TdZ 5/2023 – Theater & Erinnerung

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Theater der Zeit

Theater & Erinnerung

Mit

Burghart Klaußner

Elizabeth LeCompte

Kate Valk

Jonny Hoff

Veronika Dräxler

Lisa Krusche

Moritz Koch

Tim Behren

Gedächtnistheater

Wie die Vergangenheit spielt

Mai 2023 EUR 9,50 CHF 10 tdz.de

Preisverleihung

Geehrt werden die Preisträger*innen des Jahrgangs 2022.

Bühnenbeschimpfung

(Liebe ich es nicht mehr oder liebe ich es zu sehr?)

Jurydebatte

Mülheimer KinderStückePreis 2023

Der Triumph der Waldrebe in Europa Clemens J. Setz •

Etwas Besseres als den Tod finden wir überall Martin Heckmanns •

Die Kunst der

Katja Brunner • Schauspiel Leipzig

Vater unser nach Angela Lehner • Staatstheater Hannover Do. 1.6.

Sistas!

Golda Barton • Glossy Pain / Volksbühne am Rosa-Luxemburg-Platz, Berlin

Jurydebatte

Mülheimer Dramatikpreis 2023

Veranstaltet von Gefördert von

Sa. 13.5.
Sa. 13.5.
Katze Eleonore Caren Jeß
Staatsschauspiel Dresden So. 14.5. + Mo. 15.5. Angabe der Person Elfriede Jelinek • Deutsches Theater Berlin Di. 16.5. Der Hase in der Vase Marc Becker • Oldenburgisches Staatstheater So. 21.5. + Mo. 22.5. 7+ kirschrotGALAXIE Anah Filou • überzwerg – Theater am Kästnerplatz, Saarbrücken Di. 23.5. 7+ Lahme Ente, blindes Huhn Ulrich Hub • tjg. theater junge generation, Dresden Mi. 24.5. 6+ Luft nach oben Fabienne Dür • Stadttheater Gießen Do. 25.5. 9+ Das Märchen von der kleinen Meerjungfrau Roland Schimmelpfennig • Theater Heidelberg Do. 25.5. + Fr. 26.5. 9+
Sivan Ben Yishai • Maxim Gorki Theater, Berlin
Die
Fr. 26.5.
Sa. 27.5.
Schauspiel Stuttgart
Mo.
Staatstheater Kassel
29.5.
Wunde
Di.
30.5. + Mi. 31.5.
Fr.
2.6. + Sa. 3.6.
Sa. 3.6.
Festival Plus

Das Thema dieser Ausgabe ist „Theater & Erinnerung“. Das klingt auf den ersten Blick vielleicht wie Jubiläum, Rückschau, Besinnung auf Vergangenes. Aber es ist ein besonders junges Heft geworden, von den behandelten Theaterprojekten, neuen Themen bis zu den hier (erstmals) schreibenden Beiträger:innen.

Im Schwerpunkt (wie schon auf dem Titelbild) wird die Kooperation der Berliner Schaubühne mit dem Jugendclub des Piccolo Theaters in Cottbus vorgestellt, dazu das Projekt „Time Busters“ an den Münchner Kammerspielen. (S. 12 bis 25) Die zentrale These für diese Arbeiten lautet: Erinnerung ist Arbeit an der Gegenwart. Und die kann in der Arbeit mit Jugendlichen außerordentlich wertvoll sein und auch den Theatern wiederum neue Perspektiven eröffnen. Also als Arbeit an deren Zukunft.

Tief in die Vergangenheit der deutschen Dramatik geht der Essay von Sophie-Margarete Schuster zurück, zu Roswitha von Gandersheim, der mittelalterlichen Dichterin, mit einem feministischen Sprung in unsere Gegenwart. (S. 70) Der Schauspieler Jonny Hoff, Jahrgang 1993, untersucht

in unserer Serie „Warum wir das Theater brauchen“, warum Generationsschranken überwunden werden müssen. Dafür versetzt er sich in die Situation eines 15 jährigen, der heute zum ersten Mal im Theater sitzt. (S. 74)

Dass es inzwischen in mehreren Ländern Europas Bewegungen gibt, die für eine Commonisierung der städtischen oder staatlichen Theater eintreten, damit diese dann auch andere Leitungs- und Publikumsstrukturen entwickeln, ist sicher nicht so bekannt wie die seinerzeit spektakuläre Besetzung der Berliner Volksbühne durch „Staub zu Glitzer“. Cecilia Hussinger, Mitglied dieses Aktivistist:innen-Kollektivs, berichtet von einem Austausch dieser Gruppen in Bologna unter dem Stichwort „Vernetzen und Besetzen“. (S. 82)

The Wooster Group, diese seit den späten 1970er Jahren unermüdliche Truppe der New Yorker Theateravantgarde, gehört dagegen zu den Veteran:innen des Welttheaters mit immer wieder neuen Ideen für ihre Arbeiten und dabei aufschlussreichen Rückblicken. Für ein Interview bestand die Leiterin und Regisseurin Elizabeth LeCompte darauf, dass auch die Schauspielerin Kate Valk dabei sein müsse. Denn die Zeit der als genialisch porträtierten Einzelkünstler sei im Theater lange schon vorbei. Und außerdem erinnern sich zwei immer besser als nur eine. Hier ab S. 28. Aktuelle Theaterkritiken finden Sie außerdem auf tdz.de. T

1 Theater der Zeit Editorial
Foto Moritz Haase
Nathalie Eckstein Thomas Irmer
Theater der Zeit 5 / 2023
Max Gindorf und Via Jikeli in „Alias Anastasius“ in der Regie von Fritzi Wartenberg am Berliner Ensemble

Theater der Zeit

Thema Theater & Erinnerung

12 Gespräch Dem Vergangenen nahekommen

Mai-An Nguyen und Martín Valdés-Stauber im Gespräch über ihre Inszenierungen „stolpern“ an der Schaubühne am Lehniner Platz in Kooperation mit dem Piccolo Theater Cottbus und „Time Busters“ an den Münchner Kammerspielen

18 Essay Wessen Erinnerung zählt?

Im Projekt „Time Busters“ an den Münchner Kammerspielen reisen Jugendliche mit autobiografischen Geschichten und Zeugnissen der Shoah durch Zeit und Raum

Von Sabine Leucht

22 Festival Verdichtung statt Verdrängung

Das Festival Erinnerung als Arbeit an der Gegenwart fragt an den Müncher Kammerspielen nach Formen der Erinnerung in künstlerischen Formaten

Von Rebecca Fisher und Isadora Wandt

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„News from the Past“ in der Regie von Stas Zhyrkov an den Münchner Kammerspielen Foto links oben Judith Buss, unten Gianmarco Bresadola, rechts Theater für Niedersachsen In der Mitte Lina Zegenhagen und das Ensemble von „stolpern“ an der Schaubühne am Lehniner Platz in Kooperation mit dem Piccolo Theater Cottbus
Theater der Zeit 5 / 2023

Akteure

28 Porträt Aus dem Fragmentierten ein Ganzes schaffen

Elizabeth LeCompte und Kate Valk von der New Yorker

The Wooster Group im Gespräch über ihre außergewöhnliche Geschichte, polnische Großkünstler und Performance Art

Von Thomas Irmer

32 Kunstinsert Sich der Gewalt zuneigen

Veronika Dräxler über ihre Dialogräume und Begegnungen mit Marina Abramovic´ und Joseph Beuys

Im Gespräch mit Ute Müller-Tischler

38 Nachruf „Ohne Ziel auskommen“

Zum Tod des Schauspielers Robert Gallinowski

Von Hans-Dieter Schütt

Diskurs & Analyse

64 Kritik Zweimal Uwe Johnson in Sachsen

Heißer Herbst 1956: Mit „Mutmassungen über Jakob“ gelingt am Staatsschauspiel Dresden die Adaption von Uwe Johnsons Debütroman

Von Greg Bond

Klangvoll epische Montage: Am Schauspiel Leipzig bringt Anna-Sophie Mahler „Jahrestage“ (Erster Teil) mit viel Musik auf die Bühne

Von Thomas Irmer

70 Essay Und was träumt Rosi heute?

Ein Aufruf

Zur Bedeutung historischer Stoffe in der Praxis feministischer Dramatik

Von Sophie-Margarete Schuster

74 Serie Warum wir das Theater brauchen #04 Theater schlägt Netflix

Von Jonny Hoff

Report

78 Luzern Patenbabys und Selfies im Bühnenbild

Wie sich das Schauspiel am Luzerner Theater mit seiner Schauspieldirektorin Katja Langenbach und der Intendantin Ina Karr erneuert hat

Von Martin Wigger

81 Festival Wege zum Anderen

Das HELIOS Theater aus Hamm präsentiert zum zehnten Mal sein internationales Festival hellwach

Von Stefan Keim

82 Bologna Vernetzen und Besetzen –eine Volksbühne der Commons

Über die kollektive Vernetzung zur Commonisierung bisher hermetischer Kulturbetriebe

Von Cecilia Hussinger

Stück

40 Stückgespräch Sich lieben und sich freilassen Die Autorin Lisa Krusche und der Uraufführungsregisseur Moritz Nikolaus Koch über „unsere anarchistischen herzen“ am Theater für Niedersachsen in Hildesheim

Im Gespräch mit Lina Wölfel

43 Stück „unsere anarchistischen herzen“

Von Lisa Krusche und Moritz Nikolaus Koch

Magazin

4 Bericht Der Schwarzweißzauberer

Von Thomas Irmer

6 Kritiken Gesammelte Kurzkritiken

Von Lina Wölfel, Sophie-Margarete Schuster, Thomas Irmer und Elizabeth Maier

8 Kolumne Neuordnung der Themenwelt

Von Burghart Klaußner

88 Buch „Hitler hat verloren, da wir diese Stücke genießen“

Von Lucien Strauch

89 Buch Die Suche nach dem Gemeinsamen

Von Theresa Schütz

92 Was macht das Theater, Tim Behren?

Im Gespräch mit Tom Mustroph

1 Editorial

84 Verlags-Ankündigungen

90 Autor:innen & Impressum

90 Vorschau

Abonnent:innen erhalten mit dieser Ausgabe VOICES 2023 –Magazin für zeitgenössischen Zirkus.

IXYPSILONZETT erscheint diesmal im Oktober als umfangreiche Doppelausgabe.

3 Inhalt 5 / 2023
Theater der Zeit 5 / 2023

Der Schwarzweißzauberer

Theaterbilder von Roger Melis erstmals in einer Ausstellung in Berlin

Bilder, die als Theater sofort ins Auge springen. Masken mit scharfem Gesichtsausdruck, fast skulpturale Figurenanordnungen, antike Strenge und schwarzweiße Schönheit. Rätselhaft, aus welcher Theaterzeit sie stammen könnten. Wahrscheinlich nicht aus unserer Gegenwart, diese immer wieder aktuelle „Antigone“.

Nur zwölf Fotografien sind es, die als Auswahl einer viel größeren Serie eine ganz besondere Produktion zeigen. 1996 entstand sie als Studioinszenierung der Hochschule für Schauspielkunst Ernst Busch im Zusammenspiel der damit diplomierten Regisseure Tom Kühnel und Robert Schuster mit der heutigen Puppenspielprofessorin Suse Wächter und Nicola Sczersputowski für ihre Masken sowie dem Kostümbildner Atif Hussein. Die Schauspieler dieser „Antigone“ –Charly Hübner als Kreon, Christian Tschirner als Antigone und Christian Weise als Ismene – agierten auf Kothurnen mit mundoffenen Vollmasken: erstarrter Schrecken

und zugleich eine neue Erscheinung im Theater damals, im Blick zurück. Ganz groß. Fotografiert von Roger Melis, mit seinem Blick auf dieses Theaterstück und dessen besondere Machart. Melis, für seine fotografischen Künstlerporträts von Johannes Bobrowski bis Heiner Müller hoch gerühmt, dazu auch ein ausgezeichneter Flaneurfotograf, etwa bei „Paris zu Fuß“ (1986), ist hier erstmals als Theaterfotograf zu erleben. Was man bislang nicht wusste: Melis hat, angeregt von Klaus Völker, dem ehemaligen Rektor der Ernst Busch, insgesamt achtzig Inszenierungen dort als Abschlussinszenierungen begleitet und fotografiert. Völker kam durch Kontakte mit Schriftstellern wie Peter Huchel und Bobrowski mit Melis schon in den frühen Sechzigerjahren im Mauer­Berlin zusammen. Die Verbindung hielt durch alle lästigen Ost­West­Hinderungen und konnte später zu dieser einzigartigen Zusammenarbeit an der Hochschule führen, aus der nun Melis‘ Nachlassverwalter Mathias Bertram ausgewählte Fotos von dieser einen Inszenierung erstmals für eine Ausstellung zusammenstellte.

Theaterfotografie ist selbst eine Kunst. Dokumentation ist dabei das eine. Den treffenden Moment einer Inszenierung für ihre Ästhetik festzuhalten das andere. Aber wer würde das je beurteilen wollen? Nur die, die das gesehen haben? Und vergleichen können? Nein, solche Bilder können ganz und gar auch anders hervortreten – und als visuelles Gedächtnis des Theaters dienen.

