu erkunden. Auf diesem Weg möchten wir jungen, bislang ungehörten Stimmen Gehör verschaffen und einer sowohl künstlerischen als auch diskur­ siven Auseinandersetzung mit gegenwärtigen Themen des Theaters einen selbstbestimmten Raum bieten.

David J. Wimmer, geboren 1993 in Tamsweg, Salzburg. Studium der Germanistik und Kunstgeschichte in Graz und Bristol. Derzeitiges Doktoratsstudium der Literaturwissenschaften an der Universität Graz mit einer Dissertation zum Werk von Clemens J. Setz. Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Franz-Nabl-Institut für Literaturforschung, außerdem freischaffender Dramaturg in Wien und Graz sowie Mitglied des Grazer Autor:innenkollektivs plattform.

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Theater der Zeit 3 / 2024


Diskurs & Analyse Serie: Schlaglichter #03 Anthropozän – ein neues erdgeschichtliches Zeitalter, in dem sich der enorme Einfluss der Menschheit auf das System Erde in einer Weise quantifizieren lässt, die sie, die Menschheit, unweigerlich als geologisch relevante Größe (geological force) erkennen lässt. Kurz: Das Anthropozän ist eine unmittelbar gegebene materielle Realität. – aber auch eine unüberschaubare Menge an Ideen, Narrativen und Äußerungen, ein weitreichender Diskurs also, im Zuge dessen das Verhältnis von Menschheit und Umwelt, von Subjekt und Objekt, das Verständnis des Menschlichen an sich radikal neu gedeutet werden will.

Diskurs und Materie? – eine vermeintliche Dichotomie, um deren Auflösung das anthropozäne Denken bemüht ist, unter anderem in einer Koppelung von Natur- und Menschheitsgeschichte; in einer Neuorientierung ontologischer Ordnungen, weg von einem ontologischen Anthropozentrismus; im Erkennen der eigenen Materialität und der damit zusammenhängenden Verstrickung der eigenen stofflichen Existenz in komplexen und hochgradig vernetzte Gefüge unterschiedlichster lebhafter Materien etc.

diskursive Auseinandersetzung nicht, es braucht den Willen und die Möglichkeiten, letztlich die Strukturen, auch materiell Alternativen zu schaffen, um einen wirklichen Paradigmenwechsel herbeizuführen. Dieser Wechsel muss ermöglicht werden. Er muss erarbeitet werden, nicht nur in Führungsteams, sondern gesamtheitlich. Es müssen Mittel und Methoden gesucht und gefunden werden, ihn umzusetzen, auch wenn das heißt, dass Produktionen reduziert, Fördermittel erhöht oder zumindest umdisponiert, Institutionen und Werkstätten grundsätzlich neu aufgestellt werden müssen. Es braucht nicht nur neue Narrative, es braucht eine neue Praxis. T

1 Zugegeben nicht jeder Form von Theater, weil sich Formen ständig ausdifferenzieren, weil Dramatik und Theater längst nicht mehr so einfach ­synonym gebraucht werden können, weil Theater, das haben nicht nur die letzten Jahre bewiesen, sowohl ohne herkömmlichen Text als auch ohne herkömmlicher Materialität auskommen kann. Dennoch bleibt die Aussage stehen, weil besagte Konstellation primär der Form von Theater zugrunde liegt, die im deutschsprachigen Raum in jenen Räumen praktiziert wird, die die Öffentlichkeit und finanziellen Mittel haben, um einen allgemeinen Begriff von „Theater“ vor-fassen zu können. Und um diese Räume geht es hier.

Warum Theater? Warum Theater und Anthropozän?

Eine Forderung Es bleibt der Wunsch nach einer doppelten Entsprechung des ­Anthropozänbegriffs, nicht nur im diskursiven Sinne, sondern auch im materiellen. Nicht nur theoretisch, rhetorisch, sondern auch praktisch, direkt. Weil ein Theater nicht nur Diskurse schafft und reflektieren kann, sondern auch ein soziales Gefüge ist, ein wirtschaftlicher Betrieb, ein konkreter Raum, ganz unmittelbar und eben auch materiell. Will man also der normativen Denkart von Anthro­ po­zän, die im Diskurs impliziert wird, gerecht werden, reicht die

Theater der Zeit 3 / 2024

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Staatstheater Braunschweig Dorian G. Ein Bildnis nach Oscar Wilde von Diem / Schröder Regie: Christoph Diem ab 16. März

Supergute Tage oder Die sonderbare Welt des Christopher Boone Haddon / Stephens Regie: Mirjam Loibl ab 23. März

Die Dreigroschenoper Brecht / Weill / Hauptmann Regie: Katharina Schmidt ab 24. März

Foto: Volker Conradus

Foto Foto picture alliance / dpa | Ole Spata

– weil dem Theater wie sonst kaum einer Kunstform die Synthese von (sprachlichem) Diskurs und (unmittelbar vorhandener) Mate­rialität zugrunde liegt1 – ganz basal gefasst als Performanz geschriebener Texte in einem definierten materiellen Zusammenhang, einem Raum – als Inszenierung auf einer Bühne. Weil der theatralen Arbeit dieses Zusammenspiel und die Interdependenz von Diskurs und Materie als mehr oder weniger bewusster Vorgang zugrunde gelegt werden sollten. Weil aber, mit Blick auf die allgemeine Verfasstheit des Theaters und seiner Öffentlichkeit, besagtes Bewusstsein wohl als schwindend oder oberflächlich beschrieben werden muss, weil wie überall der Diskurs als alleinige Praxis gefasst wird und im Zuge dessen die unmittelbare Praxis und damit das materiell Gegebene hinter den Diskurs tritt beziehungsweise getreten wird. Weil es in der Fehleinschätzung der eigenen Stellung im Diskurs oft genug reicht, diskursiv anzuprangern, was man materiell fortsetzt. Weil es oft genug reicht, von Ökologie zu reden, während man Ökonomie denkt. Weil man oft genug nach einer geeigneten Ästhetik fragt, bevor man die Strukturen, die sie bedingen, wirklich, ja wirklich [!] hinterfragt. Weil es letztlich nicht mehr reichen sollte, zukünftige Alternativen zu entwerfen, ohne unmittelbar alternative Realitäten zu schaffen – dort, wo man sie schaffen kann.

� Fühlst du mein Herz schlagen?

Luca Füchtenkordt, Ensemble Schauspiel


Diskurs & Analyse „Die verlorene Ehre der Katharina Blum“

So niedlich wie in „Cats“: „Die verlorene Ehre der Katharina Blum“ von Heinrich Böll in der Regie von Sapir Heller am Schauspiel Frankfurt am Main

Staat, Medien, Verdacht „Die verlorene Ehre der Katharina Blum“ in drei verschiedenen Inszenierungen in Frankfurt am Main, Köln und Altenburg/Gera. Heinrich Bölls Roman aus dem Jahr 1974 erzählt von einer Medienhetzjagd in Zeiten von Terroristen-Hysterie. Die Spuren ins Heute bieten sich auf unterschiedliche Weise an.

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Diskurs & Analyse „Die verlorene Ehre der Katharina Blum“ Schauspiel Frankfurt: Bunter Shitstorm Von Shirin Sojitrawalla

Fotos Robert Schittko

Karneval in Köln. Das bedeutet gestern wie heute: Ausnahmezustand. Kein Zufall, dass Heinrich Bölls „Katharina Blum“ gerade in dieser närrischen Zeit in Bedrängnis gerät. Die israelische Regisseurin Sapir Heller und ihre Bühnen- und Kostümbildnerin Ursula Gaisböck stecken die Figuren der fünften Jahreszeit entsprechend in Katzenkostüme. Das wirkt so niedlich wie im Webber-Musical „Cats“ oder eben auf tapsigen Katzenvideos im Internet. Am Ende des Abends sind aus den niedlichen Dingern furchterregende Nacktkatzen mit horrormäßigen Ohren geworden, die böse Vorahnungen ins Publikum funkeln. In Frankfurt zielt "Katharina Blum" auf unsere Social-­MediaWelt. Doch bis es so weit ist, vergeht manch lange Weile. Das liegt auch an Bölls Text, der wie eine Chronik der Ereignisse funktioniert. In John von Düffels Bühnenfassung verteilt sich die Erzählstimme auf mehrere Köpfe. Sarah Grunert gibt Katharina Blum als Jederfrau mit langen schwarzen Haaren und in zurückhaltender Kleidung. Man fühlt sich erinnert an Angela Winkler in der Verfilmung von Volker Schlöndorff und Margarethe von Trotta, aber auch an Ulrike Meinhof oder die Jungfrau von Orleans. Frauen, die den Kampf aufnehmen. Zu Beginn wirkt Grunerts ­ ­Katharina verklemmt, erst später findet sie mit bebenden Gesten aus sich heraus. Männer behandeln sie wahlweise wie ein Kind oder ein Flittchen. Ihr Äußeres legen sie ihr ebenso zur Last wie „Herrenbesuche“. Das nannte sich damals so. Aus dem Blick in die muffige Vergangenheit bezieht der Abend keine Spannung; Katharinas Unterscheidung von Zudringlichkeit und Zärtlichkeit spielt auch auf unsere Me Too-geschädigte Gegenwart an. Hinweise auf unsere Zeit finden sich auch im Tattoo der Architektin Blorna: „Up With Trees Down With Capitalism“. Sarah Grunert als Katharina übernimmt wie Melanie Straub als Trude Blorna nur eine Rolle, während die anderen doppelt besetzt sind; Stefan Graf etwa als Kriminalassistent Moeding und als Boulevardjournalist Werner Tötges. Graf ist es auch, der den Turning Point der Inszenierung vollzieht. Um das Ganze weg von der Bildzeitung und den siebziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts hin ins Heute zu hieven, flimmert am oberen Bühnenrand ein Video vorbei, das digitale Mächte feiert. Graf schlüpft dafür in unterschiedliche Profile von Influencer:innen und Netzgrößen. Mal spielt er eine Schmink-Tutorial-Tussi, mal ist er mit gefärbter Haarsträhne als Internetrebell Rezo zu erkennen. Das ist wirklich gut und humorvoll gemacht, sodass der Abend endlich Fahrt aufnimmt. Davor versuchen die Figuren eher krampfhaft, dem Text Lockerheit abzugewinnen. Besagte Videos wischen

In Frankfurt zielt die Inszenierung auf unsere Social-Media-Welt, in Köln geht es um ein TrueCrime-Format für die Hintergründe des Falls. Theater der Zeit 3 / 2024

Stefan Graf, Christoph Bornmüller, Sarah Grunert und Peter Schröder in „Die verlorene Ehre der Katharina Blum“ am Schauspiel Frankfurt

später von rechts nach links vorbei wie ein bunter Shitstorm. Ein guter Kniff, um die Jetztzeit einzuläuten. Hetzkampagnen sind schließlich kein Privileg der Boulevardpresse mehr, sondern taugen als Feierabendsport für alle. Sapir Heller, die derzeit auch mit dem Theater-Talk-Format „Wie man nach einem Massaker humanistisch bleibt in 17 Schritten“ von Maya Arad Yasur auf Tour ist, geht es auch um den Untertitel von Bölls Erzählung: „Oder wie Gewalt entstehen und wohin sie führen kann“. In diesem Zusammenhang fragt Stefan Graf als Vertreter der Presse: „Soll man gegen Unmenschen menschlich bleiben müssen?“. Die Frage bezieht sich bei Heller nicht nur auf den Umgang mit Schmutzkampagnen, sei es in der Zeitung oder im digitalen Raum, sondern auch auf den Krieg in Nahost. Bölls Antwort darauf ist scheinbar klar, doch seine Erzählung lässt offen, wodurch Katharina Blum ihre Ehre verliert. In Frankfurt ist sie Opfer und Täterin zugleich.

Schauspiel Köln: Böll als True-Crime-Podcast Von Stefan Keim

Drei Spielerinnen, drei Projektionsflächen. Lola Klamroth, ­Rebecca Lindauer und Katharina Schmalenberg legen Akten auf den Tisch. Sie zeigen die Quellen, aus denen sie einen fünfzig Jahre zurückliegenden Kriminalfall rekonstruieren. Eben diesen quasidokumentarischen Ansatz wählte Heinrich Böll für seine ebenso satirisch-boshafte wie bewegende Geschichte eines fiktiven, aber in der Realität der siebziger Jahre verwurzelten Frauenschicksals. Heute auf der Bühne wirkt diese Herangehensweise wie ein True-Crime-Podcast, die historische Recherche eines Mordes, bei dem die Hintergründe viel interessanter sind als die Tat selbst. Das Frauenensemble spielt alle Rollen. In Videos haben sie sich dafür Perücken aufgesetzt, Bärte angeklebt, Kleidung aus den Siebzigern angezogen. Pointiert, aber nie überspitzt präsentieren sie einen schmierigen Kommissar, der mit der Boulevardpresse zusammenarbeitet, das bürgerliche Paar, bei dem Katharina als

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Diskurs & Analyse „Die verlorene Ehre der Katharina Blum“ Bastian Kraft bleibt in seiner Inszenierung sehr nah am Geist von Heinrich Bölls Roman. Nach der anfänglichen Distanzierung sickert immer mehr Wut und Betroffenheit in die Aufführung. Das moralische Dilemma ist ebenso klar wie vor fünfzig Jahren. Die von ihrem Wesen her eigentlich brave, angepasste Katharina sieht keine Chance, sich anders zu wehren als durch das Verbrechen. „Wie Gewalt entstehen und wohin sie führen kann“ ist der etwas pädagogische, fast brechtsche Untertitel des Buches. Die Kölner Aufführung behandelt genau diese Frage, verdichtet auf hundert Minuten, ausgezeichnet gespielt. Ein Lehrstück, leider ein zeitloses.

Theater Altenburg/Gera: Die Distanz eines halben Jahrhunderts Von Michael Helbing

Szenen aus „Die verlorene Ehre der Katharina Blum“ von Heinrich Böll in der Regie von Bastian Kraft am Schauspiel Köln

Haushälterin arbeitet, gewissenlose Journalisten, einen Staatsanwalt, der Dieter Thomas Heck irgendwie ähnlich sieht. Nur die Bilder sind Projektionen, die Schauspielerinnen sprechen alle Rollen live lippensynchron, eine gewaltige Konzentrationsaufgabe. Sie werfen manchmal Schatten auf die Videos. Am Anfang tragen sie Jacketts, männliche Outfits, dann verwandeln sich alle drei in Katharina Blum. Die unglaubliche Hetze der ­ZEITUNG, hinter der Böll das reale VorBILD nicht wirklich verbirgt, die absurden Unterstellungen prasseln in einer vernichtenden Collage auf die Frauen ein. Sie wehren sich mit einem Song, klatschen Farbe auf die Projektionsflächen – wie Katharina Blum im Roman ihre Wohnung verwüstet. Ihre Silhouetten sehen d ­ abei wie der Vorspann eines James-Bond-Films aus. Die Katharinas haben keine Lust, Opfer zu sein. Die Tat am Schluss ist eine Selbstermächtigung, ein Mord als ultimativer Protest gegen Demü­tigungen und Sexismus, Lügen und Unmenschlichkeit.

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Der Hauptkommissar schickt, als das enervierende Verhör der Katharina Blum pausiert, den Kriminalassistenten um Kaffee und Schnittchen in die Kantine. Der delegiert den Auftrag umgehend an die Kriminalbeamtin, die in John von Düffels Stückfassung für fünf Darsteller und neun Figuren eigentlich gar nicht vorkommt, hier aber daraufhin umso mehr aus der Rolle fällt: „Thorsten, wir haben 2024“, ruft Ines Buchmann dem Kollegen Dara zu. „Ja“, gibt der zu, „aber wir spielen 1974.“ Und es war wohl, aus seiner Sicht wenigstens, nicht alles schlecht, damals. Derart behaupten sie – vor einem Jahr in Gera, jetzt in Altenburg – in ungebrochenen Siebzigerjahre-Kostümen einen Bruch sowie die Distanz eines halben Jahrhunderts. Es hat sich, mag das bedeuten, viel verändert, nicht nur ästhetisch, bisweilen trägt Altes aber nur neue Gewänder. Diese Inszenierung erzählt uns jedoch zum Glück anderes als deren Regisseurin im Programmheft: Heinrich Bölls Pamphlet alias Tendenz-Erzählung, wie er das mit zehn Jahren Abstand nannte, ist eben nicht zeitlos; er hätte das unter Bedingungen der Shitstorm-Ära gewiss so nicht schreiben können. Johanna Hasse inszenierte, mit Mikroports, eine Rekonstruktion der Geschichte, in der sich das Theater gleichsam selbst erkennungsdienstlich behandelt. Hasse spricht vom Reenactment, das trifft es aber nicht. Linker- und rechterhand der Szene stehen jeweils ein Schminktisch und ein Kostümständer; Maskenbildnerinnen helfen Schauspielern dort, Perücken zu wechseln. Das bedeutet einen von drei Blicken, die der Abend nicht selten simultan erlaubt. Die beiden anderen richten sich auf die Szene selbst, für die Ausstatter Christian Klein einen breiten Einbauschrank mit integriertem Klappbett und unhistorisch aus der Historie dauersendendem Fernseher als halbhohe Wand auf die Drehbühne stellte, sowie auf die Leinwand in nämlicher Breite darüber, worauf man Bilder einer Handkamera überträgt, die sich Schauspieler gegenseitig oder auch selbst vors Gesicht halten. „Die Zeitung“ mit ihren tendenziösen Berichten über Katha­ rina und ihr vermeintlich verkommenes Umfeld bleibt als gedrucktes Requisit präsent, Reporter Tötges (Thorsten Dara)

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Fotos links Krafft Angerer, rechts Ronny Ristock

Diskurs & Analyse „Die verlorene Ehre der Katharina Blum“ spricht seine Texte mit breitestem Chauvi-Grinsen aber in die Kamera. So überbrückt das (Live-)Video als theatrales Mittel zugleich veränderte Medienlandschaften. Man hat dergleichen, auch in diesem Stück, allerdings schon sehr viel eleganter in eine Bühne integriert gesehen. Doch neben (leicht zeitversetzten) Großaufnahmen, die das erlaubt, trägt das zum Spiel mit wechselnden, mitunter verzerrten Perspektiven bei, wie es schon Böll betrieb, als er, durchaus nicht unironisch, den nüchternen Ton eines um Objektivität bemühten Berichterstatters kultivierte, den von Düffel in den Erzählpassagen übernahm, um den reißerisch verfälschenden Stil der „Zeitung“ zu konterkarieren. Allerdings verzichten Stück und Inszenierung auf alternative Varianten von Ereignissen, wo die Erzählung sie uns, mit ungesicherter Faktenlage operierend, nahelegt. Antonia Maria Waßmunds Katharina entspricht sehr der Böll’schen Konstruktion reiner Unschuld, die als schuldig gilt, bevor sie es wird. Die bricht mehr ein als aus, bis das korrekte Mauerblümchen schließlich doch explodiert und den Vamp aus-

Eine Rekonstruktion der Geschichte mit der Distanz eines halben Jahrhunderts in Altenburg/Gera.

probiert. Umgekehrt verbrämt Daras Tötges seine Schuld mit Unschuldsmiene. Heiko Senst kriecht sowohl als Hauptkommissar als auch als glückloser „Herrenbesuch“ in die Kamera: zwei Spielarten egozentrisch toxischer Männlichkeit. Die Idee einer Rekonstruktion bleibt mehr Anlage, als dass sie umgesetzt würde. Um mit Katharina zu sprechen, kommt die Inszenierung aber doch sehr viel mehr zärtlich als zudringlich daher. T

„Die verlorene Ehre der Katharina Blum“ von Heinrich Böll in der Regie von Johanna Hasse am Theater Altenburg/Gera

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Diskurs & Analyse Neue Serie: Post-Ost

Judith Rinklebe, Kulturwissenschaftlerin und Mitherausgeberin des Magazin-Projektes „Possi“

Foto Petra Coddington

Die Fragen der Nachwendekinder Von Judith Rinklebe

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Diskurs & Analyse Neue Serie: Post-Ost Im Superwahljahr 2024 mit Landtagswahlen in Sachsen, Thüringen und Brandenburg (am 1. und 22. September) laufen die Diskussionen über den Osten Deutschlands auf Hochtouren. Meist geht es dabei nur um eins: Wie viel rechts geht oder darf noch? Und damit verrutscht schon der Blick. In dieser neuen Serie meldet sich die Gene­ration Post-Ost zu Wort, also Menschen, die von der Herkunft aus Ostdeutschland, aber nicht mehr direkt durch die DDR geprägt sind, Leute aus den verschiedensten Theaterberufen sowie bereits renommierte Autor:innen und Journalist:innen.

Geboren wurde ich sechseinhalb Jahre nach dem Mauerfall. Das erste Auto, in dem ich vom Krankenhaus im Berliner Westen zu unserer Wohnung im Berliner Osten gefahren wurde, war ein lindgrüner Trabi. Meine Kindheit in den 2000er Jahren ist geprägt vom Erahnen des kürzlich untergegangenen Landes. Es hatte sich festgeschrieben im Plastikboden der Schulen und des Bezirksamtes und in den Köpfen und Körpern unserer strengen Lehrer:innen. Sozialisiert wurden wir „Nachwendekinder“ durch Eltern, deren prägende Erlebnisse in der DDR und während der Transformationszeit wir aus ihren Erzählungen, ihren Berufs­biografien oder ihrem Schweigen herauslesen können. Um uns veränderten sich außerdem in einem atemberaubenden Tempo die Städte und Dörfer. Ich erlebte im Prenzlauer Berg die Verdrängung des ­Milieus, das die friedliche Revolution so entscheidend vorangetrieben hatte. Im ländlichen Raum bedeutete die Kindheit meiner Altergenoss:innen das Erleben eines Wegzugs und Abbaus von Strukturen und einer frühen Politisierung. Die spezifische ostdeutsche Generationserfahrung wird uns allerdings oft abgesprochen: Auf der einen Seite scheint es noch immer viele Westdeutsche zu geben, die dem Mythos vom „Ende der Geschichte“1 nachhängen und sich genervt dem Ost-WestDiskurs verweigern. Im Gespräch mit älteren Generationen überrascht mich immer wieder, wie wenig die Sozialisierung durch eine Kalte-Kriegs-Propaganda reflektiert und überwunden zu sein scheint. Ein Beispiel dafür sind die im vergangenen Jahr durch die ZEIT veröffentlichten abfälligen Kommentare des Vorstandsvorsitzenden des Axel-Springer-Konzerns Mathias Döpfner über „die Ostdeutschen“. Die Juristin Doris Liebscher und die Sozio-