Roger Melis, der 2009 starb, wird nun als einer der wesentlichen Theaterfotografen der letzten Jahrzehnte kenntlich. Auch wenn er nur im Umfeld der Ernst­BuschSchule mit ihren Jahrgangs­ und Abschlussarbeiten fotografierte, dürfte er damit einige der heute bedeutendsten Schauspieler:innen und Regisseur:innen in ihren Anfängen aufgenommen haben: Lars Eidinger, Nina Hoss oder wie hier in dieser „Antigone“ –allerdings hinter der Maske gar nicht zu erkennen – Charly Hübner. Robert Schuster und Tom Kühnel waren lange ein sehr erfolgreiches Regie­Duo. Ein großer Schatz ist da zu vermuten, der von Melis, dem Meister des Künstlerporträts, noch eine ganz andere Seite entdecken lassen dürfte. T

„ANTIGONE. Fotografien von Roger Melis“ noch bis 30. Juni zu sehen im Foyer der Hochschulschule für Schauspielkunst Ernst

4 Magazin Bericht
Theater der Zeit 5 / 2023
Fotos Roger Melis Der Wächter liefert Antigone an Kreon aus in „Antigone“ Busch, Zinnowitzer Str. 11, Berlin­Mitte.

Düsseldorf, Köln und Mülheim an der Ruhr impulsefestival.de

Theater Bielefeld

MikrowellenPop(p)-Porn

„Sex Play“ von Patty Kim Hamilton (DE) – Inszenierung Rebekka

Nilsson, Bühne und Kostüme Katja

Ebbel, Sound Matthías Sigurðsson

Noch nie – so scheint es – konnte so offen und vielfältig über Sex geredet werden. Über Sex zu reden ist nicht mehr revolutionär. Tiefgründig, ehrlich, verletzlich über Sex zu reden schon. Denn es bricht mit gesellschaftlichen, patriarchalen und cis­heteronormativ­binären Konstrukten. Und fällt nicht immer leicht.

Was nämlich, wenn die eigenen Vorstellungen und Wünsche, Sehnsüchte und Fantasien nicht zum aktuellen Konsens passen?

Patty Kim Hamilton hangelt sich in ihrem neuen Stück „Sex Play“ anhand einer fragmentarischen Aneinanderreihung multiperspektivischer Figuren und ihrer Geschichten an den verschiedenen Nuancen der Sexualität entlang. Mittels ihrer sensiblen und unglaublich poetischen Sprache gelingt es Hamilton, spannende und tiefgründige Subtexte zu erzeugen, die ehrlich berühren und manchmal auch aufwühlen. Gerade weil man manchmal nicht sofort weiß, wie man sich dazu verhalten soll. Und dadurch auf die eigenen verinnerlichten Vorstellungen von Sex zurückgeworfen wird.

Zum Beispiel, als Stefan Imholz und Faris Yüzbaşıoğlu zwei Männer am Rande eines Sportplatzes geben, die versuchen, aus erlernten patriarchalen Gesprächs ­

mustern über Sex auszubrechen, dafür aber eigentlich zu verklemmt sind. Schließlich schaffen sie es – dank vieler Stresskippen –und sprechen darüber, wie viel Lust sie haben. Darüber, warum und wann sie Kondome störend finden. Und darüber, wann sie gegebenenfalls schon einmal nicht ausschließlich auf Konsens basierenden Sex hatten.

Und weil es nicht so einfach ist und diese Themen trotz ihrer Allgegenwärtigkeit eben sehr persönlich, individuell ja geradezu verletzlich sind, bedarf es einer gekonnten Setzung. Und Rebekka Nilsson kann. Nilsson setzt nämlich ein ästhetisches Mittel ein, das im Theater eher selten zu finden ist: Geruch. Während Jane und John, deren Beziehungsarbeit das einzige auch eher fragmentarische Kontinuum der Erzählung ist, sich von ihren Ängsten erzählen, macht Yüzbaşıoğlu in einer Mikrowelle Popcorn. Der karamellig­süße Geruch verbreitet sich schnell im gesamten Raum. Plötzlich ist es überhaupt nicht mehr komisch, einander so nahe zu sein. // Lina Wölfel

Mit Videoaufnahmen übernatürlicher Begebenheiten werden die Zuschauenden im nebligen Theaterraum des Berliner Ringtheaters auf die bevorstehende Geisterreise eingestimmt. „Everything […] turns out to be temporary. Even the afterlife!”, verkündet der Geist Rosa Luxemburgs in pinker Lederjacke und stylischen Skinny Jeans. Nationen, Grenzen, Staaten: All das sind flüchtige Dinge, die uns auf dem Weg unserer eigenen Sterblichkeit in Gefangenschaft nehmen – so die Bilanz Luxemburgs.

Das Bühnenbild setzt sich aus einer Sammlung Topfpflanzen zusammen, die in der traumartigen Atmosphäre der Inszenierung als Wasserpflanzen des Landwehrkanals durchgehen. Während die Zuschauenden den Raum betreten, sitzt eines der Gespenster bereits inmitten dieser Unterwasserwelt: der Geist einer Frau, die 1920 versucht hat, sich im Landwehrkanal das Leben zu nehmen. Ihr Suizid scheiterte. Die junge Frau wurde unter dem Namen „Fräulein Unbekannt“ in eine psychiatrische Anstalt eingewiesen, in der sie sich weigerte, ihre wahre Identität preiszugeben, und stattdessen behauptete, die Großherzogin Anastasia zu sein.

Das Aufeinandertreffe der Geister –Rosa Luxemburg, „Fräulein Unbekannt“ und eine Arbeiterameise – erscheint zunächst abstrus. Doch die Begegnung birgt unerwartete Verbindungen. Der Theatertext vermag es, im spielerischen Geistertreff fremde Welten zusammenzuführen, die in ihrer Begegnung neue Räume schaffen. Fantasien, die sich zwischen Lebenden und Toten vernetzen und in traumähnlichen Situationen entladen. Zunächst fragt sich: Wieso schauen wir „Fräulein Unbekannt“ dabei zu, wie sie als Cam Girl ihren zu verführen versucht?

Berliner Ringtheater

Geisterspiele

„Ghosts of the Landwehrkanal“ von Travis Jeppesen – Regie Wang Ping-Hsiang, Bühne und Kostüm Christa Joo Hyun D’Angelo, Video und Grafikdesign Lin Yu-En

Die Arbeiterameise klärt das Ganze schnell auf: „Sex workers are the vanguard proletariat of the twenty­first century.“ Gilt es hier von feministischem Empowerment oder kapitalistischer Unterdrückung zu sprechen? Zwischen seltsam offenstehenden Enden blitzen Augenblicke politischen Nachdenkens auf, die sich – im Rahmen einer gespenstischen Zeitreise – fragmentarisch in ein skurriles Mosaik sexueller Fantasien einbetten. // Sophie-Margarete Schuster

6 Magazin Kritiken
Foto links oben Philipp Ottendörfer, unten Toni Petraschk rechts oben Frank Hammerschmidt, unten Thomas Decker Tien Yi-Wei in „Ghosts of the Landwehrkanal“, in der Regie von Wang Ping-Hsiang Nicole Lippold, Amy Lombardi, Faris Yuzbas¸ ıog˘ lu in „Sex Play“, in der Regie von Rebekka Nilsson
Theater der Zeit 5 / 2023

Als Adaption kaum

tauglich

„Kairos“ nach dem Roman von Jenny Erpenbeck in einer Fassung von Armin Petras (UA) – Regie Fania Sorel, Bühne Ann-Christine Müller, Kostüme Mayan Frank

Armin Petras hat den 2021 erschienenen Roman für eine sehr schlanke Fassung im Kammerspielformat für nur drei Figuren bearbeitet. Es gibt eine ältere Katharina, die Jahrzehnte danach zwei Kartons mit Unterlagen zu ihrer Affäre mit Hans auspackt, die für sie als 19-Jährige 1986 in Ost­Berlin mit allen Wundern der Liebe begann. Nun ist die ältere Katharina, gespielt von Sigrun Fischer, die Instanz mit dem Textbuch in der Hand, halb Regisseurin und Aufsicht über die Rückblende. Die junge Katharina ist dagegen ganz Protagonistin, also ohne das Wissen, was ihr alles geschehen wird. Nathalie Schörken macht das mit aller aufrichtig dargestellten Naivität wunderbar. Mayan Frank hat ihr ein Kostüm angezogen, das Mehrschichtigkeit zeigt: Unter einer seidig herumflatternden Hose sitzt noch etwas anderes, unter einem mehrfach durchbrochenen asymmetrischen Oberteil ein weiteres Kleidungsstück. Als ob sich noch eine andere Katharina entpuppen könnte. Die Lederjacke von Hans, die verschwitzte Uniform des DDR-Intellektuellen, signalisiert dagegen nur ihre Eindeutigkeit, vielleicht auch als Verpanzerung gegen eine Kindheit, die hier aber nicht zur Spra­

che kommt. Ingolf Müller­Beck hat dazu ein riesiges schwarzes Brillengestell im Gesicht und meist eine Zigarette in der Hand. Sein Arbeitsplatz ist eine Schreibmaschine in einem Gebilde übereinander gestapelter Würfel, die als durchlässige Gitter gedeutet werden können. DDR-Welt in die Abstraktion erhoben.

Aber in dieser Anlage steckt auch das Problem. Denn vieles, was den Roman so faszinierend und berührend macht, sein Zeitpanorama der späten DDR und ihres folgenden Untergangs, wird unterspielt und ziemlich unaufgeregt wegerzählt. Als ob nicht die Erinnerung gerade die besonderen Momente in der schmerzhaften Verzerrung festhält. Zumal sich die berückende Amour fou von Katharina und Hans in eine bedrückende sadomasochistische Geschichte dreht. Vor dem Epilog, in dem Hans als IM der Stasi kenntlich wird, hat man einfach mit Weglassen kapituliert. //

Rottweil – Die unwirkliche Welt des BitcoinKapitalismus entdecken vier junge Russlanddeutsche. In der Stückentwicklung „Soul oder die seltsamsten Menschen der Welt“ betrachtet Intendant Peter Staatsmann am Zimmertheater Rottweil nicht nur die dunkle Seite der Integration, die auch Fremdenhass und Rassismus freisetzen kann. Sein politisches Theater katapultiert die Akteure in die wirre Welt der globalen Wirtschaftskriminalität.

In der ländlich geprägten Region gibt es da reale Vorbilder. Aufgewachsen im beschaulichen Schwarzwaldort Schramberg, nur wenige Kilometer von der kleinen Bühne entfernt, haben die „Kryptoqueen“ Ruja Ignatova und ihr Bruder Konstantin mit ihrer eigenen digitalen Schwindelwährung ein Vermögen ergaunert. Die Milliardenbetrügerin, der die bulgarische Staatsbürgerschaft aberkannt wurde, steht im Fokus des musikalischen Bühnenevents.

Die schillernde Figur Ignatova führt Regisseur Staatsmann in kurzen Filmsequenzen durch seine Uraufführung. Auch in der neuen Produktion scheut der Theatermann, dem die rechtspopulistische Landtags­AfD in Baden­Württemberg 2019 gar die Fördermittel aberkennen wollte, harsche Gesellschaftskritik nicht. Klug flicht Staatsmann dokumentarisches Material in seinen Text ein. Das gilt auch für die Szenen vor dem Tribunal, das die Wirtschaftsbetrügereien verhandelt. Neben dem Zimmer der jungen Band mit Pop­Art­ und Quallentapete ist ein Gerichtssaal aufgebaut. Da verhandelt Lukas Kientzler in der Rolle des Juristen Patrick Heine den globalen Ausverkauf.

oder die seltsamsten Menschen der Welt“

Zimmertheater Rottweil

Die Welt franst aus

Uraufführung Peter Staatsmann: „Soul oder die seltsamsten Menschen der Welt“ – Regie und Bühne Peter Staatsmann, Kostüme Bettina Schültke

Manchmal sind die Zeitsprünge allzu ungestüm. Die Dramaturgie ist weniger von dem brillant recherchierten und tiefschürfenden Text als von der westlichen Popmusik geprägt. In den Texten der westlichen Musikvorbilder finden sich die vier jungen Migranten wieder, spüren für Augenblicke ihre Einsamkeit nicht mehr. Mit der Produktion schafft es Peter Staatsmann, ein junges Publikum zu erreichen. Da tat sich der intellektuelle Theatermann in früheren Produktionen oft schwer. Mit seinem jungen Ensemble bringt er nicht nur Zeitgeist auf die Bühne. Die leichte Handschrift seiner neuen Uraufführung öffnet Diskurse. // Elisabeth Maier

Die Langfassungen und weitere Theaterkritiken finden Sie unter tdz.de

7
Magazin Kritiken
Staatstheater Cottbus Ingolf Müller-Beck (Hans), Sigrun Fischer (Katharina 1) und Nathalie Schörken (Katharina 2) in der Uraufführung von „Kairos“ am Staatstheater Cottbus „Soul von Peter Staatsmann in eigener Regie
Theater der Zeit 5 / 2023

Neuordnung der Themenwelt

Niemand ist wohl immer ganz Herr und Niefrau wohl selten ganz Dame über sich selbst. In dieser hier nicht sehr ernst gemeinten Genderei steckt ein Gran Verzweiflung, das gelegentlich zu Aussagen führen mag, die wir später bereuen. „Genderwahn und Russenhetze, mir reicht’s“, zitierte die Zeitschrift Super Illu nur eine Woche vor dem Überfall der russischen Streitkräfte auf die Ukraine einen bekannten deutschen Schauspieler. Ob die Truppenansammlungen vor den Grenzen einen Krieg befürchten lassen mussten, stieß zwar auch anderswo noch auf erstaunlich viel Skepsis, doch wären wohl nur wenige auf die Idee gekommen, derartige Befürchtungen als Hetze zu deklarieren. Warum aber wird das als typisch ostdeutsche Ansage wahrgenommen? Und warum kann Mathias Döpfner von Ossis schwadronieren, die niemals Demokraten würden? Dirk Oschmann, der die zornige Bilanz „Der Osten: eine westdeutsche Erfindung“ schrieb, untersucht die Entfremdung der zwei Landesteile präzise auch in der Historie. Er geht dennoch aus verständlichen Gründen der thematischen Zuspitzung nicht weit genug zurück. Es bleibt festzuhalten, dass dieses Land bis 1945 eine Ganzheit war, die sich historisch, auch mit den ehemaligen preußischen Provinzen, eher nach Osten orientierte. Wie anders hätte sonst zum Beispiel ein so idiotischer Begriff wie „Erbfeind“ für den Nachbarn Frankreich entstehen können?