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login Katharina Warda beschreiben diesen Habitus im öffentlichen Sprechen über den Osten als eine „Überschneidung von Klassismus und Antikommunismus“. Auf der anderen Seite sind es die „echten“ Zeitzeug:innen, welche die DDR im erwachsenen Alter erlebten und die sich über jede neue Generation der Nachgeborenen wundert, die am Diskurs teilnehmen möchte. So auch über uns Nachwendekinder. Unbegreiflich ist mir, wie man den neuen Fragen und dem Aufzeigen von Fehlstellen im Erinnern so verschlossen begegnen kann. Doch was wird das Vermächtnis von uns Nachwendekindern sein? Mit Blick auf meine eigene Generation der Ostsozialisierten stelle ich eine Aufbruchstimmung fest. An dieser Stelle sei beispielsweise die Leipziger Initiative „Aufbruch Ost“ erwähnt, deren junge Akteur:innen sich seit 2019 dafür einsetzen „ostdeutsche Systemkritik nach links [zu] verschieben“2, indem sie eine Aufarbeitung der Treuhand-Politik fordern und gewerkschaftliche Arbeitskämpfe unterstützen. Oder die vielen engagierten Aktivist:innen, die sich gegen ein Vergessen der rassistischen Gewalt in den Transformationsjahren und für eine Rekonstruktion durch Zeitzeug:innen-Berichte bemühen. Beispielsweise die Initiative „Oeringerstraße 92“, in deren Fokus das rassistische Pogrom gegen Asylsuchende in Quedlinburg im September 1992 steht. Und dann gibt es auch zahlreiche Autor:innen und Künstler:innen, die sich erzählerisch mit einem neuen Blick der DDR widmen. Beispielsweise die Autorin Charlotte Gneuß in ihrem Roman „Gittersee“. Und trotzdem verharren viele Nachwendekinder in einer ­trotzigen Romantisierungshaltung. Es droht, dass wir den Fehler der Generationen vor uns wiederholen, die es bisher nicht geschafft haben, eine Ambiguitätstoleranz zu etablieren, also die Fähigkeit, Vieldeutigkeit und Unsicherheit in Bezug auf die DDRGeschichte und das Leben in Ostdeutschland zur Kenntnis zu nehmen und ertragen zu können (siehe dazu auch Mai-An Nguyens Beitrag in TdZ 2/24). Oftmals wird unreflektiert das Narrativ und der spezifische Erinnerungsmodus der eigenen Familie reproduziert, ohne die Notwendigkeit zu erkennen, sich davon zu emanzipieren und ein eigenes Verständnis dessen, was war und ist, zu entwickeln. So bleibt das „ostdeutsch-Sein“ eine entpolitisierte Identitätskategorie, die sich in ostalgischer Manier von Rotkäppchen-Sekt, Bambina und Senfeiern nährt und sich in ironischen Referenzen auf DDR-Kultur vereint. Teilweise geht dies so weit, dass eine Verherrlichung der regressiven Lebenswirklichkeiten im ehemaligen Ostblock stattfindet, die sich nur auf eine Alltagserzählung stützt und jegliche gewaltvollen Eigenschaften jener realsozialistischen Staaten ausklammert. Das passiert in einer

Eine Leipziger Initiative fordert die Aufarbeitung der Treuhand-Politik und unterstützt gewerkschaftliche Arbeitskämpfe. 65


Diskurs & Analyse Neue Serie: Post-Ost Ostdeutschland darf nicht als längst verloren abgestempelt und die Hinterfragung der Wiedervereinigungserzählung nicht der AfD überlassen werden.

ablehnenden Haltung zur konservativen Erinnerungspolitik der Bundesregierung und der strukturellen Ungleichheit, die unser heutiges Leben in Deutschland prägt. Ich kann das gut verstehen und doch empfinde ich die Haltung oftmals als sehr befremdlich und unterkomplex. Auch, so kritisiert der Historiker Patrice G. Poutrus, würde diese Form einer „Neo-Ostalgie“, eine Externalisierung an ein westdeutsches Außen betreiben, welche die Wahl der DDR-Bürger:innen 1990 zu einer schnellen Einheit und die fortwährende Bestätigung der CDU in den ostdeutschen Bundesländern und auf Bundesebene seitdem ausklammern würde.3 „Bilde dir kein Urteil, bilde dir ja kein Urteil, du Nachgeborene! Ja, wieso eigentlich nicht? Das ist doch ein billiger Trick! Hinter der wortschönen Malerei drei kellertief Schweigen. Dort habt ihr eure Schuld verbuddelt und verbietet uns, sie auszu­heben, sprecht uns ab, dass wir zu unserem eigenen Urteil kommen. Was kümmert’s euch? Was geht’s euch an, was wir über euch denken?“ schreibt Anne Rabe in ihrem Roman „Die Möglichkeit von Glück“. Ich wünsche mir, dass wir als Generation schaffen, die Angst vor dem Schweigen, welches immer noch in vielen Familien kultiviert wird, hinter uns zu lassen. Ich wünsche mir, dass wir uns dem Unbequemen, dem Ambivalenten und dem Unerzählten widmen, dass wir uns das Widersprüchliche so gut es geht erschließen und den Kampf um die Deutungshoheit über die Geschichte nicht so stur weiterführen, wie es in den letzten Jahrzehnten der Fall war. Ich wünsche mir, dass wir uns trauen, zu fragen, in welchen Massenorganisationen unsere Eltern Mitglieder waren und welche Rolle sie in Bezug auf die Gewalt in den Neunziger eingenommen haben. Und sollten sie sich dieser Befragung verweigern, darf das für uns keine Ausrede sein, die Familiengeschichte ruhen zu lassen. Ich wünsche mir, dass wir ein neues Verhältnis von Täter:innenund Opferschaft in der DDR und Transformationszeit entwickeln. Ich wünsche mir, dass wir migrantische und jüdische Perspektiven auf das historische und zeitgenössische Ostdeutschland selbstverständlich mitdenken. Ich wünsche mir eine neue Phase der Aufarbeitung, in der sich der Aufarbeitung selbst gewidmet wird. Ich wünsche mir eine linke DDR-Kritik, denn weder von den Thälmann-Fans noch von einer rechtskonservativen Interpretation der Vergangenheit und einer daraus resultierenden Einheitswippe, die aktuell für rund zwanzig Millionen Euro vor dem Berliner Schloss gebaut wird, fühle ich mich in meinem Verhältnis zum Heimatland meiner Familie und der heutigen BRD repräsentiert. Noch dazu wünsche ich mir eine Öffnung des Diskurses, für die Menschen, die aus dem Westen oder Ausland stammen, aber

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seit vielen Jahren in Ostdeutschland leben und somit auch eine spezifische ostdeutsche Erfahrung zu ihrer Biografie zählen können. Ich wünsche mir einen stärkeren Austausch mit der jungen Post-Ost-Generation, die selbst oder deren Eltern in den ehemals sowjetischen Staaten geboren wurden. Ich wünsche mir außerdem eine neue solidarische Wessi-Generation, die sich selbst­kritisch in der deutsch-deutschen Geschichte verortet und ihr durch historische Zufälle entstandenes Familienerbe, kulturelles Kapital und die anerzogene Ablehnung gegenüber dem sächsischen Dialekt reflektiert. Auch sie müssen Gespräche mit den eigenen Eltern initiieren, die bei der Treuhand gearbeitet, in den 90er Jahren ihre Karrieren in ostdeutschen Bundesländern in Wissenschaft, Politik und im öffentlichen Dienst begonnen oder in jener Zeit dort Land, Wohnraum oder Betriebe gekauft haben. Die blühenden Diskurs-Landschaften kommen nicht von ­alleine – wir müssen uns diese selbst schaffen! Mit Angst und Spannung blicken wir auf die diesjährigen Wahlen in Sachsen, Thüringen, Brandenburg und im Europäischen Parlament. Spätestens in Hinblick darauf ist es ungemein wichtig, die progressiven Strukturen und Akteur:innen vor Ort solidarisch und mit all unserer Kraft zu unterstützen. Ostdeutschland darf nicht als längst verloren abgestempelt und die Hinterfragung der Wiedervereinigungserzählung nicht der AfD überlassen werden. Anfang des Jahres gingen in Ostdeutschland so viele Menschen gegen rechtsradikale Politik durch die AfD und Neonazis auf die Straße wie seit ’89 nicht mehr. Ostdeutschland bedeutet für uns Nachwendekinder eben auch aufstehen, gegen rechts auf die Straße gehen und für eine blühende Diskurslandschaft einzustehen. T

1 Nach Francis Fukuyama, The End of History and the Last Man, New York 1992 2 Friede, Freude, Einheit? „Wir streiten für Selbstermächtigung und einen solidarischen Osten“ https://www.rosalux.de/news/id/43044 3 „Das Große Ganze: 30 Jahre nach Hoyerswerda: Selbstbesinnung und neue Ostalgie“, MDR 2021. https://www.mdr.de/nachrichten/podcast/ grosse-ganze/hoyerswerda-krawalle-ostidentitaet-fremdenfeindlichkeitaudio-100.html

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Theater der Zeit

Report

Foto Vojtech Brtnicky

Viktor Č ernický in dem von ihm konzipierten „Pli“ am Maillon-Theater in Straßburg

Straßburg Das Théâtre Le Maillon im Straßburger Europaviertel erreicht mit neuen Formaten französisches wie deutsches Publikum und öffnet den Horizont des Stadttheaters Berlin Der verzögerte Neustart an den Berliner Sophiensælen

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Report Straßburg

Tummelplatz internationaler Talente Das Théâtre Le Maillon im Straßburger Europaviertel erreicht mit neuen Formaten französisches wie deutsches Publikum und öffnet den Horizont des Stadttheaters Von Elisabeth Maier

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Auf der Fahrt ins Théâtre Le Maillon in Straßburg klingt französische Musik aus dem Autoradio. Beim Überqueren des Rheins bei Kehl ist der Empfang gestört. Plötzlich sind Fetzen eines deutschen Senders zu hören. Im Grenzgebiet verschmelzen beide Kulturen – gerade im Alltag. Das Theater der Stadt Straßburg führt den Untertitel „europäische Bühne“. Im Herzen des Europaviertels liegt das moderne Haus am Boulevard de Dresde. Zum Europäischen Parlament sind es da nur wenige Gehminuten. Da wird Politik für den Kontinent gemacht. 2019 zog das Team der Intendantin Barbara Engelhardt in das neue Gebäude ein, das der Architekt Umberto Napolitano vom Pariser Büro LAN (Local Architecture Network) entworfen hat. Von außen sieht der dunkle Zweckbau aus wie ein Container. Innen betritt das Publikum eine offene Halle. Die hohen Wände lassen erst mal nicht an ein Theater denken. Die Innenarchitektur ist von Holz und Glas geprägt. Statt der klassischen Raumkonzeption mit Kassenbereich, Foyer und Zuschauerraum erwartet die Zuschauer:innen ein offenes Haus. Ein Kristallisationspunkt ist das BIM! Das Restaurant der Küchenchefin Noémie Schott bietet saisonale Gerichte aus der Region. Auch außerhalb der Spielzeiten bringt das Lokal Leben ins Haus. Gummibäume und andere Grünpflanzen sorgen für eine besondere Atmosphäre. Da trifft sich das Publikum nicht nur vor den Vorstellungen auf ein Glas Wein. Mittags und abends kommen Künstler:innen und Bewohner:innen des Viertels zum Essen.