Damit nach einem verbrecherisch vom Zaun gebrochenen Krieg aufgeräumt und sich zugleich eng an Amerika angelehnt zu haben, ist Adenauers Verdienst, der dafür das Stalinsche Angebot einer Wiedervereinigung unter Neutralitätsgebot ausschlug. Hoch schlugen damals die Wellen der Empörung in der östlichen Landeshälfte, denn in der Tat hieß das ja, den russischen Einfluss auf die historische Mitte Deutschlands für lange Zeit zu zementieren. Und so kam es auch. Ein Vorhang aus Eisen wurde schließlich zum Brachialbild.

In West­Berlin geboren und aufgewachsen, in Bayern dann nach dem Ost­West­ in einem Nord­Süd­Feuer abgehärtet, wurde ich selbst schließlich zum Nutznießer westlicher (Pop­)Kultur. Angelsächsische Tugenden wie Humor als Entlastung, freundliche Lässigkeit im Umgang eher als höfische Geziertheit und die Vermischung von E und U wurden „meine Universitäten“, wie Gorki das auf anderem Gebiet für sich bezeichnete.

Zurück in West­Berlin, unter dem Einfluss der Macht linker Autoritäten, kehrten dann die Traditionslinien ins Bewusstsein zurück, und was an linken Ideen nachgelebt wurde, war im Osten bereits seit Jahrzehnten bis zur Versteinerung ausgelebt worden. Wunschdenken schien für eine kurze historische Epoche in der DDR das bessere Deutschland zu sehen. Weil sie auch deutscher erschien als die Zonen im Westen? Ernsthafter? Nachdenklicher? Innerlicher?

Der Krieg in Vietnam hatte dem vertrauten Amerikabild schwere Schläge versetzt. „Keine Nietenhosen (Jeans) auf der Probe des Revolutionsstücks!“ hieß es an der (West­)Berliner Schaubühne. Währenddessen wurde Goethes Faust, ja die gesamte Weimarer Klassik, von der DDR als frühsozialistisch­humanistisches Erbe deklariert und konfisziert. Sollte hier eine Quelle des verhängnisvoll wieder auflebenden Nationalismus im Osten liegen, dem sich westdeutsche Nostalgiker willig beiordnen? Im Anspruch nämlich, das wahre Deutschland zu repräsentieren? Bis heute wird von vielen nicht genug Abstand genommen von einer durch die Ideenwelt des neunzehnten Jahrhunderts geprägten deutschen Identität.

Wolf Biermann, der wie kaum ein anderer die Fährnisse von Aufbruch und Zusammenbruch utopischen Denkens repräsentiert, konnte nach eigener Darstellung erst durch die Begegnung mit dem ukrainisch geborenen Philosophen Manès Sperber seinen „Kinderglauben an den Kommunismus“ ablegen und so freiwerden für eine Gegenwart mit ungeschminkter Zukunft.

Und nun ist wieder Krieg und die Herrschaft eines lüsternen Kriegsherrn Putin dürfte, so bleibt zu hoffen, die letzten Illusionen und Verklärungen von Besatzern als Befreiern beseitigen. Wir werden veranlasst, unsere Themenwelt, auch im Theater, neu zu ordnen. Die Werte von Selbstbestimmung und Demokratie, von Autokraten gefürchtet, werden, weil sie ansteckend wirken, nun von Russland in einer Art allunionistischem Bürgerkrieg bekämpft. Und so wird der nach Osten verschobene Westen innerdeutsche Verwerfungen in seinem Rücken langsam von der Tagesordnung verschwinden lassen. T

Hier schreiben unsere Kolumnist:innen, die Schriftstellerinnen Jenny Erpenbeck und Kathrin Röggla und der Schauspieler Burghart Klaußner, monatlich im Wechsel.

8
Magazin Kolumne
Theater der Zeit 5 / 2023
Foto links Thomas Rabsch, rechts CircusDanceFestival Tom Dachs, Kaserne Basel Laura Gauch, Maxim Gorki Theater Esra Rotthoff, St. Pauli Theater Heike Blenk Von Burghart Klaußner

präsentiert

Kaserne Basel

Audiostück von Anna Papst & Mats Staub voller Stimmen und Erzählungen über Sex:  „Intime Revolution“ 2.–5.5.

Kritische Bestandsaufnahme der Gesellschaft von Company MEK: „Raising Karen’s Children“ 10.5. (Premiere)

„In

St. Pauli Theater, Hamburg

Charly Hübner kann in seinem Spiel bravourös stutzig sein, brummig stupide oder liebenswert betriebsselig. Er kann mit Leib und Seele nach der Welt greifen und all seinen plebejischen Realitätssinn virtuos mit dem Grotesken kurzschließen. Jetzt ist seine Gesprächsbiografie „backstage HÜBNER“ erschienen. 5.6. (Buchvorstellung)

CircusDanceFestival, Köln

Die 4. Edition des CircusDanceFestivals zeigt erneut experimentelle zeitgenössische Zirkus- und Tanzproduktionen, begleitet von Podiumsdiskussionen, Filmabenden, Konzertperformances und Festivalpartys. www.circus-dance-festival.de 20.–29.5.

Theater Marie, Aarau

Die Gerichtsrecherche untersucht die Tücken und Chancen des Zweifels. www.theatermarie.ch 29.4.–3.5. (Aarau), 10.5.–14.5. (Winterthur), 1.6.–4.6. (Zürich)

Projekttheater Dresden

„Die Frau, die gegen Türen rannte“ –Die Geschichte einer alkoholsüchtigen Frau, die allen Widerwärtigkeiten und Demütigungen zum Trotz ihr Leben in die Hand nimmt – Ein Stück über häusliche Gewalt im projekttheater. 25., 26.5. und 27.5.

Die Herausgeber des Buches

Lutz Knospe und Shermin Langhoff

Dussmann das KulturKaufhaus, Berlin 70 Jahre Maxim Gorki Theater, 20 Jahre postmigrantisches Theater. Ein Buch der Assoziationen –und der guten Laune. Mit hunderten Fotos von, auf und hinter der Bühne. 11.5. (Buchpremiere)

SOPHIENSÆLE Berlin

Als lustvollen Abschluss der letzten Spielzeit unter der künstlerischen Leitung von Franziska Werner laden die Sophiensæle zu einem Festival zu politischen Dimensionen von Genuss und Freizeit. Sechs Wochen lang erkundet LEISURE  & PLEASURE  Verbindungen von Vergnügen und Aktivismus, hinterfragt die Fähigkeit der Kunst zur Heilung der gesellschaftlichen Erschöpfung – und träumt vom Leben jenseits der Arbeit. 25.5.–1.7.

dubio“ von Maria Ursprung
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Overhead Project „What is left“
9 Theater der Zeit 5 / 2023
Charly Hübner „Raising Karen’s Children“

Thema Theater & Erinnerung

10 Theater der Zeit 5 / 2023 Theater der Zeit
Foto Krafft Angerer
Zeynep Bozbay und Elmira Bahrami in „Das Erbe“, Regie Pınar Karabulut an den Münchner Kammerspielen

Das Theater ist flüchtig. Der Momentcharakter ist ihm wesenhaft, der Livemoment der Aufführung gar sein Merkmal. Selbst das Bühnenbild wird eingelagert, umgebaut oder recycelt, da ist das Stück erst abgespielt. Wir haben uns gefragt: Eignet sich das Theater als Medium der Erinnerung? Was vermögen unterschiedliche künstlerische Formsprachen im Sinne der Erinnerung? Wie verändert sich unsere Erinnerungskultur, wenn wir die radikale Vielfalt unserer Gesellschaft anerkennen? Und: Inwieweit kann das das Theater leisten?

Entstanden ist ein Schwerpunkt, der den Blick auf Projekte richtet, die sich mit Erinnerung im Theater auseinandergesetzt haben. Mai-An Nguyen hat das renommierte Projekt „stolpern“ anhand von Stolpersteinen mit Jugendlichen entwickelt, an den Münchner Kammerspielen hinterfragt die Inszenierung „Time Busters“ Erinnerungskultur und wir blicken zurück auf das weit angelegte Festival Erinnerung als Arbeit an der Gegenwart.

11 5/ 2023

Dem Vergangenen nahekommen

Mai-An Nguyen und Martín Valdés-Stauber im Gespräch über ihre Inszenierungen „stolpern“ an der Schaubühne am Lehniner Platz in Kooperation mit dem Piccolo Theater Cottbus und „Time Busters“ an den Münchner Kammerspielen

12 Theater der Zeit 5/ 2023
Thema Theater & Erinnerung
Foto Gianmarco Bresadola Ensemble von „stolpern“, ein theaterpädagogisches Projekt, Leitung: Matthias Heine, Mai-An Nguyen

MARTÍN VALDÉS-STAUBER: Warum hast du Theater als Medium der Auseinandersetzung mit Erinnerung gewählt? Welche Rolle können Inszenierungen spielen, in denen Jugendliche auf der Bühne stehen?

MAI-AN NGUYEN: Ich bin in Verhältnissen aufgewachsen, in denen mir sehr früh klar gemacht wurde, welche Rolle mir für meine Zukunft zugeschrieben wird. Aufgewachsen als Mädchen im Plattenbau einer ostdeutschen Stadt, als

Tochter eines vietnamesischen Vertragsarbeiters, nach der Wende geprägt von Armut. Meine Optionen sahen nicht so gut aus. Theater zu spielen gab mir die Möglichkeit auszubrechen. Ich konnte mich in verschiedenen Reaktionen, Verhaltensweisen und Charakteren ausprobieren –völlig gleich, ob diese gesellschaftskonform waren oder nicht. Nirgendwo anders habe ich so viel Freiheit gespürt. Das war schon so in kleinen Spielen im Kindergarten und ging in der Grundschule weiter. 1997 stand ich dann das erste Mal auf der Bühne des Piccolo-Kinder- und Jugendtheaters in Cottbus und bin dann dort auch bis 2011 nicht mehr wegzukriegen gewesen. Nach dem Abitur wollte ich diese Freiheit anderen Menschen schenken können und studierte Theaterpädagogik an der Hochschule Osnabrück in Lingen. Was hat dich zum Theater gebracht und was hält dich dort?

MVS: Meine Geschwister und ich sind in Kaufbeuren, einer bayrischen Mittelstadt, aufgewachsen. Nicht nur durch unsere Familiensprache Spanisch waren für uns Differenzerfahrungen alltäglich… Als wir klein waren, hat uns unsere Mutter ermutigt, Theater zu spielen, was allerdings überhandgenommen hat. Gemeinsam mit ehemaligen Schüler:innen unseres Gymnasiums haben wir das Kaufbeurer Stadttheater ordentlich aufgewirbelt. Schnell habe ich für mich die gesellschaftliche Bedeutung von Theater entdeckt: Wie können wir Vorstellungswelten und damit soziale Konventionen verschieben? Auch während des Soziologiestudiums führte ich Regie in Kaufbeuren. Erst meine Auslandssemester beendeten dieses Engagement. Später lernte ich durch Zufälle Matthias Lilienthal kennen, der mich zurück zum Theater brachte und schließlich der Universität entriss. Kein Zufall vermutlich, da wir beide Theater als Orte der künstlerischen Auseinandersetzung mit der eigenen Gegenwart betrachten. Sie können aber auch Orte der Beschäftigung mit der Vergangenheit sein, wie ihr mit eurem Stück „stolpern” gezeigt habt, das zum Theatertreffen der Jugend eingeladen worden ist. Was habt ihr gemacht und warum?

MN: Gemeinsam mit Jugendlichen haben sich die Schaubühne Berlin und das Piccolo-Kinder- und Jugendtheater Cottbus mit der Shoa und den Verbrechen der Nationalsozialisten beschäftigt. Ausgangspunkt für diese Auseinandersetzung waren die Stolpersteine (das Kunstprojekt des Künstlers Gunter Demnig), die in Cottbus als auch Berlin zu finden sind. Wir haben uns also auf die Suche nach den Einzelschicksalen hinter diesen Steinen gemacht. Der Personen, die damals in derselben Straße, demselben Haus gewohnt haben wie wir, die dieselben Wege gegangen sind. Dann kommt das Vergangene nämlich ganz nah. Immer wieder habe ich in der Zeit gehört, dass dieses Thema in der Schule so unpersönlich und distanziert behandelt wurde. Aber um mich für eine Zukunft verantwortlich zu fühlen, muss ich dem Vergangenen nahekommen, es verstehen. Darum geht es doch. Ich denke, dass Kunst Erinnerung nicht nur kognitiv, sondern auch emotional und im besten Fall körperlich erfahrbar machen kann.