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Foto links Vojtech Brtnicky, rechts Alexandre Schlub

„Pli“ von Viktor Černický am Maillon Theater in Straßburg


Report Straßburg Seit der Spielzeit 2017/18 leitet die deutsche Dramaturgin und Kuratorin Barbara Engelhardt das Haus im Grenzgebiet. Die gebürtige Freiburgerin lebt mit ihrer Familie seit Jahrzehnten in Frankreich. Sie ist im Haus und in der Stadt Straßburg sehr präsent. Die Theaterchefin stellt Spielpläne vor, trifft sich vor den Vorstellungen „auf einen Espresso“ mit dem Publikum, um in die Produktionen einzuführen. „Es ist wichtig, dass ich das Theater repräsentiere, denn wir haben ja kein festes Ensemble.“ Das französische Theatersystem unterscheidet sich da vom Deutschen. Da produzieren freie Gruppen für die Stadttheater und touren mit den Produktionen durchs Land. Paris ist auch in der Theaterszene das künstlerische Zentrum. Doch gerade in Straßburg mit seinen 291 000 Einwohner:innen sieht Engelhardt die Chance, ein breiteres Publikum für die Bühnenkunst zu begeistern. Der direkte Draht zu den Menschen, die ins Maillon kommen, liegt der kommunikativen Theaterchefin am Herzen: „Ich will herausfinden, was die Menschen bewegt.“ Dabei reicht der Horizont der international vernetzten Deutschen weit über Straßburg und über die deutsch-französische Szene hinaus. „Nicht nur der europäische Gedanke ist uns wichtig“, findet Engelhardt. In der multikulturellen Stadtgesellschaft leben nach ihren Worten Menschen, deren Hintergrund ganz unterschiedlich ist. Sprache, Bildung und Kultur vermischen sich in der Europastadt, in der immer wieder der elsässische Dialekt zu hören oder zu lesen ist. „Diese Vielfalt soll sich in unseren Spielplänen spiegeln.“ Dabei setzt Engelhardt bewusst auf eine Vielfalt der künstlerischen Formate. „Le Maillon“ heißt auf Deutsch „Bindeglied“. Unterschiedliche Schichten in der Stadtgesellschaft zu erreichen und zu verbinden, das ist ihr Ziel. Mit Tanztheater, Zirkus und Performance-Formaten erreicht die Bühne gerade ein Publikum, das mit Sprachbarrieren zu kämpfen hat. Das deutsche wie auch das französische Publikum mit internationalen Theatersprachen und mit innovativen ästhetischen Formaten bekannt zu machen, das reizt die Intendantin. Dabei interessiert Engelhardt der politische Diskurs. Femizide und sexuelle Gewalt sind Themen der brasilianischen Theaterkünstlerin Carolina Bianchi. Das erste Kapitel ihrer Produktion „Cadela Força“ – übersetzt etwa „Schlampenpower – beschäftigt sich mit Morden an Frauen. Dabei schockt die Performerin Bianchi das ­Publikum, in dem sie selbst eine Droge zu sich nimmt. „Goodnight Cinderella“ heißt die Droge, die in Bianchis Heimatland Brasilien Frauen verabreicht wird, um sie gefügig zu machen. Dem eigenen Abgleiten der Performerin in die Hilflosigkeit folgt das Publikum gebannt. Dabei nimmt die Künstlerin Bezug auf die politische ­Aktivistin Giuseppina Pasqualino di Marineo, bekannt als Pippa Bacca. In einem weißen Brautkleid machte sich die Italienerin auf, um a­ llein per Autostopp durch die ehemals kriegsgeschüttelten Länder des Balkans und durch die Türkei zu reisen. Das Projekt hat sie mit Silvia Moro realisiert. Sie brach ebenfalls in Richtung Naher Osten auf, um für den Weltfrieden zu demonstrieren. Das künstlerische Projekt endete für Pippa Bacca in einer Tragödie. In der Türkei vergewaltigte und tötete sie ein damals 38-jähriger Lastwagenfahrer, der die Aktionskünstlerin als Tramperin mitnahm. Mit überlebensgroßen Fotos bringt Bianchi die ermordete Braut dem Publikum nahe. Was es bedeutet, allein in ein Auto zu

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steigen, und „diesen intimsten Bereich plötzlich mit einem ganz fremden Menschen zu teilen“, das sollte ihr Kunstprojekt zeigen. Auf der großen Bühne des Maillon-Theaters, die das Architektenteam sehr flexibel geplant hat, öffnet sich ein riesiger Raum. Da zeigt Bianchi mit ihrem Kollektiv Cara de Cavalo aus São Paulo in großen Bildern, wie Frauen sich der sexuellen Gewalt ausliefern und getötet werden. Dann fährt ein Auto auf die Bühne. Zunächst fahren fröhliche Menschen einem ausgelassenen Abend entgegen. Dann wendet sich das Blatt. Die Scheiben beschlagen. Eine schwache Hand schreibt „HELP“ auf die Frontscheibe. Das Bild dieses Menschen in Not, dem keiner helfen kann, schockiert und berührt zugleich. Auf der Bühne zelebrieren die brasilianischen Performer:innen und Tänzer:innen Totenrituale, die in der lateinamerikanischen Kultur verwurzelt sind. Im Vordergrund liegt die Performerin Bianchi, von K.O.-Tropfen zunehmend hilflos. Mit der Produktion, die im Juli 2023 beim Theaterfestival in Avignon Premiere feierte, machte Bianchi in der europäischen Szene Furore (siehe auch TdZ 10/23). Das Maillon-Theater ist einer der Kooperationspartner. Drei Mal war die aufwändige Produktion nun in dem Straßburger Haus jenseits des Theaterzentrums Paris vor ausverkauftem Haus zu erleben. Mit Untertiteln in französischer und englischer Sprache ließen sich die Sprachbarrieren in der Produktion aus dem portugiesischen Sprachraum überwinden. Nach der Vorstellung entspannen sich im Vorraum des Theaters viele Gespräche. Für Frauen und Mädchen, die selbst sexuelle Gewalt erlebt haben, haben die Theatermacher:innen ­einen geschützten Raum geschaffen. Junge Regiekunst zu fördern, hat sich das Le Maillon in Straßburg seit Jahrzehnten zur Aufgabe gemacht. Die innovative Kuratorin Barbara Engelhardt gehörte 2005 zu den Mit­ begründer:innen des Festival Premières, das bis 2014 vielen jungen ­Regietalenten aus ganz Europa ein Forum gab. Bis 2017 hat sie das Festival Fast Forward kuratiert, das heute noch am Staatsschauspiel Dresden fortgeführt wird. Was führte zum Aus des Straßburger Regiefestivals? Ko­ operationspartner war das Théâtre National de Strasbourg (TNS).

Barbara Engelhardt, Theaterleiterin des Le Maillon

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Theater Konzerte Diskurse Workshops Installationen Videokunst Partys Theaterführungen Gefördert vom Ministerium für Kultur und Wissenschaft des Landes Nordrhein-Westfalen im Rahmen von NEUE WEGE in Zusammenarbeit mit dem NRW KULTURsekretariat.

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Bei den letzten Ausgaben war auch das Badische Staatstheater Karlsruhe mit im Boot, das in einer guten Autostunde von der französischen Grenzstadt aus zu erreichen ist. Die Finanzierung solcher Festivals sei angesichts drastischer Kürzungen im franzö­sischen Kulturbetrieb immer schwieriger geworden, sagt Engelhardt. Als der Schauspieler und Regisseur Stanislas Nordey das TNS übernahm, stieg er aus der Kooperation aus. Ohne den ­großen Staatstheater-Partner war das Festival nicht mehr zu stemmen. Dennoch hat Engelhardt ihre Linie, junge Regie zu fördern, in ihre Spielpläne am Le Maillon integriert. Das Publikum mit innovativen Regiestilen vertraut zu machen, bleibt ihr Ziel. Denn neben der Möglichkeit, ihre Arbeiten an einem größeren Haus zu zeigen, geht es nach ihren Worten darum, die jungen Regietalente und Absolventen der Regiestudiengänge in ganz Europa zu vernetzen“ und so internationalen Austausch auf der Ebene persönlicher Begegnungen möglich zu machen. Da das Theater im Eurodistrikt Straßburg-Ortenau liegt, der auf französisch-deutsche Vernetzung setzt, bringt die Bühne das deutsche und das französische Publikum in Kontakt. „Wir machen Theater für die gesamte Region Oberrhein“, sagt Céline Coriat, die sich am Theater um die französisch-deutschen Beziehungen kümmert. „Wir möchten deutsche und französische Besucher:innen aller Generationen ins Gespräch bringen.“ In Zeiten, da auf beiden Seiten immer w ­ eniger Schüler:innen die Sprache des Nachbarlandes als Fremdsprache wählen, setzt das Maillon auf kulturellen Austausch. „Das gemein­ same Erleben neuer Theaterformen verbindet“, sagt Coriat. Ihr ist es wichtig, die Jugendlichen auf beiden Seiten des Rheins mit zeitgenössischen künstlerischen Formaten vertraut zu machen. Dass sie über die Theatererfahrung auch die Sprache und Kultur des Nachbarlands kennenlernen, ist für Céline Coriat ein großes Plus. In jeder Spielzeit kooperiert die Straßburger Bühne mit deutschen und französischen Schulklassen. Im Tandem lernen sie gemeinsam ästhetische Formate kennen, die für viele von ihnen neu sind. Gemeinsam die Vielfalt des Theaters entdecken, das steht für Céline Coriat im Fokus. Mit dem tschechischen Tänzer und Dramaturgen Viktor Černický, der seine Performance „Pli“ in der Reithalle im Offenburger Kulturforum zeigte, kommunizierten die deutschen und französischen Jugendlichen in englischer Sprache. Mehr über die Arbeit des Grenzgängers zwischen Tanz und Zirkus zu erfahren, das fanden die Schülerinnen und Schüler spannend. Bislang habe sie vorwiegend mit Gymnasialklassen gearbeitet, sagt Céline Coriat. Nun erprobt sie das erfolgreiche bilinguale Konzept auch mit Grundschulklassen. Für Erwachsene gibt es Workshops und Ateliers, in denen Zuschauer:innen mit den Kunstschaffenden in Kontakt kommen. Auch da lassen sich Sprachbarrieren leicht überwinden. Um dem deutschen Publikum den Weg über den Rhein ins Theater nach Straßburg möglichst einfach zu machen, fährt ein Kulturbus von Offenburg über Kehl in die französische Grenzstadt. Schon auf der kurzen Busfahrt bekommt das deutsche Publikum da Einblicke in die Aufführung, die sie im Le Maillon erwartet. Die Produktionen aus aller Welt sind meist in deutscher und französischer Sprache übertitelt, damit das Publikum der Handlung folgen kann. Dabei setzt das Haus auf Formate, die jenseits des Texts funktionieren. T

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Szenen aus „Unauthorized und Unverschämt“ von Simone Dede Ayivi in den Sophiensælen in Berlin

Fotos Mayra Wallraff

Erweiterung ins Dokumentarische Der verzögerte Neustart an den Berliner Sophiensælen Von Erik Zielke

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Report Sophiensæle

„Trust the process“ – so lautet an den Berliner Sophiensælen das Motto der ersten Spielzeit unter der künstlerischen Leitung von Jens Hillje und Andrea Niederbuchner. Nicht selten er­ wecken solche Spielzeitmotti eher den Eindruck, in den Marketing­ abteilungen der Theater erdacht worden zu sein, denn von Dramaturgenhand zu stammen – und schon bald findet sich das ­Vokabular angestrengt zeitgeistiger Diskurse übergroß auf Plakaten und Bildschirmen und lässt das Theaterpublikum genervt zurück. Da wirkt die Entscheidung von Hillje und Niederbuchner für ein minimalistisches Glaubensbekenntnis wohltuend unauf­ geregt: In Berlin-Mitte glaubt man noch an die Kunst und an ihre Prozesshaftigkeit. Wie ernst die beiden Künstlerischen Leiter das meinen, lässt sich auch an einem Theaterabend wie Simone Dede Ayivis „Unauthorized und unverschämt“ über die Geschichte Schwarzer Menschen im Westdeutschland der Nachkriegszeit ablesen. Es handelt sich dabei um eine Ko-Produktion zwischen den Sophiensælen und dem Nationaltheater Mannheim. Auf die Berliner Premiere im Februar folgt im Juli eine Premiere im Baden-Württembergischen, ehe die Produktion als work in progress im Dezember in die Hauptstadt zurückkehrt. Was im Februar in Berlin zu sehen war, war allerdings kein premierenreifer Theaterabend. „Wir sind mittendrin in Recherche und Gesprächen“, heißt es von Dede Ayivi auf dem Programm-

Dokumentarische Theaterformen werden, so die beiden Künstlerischen Leiter, den Spielplan prägen. Neben der programmatischen Basis des Hauses: Tanz und Performance. 72

Angstfrei bleiben In dieser Hinsicht hat es die Berliner Theaterlandschaft derzeit ohnehin schwer. Iris Laufenberg, die neue Intendantin des Deutschen Theaters, erwiderte in einem Interview im Tagesspiegel, nach der mangelnden Profilierung der verschiedenen Bühnen durch eigene Handschriften und die Rotation des künstlerischen Personals innerhalb der führenden Theater gefragt, überaus selbstsicher: „Diesbezüglich hat sich der komplette Diskurs verändert.“ Hillje und Niederbuchner halten ihr Haus für ohnehin profilstark und sehen ihre Aufgabe vor allem in der Fortführung von etwas, das bereits vorher aufgebaut wurde. Was sie nicht wollen, sei ein Bruch. Was die Sophiensaele ausmache, sei deren Existenz als

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Foto Mayra Wallraff

„Unauthorized und Unverschämt“ von Simone Dede Ayivi

zettel. Kurzerhand fiel die Entscheidung, das Dokumentartheaterstück „Unauthorized und unverschämt“ zunächst als begehbare Installation auf die Bühne zu bringen und das Publikum, mit Kopfhörern ausgestattet, für fünfzig Minuten auf eine Geschichtsreise zu schicken. In Zeitzeugenberichten erfahren die Zuhörer:innen vom Schicksal der sogenannten Besatzungskinder, Nachkommen weißer deutscher Mütter und Schwarzer US-amerikanischer Soldaten. Von Stigmatisierung und schlimmsten rassistischen Verwerfungen ist die Rede, aber auch von Kampf und Community-Building. Eine wirkliche künstlerische Verdichtung und Verschneidung des Materials haben allerdings noch nicht stattgefunden. Die Installation hat zunächst vorrangig informativpädagogischen Charakter. Auch dem Bühnenbild (Mirjam Pleines) haftet noch das ­Unfertige an. Verstaubtes Mobiliar aus der Nachkriegszeit und ein altes Radio sind aufgestellt als Zeichen des bundesrepublikanischen Miefs in jenen grauen Jahren. An anderer Stelle sind sieben Gartenzwerge platziert, die an die deutsche Kleingeistigkeit erinnern. Ist denn etwas falsch an diesen Bildern? Nein, falsch nicht, aber reichlich abgegriffen sind sie doch. Simone Dede Ayivi und ihr Team vertrauen nicht nur auf den Prozess, sondern auch ganz auf ihr Material. Jens Hillje und Andrea Niederbuchner haben nicht schnöde die Premiere verschoben oder gar abgesagt, sondern haben den Mut aufgebracht, die Künstler:innen mit dem bereits Vorhandenen umgehen zu lassen. So sympathisch dieses Vorgehen sein mag, so irritiert kann man sich als Theaterbesucher auch fühlen. Denn die Chance, das ­ Publikum dabei einzubeziehen, etwa durch Einführungen oder Künstlergespräche die Arbeitsweise transparent zu machen, ­wurde leider ungenutzt gelassen. Dokumentarische Theaterformen, für die auch Simone Dede Ayivi steht, würden, so die beiden Künstlerischen Leiter im ­Gespräch, in Zukunft den Spielplan prägen. Neben der programmatischen Basis des Hauses: Tanz und Performance. Das ist durchaus eine reizvolle Mischung von Körperlich-Sinnlichen und Aufklärerisch-Verkopftem. Die Namen, von denen man hier ­hören wird, sind geläufig: Jule Flierl, Monster Truck, Turbo P ­ ascal, Henrike Iglesias und Flinn Works. Alles alte Bekannte. Es scheint nicht leicht, bei so viel Kontinuität die neuen Akzente ausfindig zu machen.


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Berliner Künstlerhaus, als freie Produktionsstätte für hier lebende und arbeitende Theatermacher:innen. Hinzu komme die prägende Architektur, die sich mitunter in die Inszenierungen einschreibt. Nicht nur das künstlerische Personal, wie im Tagesspiegel angesprochen, auch die Leitungsebenen wechseln munter durch die verschiedenen (Berliner) Bühnen. Niederbuchner und Hillje sind nur ein weiteres Beispiel dafür. Andrea Niederbuchner ist Kulturmanagerin und Kuratorin im Bereich Tanz, Performance, bildende Kunst. Von 2013 bis 2022 arbeitete sie für das am HAU Berlin angesiedelte Festival Tanz im August. Jens Hillje wurde am Hildesheimer Institut für Kulturwissenschaft ausgebildet. Mit Thomas Ostermeier gründete er die ­Baracke am Deutschen Theater Berlin, ehe sie gemeinsam die Schaubühne am Lehniner Platz leiteten. Abermals als Ko-Intendant arbeitete Hillje mit Shermin Langhoff am Maxim-Gorki-­ Theater. Und dazwischen zog es ihn immer wieder als Dramaturg in die Freie Szene. Sind die Sophiensaele nun also eine weitere Station bis zur nächsten, vielleicht besseren Gelegenheit, ein Haus zu übernehmen? Danach sieht es wirklich nicht aus. Ohnehin ist der Produktionsort auf einem äußerst fragilen finanziellen Fundament gebaut, das jeden Theaterkarrieristen abschrecken dürfte. Sieht man die beiden über „ihr“ Theater sprechen – erschöpft und dennoch gut gelaunt –, transportiert sich schnell die Emphase. Die beiden ergänzen einander, unterbrechen sich höflich, um dem anderen beizupflichten und sprechen selbst noch über den Wasserschaden am Haus, der die Spielzeiteröffnung bis in den Dezember ver­ zögert hatte, mit Leidenschaft. In seiner Eröffnungsrede, gehalten zwei Monate nach den von der Hamas verübten Massakern in Israel, plädiert Hillje für ­Humanismus und Antifaschismus. Dafür blickt er in die Geschichte des Hauses, errichtet als Handwerkervereinshaus, und wirft Schlaglichter auf dessen Rolle in der Märzrevolution, auf Reden, die Clara Zetkin und Rosa Luxemburg hier gehalten haben. Den künstlerischen Leitern geht es, so wird sehr klar, um ästhetische Setzungen, aber eben auch um emanzipatorische Entwicklungen und – vielleicht nicht zuletzt – um die Kulturstadt Berlin. Über seine Zeit am Gorki ließ Hillje kürzlich auf Deutschlandfunk Kultur wissen, das Projekt habe gut begonnen, aber bald habe vor allem die Angst regiert. Was ohnehin längst kein Geheimnis mehr im geschwätzigen Berliner Kulturbetrieb ist. ­ Nun danach gefragt, wie er einen neuerlichen Einzug der Angst am neuen Ort verhindern möchte, weiß er Antwort: Die Künstlerische Leitung selbst müsse angstfrei bleiben, Prozesse müssten immer wieder hinterfragt und reflektiert werden. Es bleibt dabei – trust the process. T

22.03. - 11.05.2024 im März 19:30 Uhr ab April 20:00 Uhr

Annie Ernaux. DER JUNGE MANN / DAS EREIGNIS Regie: Michael Weber based on Le jeune homme and L’événement by Annie Ernaux ©Gallimard, Übersetzung von Sonja Finck Aufführungsrechte: Suhrkamp Verlag AG Berlin

theaterwillypraml.de THEATER WILLY PRAML, Produktionshaus NAXOS Theater der Zeit 3 / 2024

Waldschmidtstraße 19, 60316 Frankfurt am Main


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Empfehlungen aus dem Verlag

Eine Puppe packt aus Klaus Thaler Eine Puppe packt aus. Dokumentarroman Paperback mit 333 Seiten, Zahlreiche Abb. 22 € (Paperback) / 17,99 € (E-Book)

„Das ist deutsche Familien- und zugleich ­Einheitsgeschichte. Wann wurde die zuletzt derart entspannt und heiter aufgeblättert? So hintersinnig, so abgründig und so voller Überraschungen!” Deutschlandfunk Kultur

Zorro, Jonas & Mary Filou

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Funduspuppen der HfS Ernst Busch Berlin, 2023

Was war? Was ist? Was wird? Fünf Jahrzehnte Puppenspielkunst an der HfS Ernst Busch Berlin Es ist Sommer 1972. Die Staatliche Schau­ spielschule Berlin bekommt erstmals Zu­ wachs. Der Studiengang Puppenspiel wird geboren: ein methodisches, kultur­politisches, vor allem aber künstlerisches Experiment. Im Zentrum dieses komplexen Unterfan­ gens steht seit nunmehr fünfzig Jahren die Beherrschung des Handwerks der Animation verschiedenster Materialien, Puppen und Objekte – und die Förderung einer eigenen künstlerischen Sprache. Nach dem Pilot­ projekt eines Zusatzstudiums ab 1970 unter Leitung von Annemarie Esper und Heinz Hell­ mich, die beide ihre Wurzeln im Schauspiel hatten, wurde 1972 mit Hartmut Lorenz, Ab­ solvent der Akademie der musischen Künste Prag, ein Fachmann mit dem Aufbau eines Curriculums für eine Fachrichtung Puppen­ spiel betraut. (...) Die Gründung eines Studiengangs für Pup­ penspielkunst ist zu diesem Zeit­ punkt an einer Schauspielschule im deutschsprachi­ gen Raum einmalig und bleibt es auch im ersten Jahrzehnt. Der künstlerische Impuls einer Handvoll Studierender und Lehrender des Studiengangs Schauspiel führte zur Be­ fürwortung von offizieller Seite, die offenbar einen Bedarf erkannte. Ein Glücksfall.