Mich trägt die große Hoffnung, dass dies zu einer größeren Nachhaltigkeit führen kann. Ich erlebe das immer wieder: Es gibt nichts, das authentischer ist, nichts, was mehr Kräfte freisetzt als die Arbeit mit Jugendlichen. Häufig sind sie noch nicht völlig aufgesaugt vom Leistungsdruck des Kapitalismus, ihre Ideale hängen noch höher als der Bausparvertrag. Das macht junge Menschen erfrischend radikal und idealistisch. Davon lasse ich mich gern anstecken. Vielleicht hast du

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Thema Theater & Erinnerung
„Immer wieder habe ich in der Zeit gehört, dass dieses Thema in der Schule so unpersönlich und distanziert behandelt wurde. Aber um mich für eine Zukunft verantwortlich zu fühlen, muss ich dem Vergangenen nahekommen, es verstehen.“
Mai­An Nguyen

das auch bei deinem Projekt „Time Busters” so erlebt? Ihr habt euch gefragt, wie Menschen im Jahr 2433 auf unsere heutige Zeit und unsere nahe Vergangenheit schauen würden. Welche Entdeckungen habt ihr in diesem Gedankenspiel machen können?

MVS: Das Projekt entstand aufgrund einer sehr einfachen Beobachtung: Der Kern der deutschen Erinnerungskultur, die kritische Analyse der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft und die mahnende Erinnerung an die Shoa, sind mit den Familienbiografien vieler Jugendlichen gar nicht verbunden. Dennoch spielt diese Erinnerungsarbeit in der Selbstverständigung der deutschen Gesellschaft zu Recht eine große Rolle. Gleichzeitig blicken die Jugendlichen auf globalisierte Familienbiografien, die oftmals mit Gewalterfahrungen verknüpft sind: Flucht, Krieg, Verfolgung und Rassismus, das ist vielen schmerzhaft bekannt. Wir stehen vor einer doppelten Herausforderung: Wie erweitern wir unser Geschichtsverständnis durch einen einfachen Blick auf die Familienerinnerungen junger Menschen? Und: Wie funktioniert kollektive Erinnerung, wenn die NS-Vergangenheit immer weniger mit den Familienbiografien der Bürger:innen verwoben ist? In poetischen Bildern zeichnen die Jugendlichen, wie eine Zukunft in der Erinnerung zum entscheidenden gruppenbildenden Ritual geronnen ist. Vision oder Dystopie?

MN: Mein Lieblingszitat aus unserem Stück „stolpern“ lautet: „Die Vergangen-

heit ist nicht tot. Sie ist nicht einmal vergangen. Die Vergangenheit hat eine Gegenwart und eine Zukunft. Erinnere dich!“ Und das fasst recht gut zusammen, warum jede:r sich mit der Vergangenheit beschäftigen sollte. Und im Gegensatz zu dem, was einige Menschen gern behaupten, geht es hierbei nicht um eine kollektive Schuld. Es geht um eine kollektive Verantwortung dafür, dass das Vergangene sich nicht wiederholt und aus der Geschichte gelernt wird. Die Geschichte zieht kontinuierliche Verbindungslinien bis ins Jetzt. Wenn wir uns also mit den Opfergruppen aus der Zeit des Nationalsozialismus und der Shoa beschäftigen, dann müssen wir uns auch anschauen, wie es diesen Gruppen in der Nachkriegszeit ging, in der Zeit des Kalten Krieges, nach der Wende und heute.

MVS: In „Time Busters” heißt es: „Was ist die Zukunft unserer Gegenwart? Und was ihre Vergangenheit?” Ein entscheidender Grund für mich, Theater zu machen, liegt darin, immer wieder neu an der Selbstbeschreibung von Gesellschaft mitwirken zu können, an dem Reservoir und Repertoire verfügbarer Bilder, Begriffe und Erzählungen zu arbeiten. Dabei manifestiert jede Form der Vergangenheitsbeschreibung einen spezifischen Blick auf die eigene Gegenwart. Aus diesem Grund meine ich, dass wir „Erinnerung als Arbeit an der Gegenwart” begreifen müssen. Unter diesem Titel gründete ich 2021 einen künstlerischen Forschungsbereich, der internationale und interdisziplinäre Projekte ermöglicht und begleitet, die sich künstlerisch mit Erinnerungsarbeit befassen. Ich denke, dass es kein Zufall ist, dass Caro-

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Thema Theater & Erinnerung
Foto Gianmarco Bresadola
„Wenn wir uns also mit den Opfergruppen aus der Zeit des Nationalsozialismus und der Shoa beschäftigen, dann müssen wir uns auch anschauen, wie es denen in der Nachkriegszeit ging, in der Zeit des Kalten Krieges, nach der Wende und heute.“
Nguyen
Ensemble von „stolpern“ an der Schaubühne am Lehniner Platz

lin Emcke zeitgleich an der Schaubühne ihren Streitraum den Titel „Pluralisierung der Gegenwart – Pluralisierung der Erinnerung” widmete. In beiden Fällen fragen wir unter anderem, wie sich Erinnerungsarbeit in einer Gesellschaft verändert, die ihre eigene radikale Vielfalt anerkennt. Doch wie übersetzt man das in künstlerische Projekte? Was bedeutet es, wenn ein Schauspieler mit Down-Syndrom an einer Lesung zu den nationalsozialistischen Krankenmorden mitwirkt? Plötzlich wird eine weitere Vielfaltsdimension unserer Gesellschaft sichtbar und zugleich holen wir eine Stimme auf die Bühne, die ganz neu und persönlich für uns liest. Bei einem Versuch, der Lecture Performance „Wir riefen Gastarbeiter*innen, es kamen Dissident*innen“, warst auch du auf der Bühne!

„Das Projekt entstand aufgrund einer sehr einfachen Beobachtung: Der Kern der deutschen Erinnerungskultur, die kritische Analyse der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft und die mahnende Erinnerung an die Shoah, sind mit den Familienbiografien vieler Jugendlichen gar nicht

MN: Ich habe von meinem Vater erzählt, der 1978 als Vertragsarbeiter aus Vietnam in die DDR kam, und wie es ihm in Deutschland, auch nach der Wendezeit, erging. Von Rassismus und Ausgrenzung. Dabei habe ich natürlich auch von mir erzählt. Mich prägt nicht nur meine eigene Vergangenheit, ich werde geprägt von der Vergangenheit meiner Eltern und Großeltern. Es zeigt sich darin, wie ich mit Stress umgehe, in meinem Verhältnis zu Geld oder darin, wie ich Sicherheit definiere. Das zu erzählen war mir einerseits wichtig, weil ich das Gefühl habe, dass solche Geschichten noch viel zu wenig erzählt werden und gerade Geschichten mehr Gehör geschenkt werden sollte. Und andererseits, weil ich über die Recherche dazu viele tolle Gespräche mit meinem Vater führen und damit nochmal mehr über ihn und mich selbst lernen konnte. Ein bisschen Eigentherapie ist also auch immer dabei. An dem Abend wurden verschiedenste Geschichten erzählt. Was war dein Impuls, diesen Abend ins Leben zu rufen?

MVS: An den Münchner Kammerspielen begann meine Auseinandersetzung mit der historischen Vergangenheit mit der Recherche von „Schicksale“ von Mitarbeiter*innen des Theaters in der NS-Zeit. Janne und Klaus Weinzierl haben im Rahmen unseres gemeinsamen Projekts seit 2018 mehrere hundert solcher Schicksale recherchiert und Informationen dazu zusammengetragen, die dank der Mitarbeit von Felicitas

20.-28.

Mai 2023

Vélo Théâtre (FRA)

Teatro Al Vacio (MEX)

De Stilte (NLD)

Isyho Arts Centre (RWA)

Ljubljana Puppet Theatre (SVN)

Karpenko-Kary Universität (UKR)

Kolibri Theatre (HUN)

LagunArte (FRA)

HELIOS THEATER (DEU)

Teatro Distinto (ITA)

Infos zum vielfältigen Programm

Theater der Zeit 5 / 2023
©
23.5.
DIGITALE KULTUR BEGEGNUNGEN GAMES ON
LIVE 2023
Paula Reissig fft-duesseldorf.de
– 25.5.
/
Ahlen I Bergkamen I Hamm I Lippstadt I Lünen HELIOS THEATER
Kofinanziert durch das Programm Kreatives Europa der Europäischen Union Anzeigen
10. internationales Theaterfestival für junges Publikum
verbunden.“
Martín Valdés­Stauber

Friedrich nun auf einer interaktiven Website zugänglich gemacht sind: www.schicksale. muenchner-kammerspiele.de. Ausgehend von dieser Auseinandersetzung mit dem NS-Unrecht ermöglichte die Stiftung „Erinnerung, Verantwortung, Zukunft” ebenso wie in deinem Fall an der Schaubühne ein groß angelegtes, ambitioniertes Projekt. Uns war es dabei wichtig, auch auf Kontinuitäten faschistischer Gewalt zu blicken und gemeinsam mit internationalen Kolleg:innen den Blick merklich zu weiten. So entstand zum Beispiel mit chilenischen Künstler:innen die weltweit gefragte choreografische Theaterarbeit „Oasis de la impunidad”, musikalische Arbeiten mit dem „Jewish Chamber Orchester” sowie eine Vielzahl an kleineren dokumentarischen Projekten mit ukrainischen Kolleg:innen. So erkundet das künstlerische Forschungsfeld, was ver-

schiedene Formensprachen und Formate zur Erinnerungsarbeit beitragen können. Was denkst du, wie sich Erinnerungskultur in Deutschland verändern muss?

MN: Es gibt leider viele Scheinargumente, um sich nicht mit der ja leider sehr unbequemen Vergangenheit auseinanderzusetzen. Doch wer es tut, kommt nicht drum herum, sich auch kritisch mit der Gegenwart auseinanderzusetzen. Kritisch zu hinterfragen: Wie wird denn heute mit marginalisierten Gruppen umgegangen? Fühlen sich jüdische Menschen heute in Deutschland sicher? Haben tatsächlich alle die gleichen Rechte? Und auf Kosten von wessen Diskriminierung genieße ich eigentlich meine Privilegien? Da wird es natürlich sehr unangenehm. Aber wenn angemessene Erinnerungskultur leicht wäre, dann müssten wir nicht darüber sprechen. T

Mai-An Nguyen leitet seit 2020 die Theaterpädagogik der Schaubühne am Lehniner Platz. 1989 in Cottbus geboren, machte sie ihre ersten und prägendsten Theatererfahrungen am Piccolo Theater und verbrachte dort ihre gesamte Jugend. Mai­An Nguyen studierte Theaterpädagogik an der Hochschule Osnabrück/Campus Lingen. 2014 trat sie ihr Erstengagement an der neuen Bühne Senftenberg unter der Leitung von Manuel Soubeyrand an. 2017 führte ihr Weg an das Maxim Gorki Theater unter der Leitung von Shermin Langhoff, wo sie in enger Zusammenarbeit mit Uta Plate das Vermittlungsprogramm zur Arbeit des Exil­Ensembles entwickelte.

Martín Valdés-Stauber ist Dramaturg an der Schaubühne am Lehniner Platz. Von 2017 bis 2023 gehörte er als Dramaturg zum künstlerischen Leitungsteam der Münchner Kammerspiele. Zuvor hatte er Soziologie und Wirtschaftswissenschaften in München, Friedrichshafen, Berkeley und Cambridge studiert. Seit 2018 erforscht er im Langzeitprojekt „Schicksale“ die Biografien der im NS-Regime Verfolgten unter den Mitarbeiter:innen der Kammerspiele. Aufgrund dieser Auseinandersetzung gründete er 2021 den künstlerischen Forschungsbereich „Erinnerung als Arbeit an der Gegenwart“.

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Foto Inszenierung Gianmarco Bresadola, Foto Poträt rechts oben Frederik Schmid, Portät unten Sandra Singh
Thema Theater & Erinnerung
„stolpern“ an der Schaubühne am Lehniner Platz in Kooperation mit dem Piccolo Theater Cottbus

FRÜH AM MORGEN SIND DEINE GEDANKEN BEIM GROSSEN ABEND

STARKE STÜCKE vom Berliner Theatertreffen im TV und in der 3satMediathek

Wessen Erinnerung zählt?

Im Projekt „Time Busters“ an den Münchner Kammerspielen reisen Jugendliche mit autobiografischen Geschichten und Zeugnissen der Shoah durch Zeit und Raum

„Time Busters“

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Von Sabine Leucht Fotos Gabriela Neeb Inszenierung von an den Münchnener Kammerspielen, Text und Regie Martín Valdés-Stauber

Hoppla, da ging aber gerade einiges durcheinander! Eben hat Nikola noch von ihrem Besuch in Dachau erzählt, und plötzlich geht es um die Verbrechen dort wie im Vernichtungslager Auschwitz, um ihre Verwandtschaft in Polen und in der Ukraine und um die Großeltern, die im Circus Krone gearbeitet haben.