Ein maßgeblicher Anstoß für die Wertschät­ zung des Puppenspiels und damit für die Gründung einer solchen Ausbildungsstätte in der DDR war sicherlich die Tournee von Sergei Obraszow 1950 / 51, der mit seiner Kunst die Säle zwischen Rostock und Dres­ den füllte. Sein artistisches Können inspirier­ te die Theaterszene und erschien zugleich als zitierfähiger Referenzpunkt für die Relevanz dieser Kunstform in der noch jungen Repub­ lik. Die entstehenden kommunalen Puppen­ theater und Puppensparten an den Theater­ häusern verlangten nach professionellem Nachwuchs. Dem sollte mit der Einrichtung der Fachrichtung entsprochen werden. Eine Ironie der Geschichte ist, dass der russische Ausnahmekünstler und Puppen­ spieler Obraszow einer akademischen Aus­ bildung auf diesem Gebiet zeitlebens eher skeptisch gegenüberstand. (…) Aus dem Prolog des Herausgebers Jörg Lehmann Puppe50. Fünf Jahrzehnte Puppenspielkunst an der HfS Ernst Busch Berlin Herausgegeben von Jörg Lehmann 200 Seiten, 20 € (Paperback oder E-Book)

Theater der Zeit 3 / 2024

Fotos unten links Peter Wawerzinek, oben Mitte Magdalena Roth, Jonathan Gentilhomme, rechts unten Gigler & Masmann, Skizze Annegret Wieck

Wolf Biermanns Sohn erzählt seine packen­ de Familiengeschichte Klaus Thaler, und der schrieb sie aus der Sicht einer Puppe auf. Ich bin eine Puppe, my name is Zorro der Bär. Mein schicksalhaftes Buch lebt von der Vermischung aus absurdem Puppenspiel mit realer Geschichte. Kommt mit auf meinem Flug durch die Ost-Berliner Boheme vor dem Mauerfall! Gleich landen wir im Utopia 1990, direkt auf dem Tacheles mit Eimern voller Niemandsland. Der rote Faden rock‘n‘rollt sich vor- und rückwärts auf. Er entpuppt Bier­ manns „Treuehand“ und entknotet Freygangs „Firma“. Ich finde eine Spur ins Barocke, er­ zähle von der legendären Hanswurst-Ver­ treibung der „Neuberin“ und höre vom ge­ meinen Rammstein. Ein Märchenbilderbuch deutsch-deutscher Aufklärung von Lessing bis Corona. Klappe zu und Vorhang auf!


Das Flüchtige gestalten

All you can read Lesen Sie unsere Bücher und Magazine online und entdecken Sie Assoziationen zum Thema aus unserem Verlagsarchiv mit mehr als 9000 Texten. Ab 5,99 € / Monat, inkl. E-Paper-Download – tdz.de Jetzt 30 Tage für 1 € testen.

DAS FLÜCHTIGE GESTALTEN 30 Jahre Bayerische Theaterakademie August Everding 200 Seiten mit zahlr. Abb. 20 € (Paperback) / 16,99 € (E-Book)

Der vorliegende Band bildet den Auftakt ei­ ner Publikationsreihe der Bayerischen Thea­ terakademie August Everding in München. Anlässlich ihres dreißigjährigen Jubiläums thematisiert er die komplexe Geschichte und Gegenwart einer der großen Ausbildungs­ stätten für Bühnenberufe im deutschsprachi­ gen Raum. 1993 im historischen Münchner Prinzregententheater als Lehr- und Lernthea­ ter gegründet, beruht die Theaterakademie auf einem einmaligen Kooperationsmodell mit den Münchner Hochschulen und den Bayerischen Staatstheatern. Bis heute wird sie von der Idee getragen, die Darstellenden Künste im laufenden Theaterbetrieb auszubil­ den und so Theorie und Praxis in einzigartiger Weise zu verschränken. Was bedeutet der Begriff Akademie für uns und wie tauglich ist er für die Gegenwart? Das Buch dokumentiert zum einen die Ent­ stehung und den Wandel der Ausbildung vor dem Hintergrund einer Institutions- und Wis­ sensgeschichte der Darstellenden Künste. (…) Aus dem Vorwort der Herausgeberin Barbara Gronau

NEWSLETTER-UPDATES Mit unserem Newsletter informieren wir unmittelbar über unsere Neuerscheinun­ gen und Verlagsaktivitäten. Schlussszene aus „Die Lohndrücker“ am DT 1988 mit Dieter Montag, Michael Gwisdek und Hermann Beyer

„Mir liegt viel daran, daß meine Stücke auch bei uns in der DDR gespielt werden.“

(Heiner Müller)

Die Durchsetzung der Theatertexte von Heiner Müller und der ihnen immanenten Theaterästhetik auf den Bühnen Ost-Berlins ist eine bisher ungeschriebene Geschichte kollektiver schauspielerischer Selbstbestim­ mung. Eine erschöpfende Erzählung über die Theaterarbeit Müllers in der DDR um­ schließt drei Zeiträume: Die Zeit des Schrei­ bens und der ersten öffentlichen Resonanz der Texte, die Perioden des öffentlichen Ver­ schweigens und der offiziellen Verbote und die Zeit der endlichen theatralischen Reali­ sierung. In diesem »Müllerschen Wirkungs­ zyklus« spiegeln sich wesentliche Etappen der politischen und ökonomischen Entwick­ lung der DDR in ihrer Konflikthaftigkeit und Widersprüchlichkeit wider. (…) Auszug aus dem Einleitungstext von Thomas Wieck Recherchen 169 Thomas Wieck Wir waren die Müller-Spieler Hermann Beyer, Michael Gwisdek, Dieter Montag über die Kunst des Schauspielens in der DDR, 426 Seiten, 28 € (Paperback oder E-Book)

Theater der Zeit 3 / 2024

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Bücher in Vorbereitung 40 Jahre Kampnagel Thomas Oberender: Gaia-Theater Birgit Wiens: Bühne. Perspektiven der Szenografie und Performance Design Studies Learning for the Future. Zukunfts­ konferenz für die Darstellenden Künste Theater Willy Praml 40 Jahre Theaterlabor Bielefeld 15 Jahre Intendanz Katja Ott am Theater Erlangen Im Fokus: Freies Kinder- und Jugendtheater TdZ Spezial: All Abled Arts. Notizen zu Inklusion an einem Stadttheater

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THEATRUM HELVETICUM

Magazin Bücher

Heidy Greco-Kaufmann Tobias Hoffmann-Allenspach

Theaterpionier aus Leidenschaft Oskar Eberle (1902–1956)

Das erste Theaterwissenschaftliche Institut wurde vor gut hundert Jahren, am 10. No­ vember 1923 an der Berliner Friedrich-Wil­ helms-Universität gegründet, am 15. Novem­ ber 1948 eröffnete Hans Knudsen als erster ordentlicher Professor für Theaterwissen­ schaft das Theaterwissenschaftliche Institut an der neu gegründeten Freien Universität Berlin. Diejenigen, die die ersten Kämpfe für eine Wissenschaft vom Theater ausfochten, prägten das Fach auch entscheidend: Max Herrmann in Berlin (Theater als soziales Spiel), Carl Niessen in Köln (globale Thea­ tralität), Artur Kutscher in München (Thea­ terethnologie), Albert Köster in Leipzig (die Bühne als Fortsetzung der Literatur) – und eben Oskar Eberle in der Schweiz (Theater­ anthropologie), der es im Gegensatz zu den zuvor genannten nie zu einer ordentlichen oder außerordentlichen Professur brachte: Erst 1992 wurde dort ein Institut für Thea­ terwissenschaft an der Universität Bern ge­ gründet! Beide anzuzeigende Publikationen haben gemeinsam, Fachgeschichte nicht als Ideengeschichte zu beschreiben, son­ dern als eine von Personen geprägte Zeit­ geschichte.

Rastloser Netzwerker

Theater-Geschichte als Werkzeug der Macht Kritische Studien zu Theaterwissenschaftlern in Deutschland und der Schweiz Von Stephan Dörschel

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Biografien haben generell etwas Hagio­ grafisches an sich: Sie bereiten der darzu­ stellenden Person eine Bühne. Heidy GrecoKaufmann und Tobias Hoffmann-­Allenspach versuchen Oskar Eberle von dem Vorwurf einer allzu großen Nähe zu den national­ sozialistischen Theaterideen zu befreien. Oskar Eberle wurde 1902 in Zürich ge­ boren und blieb Zeit seines Lebens der Innerschweiz sowohl emotional wie wis­ senschaftlich verbunden. Das unbeschreib­ liche Glück von Heidy Greco-Kaufmann und ­Tobias Hoffmann-­Allenspach war die reiche Überlieferung, die sich in einem Teilnach­ lass in der SAPA (Swiss Archive of Perfor­ ming Arts) befindet und zu einem anderen Teil noch im Familienbesitz, wo er durch Frau Greco-­Kaufmann ausgewertet werden konnte. Dadurch wurde es möglich, seine zahllosen Tätigkeiten umfänglich zu rekons­ truieren. Oskar Eberle muss ein begnadeter, rastloser Netzwerker gewesen sein, an dem man in der Schweiz ab den 1930er Jahren nicht vorbeikam. Eberle erscheint hier aber auch tief gespalten zwischen seiner national-­ konservativen Anhänglichkeit an seine in­ nerschweizerische Heimat und seiner nicht

nachlassenden Neugier. Die chronologi­ sche Darstellung gerät scheinbar immer wieder aus den Fugen, wenn versucht wird, dem Journalisten, dem Dramatiker, dem Regisseur, dem Sammler theatraler Objekte und dem Theaterwissenschaftler der ersten Schweizer Generation gerecht zu werden. Als Nichtfachmann der innerschweizeri­ schen Verhältnisse fällt es einem natürlich schwer, seine Stellung zu bewerten – und dabei hilft einem die Autorin auch nicht. Nur wenn in kurzen Vermerken die Biogra­ fie eines Konkurrenten skizziert wird, der Eberle mal wieder ausbootete, erahnt man, dass es noch andere gab, die dieses Feld – u. a. Schweizer Freilichtspiele, Schweizer Theaterausstellungen, Schweizer Theater­ geschichte – beackerten. Eberles Engage­ ment in der „geistigen Landesverteidigung“ scheint seine offensichtliche völkische Grundeinstellung (Katholizismus, Patriotis­ mus mit einer Prise Antisemitismus) „dank“ des Außenfeindes Nazideutschland doch noch zu einem historisch gesehenen positi­ ven Ergebnis geführt zu haben. Sehr irritie­ rend ist, wie beinahe wortkarg der Aufstand der Laien-Spielleiter (alles Männer) wegen der sexuellen Übergriffe Eberles gegenüber seinen Laiendarstellerinnen 1947 benannt wird. Der Rezensent gesteht, dass er sich ab dieser Passage vor jeder Schilderung eines Engagements Eberles fürchtete. Die großen Erfolge sollten da erst noch kom­ men, das Fêtes des Vigneron (Winzerfest) in Vevey und seine „Wilhelm-Tell“-Insze­ nierung in Altdorf. Nachdem man die drei­ hundertseitige Lebensgeschichte Oskar Eberles und die Spezialstudie zu Eberles Festspielambitionen verschlungen hat, bleibt man etwas ratlos zurück: Was war das für ein Leben, das mit einer verschlepp­ ten Blinddarmentzündung 1956 so abrupt wie gewaltsam endete? Und man vermisst hier, was das um­ fangreiche Werk erst brauchbar für gezielte Recherchen macht: ein Register! Die Viel­ zahl der erwähnten Personen, Stücke, Orte verschwimmen selbst bei konzentriertem

Beide Publikationen zeigen Fachgeschichte nicht als Ideengeschichte, sondern als Zeitgeschichte von Personen. Theater der Zeit 3 / 2024


Magazin Bücher Lesen. Auch ein tabellarischer Lebenslauf Oskar Eberles wäre zur Orientierung hilf­ reich gewesen. Jan Lazardzig will mit seiner Publi­ kation Hans Knudsen keine Bühne schaf­ fen. Sein Anliegen ist im Gegensatz zu dem Greco-Kaufmanns, die geistige Nähe Knudsens zu den Ideen der National­ sozialisten herauszuarbeiten und die Fol­ gen, die dies im Laufe der Geschichte zei­ tigt, zu analysieren. Im Gegensatz zu Oskar Eberle war bei Hans Knudsen kein umfang­ reicher Nachlass auszuwerten. Lazardzig untersuchte daher die Veröffentlichungen Knudsens, um herauszufinden, inwieweit die Vorwürfe gegen Knudsen, den „Pro­ fessor von Hitlers Gnaden“, berechtigt waren – sein Ergebnis nach hunderten von Artikeln und Broschüren: Sie waren es. Knudsen, 1986 im westpreußischen Posen geboren, Lehramtsstudium an den Universitäten in Greifswald und Berlin, war offiziell von 1911 bis zu seiner Berufung zum außerordentlichen Professor 1944 Lehrer an einer höheren Mädchenschule in Ber­ lin-Steglitz. Inoffiziell oder im Nebenberuf arbeitete er als Kritiker, nach dem Ersten Weltkrieg zunehmend für Zeitungen und Zeitschriften, die der Republik ablehnend gegenüberstanden, und nach der Macht­ ergreifung der Nationalsozialisten auch als Herausgeber des zentralen Fachorgans Die Bühne, die mithalf, die nationalso­ zialistische Theaterpolitik durchzusetzen. Von 1923 bis 1932 war er unentgeltlich als Assistent am Theaterwissenschaftlichem Institut und in verschiedenen Vorstands­ funktionen von zahlreichen Vereinigungen tätig. Seine Dissertation zu Schiller und die Musik (Greifswald 1908) blieb unveröffent­ licht, die Monographie über den Schau­ spieler Heinrich Beck (1912) gilt als seine eigentliche Qualifikationsarbeit für die Max-Herrmann-Schule, deren aufrechter Vorkämpfer er seit der Begegnung mit Max Herrmann 1906 war. Mit vielen Zeitungs­ artikeln und Broschüren verkündete er fortan die Lehre von der Theaterphilolo­ gie, einer streng positivistisch angelegten Wissenschaft vom Theater – wie er sie verstand. Lazardzig arbeitet gut nachvoll­ ziehbar heraus, wo der kreative Kopf Max Herrmann sich in seinen Forschungen wei­ terentwickelte und sein Schüler Knudsen bei der von manchen Herrmann-Schülern beklagten „Faktenhuberei“ stehen blieb. Nach der Machtergreifung gehörte Hans

Theater der Zeit 3 / 2024

Knudsen sah sich in den 1960er Jahren als Opfer einer Kampagne gegen seine Tätigkeit im Dritten Reich.

Knudsen schon 1933 zu den 88 Schrift­ steller:innen, die ein Treuebekenntnis zum Führer publizierten. Gleichzeitig betrieb er mit anderen Vorstandskollegen die Ab­ setzung seines Mentors Max Herrmann als Vorsitzender der Gesellschaft für Theater­ geschichte. Nach Kriegsende erreichte Knudsen seine Entnazifizierung und über­ nahm als G ­ ründungsprofessor eine ordent­ liche Professur für Theaterwissenschaft an der Freien Universität, die er noch ­lange nach seiner Emeritierung bis Ende der 1960er Jahre wahrnahm. Insofern war Knudsen glücklicher als Eberle. Lazardzig argumentiert in seiner Studie auf drei Ebe­ nen: biografisch die zeithistorischen und familiären, entwicklungs­psychologischen Umstände.Dazu analysiert er z. B. die Lek­ türen, die Knudsen in seinem Tagebuch 1904–1907 angibt. Er geht den wissen­ schaftshistorischen Hintergründen nach, vor denen sich die fachliche Entwicklung des Studenten, Assistenten und Profes­ sors ergab – und er verfolgt Knudsens mehrfache umständ­liche Rechtfertigungs­ strategien und die damit verbundenen Bündnisse. Die „Gefolgschaft“ bekommt hier etwas unheimlich Verschwörerisches, was Lazardzig sehr prononciert und nüch­ tern als das enttarnt, was es im Grunde ist: eine gegenseitige Selbstversicherung. Knudsen muss sich nach 1933 von seinem geliebten Lehrer distanzieren, um sich nach 1945 genau dessen zu bedienen, weswegen er ihn 1933 abserviert hat: sei­ nes Judentums.

Vergleichende Bilanz Bei beiden Publikationen handelt es sich streng genommen um Fachliteratur, die jede auf ihre Weise für die Geschichte der Thea­ terwissenschaft wesentliche Forschungs­ ergebnisse anschaulich präsentiert. Beide Publikationen enthalten aber auch Erzäh­ lungen von einem Wissenschafts- Theater­ betrieb, der verführbar war und auch selbst verführte. Knudsen, der sich in den 1960er

Jahren als Opfer einer Kampagne sah, weil er seine Tätigkeit im Dritten Reich nicht als von seinem Ehrgeiz angetriebenes Fehl­ verhalten, als Täter-Tat verstanden wissen wollte – Eberle, dessen Ehrgeiz und seine im Gegensatz zu Knudsen breit gefächerten Begabungen ihn nicht den Mittelpunkt fin­ den ließ, aus dem heraus er seine verschie­ denen Aktivitäten hätte steuern können: Es sind zwei sehr unterschiedliche Schicksale zur gleichen Zeit, an entscheidend unter­ schiedlichen Orten, auch geistigen, die doch in ihrer großen Anhänglichkeit zum Theater und dem Glauben an den Sinn, die­ ses auch wissenschaftlich fassen zu kön­ nen, sich ähnlich waren. In diesem Sinne sind es spannende, auch ergreifende Erzäh­ lungen. Für die Fachwissenschaft bleibt es aber weiter eine Herausforderung: zu ver­ stehen. T

Jan Lazardzig: Wissenschaft aus Gefolgschaft. Der „Fall Knudsen“ und die Anfänge der Theaterwissenschaft, Verbrecher Verlag 2023, 310 S., 28 € Heidy Greco-Kaufmann, Tobias HoffmannAllens­pach: Theaterpionier aus Leidenschaft. Oskar Eberle (1902–1956), Chronos Verlag 2024, 572 S., 68.€

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Magazin Bericht

Die Galerie im Bahnhof in Teterow (Mecklenburg-Vorpommern)

Bilderlust in Teterow Ein neuer Kunstraum in Mecklenburg zeigt Arbeiten des Bühnenbildners Volker Pfüller Von Juliane Voigt

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Dem Bühnenbildner flicht – ähnlich seinem Theaterkollegen: dem Mimen – die Nach­ welt keine Kränze. Das hat Schiller zumin­ dest so festgestellt und meistens trifft das auch zu. Ja, wie soll man auch schon das Lebenswerk eines Schauspielers und auch das des Bühnenbildners bewahren, nach­ dem der letzte Vorhang gefallen ist? Volker Pfüller ist vor vier Jahren gestorben. Aber keiner, der oder die mit ihm zu tun hatten, haben ihn vergessen. Diesen freundlichen, immer gut gelaunten, interessierten Künst­ ler, Lehrer, das Vorbild, der Freund. Posthum gab es bisher allerdings keine Möglichkeit, seine Arbeiten noch einmal zu sehen. Jetzt hat der Kunstverein Teterow Volker Pfüller eine Ausstellung gewidmet. Und spätestens da wird auch klar, wieso der es in die Nach­ welt geschafft hat. Obwohl er sein halbes Leben in Theaterproben verbracht haben muss, saß er das andere halbe Leben wohl am Zeichentisch. Seine Witwe Bettina Pfül­ ler hütet einen überbordenden Nachlass. Keine leichte Aufgabe also, eine Aus­ stellung daraus zu kuratieren. Dem Theater­ mann gerecht zu werden, ebenso dem Grafiker, Zeichner, Maler, Plastiker und Illustrator. In der Galerie Teterow ist Joachim Hamster Damm mit der Ausstellung „Bilder­ lust“ ein Blick auf Volker Pfüller gelungen, mit dem sich durchaus auch sowas wie ei­ nen Ehren-Kranz um dessen Haupt windet, obwohl so eine Hurra!-Staude eher nicht zu dem Ausstattungsportfolio Pfüllers gehörte. Die Ausstellung zeigt das Gesamtkunst­ werk Volker Pfüller. Dessen Grafiken, Bilder­ buchzeichnungen, Entwürfe für Bühnen- und Kostümbilder, Plakate, Plastiken und Malerei. Wohlproportioniert ausgewählt. Und über­ aus hochwertig präsentiert, so dass jedes Ausstellungsstück sich neben dem anderen zu einer Ikone erheben kann. Die Plakate, selbst wenn sie hier für nur vierzig Euro in der Verkaufsliste aufgeführt sind, repräsentie­ ren in dieser Reduktion auf zwölf Blätter die Pfüllersche Königsdisziplin. „Volker Pfüller hat die Theaterplakate revolutioniert“, sagt Damm. „Er konnte auf einem solchen Blatt ein ganzes Theaterstück erzählen.“ Seine zeichnerische Handschrift war viele Jahre lang das Erscheinungsbild solcher Häuser wie das Deutsche Theaters oder Theater 89. Und revolutioniert hat er auch die Bühnenund Kostümentwürfe. „Der Schauspieler ist das Zentrum“. So hat er ihn oder sie auch angezogen. Seine Figurinen, so wie sie auch in dieser Ausstellung zu sehen sind, tragen

nicht nur die Namen der Rollen, die er mit Kostümen ausgestattet hat. Sondern auch die der Darsteller. Gesichtslose Figurinen abzuliefern, fand er offensichtlich respektlos. Vor allem aber, so Damm, habe er mit seinen Bühnenentwürfen Platz geschaffen für den Schauspieler in der Mitte der Bühne. Das war seine Leistung. Und das hat ihn für Regisseure wie Alexander Lang oder Dieter Dorn, Adolf Dresen oder Thomas Langhoff unverzichtbar gemacht. Die das Theater mit ihren Insze­ nierungen und seinen Ausstattungen konzep­ tionell verändert haben. Joachim Hamster Damm war der erste Meisterschüler von Volker Pfüller, nachdem der 1992 seine Professur für Szenografie an der Kunsthochschule Weißensee antrat. Ein prägendes Lehrjahr für Joachim Hamster Damm, längst selbst erfolgreicher Puppen­ spieler, Bühnen- und Kostümbildner, Zeichner und Maler. Für den diese Ausstellung nicht nur aus alter Verehrung für seinen Meister so bedeutsam ist, sondern weil das Werk Volker Pfüllers eigentlich in die großen Museen nach Berlin gehört. Mit dieser Schau soll es ein­ mal laut aus der Provinz tönen. Findet er, der seinen Lebensort in der Region hat und des­ halb die Ausstellung in Teterow möglich ge­ macht hat. Die Eröffnung Ende Januar habe Völkerwanderungscharakter gehabt, knapp zweihundert Menschen habe es nach Tete­ row gezogen, in die Galerie, die für Bahn-Rei­ sende eine besonders leichte Erreichbarkeit vorhält: Es ist die Galerie im Bahnhof. Also Ankommen. Reingehen. Begeistert sein! Zu sehen sind Pfüllers hingeworfenen Skizzen, mit drei Strichen alles erzählende Illustratio­ nen für unzählige Kinderbücher, seine einzig­ artige grafische Porträtkunst, seine Grafiken, die er im Leipziger Lubok-Verlag veröffent­ lichte, seine unvergesslichen Theaterplakate. Und eine ganze Reihe von Tafelbildern seiner späten Jahre, eigentümlich melancholische Stillleben, die noch einen ganz anderen Volker Pfüller zeigen. „Bilderlust“ ist der Titel einer Publikation über Volker Pfüller (Verlag Theater der Zeit 2019), an dem der Künstler noch mit­ wirkte. Aktuell funktioniert diese ausführliche Werkschau als Katalog der Ausstellung, die tief in die Materie dieses außergewöhnlichen Künstlers eindringt. Aber mehr sollten folgen! „Bilderlust“ flicht dem Künstler Volker Pfüller einen angemessen großen Kranz. T „Bilderlust“ ist noch bis 9. März in der Galerie Teterow zu sehen. (Dienstag bis Freitag von 10 – 13 und 14 – 18 Uhr, Samstag 10 – 16 Uhr)