Beim Probenbesuch in der neuen Außenstelle der Münchner Kammerspiele, dem Theaterlabor Neuperlach, ist das Gedankengefüge löchrig und der Text sitzt noch nicht. Aber auch bei der Uraufführung von „Time Busters“ eine knappe Woche später gilt: Erinnerung ist in dem Projekt, das das Theater der Stadt München mit Jugendlichen aus dem migrantisch geprägten Stadtteil entwickelt hat, ein Mit- und Ineinander von historischer und familiärer Überlieferung – gefiltert durch das eigene Erleben. Denn kein Mensch ist ein weißes Blatt. Und wie man sich die Geschichte vergegenwärtigt, hat viel mit einem selbst zu tun. Wie sagt Nikola? „Geschichte wiederholt sich nicht. Sie flüstert uns zu.“ Und dieses Flüstern hören wir hier und heute.

„Erinnerung als Arbeit an der Gegenwart“ heißt der künstlerische Forschungsbereich, den der Dramaturg Martín Valdés-Stauber 2021 an den Münchner Kammerspielen gegründet hat. In dessen Rahmen ist auch die Stückentwicklung „Time Busters“ entstanden. Der Plot: Eine Gruppe von Menschen entdeckt 2433 eine Zeitkapsel, die ein paar Schüler:innen im Jahr 2023 mit dem gefüttert haben, was sie für erinnerungswürdig hielten. Popsongs und Rassismuserfahrungen, Fluchtgeschichten, Traumata und Zukunftsträume sind dabei. Denn zu der heute unstrittig virulenten Frage, wie es mit der Erinnerung weitergehen soll ohne Zeit-

Diese Fragen sind eng verbunden mit den Gedanken des Essayisten Max Czollek, der beispielsweise sagt: „Nur, wessen Geschichte erinnert wird, gehört zu diesem Land.“

zeugen, gesellen sich in einer Zuwanderungsgesellschaft noch einige mehr: Wie erinnern wir uns an etwas, was nichts mit unserer Familienbiografie zu tun hat? Oder: Welche Geschichten haben dazu geführt, dass wir heute hier stehen?

Diese Fragen sind eng verbunden mit den Gedanken des Essayisten Max Czollek, der beispielsweise sagt: „Nur, wessen Geschichte erinnert wird, gehört zu diesem Land.“ Und also hat sich Martín Valdés-Stauber mit zwölf Jugendlichen auf den Weg gemacht, Geschichte zu schreiben. Zehn von ihnen besuchen eine achte Mittelschulklasse, in der nur einer zu Hause Deutsch spricht: Hassib ist Teil der Crew, die hier darüber mitentscheidet, was aus der Zeit, in der er und seine Mitschüler:innen leben, für die Zukunft bewahrt werden soll. Das ist natürlich eine Überforderung. Deshalb geht es viel um das, worin diese Jugendlichen Expert:innen sind. Im Videoeinspieler geben sie eine fast touristische Führung durch die eigene Hood. Im PEP, vulgo „Perlacher Einkaufsparadies“, das offiziell „Perlacher Einkaufs Passagen“ heißt, kann man chillen, den vielleicht besten Döner Münchens essen, über die Gleichberechtigung aller Kaufkräftigen räsonieren oder an das Schwester-Shoppingcenter im Münchner Norden denken –das OEZ, in dem 2016 ein Teenager einen rassistisch motivierten Anschlag verübt hat, bei dem neun Menschen starben. Derlei Erfahrungen und Assoziationen haben die frischgebackenen Schauspieler:innen in das Projekt eingebracht. Ästhetik und Struktur indes kamen vom jungen Produktionsteam, in dem der 31-jährige Valdés-Stauber als Regisseur der älteste ist.

Vier Kapitel hat der Abend, die bewusst mit Gegensätzen spielen zwischen Dokumentation und Fiktion sowie alltäglich wirkenden und überformten Szenen. Diese Gegensätze tragen der Tatsache Rechnung, dass es sich um ein künstlerisches Projekt handelt, in dem es auch um Begegnung geht und um einen verantwortungsvollen Umgang mit den 13bis 16-Jährigen, die bislang wenig bis keine Berührung mit Theater hatten. Das Team spielt aber auch ganz bewusst mit

den Erwartungen eines bildungsbürgerlichen Publikums. Und ja: Beim ersten Anschauen ist man irritiert von den teils sehr komplexen Texten, die den Schüler:innen noch schwer von den Lippen gehen, von den seltsamen Choreografien zu Barockmusik und dem mönchischen Gehabe in einer Art Ashram. Erster Gedanke: Hier wird den Jugendlichen etwas aufgepfropft. Zweiter Gedanke: Hier werden Klischees gegeneinander ausgespielt. Denn in allen Köpfen kommen sie vor. Hier die „benachteiligten“ Kids aus der Vorstadt, dort „die Leute, die die Süddeutsche lesen“.

Freiwillige gesucht

Deshalb ist es wichtig, nach der Genese des Abends zu fragen, dessen ästhetischer Rahmen bereits vor dem Text stand. Die Idee des Zen-Gartens im zweiten Teil, in dem in Kimonos zu Musik von Rameau getanzt wird, habe er mit der Ausstatterin Janina Sieber entwickelt, bevor klar war, wer überhaupt dabei sein würde bei dem Projekt, sagt Valdés-Stauber. Die Werkstätten mussten schon loslegen. Denn für Theaterverhältnisse war die Zeit vom Startschuss bis zur Premiere im Februar sehr kurz. Nach einer initialen Erinnerungswerkstatt im Oktober und November in zwei Klassen der Mittelschule an der Albert-Schweitzer-Straße wurden Freiwillige gesucht, die Lust hatten, die zweite Hälfte der Weihnachts- sowie die Faschingsferien miteinander und mit Theaterproben zu verbringen. Darunter Nikola Bruder, die einzige Neuntklässlerin im Team, die deshalb auch schon vom Konzentrationslager in Dachau erzählen kann, das in München zum Neunte-Klasse-Pflichtprogramm gehört. Nikola hat sich auch schon zuvor für Geschichte interessiert und würde gerne Lehrerin werden. Die selbstbewusste Jinan Jaballah hat sich erst kürzlich dazu entschlossen, Kopftuch zu tragen, und plädiert für „mehr Frauenrechte in Neuperlach“. Von solchen Dingen erzählen die Jugendlichen auf der Bühne oder im Video. Nur Marko Brkic, der Zweitjüngste in der Gruppe, ist mit seinem Regisseur in die Kantine der Kammerspiele gekommen, um mehr zu

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Thema Theater & Erinnerung

Dieselben Jugendlichen, die eben noch ihr Klassenzimmer zerlegten, pflegen in einer diffusen Zukunft fremdartige Rituale und tanzen mit Kimonos – nicht freestyle, sondern stark formalisiert.

berichten: Theater, mit dem er erst durch die Vorstellungsbesuche in Kontakt kam, die die Probenzeit flankierten, gefällt ihm, wenn es lustig ist. Und auch sonst erzählt Marko unverfälscht: „Zuerst wollte ich nicht mitmachen, dann dachte ich mir: Ich habe sowieso nicht viel zu tun, dann kann ich auch was Neues erleben. Es war auch nicht anstrengend, sondern spaßig. Und die Themen haben gepasst.“

Transparenz

Vom Nationalsozialismus haben ihm bereits seine Eltern erzählt, die aus Serbien stammen. Und weil sein Urgroßvater von Deutschen angeschossen wurde, hat seine Biografie sogar einen winzigen Schnittpunkt mit der deutschen Geschichte. All das erfährt man schon im Stück. Und auch, dass Marko mal Polizist werden will und eine Theorie hat: „Meine Theorie ist, dass das Universum ein Kreis ist. Wenn man eine Runde gemacht hat, kommt man

an derselben Stelle wieder raus.“ Sätze wie diese, von denen Martín Valdés-Stauber sagt, dass sie sich niemand hätte ausdenken können (und die sich nebenbei auch noch mit Erkenntnissen der Astrophysik treffen), wurden eins zu eins übernommen. Andere wurden umgestellt, sprachlich bearbeitet und anschließend von den Jugendlichen daraufhin überprüft, ob sie mit dem, was sie sagen wollten, übereinstimmen. Wobei auch das von Szene zu Szene variiert, die laut Valdés-Stauber „gegenbildlich“ funktionieren. Der Abend startet mit einer Klassenzimmerszene, die auch ästhetisch nah am Alltag der Jugendlichen ist. Eine Lehrerin kommt nicht und die Klasse hindert eine eifrige Schülerin daran, nachzuschauen, wo sie bleibt. Es folgt das Chaos, das alle ehemaligen Schüler:innen kennen, und einige schlüpfen versuchsweise in die Lehrer:innenrolle. Und auch dabei fallen Sätze, „die keiner von uns hätte schreiben können“, so der Regisseur, zum Beispiel: „Dein Name ist komplizierter als mein ganzes Leben.“ Ein Originalzitat aus Neuperlach!

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Teil zwei dieser postmigrantischen „Auto-Science-Fiction“ ist dann in allem das komplette Gegenteil. Dieselben Jugendlichen, die eben noch ihr Klassenzimmer zerlegten, pflegen in einer diffusen Zukunft fremdartige Rituale und tanzen mit Kimonos – nicht freestyle, sondern stark formalisiert. Im Theaterlabor ohne Bühnenbild war dieser plötzliche Schwenk noch befremdlicher als im Werkraum der Kammerspiele, wo der Zen-Garten bereits im Klassenzimmersetting zu erahnen war. Valdés-Stauber sieht darin „ein ironisches Augenzwinkern“ in Richtung eines bildungsbürgerlichen Theaterpublikums und einiger Kolleg:innen, die genau das nicht von Jugendlichen aus Neuperlach erwarten. Und schon gar nicht, dass vier von ihnen später noch hoch intellektuelle Texte lesen. „Sie sagen Sachen, die fast niemand im Publikum zu formulieren in der Lage wäre, aber auf Türkisch, Polnisch und Arabisch“, was den intellektuellen Gehalt dieser Texte sogar noch camoufliert.

In gewisser Weise dienen diese „Spielereien“ aber auch der Transparenz in eigener Sache: Denn auch die Theater-

macher:innen kommen natürlich mit ihrem akademischen Rüstzeug in die Proben. „Ja, wir tragen viel von außen an die Jugendlichen heran“, gibt Valdés-Stauber zu, „aber wir arbeiten damit nur weiter, wenn es eine Resonanz gibt. Und dann werden wir überrascht. Zum Beispiel haben wir stundenlang Karaoke gemacht zu Musik, die sie gerne hören. Irgendwann spielen wir Bach ein und Dilara, die Jüngste, die eigentlich nur mitgemacht hat, weil ihre Schwester Ela auch dabei war, kann es sofort singen. Eine Woche später hat sie sich das Stück freiwillig fünfzig Mal angehört, weil sie es so schön fand, und sie kann es perfekt.“ Also hat das „Blute nur“

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Foto Gabriela Neeb

aus der Matthäus-Passion – gesungen von Dilara und Ervin – Eingang in den Abend gefunden, ebenso wie Azizas fünfminütiger Gang mit einer kleinen Gießkanne über die Bühne, bei dem sie Wasser mit Wasser gießt. Anderes ist rausgeflogen. Was die Darstellung der Zukunft angeht, in der sich im dritten Teil die Zeiten mischen und die Videos gefunden werden, in denen vier Jugendliche Zeugnis ablegen über unsere Gegenwart, so bleibt sie vage. Wer zufällig auf die Tafel schaut, die noch von der Schulszene dasteht, entdeckt das Jahr 2433 – 500 Jahre nach Hitlers sogenannter „Machtergreifung“ –, auch das laut Valdés-Stauber nur eine Spielerei: „Es

gibt zwei Grundprinzipien in dem Stück: Die Jugendlichen werden nicht die Vergangenheit spielen, weil das nur schiefgehen kann. Und: Jede konkrete Vorstellung von Zukunft ist ein Trugschluss.“ Deshalb der japanische Zen-Garten, der – egal, wo auf der Welt – vor 400 Jahren schon so aussah, wie er in 400 Jahren womöglich immer noch aussieht: eine orts- und zeitenthobene Blase, erfüllt von uralten Klängen und futuristischen Ritualen. Und doch schaut man als Zuschauer:in ein wenig ratlos auf die Menschen in diesem Raum, in denen man immer noch die Jugendlichen von heute sieht, egal, welche Kluft sie auch tragen. Im Laienspiel funktionieren Illu-

sionen allenfalls halb. Was aber gut funktionieren kann, ist, für alle einen Raum und eine Form zu finden, in dem sie sich ausdrücken können und die sie zugleich schützt. Der Text, der in der Hand bleiben darf, die starke Musik, die klare Choreografie … Valdés- Stauber spricht von „Ermächtigungen“ im Plural und erzählt von Esad, der viel Verantwortung für technische Abläufe übernommen hat, und von Amirs Beobachterposition, aus der heraus er kontrolliert die Szene crashen kann: „Was soll das Rumhirnen in der Vergangenheit?“, fragt er, der das Getanze albern findet und lieber Mortal Kombat spielt, als von sich zu erzählen. Dass es Amir trotz allem wichtig ist, gesehen zu werden, zeigt seine Frage „Wie fanden Sie uns?“ nach der Probe.

„Theater kann und wird nicht heilen“, heißt es am Ende von „Time Busters“, als die Zwölf mit dem Publikum in Dialog treten und sich frei nach Aleida Assmann zum langen Schatten der Gegenwart erklären, der auf die Zukunft fällt. Ob Theater zumindest diesen Schatten größer machen kann? Marko jedenfalls würde gern noch einmal bei einem Theaterprojekt mitmachen. Und einige aus dem Team haben Barbara Mundel, der Intendantin der Münchner Kammerspiele, so lange mit Nachrichten bombardiert, bis sie versprach, darüber nachzudenken. T

„Time Busters“ wird am 10. und 11. Juni 2023 noch einmal im Werkraum der Münchner Kammerspiele zu sehen sein.

Die Buchrezension zu „Versöhnungstheater“ von Max Czollek finden Sie im Mai auf tdz.de

„Es gibt zwei Grundprinzipien in dem Stück: Die Jugendlichen werden nicht die Vergangenheit spielen, weil das nur schiefgehen kann. Und: Jede konkrete Vorstellung von Zukunft ist ein Trugschluss.“

Theater der Zeit 5 / 2023 Thema Theater & Erinnerung
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Ensemble von „Time Busters“ auf einem der Ankündigungsfotos der Inszenierung

Verdichtung statt Verdrängung

Das Festival „Erinnerung als Arbeit an der Gegenwart“ fragt an den Münchner Kammerspielen nach Formen der Erinnerung in künstlerischen Formaten

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Thema Theater & Erinnerung
Von Rebecca Fischer und Isadora Wandt Fotos 1 Gianmarco Bresadola, 2 Maurice Korbel, 3 Armin Smailovic, 4 Julian Baumann
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1. Ensemble von „Oasis de la Impunidad“, in der Regie von Marco Layera 2. „Hungry Ghosts“ in der Regie von Anna Smolar 3. „Les statues rêvent aussi“ in der Regie von Serge Aimé Coulibaly, Jan-Christoph Gockel 4. Das Theaterlabor Neuperlach, Austattung Janina Sieber

Wie wagt man einen unmittelbaren, schonungslosen Blick auf Vergangenheit und Erinnerungsarbeit und setzt dabei künstlerische Impulse, ohne in einem Betroffenheitsmasochismus zu verharren? Der Rassismusexperte Mark Terkessidis fordert in seinem Buch „Wessen Erinnerung zählt“ Differenzierung: Zwar habe „das gigantische Ausmaß der nationalsozialistischen Verbrechen dafür gesorgt, dass es keinen Weg um das Erinnern herum“ gebe, aber darüber hinaus sollte in einer vielheitlichen Gesellschaft das Erbe aus vielen Erinnerungen bestehen, also multiperspektivisch sein. Außerdem verlangt er, jegliches Schweigen zu durchbrechen: „Die große menschliche Aufgabe bleibt, den Anderen zu sehen und den Dialog zu beginnen.“

Mit dem siebenwöchigen Festival „Erinnerung als Arbeit an der Gegenwart” wagte das gleichnamige künstlerische Forschungsfeld der Kammerspiele im Herbst 2022 den Versuch, ein Festival als ein politisches und poetisches Unterfangen zu durchmessen. Es entstand eine komplexe Zeitreise, die historische Schuldverstrickungen auch über deutschen Grenzen hinweg offenlegte. Das Festival vereinte kaleidoskopartig Kunstformen: Theaterstücke, Konzerte, Tanzaufführungen, Performances, Workshops und Lesungen, verwob unterschiedliche Sprachen und Erinnerungen verschiedener Kulturen an unterschiedlichen Spielstätten. Festivalleiter Martín Valdés-Stauber präsentierte dabei (Zwischen-)Ergebnisse eines fortlaufenden Großprojekts, das sich politisch profiliert, provokant und poetisch der problematischen Vergangenheit Deutschlands stellt, Perspektiven für die Zukunft eröffnen will und zuvorderst im Heute für Pluralismus und Toleranz einsteht. Theater kann respektvoll Visionen vor-spielen, Konflikte an-sprechen, Sehgewohnheiten brechen. Ohne Führungsanspruch kann auf der Bühne eine andere Welt verhandelt werden. So entstanden während des Festivals vielfach generationenübergreifende, internationale Gespräche, bei welchen nicht nur das Gesehene reflektiert, sondern auch über die je eigene Familiengeschichte und Traumata gesprochen wurde.

„Hungry Ghosts“, inszeniert von Anna Smolar, eröffnete das Festival im Schau-

Das gesamte Publikum hat im Konzert „Aus Shtetl und Shtot“ des Jewish Chamber Orchestra eine Spannung aufgebaut, die ich zuvor noch nie im Theater erlebt habe. Vor mir saßen zwei Frauen: Am Anfang der Veranstaltung saßen sie einfach nur nebeneinander, nach und nach haben sie begonnen, nach den Händen der anderen zu suchen und zu greifen, und am Ende des Konzerts hielten sie sich in den Armen und weinten.

spielhaus der Kammerspiele: Eine Darstellerin probt eine Komödie, aber plötzlich wird es ihr unmöglich, die von ihr erwartete komische Haltung einzunehmen, was ihre Kolleg:innen in die Verzweiflung treibt. Die Ursache ist genau das, was so manche Zuschauer:innen ins Erinnerungsfestival treibt: geerbtes Trauma. Die Traumata unserer Vorfahren haben sich in uns eingeschrieben. Wir tragen alle neben unserem persönlichen Schmerz einen Teil der kollektiven Schuld noch in uns, weshalb wir dazu beitragen müssen, dass unsere kollektive Erinnerung jetzt in einer Zeit, in der sich Erinnerungsarbeit durch den Verlust von Zeitzeug:innen radikal verändert, aufrechterhalten werden kann. Und wir müssen dafür sorgen, dass sich die Vergangenheit nicht zyklushaft wiederholt. In Form einer im Repertoire der Münchner Kammerspiele aufgenommenen Farce mit dokumentarischen, fiktionalen, musikalischen und tänzerischen Elementen wie in „Hungry Ghosts“ vermag man vielleicht sich thematisch und formell diesen Fragen und Themen anzunähern.

Mit dem Schauspiel „Oasis de la Impunidad“, das die New York Times als eines der besten Stücke des Jahres 2022 ausgezeichnet hat und weiterhin auf Gastspielen um die Welt reist, thematisierte Marco Layera mit der chilenischen Thea-

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Thema Theater & Erinnerung

terkompanie La Re-sentida, ebenfalls im Großen Haus der Münchner Kammerspiele, das zeitlose Mitläufertum, indem er eine groteske Horrorparade aus grausamen, exakten und ästhetisierten Folterungs- und Selbstverstümmelungsmethoden in unbarmherzigem Stroboskoplicht

Es wurden Räume geschaffen, in denen man miteinander in einen Dialog treten konnte, ob das auf den Bühnen der Kammerspiele, im Blauen Haus oder in Neuperlach war –es kamen Gespräche zustande, die ich nicht missen will.

choreografiert. Durch die Verlängerung der Bühne in den Zuschauerraum hinein wurde dem Publikum die grundsätzliche Frage nicht erspart, wie weit man gehen kann oder muss, bis jemand eingreift.

Einen weiteren Ansatz der Erinnerungsarbeit stellte eine Buchpräsentation des Hispanisten und Verlegers Frank Henseleit im Vortragssaal des NS-Dokumentationszentrums München dar: Schauspielerin Svetlana Belesova las Auszüge aus den Reportagen des Journalisten Manuel Chaves Nogales, der im Jahr 1933 aus Madrid nach Deutschland kam, um den Triumph der Nationalsozialisten kurz nach der sogenannten Machtergreifung zu beobachten, und ein Interview mit dem Propagandaminister Joseph Goebbels führte. In der BRD sind diese eindringlichen Texte und ihr Verfasser gänzlich unbekannt geblieben. Als Haupttäter benennt Nogales nicht SA und SS, sondern die Nachbarn und Nächsten: „Der Kommunist oder Jude braucht sich weniger vor knüppelnden Polizisten zu fürchten, vielmehr vor den eigenen Nachbarn, Kollegen, Passanten, der ganzen Volksmasse.“ Schon in den Anfängen prognostiziert er, dass „gegen den Hass einer solchen Mehrheit […] kein Kampf möglich“ sei.

Im Schauspielhaus wurden Texte von Überlebenden der Shoah gelesen: „Ist das ein Mensch“ richtet sich an die Nachgeborenen, um diese schwer fassbaren Erfahrungen von moralischen Fragestellungen, Freundschaft, Leid und Torturen weiter zu vermitteln. In dem Publikumsgespräch im Anschluss machten Carolin Emcke, Lena Gorelik und Maryam Zaree ihre Position deutlich: Die deutsche Erinnerungskultur gebe sich mit „Nie wieder“ zufrieden, ohne die Geschichten der Überlebenden zu erzählen, denn die Solidarität heutzutage beschränke sich oftmals auf Floskeln.

Der Werkraum, die Studiobühne der Münchner Kammerspiele, schafft mit ihren unverputzten Wänden, Rohren und Industrietoren immer wieder ein Fundament für intime, ehrliche Produktionen mit Versuchscharakter. Vor allem in Kombination mit der Verwendung von Musik wird der Raum emotional aufgeladen und lädt dazu ein, seinen persönlichen Zugang zu der Erinnerungsthematik auszubauen. Hierfür ist das Singspiel „Songs for Babyn Yar“ der

„Rassismus passte nicht in das Bild der DDR.“ Das ist für mich einer der markantesten Sätze der Lecture Performance „Wir riefen Gastarbeiter:innen, es kamen Dissident*innen“. Mai-An Nguyens Vater, der so gerne spazieren ging, machte seine Spaziergänge nur noch mit einem Stock in der Hand, um sich und seine Familie jederzeit verteidigen zu können. Da stellt sich die Frage: Geht Deutschland etwa so mit seinen Gästen um? Kann Deutschland noch als Zufluchtsort bezeichnet werden? Isadora

drei Musiker:innen Svetlana Kundisch, Mariana Sadovska und Yuriy Gurzhy ein besonders wichtiges Beispiel. Sie verarbeiten mithilfe traditioneller, jiddischer und ukrainischer Volkslieder, Poesie, Erzählungen und Zeugenaussagen das Leid und den Schmerz einer der verheerendsten Episoden der ukrainischen Geschichte. Eine aus Odessa geflüchtete Mutter saß mit ihrem Kind im Publikum. Als ein Wiegenlied über eine Mutter gesungen wurde, die gerade ihre Kinder verloren hatte, sagte das Kind im Publikum immer wieder „Mama“.

Überraschende Perspektiven an neuen Orten

Autor Max Czollek kritisiert in seinen drei Essaybänden, zuletzt „Versöhnungstheater“, die Entlastungsfunktion der Rituale um die Shoah, mit der sich die bundesdeutsche Gesellschaft von historischer Schuld freisprechen wolle. Die Selbstinszenierungen durch Holocaust-Reden, Erinnerungsveranstaltungen und Mahnmale sollen die deutsche Identität in einem „Prozess der Wiedergutwerdung ohne Wiedergutmachung“ entlasten, ohne wirk-

Theater der Zeit 5/ 2023 24
Fotos oben und in der Mitte Krafft Angerer, unten Judith Buss
Thema Theater & Erinnerung
beide oben „Das Erbe“ in der Regie von Pınar Karabulut, unten „News from the Past“ in der Regie von Stas Zhyrkov
Wandt

20. Mai –

29. Mai 2023 KÖLN

circus-dance-festival.de

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© Franziska Schardt
Performer:in: Marina Cherry
Pre-production Supporters A Project by Media Partners Cooperations

„Oasis de la Impunidad“ ist zugleich niederschmetternd, verstörend und in einer seltsamen Art wunderschön. Einer der stärksten Momente war für mich, als eine vorgeblich tote Frau von der Bühne ins Publikum getragen wurde. Ihr Körper lag eingesackt im Sitz direkt vor mir. Ihre Anwesenheit war wie ein schauriger Geist.

lich Gerechtigkeit herzustellen oder „die Verbindung der gewaltvollen Gegenwart mit der Vergangenheit zu bedenken“, so etwa die Taten der NSU und die Brandanschläge auf Unterkünfte von Asylsu-

chenden. Den Jüd:innen komme bei diesen Ersatzhandlungen die Rolle des versöhnlichen „supernetten“ Opfers zu. Er betonte, die Erinnerungskultur nicht abschaffen, sondern ins Heute hereinholen zu wollen. Gefühle von Enttäuschung, Verlust und Rache können durch künstlerisches Engagement sublimiert werden. Unterstützenswert ist besonders sein Plädoyer für eine radikal pluralistische Gesellschaft der Gegenwart, die – ohne eine exklusivistische Leitkultur – Menschen in ihrer Vielfalt respektiert und die vor allem mittels der Förderung der Jugend nachhaltig und sinnstiftend wirken sollte.