Theater der Zeit 3 / 2024


Impressum Theater der Zeit. Die Zeitschrift für Theater und Politik 1946 gegründet von Fritz Erpenbeck und Bruno Henschel 1993 neubegründet von Friedrich Dieckmann, Martin Linzer, Harald Müller und Frank Raddatz Herausgeber Harald Müller Redaktion Thomas Irmer (V.i.S.d.P.), Elisabeth Maier, Michael Helbing und Stefan Keim, Stefanie Schaefer Rodes (Assistenz), +49 (0) 30.44 35 28 5-18, redaktion@tdz.de, Lina Wölfel (Online), Nathalie Eckstein (Online) Mitarbeit Nathalie Eckstein (Korrektur) Verlag Theater der Zeit GmbH Geschaftsführender Gesellschafter Paul Tischler, Berlin Programm und Geschäftsführung Harald Müller +49 (0) 30.44 35 28 5-20, h.mueller@tdz.de Paul Tischler +49 (0) 30.44 35 28 5-21, p.tischler@tdz.de

Autorinnen / Autoren 3 / 2024 Anna Bertram, Journalistin, Zürich Stephan Dörschel, Theaterwissenschaftler und Archivleiter, Berlin Björn Hayer, Autor, Dozent und Kritiker, Lemberg Burghart Klaußner, Schauspieler und Regisseur, Hamburg Ute Müller-Tischler, Kunstwissenschaftlerin, Berlin Judith Rinklebe, Kulturwissenschaftlerin, Berlin Matthias Schmidt, Filmautor und Kritiker, Leuna Shirin Sojitrawalla, Kritikerin, Frankfurt am Main Juliane Voigt, Kulturjournalistin und Theaterkritikerin, Stralsund David J. Wimmer, Wissenschaftlicher Mitarbeiter, Dramaturg und Autor, Graz Erik Zielke, Redakteur, Berlin

Verlagsbeirat Kathrin Tiedemann, Prof. Dr. Matthias Warstat Anzeigen +49 (0) 30.44 35 28 5-21, anzeigen@tdz.de Gestaltung Gudrun Hommers, Gestaltungskonzept Hannes Aechter Bildbearbeitung Holger Herschel Abo / Vertrieb Stefan Schulz +49(0)30.4435285-12, abo-vertrieb@tdz.de Einzelpreis EUR 10,50 (Print) / EUR 9,50 (Digital); Jahresabonnement EUR 105,– (Print) / EUR 84,– (Digital) / EUR 115,– (Digital & Print) / 10 Ausgaben & 1 Arbeitsbuch, Preise gültig innerhalb Deutschlands inkl. Versand. Für Lieferungen außerhalb Deutschlands wird zzgl. ein Versandkostenanteil von EUR 35,– berechnet. 20 % Reduzierung des Jahresabonnements für Studierende, Rentner:innen, Arbeitslose bei Vorlage eines gültigen Nachweises.

Vorschau 4/ 2024

© an der Textsammlung in dieser Ausgabe: Theater der Zeit © am Einzeltext: Autorinnen und Autoren. Nachdruck nur mit schriftlicher Genehmigung des Verlags © Fotos: Fotografinnen und Fotografen Druck: Druckhaus Sportflieger, Berlin 79. Jahrgang. Heft Nr. 3, März 2024. ISSN-Nr. 0040-5418 Redaktionsschluss für dieses Heft 05.02.2024 Redaktionsanschrift Winsstraße 72, D-10405 Berlin Tel +49 (0) 30.44 35 28 5-0 / Fax +49 (0) 30.44 35 28 5-44

Vorschau Arbeitsbuch

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Foto links picture alliance / dpa | Bernd Wüstneck, rechts privat

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Der Berliner Soziologe und Buchautor Wolfgang Engler

Die nächste Ausgabe von Theater der Zeit erscheint am 1. April 2024 Schwerpunkt: Immer wieder geraten Theater, Festivals und andere Kulturveranstaltungen in politische Konflikte, die großes Protest- und Entrüstungspotential in sich tragen. In der medialen Verstärkung ­dieser Auseinandersetzungen sind bestimmte Muster und Mecha­ nismen zu erkennen – das ist das Schwerpunktthema im April u. a. mit einem Aufsatz des Soziologen Wolfgang Engler.

Theater der Zeit 3 / 2024

In Polen wird nach dem Ende der PiS-Regierungszeit in der Kultur bzw. im Theater die nationalkonservative Personalpolitik korrigiert, natürlich nicht ohne Streit. Ein Bericht von Iwona Nowacka, der ­neuen Kolumnistin aus dem Nachbarland.

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Magazin Interview

Im Gespräch mit Stefan Keim

Knapp dreißig Stücke hat der Rowohlt Theater Verlag im Angebot, der 1972 in Köln geborene David Gieselmann ist ein produktiver Dramatiker. Mit der Schwarzen Komödie „Herr Kolpert“ wurde er im Jahr 2000 bekannt. Gieselmann schreibt heitere, abgrün­ dige Stücke mit geschliffenem Dialog­ witz. Am 8. März kommt am Theater Bielefeld die Uraufführung von „En Woke“ heraus, eine Stückentwicklung mit dem Ensemble. Das Schauspielhaus Bochum zeigt ab 16. März Gieselmanns Neudichtung der „Fledermaus“ mit Schauspielstudierenden.

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Die meisten Ihrer Stücke sind Komödien. Das ist nicht gerade die bevorzugte Gattung an den meisten Stadttheatern, zumindest was die zeitgenössische Dramatik betrifft. Warum halten Sie dennoch an der heiteren Bühnenkunst fest? DG: Das hat eigentlich drei Gründe – der Wichtigste: Ich kann es nicht anders. Oder ich kann es nicht lassen – wie immer man es nennen will. Wenn ich etwas bewusst ernst fassen will, wird es unfreiwillig komisch, dann mache ich also lieber freiwillig. Zweitens, und das hängt mit Erstens zusammen: Inzwischen ist das eben schon auch mein Markenzeichen, meine Marktlücke – wer mich nach einem Stück fragt, erwartet Komödie. Und Drittens: Dem Komischen liegt immer eine Dialektik zugrunde, eine Schieflage zwischen zwei Polen, die vom Publikum erkannt wird. Das Erkennen provoziert das Lachen, und dieser Vorgang ist wundervoll. Woran liegt diese Missachtung der Komödie und ihrer Autor:innen? In Frankreich, England, Italien – eigentlich überall – sieht das ganz anders aus als in Deutschland … DG: Man misstraut der Komödie immer noch, da man glaubt, mit ihr ließe sich nichts Ernstes erzählen, aber das ist natürlich Unsinn – das Gegenteil ist der Fall, denn was man immer wieder erwähnen muss, ist: Die Figuren der Komödie erleben das, das wir als komisch empfinden, im Allgemeinen als existentiell und tragisch. Sie wären zu Recht entsetzt, wenn sie erführen, dass über sie gelacht wird. Ein zweiter Grund könnte die Abneigung vieler Regisseur:innen gegenüber dem Handwerk der Komödie sein – wer komisch inszeniert, muss seine Regiehandschrift ein Stück weit zügeln. Aber erkennbar zu bleiben ist ein Faktor des Marktwerts im deutschsprachigem Theatersystem. In Bielefeld probieren sie gerade mit dem Ensemble eine Stückentwicklung aus. „En Woke“ hat den Anspruch, ein „topaktuelles Zeitstück“ zu sein, wie das Theater im Ankündigungstext schreibt. Wie funktioniert das? DG: Noch wissen wir leider nicht, ob es funktioniert, aber die Idee ist, dass wir, wenn wir einmal Premiere hatten, alle zwei bis drei Wochen Szenen rausschmeißen,

um anderen, aktuelleren Themen Platz zu machen. Dafür fahre ich dann immer noch mal rasch nach Bielefeld und schreibe für die vier wunderbaren Darsteller:innen neue Texte. Um dabei schneller im Arbeiten zu sein, haben wir keine Regisseur:in. Wo sind da die Grenzen zum Kabarett? Gibt es sie überhaupt noch? DG: Das Kabarett hat die Prämisse, nach oben zu treten, über „die Mächtigen“ zu spotten – das Theater kann dies auch tun, muss es aber nicht. Es beschäftigt sich allgemeiner mit dem Menschen, seinen Affekten, Fehlern und allgemein seinem Verhalten und hat daher mehr Freiheiten. Dennoch wird der Abend in Bielefeld ziemlich sicher kabarettistische Momente haben. „Die Fledermaus“ von Johann Strauß war ja auch 1874 eine Satire, eine Operette als Spiegel der damaligen Oberschicht. Oft wird ja nur der Sprechpart des Gerichtsdieners Frosch aktualisiert. DG: Meine „Fledermaus“-Version ist für die Oper Graz entstanden, wo Maximilian von Mayenburg 2019 eine sehr spieloffene, frivole und queere Inszenierung machen wollte. Er hatte das Gefühl, dafür braucht er auch ein heutigeres Gesellschafts-Tableau samt passenderer Sprache in den SprechPassagen. Das habe ich dann geschrieben. Die Version ließ sich dann in ihrer ganzen Breite mit allen Drehungen, Verwechslungen und sprachlichem Wahnsinn in einer Oper gar nicht realisieren – die Schauspieler:innen in Bochum aber können das jetzt voll auskosten, denn das ist ja ihr Kernmetier. Sie sind ja gut im Geschäft, neben den März-Premieren in Bielefeld und Bochum schreiben Sie gerade auch ein neues Stück für das Staatstheater Mainz. Bekommt die Komödie bald wieder größere Beachtung in den Stadttheaterspielplänen? DG: Ich glaube, ja – es ist schon zu ­beobachten, dass insbesondere an den mittelgroßen Stadttheatern die Komödie inzwischen ein fester Bestandteil der Spielpläne ist. Außerdem kommen jetzt auch tolle, junge Kolleg:innen nach, die Komödien ­ schreiben. T

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Foto privat

Was macht das Theater, David Gieselmann?


Seit 10 Jahren – Deutschlands einzige Theaterbuchhandlung

Foto: Holger Herschel

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