Im Sinne dieser Reflexion gründete das künstlerische Forschungsfeld „Erinnerung als Arbeit an der Gegenwart” mit den Münchner Kammerspielen und in Kooperation mit der Stiftung „Erinnerung, Verantwortung, Zukunft” das Theaterlabor Neuperlach, einen Arbeitsraum des radikalen Austausches und Ausprobierens mit einem kostenlosen,

facettenreichen Angebot an Workshops, Vorstellungen und Ferienangeboten, die von Theaterpädagog:innen betreut werden. Gerade deshalb ist Valdés-Staubers komplexes Projekt so zukunftsweisend: In einem Stadtviertel wie Neuperlach, das wegen seines hohen Anteils an Menschen mit Migrationshintergrund Diskriminierungen ausgesetzt ist, hat er eine Filiale der Münchner Kammerspiele gegründet. Mit dem Theaterlabor entsteht in München gegenwärtig ein Experimentierort für gesellschaftliche Prozesse. Im engen Dialog mit dem Haupthaus wird ein produktiver Umgang mit gesellschaftlicher Heterogenität gefördert, um die Vielfalt der Gesellschaft widerzuspiegeln, zueinanderzuführen und neue Formen des Austausches zu ermöglichen. T

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Isadora Wandt

Theater der Zeit

Akteure

Porträt Elizabeth LeCompte und Kate Valk von der New Yorker The Wooster Group im Gespräch

Kunstinsert Veronika Dräxler über ihre Dialogräume und Begegnungen mit Marina Abramovi´c und Joseph Beuys Nachruf Schauspieler Robert Gallinowski

27 Theater der Zeit 5 / 2023
Foto Jannis Chavakis
Die Künstlerin Veronika Dräxler in ihrer Performance von „Broken Branches Walk“, 2021

Aus dem Fragmentierten ein Ganzes schaffen

Elizabeth LeCompte und Kate Valk von der New Yorker The Wooster Group im Gespräch über ihre außergewöhnliche Geschichte, polnische Großkünstler und Performance Art

28 Theater der Zeit 5/ 2023 Akteure Porträt
Von Thomas Irmer „Nayatt School Redux“ von The Wooster Group, in der Regie von Elizabeth LeCompte Foto links Matthew Dipple, rechts Mary Gearhart

Die Wooster Group wird bald fünfzig Jahre alt, je nachdem, an welcher genauen Gründungszeit man das festmacht. Es ist so oder so eine erstaunlich lange Lebensdauer für eine Theatergruppe, umso mehr, zieht man die Bedingungen in den USA und speziell in New York dafür in Betracht.

EL: Wir haben damals nicht gesagt, jetzt gründen wir mal eine Theatergruppe, sondern haben einfach ohne Plan losgelegt. Wir, eine Gruppe von gleichgesinnten Schauspielern, hatten die Performing Garage in Manhattan, konnten diesen Raum in der Wooster Street zusammen mit Richard Schechners Performance Group nutzen, wo Spalding Gray als Schauspieler und ich als Regieassistentin mitmachten. Es war auch mehr wie ein Club und nicht wie ein reguläres Theater.

1979 verwendeten wir dann offiziell den Namen The Wooster Group für uns, denn wir mussten uns um staatliche Zuschüsse bewerben, und das ging nur so. Das war also ein Prozess, obwohl wir schon ab 1975 die ersten Sachen mit der „Rhode Island Trilogy“ rausgebracht hatten, die auf Material von Spalding Gray basierten. Ich selbst habe mich auch gar nicht als Regisseurin von Stücken verstanden, denn die Sachen, die wir machten, hatten vor allem mit uns selbst und Spaldings Autobiografie zu tun. Mit uns meine ich neben Spalding und mir Ron Vawter, Jim Clayburgh, Willem Dafoe, Katie und Payton Smith.

KV: Unsere Gruppe überlappte mit der Performance Group, bis Schechner kein Theater mehr machen wollte. Wir erbten dann die Spielstätte (und die Schulden dazu).

Es waren später in Deutschland vor allem die Tour-Gastspiele wie Eugene O‘Neills „The Hairy Ape“ 1995, mit denen die Wooster Group als Pioniere eines technologisch avancierten Theaters bekannt wurde, in dem Video und neues Audio-Equipment für ein expressives Schauspielertheater zum Einsatz kamen.

EL: Technologie war kein grundsätzliches Arbeitsprinzip. Alle in der Gruppe hatten Erfahrungen mit diesen Technologien, beim Fernsehen angefangen. Und ich bin ja ursprünglich gar nicht vom Theater, sondern war Fotografin. Video zu verwenden war eine ganz natürliche Sache für mich.

KV: Wie auch Super 8 und 16 mm Film.

EL: Bruce Nauman benutzte als Künstler Video schon lange vorher – als gefilmte Performance. Joan Jonas war ein anderes Vorbild, als wir in den 1970ern damit angefangen haben. Unsere Arbeiten mit Technologie entwickelten sich also nicht aus dem Theater, sondern aus der bildenden Kunst. Aber als wir uns um staatliche Subventionen bewerben mussten, gab es diese Unterstützung für uns nur als Theatermacher, die sich mit der Verwendung von Theatertexten dafür qualifizierten.

Das klingt so, als hätte sich eine ästhetische Seite von Performance Art in eine bürokratische Schublade von Theater zwängen müssen, um an Fördermittel zu kommen.

KV: Was Liz und die Wooster Group entwickelten, war ja nicht deckungsgleich mit der Performance Art in Amerika damals. Damit verband man meist ein einmaliges Event. Die Wooster Group

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„The Hairy Ape“ 1996, abgebildet Kate Valk und Willem Dafoe, in der Regie von Elizabeth LeCompte

entwickelte aber Produktionen in einem langen Prozess, die dann wiederum sehr lange wiederholt gezeigt werden konnten. Was der gängigen Aufführungspraxis von Theater glich. Es gibt aber noch einen anderen wichtigen Aspekt, denn Liz trat mit ihrer Arbeit als ‚auteur director‘ hervor, was es damals im Theater gar nicht gab.

EL: Obwohl es ähnliche Arbeitsweisen in der Theatergeschichte schon gegeben hat. Aber eben nicht in New York zu der Zeit.

KV: Die Grenzen zwischen den verschiedenen Künsten waren offen. Maler, Musiker, Performer, Tänzer, die konnten leicht zueinander finden und miteinander arbeiten. Das war wirklich sehr befreiend. Als ich zur Group hinzukam, war dieses Fließen zwischen den Künsten für mich prägend. So konnte die Ästhetik von Liz auch mit Tadeusz Kantor ins Gespräch kommen, bei dem ja ein Objekt auf der Bühne eine gleichrangige spirituelle Ausstrahlung wie die Performer haben konnte.

Wie jetzt gerade in dem Stück „A Pink Chair“ beim FIND-Festival zu sehen war, das sich ja ganz unmittelbar mit Kantors Theater beschäftigt. 2004 wurde mit „Poor Theater“ eine Auseinandersetzung mit dem Theater von Jerzy Grotowski erarbeitet. Gibt es also einen Dialog mit der nun schon historischen Avantgarde in Europa, die von den beiden Polen mit weitreichenden Folgen angeregt wurde?

EL: Ehrlich gesagt, sind das erst Forschungsprojekte geworden, nachdem wir sie als finanziell geförderte Aufträge angenommen hatten. Wir kommen hier in Amerika nicht leicht an Geld ran, also haben wir bei beiden Angeboten aus Polen zugesagt. Ich wusste nicht so viel über Grotowski damals, und vor „A Pink Chair“ auch nur we-

nig über Kantor. Also habe ich mir gesagt, lasst uns herausfinden, was wir damit zu tun haben, und vor allem, was wir damit heute anfangen können. Das ist grundsätzlich unsere Methode, in der Arbeit über andere Theaterkünstler etwas Eigenes zu finden und zu entwickeln. Wir haben das auch schon so mit Tennessee Williams gemacht.

KV: Wir haben einmal unsere Zuschauer gefragt, was wir als Nächstes machen sollen, und die meisten sagten: Tennessee Williams. Wir kamen so auf „Vieux Carré“, ein eher selten gespieltes Stück aus dem Spätwerk über Tennessee Williams‘ Coming Out.

EL: Für das Kantor-Projekt jedenfalls lernten wir Kantors Tochter Dorota Krakowska kennen, die uns bei den Recherchen begleitete und schließlich zur Dramaturgin wurde. Ohne sie wäre keine Geschichte entstanden. Sie hatte ein äußerst kompliziertes Verhältnis zu ihrem Vater, denn der hatte die Mutter mit der noch jungen Dorota für eine Schauspielerin in seiner Truppe verlassen. Sie hatte ein starkes Bedürfnis, dem Vater noch einmal zu begegnen, das stand in einem spannenden Verhältnis zu dem Motiv des Odysseus, das in Kantors vorletztem Stück „I Shall Never Return“ zentral ist. Das war für uns alle ein bedeutsamer Ansatz.

Tadeusz Kantor, der 1990 starb, ist heute leider nicht mehr so bekannt. Aber es gibt natürlich immer noch Theaterfans, die wegen ihm nach Krakau pilgern, wo in der Cricoteka, einer Art KantorMuseum, die Objekte aus seinen Aufführungen zu sehen sind, u.a. eine Installation seiner ikonischen „Toten Klasse“. Es scheint, die Wooster Group und ihre Geschichte haben sich mit seiner Arbeit geradezu verschmolzen.

30 Theater der Zeit 5/ 2023 Akteure Porträt
Foto links Steve Gunther, rechts oben Elizabeth LeCompte, unten Kate Valk Kate Valk (links) in „A Pink Chair“ von The Wooster Group

EL: Das stimmt. Nachdem wir angefangen haben, an dem Stücke zu arbeiten, habe ich einige Gemeinsamkeiten zwischen Kantor und mir gefunden, zum Beispiel, wie er mit seinen Performern als Gruppe arbeitete, da gibt es auf jeden Fall Parallelen. Aber es gibt auch einen großen Unterschied: Ich bin eine Frau und ich verfolge nicht die Idee des Großkünstlers. Ich bin ein Teil einer Gruppe, eine mit speziellen Fähigkeiten, die anderen in der Gruppe haben ihre eigenen Fähigkeiten, und ich führe das zusammen.

Und das ist sicher ein Grund, warum Sie nach so vielen Jahren noch zusammen sind und immer wieder Neues entdecken. In diesem Zusammenhang wollte ich Sie nach einem Begriff fragen, der in der deutschen Theaterkultur sehr häufig gebraucht wird, wenn man diese experimentellen Entwicklungen im Theater seit den Siebzigerjahren Jahren anspricht und mit dem auch Ihr Gastspiel hier in Ankündigungen beworben wurde: postdramatisches Theater.

EL und KV: Was ist das?

Alternativ könnte man von Dekonstruktion sprechen.

EL: Aha, aber einen solchen Begriff würde ich höchstens in einem Antrag auf Zuschüsse verwenden. Ich dekonstruiere ja nicht, ich füge etwas Neues hinzu. Zu bereits Vorhandenem, das von anderen stammt. Es ist mehr wie Malerei oder Übermalen von Malerei, und das Original darunter bleibt noch sichtbar. Aber der Kern ist der Text. Ich nehme die Sachen nicht auseinander.

Sie betonen also die zentrale Rolle des Textes. Aber das ist genau das, was die Theorie des Postdramatischen bestreitet: Text und Kanon sind nicht mehr zentral.

KV: Das klingt sehr absolutistisch. Da möchte ich sofort das Gegenteil machen.

„Breaking the Rules“ lautet der Titel von David Savrans mehrfach aufgelegtem Standardwerk über die Wooster Group. Eine völlig andere Arbeit als die beiden Forschungen zur polnischen Avantgarde war 2017 „The Town Hall Affair“, die Rekonstruktion eines Streitgesprächs über ‚women’s liberation‘ zwischen dem Schriftsteller Norman Mailer und vier Autorinnen, darunter die damals sehr einflussreiche Theoretikerin Germaine Greer, das 1971 ein Medienereignis war und von den Dokumentarfilmern Chris Hegedus und D.A. Pennebaker festgehalten wurde. Wie ist denn das, im Kontext des neuen Feminismus unserer Zeit, entstanden?

EL: Maura Tierney, die immer wieder in der Gruppe mitspielt, kam mit dem Film „Town Bloody Hall“ und sagte, sie würde das gern mit uns machen und Germaine Greer spielen. Ich schaute mir das also an, erstmal nur als Material, ganz offen und ohne Vorbehalte. Auch nicht gegen Mailer. Und ich erfuhr eine Menge aus dem, was er sagte. Was er über die Linke sagte. Und da kam viel hoch, was heute los ist.

Nämlich?

KV: Mailer warnte damals vor dem Totalitären der Linken. Und wenn wir auf unsere Colleges gucken, dann ist da was dran. Die Linken haben die Universitäten, die Rechten sind im Weißen Haus. Sie sollten dazu Angela Nagles „Kill All Normies“ lesen,

„Bruce Nauman benutzte als Künstler Video als gefilmte Performance. Joan Jonas war ein anderes Vorbild, als wir in den 1970ern damit angefangen haben. Die Arbeiten mit Technologie entstanden also aus der bildenden Kunst.“

das, ebenfalls kontrovers, die Internet-Kulturkriege zwischen links und rechts analysiert.

Haben sich denn Ihre Arbeitsgrundlagen und Auffassungen von Theater durch Social Media und die daraus folgende Fragmentierung der Kultur verändert?

EL: Wir benutzen das natürlich für Publicity. Ich persönlich aber gar nicht.

KV: Wir befinden uns immer noch in einer echten Stadt. Das Internet hat sie noch nicht verschwinden lassen. In New York wollen immer noch Leute ins Theater gehen, und darauf bauen wir. Hoffen wir, dass die Stadt nicht die Künstler verschwinden lässt. Noch haben wir die Performing Garage.

EL: Was die Arbeitsweise angeht, haben wir ja immer fragmentarisch gearbeitet. Und mit dem Aufkommen von Social Media ist das ein Teil unserer kulturellen Umgebung geworden.

Ihre Arbeiten haben immer auch die Wahrnehmung der Fragmentierung vermittelt, also auch eine Betrachtung der Kultur und wie sie uns prägt.

EL: So könnte man das sehen, ja. Aber schon das Fernsehen war ein Medium, das Fragmentierung zu einem scheinbaren Ganzen gemacht hat. Und das würde ich auch für meine Arbeit sagen, aus dem Fragmentierten ein Ganzes zu schaffen. T

„Norman Mailer warnte damals vor dem Totalitären der Linken. Und wenn wir auf unsere Colleges gucken, dann ist da was dran. Die Linken haben die Universitäten, die Rechten sind im Weißen Haus.“

31 Theater der Zeit 5 / 2023
Akteure Porträt

Sich der Gewalt zuneigen

Veronika Dräxler über ihre Dialogräume und Begegnungen mit Marina Abramovi´c und Joseph Beuys im Gespräch mit Ute Müller-Tischler

32 Theater der Zeit 5/ 2023
Akteure Kunstinsert
Fotos Christian Kopp
Performance „Medea“ in der Ausstellung von Veronika Dräxler in der galerie weisser elefant, Berlin, 2021

„Broken Branches“, Raumansicht in der Ausstellung

„Beuys, Rückruf: Dringend!“

33 Theater der Zeit 5 / 2023

„Chapters of Violence“, von Veronika Dräxler und Patrick Alan Banfield, 2023, „Heile deine Wunden“, aus „Beuys, Rückruf: Dringend!“ von Veronika Dräxler in der galerie weisser elefant, Berlin, 2021

34 Theater der Zeit 5/ 2023 Akteure Kunstinsert
35 Theater der Zeit 5 / 2023 Akteure Kunstinsert Fotos links Max Eicke, rechts Christian Kopp
Die Künstlerin Veronika Dräxler in der Performance „Medea“ 2021

Veronika Dräxler, geboren 1986, interdisziplinäre Künstlerin und Performerin, lebt und arbeitet in Berlin und Fürstenfeldbruck. Sie hat zuletzt u.a. in der Leipziger Galerie für zeitgenössische Kunst ausgestellt („Appointment X“, 2021) sowie „Medea, Performance at Beuys, Rückruf: Dringend!“ in der Berliner galerie weißer elefant zur Aufführung gebracht.

Veronika Dräxler, Sie verbringen viel Zeit in der Natur. Stundenlang streifen Sie durch den Wald. Nach all der Endzeitstimmung der letzten Jahre war es das Beste, das die Pandemie uns bescherte, dass wir auf null gesetzt wurden. Für viele entstand ein neuer Blick auf die Welt und die Erfahrung, etwas anders zu machen, lebendiger zu sein. Wie war das bei Ihren Walks?

VVD: Der erste „Broken Branches Walk“ war tatsächlich kurz vor der Pandemie, Ende Januar 2020. Für eine private Investorenparty sollte ich eine Arbeit einbringen. Für diesen Rahmen wollte ich einen Ansatz, der möglichst gegensätzlich sein sollte zur Leistungsgesellschaft und der Logik des Kapitals. Ich habe mich gefragt, wer oder was bestimmt überhaupt einen Wert? Dann habe ich mich im Forst in Berlin-Frohnau in einen großen markanten Ast verliebt, der mich an einen Blitz erinnert hat. Der war allerdings so fragil und sperrig, dass er weder mit meinem Auto noch mit den öffentlichen Verkehrsmitteln gut zu transportieren war. Also habe ich spontan entschieden, diesen 22 Kilometer weit nach Kreuzberg zu tragen. An den Ort, an dem er dann ausgestellt wurde. Im Nachhinein kommt mir diese Performance wie ein Vorbote vor, als wir von einem Virus Zeit zwangsverordnet bekamen. Auf meinen Wegen durch den Wald haben mir die Stille und die Selbsteinkehr in den eigenen Körper wieder bewusst gemacht, dass Entschleunigung – entgegen jeder Innovationszyklen – ein Wert ist, den ich viel stärker in einem Wirtschaftssystem der Zukunft verankern würde.

Traumata und Krisenerfahrungen gehören zu Ihren Inspirationsquellen, wie Sie sagen. Das Prinzip der Selbsterneuerung und Heilung durchzieht viele Ihrer Arbeiten, in denen Sie sich mit Ritualität und Hypernaturalität beschäftigen. Was bewegt Sie, wenn Sie einen abgestorbenen Baumstamm am Flussufer entlang ziehen oder Äste sammeln?

VD: Das tote Holz steht symbolisch für meinen Begriff von Traumata: das Zusammenprallen von Kräften bzw. von gegensätzlichen Interessen. Wenn ich Baumstämme bewege oder Äste mit mir trage, kann ich die Landschaft, die mich umgibt, in einem angeregteren Zustand wahrnehmen, als wenn ich nur spazieren gehen würde. An die Grenzen meiner körperlichen Kraft zu gehen, macht meine Aufmerksamkeit viel präziser. Mir wird dann umso mehr bewusst, wie heftig wir Menschen in die Welt eingreifen und Hypernaturalität schaffen: Landschaft, gestützt durch Technik. Zumindest verstehe und verwende ich den Begriff so.

In der Performance „Medea“ (2021) verkörpern Sie eine Frau, die sich mit sieben Ritualen von seelischen Traumata heilt. Den vielen Geschichten um den antiken Mythos von Iason und den Argonauten fügen Sie Ihre eigene hinzu. Welche?

VD: Das Motiv der „Medea“ habe ich gewählt, weil sie für mich der Archetyp einer weiblichen Figur ist, die sich – eingebettet im Patriarchat – im Namen der Liebe in den Dienst männlicher Ideen und Aufträge stellt, um letztendlich feststellen zu müssen, dass sie besser in sich selbst investieren hätte sollen. Sie bereut ihre Entscheidung, Iason vertraut und geliebt zu haben, so sehr, dass sie in eine absolute Zerstörungswut bis hin zum Wahn fällt

36 Theater der Zeit 5/ 2023
Akteure Kunstinsert
Foto Jannis Chavakis

und sogar die gemeinsamen Kinder aus der Verbindung umbringt. Sich von dem Dämon der Liebe zu Iason zu befreien, ist nicht mit einem einfachen Ritual zu schaffen. Um ihre Integrität und Unabhängigkeit wiederzuerlangen, durchläuft meine Medea sieben Rituale, die inspiriert sind von einer Mischung aus schamanischer und christlicher Mythologie. Sie stärkt sich mit Mond- und Sonnenwasser, findet Ruhe in der Stille und beginnt mit einem Waschbär-Masken-Ritual ihre Formumwandlung und Veränderung. Medea lässt ihren emotionalen Ballast fallen und umgibt sich mit einem Schutzmantel aus Filz. Ihr neues geistiges Potenzial erweckt sie mit Weihwasser 4711, um am Ende im siebten Ritual im Olivenbad ihren Dämon zu exorzieren. Medea lässt den Sexismus und die Abwertung Iasons hinter sich und macht alles rückgängig, was im Zeichen der Liebe geschah, befreit sich so vom manipulativen Machtmissbrauch und wird stärker als zuvor.

Als Material verwendeten Sie damals eine Zinkbadewanne, Felle und viel Öl, das sind ikonografische Reminiszenzen an Joseph Beuys. Für mich stellen sich aber auch Bezüge zur künstlerischen Aura von Marina Abramovi´c her, „The Artist Is Present“. Liege ich da falsch?

VD: „Aura“ ist für mich hier das entscheidende Stichwort. Ich hatte zum einen das Privileg, Marina Abramovi´c in persona 2014 in ihrem Studio in New York zu treffen. Zum anderen Joseph Beuys’ – ich sage mal – Geist 2021 an seinem 100. Geburtstag bei der Zoom-Séance mit einem Medium in Vorbereitung auf die „Medea“-Performance, die im Rahmen meiner Einzelausstellung „Beuys: Rückruf, Dringend!” stattgefunden hat. Die Begegnungen mit Abramovi´c und Beuys haben sich bei mir körperlich sehr ähnlich angefühlt: jeweils eine mächtige Energie, die sich um meine eigene legte. Eine ungewöhnlich starke immaterielle Präsenz. Das hat sich natürlich bei mir eingeprägt. Reminiszenzen an Joseph Beuys haben sich ergeben, weil meine Großeltern teilweise ähnliche Objekte in ihrem Nachlass hatten, zum Beispiel eben die Zinkbadewanne. Aus dem Fett wurde fluides Öl und aus dem Filz wurden Packdecken aus dem Baumarkt, quasi ein Update zum Ultra-Zeitgenössischen. Marina Abramovi´c arbeitet ja inzwischen auch mit deutlichem Einfluss zum Techno-Healing bzw. Techno-Schamanismus, den ich in Berlin als sehr präsent empfinde und der sich durch mein Studio im Künstlerhof Frohnau, eine ehemalige Nervenanstalt, sehr stark manifestiert hat.

Ihre Erfahrungen mit sexueller Gewalt und Entwertung als Frau und Künstlerin haben Sie in der gemeinsamen Ausstellung mit Patrick Alan Banfield verarbeitet. „Chapters of Violence“ sind immersive Räume, in denen sich ihre Arbeiten begegnen. Markus Boxler, der Kurator, beschreibt diese Zusammenarbeit „als innewohnende Ambivalenz der Symptome gesellschaftlicher Traumata: In welchem Verhältnis steht toxische Männlichkeit zu Softness und Verletzlichkeit? Zu wessen Lasten kann ein Heilungsprozess stattfinden und wer ‚bezahlt‘ ihn – im ökonomischen wie im emotionalen Sinn?” Kann es eine Lösung geben? Das ist wahrscheinlich die Kunst dabei, daran zu glauben oder eine Schamanin zu fragen?

VD: In „Chapters of Violence: Power & Control” stehe ich im Dialog mit Patrick Alan Banfield über toxische Maskulinität, Geschlechterrollen und Machtmissbrauch. Aber Lösungen? Wir sind noch mitten drin, überhaupt zu verarbeiten, was uns und im Kulturbetrieb immer wieder geschieht oder geschehen kann. Bei einem von Trauma gestressten Körper ist es nicht möglich, nach Lösungen zu suchen. Hier gilt: Raum geben und erst einmal das Geschehen anerkennen. Nach Gewalterfahrungen braucht es oft Jahre, um Softness und Verletzlichkeit überhaupt erst wieder zulassen zu wollen.

Die Ausstellung setzt auf das völlige Eintauchen in eine Szenerie der Räume, mehr Maximalismus im Fokus Gewalterfahrung scheint fast nicht drin. War das für sie beide mehr ein ästhetisches Verlangen oder stand eine inhaltliche Distanz und Metaebene weniger im Mittelpunkt bei diesem emotionalen Thema?

VD: Tatsächlich war diese Heftigkeit im Ausstellungsraum und in unserer beider Körper veranlagt, da das Ausstellungskonzept nach einem konkreten Vorfall männlichen Machtmissbrauchs entstanden ist – und zwar mir gegenüber, in denselben Räumlichkeiten, damals während der Vorbereitungen zu „Medea“. Ich hatte schon damals intuitiv Energien im Raum transformiert. Patrick und ich haben dann ähnlich wie bei „Medea“ Gewalt visualisiert. Nur eben in ganz anderer Weise. Wir haben die Machtstrukturen, die uns umgeben, wie in einem Filmsetting in konkreten Schauplätzen vergegenwärtigt. In erster Linie ging es darum, Erfahrungen mit toxischen Beziehungen und Männlichkeit sicht- oder fühlbar zu machen, um sie neu dirigieren zu können. Vielleicht kann man das so beschreiben: sich der Gewalt zuzuneigen, ohne sie sich anzueignen, diese anders – transformiert – wieder zurück in den Raum zu stellen. T

Theater der Zeit 5 / 2023
Akteure Kunstinsert 37
„Die Begegnungen mit Abramović und Beuys haben sich bei mir körperlich sehr ähnlich angefühlt: jeweils eine mächtige Energie, die sich um meine eigene legte. Eine ungewöhnlich starke immaterielle Präsenz. Das hat sich natürlich bei mir eingeprägt.“
Veronika Dräxler
Weitere Künstlerdossiers finden Sie unter tdz.de/kunstinsert

„Ohne Ziel auskommen“

Zum Tod des Schauspielers

Robert Gallinowski

Von Hans-Dieter Schütt

Er offenbarte, wie feige Ergebenheit und abgrundtiefe Verletztheit in eine radikale Gewaltpsychose umkippen. Er zeigte das Psychogramm eines Lebens, das sich erhält, indem einfach „alle Spiegel zugehängt“ werden: „Ich mag nicht, was einen daran erinnert, dass man fremd ist.“ So Robert Gallinowski vor Jahren am Deutschen Theater Berlin in Koltès‘ „Die Nacht kurz vor den Wäldern“. Er verfügte über listig tänzelnde Kraft und eine faszinierend unmittelbare Wucht. Er war ein Künstler, dessen Ort eher auf der dunklen Seite der Dinge lag, dort, wo Lenz übers Gebirge geht oder Woyzeck über den Erbsen schwitzt. Schweiß blieb ihm lieber als Schminke. In ihm arbeitete die Kreatur und jenes Unflätige, das sich am liebsten dem Schmerz überlässt. Der dann entsteht und Lust wird, wenn man Texte zerbeißt, als wären sie Eisen.

Miller und O’Neill spielte er, Pinter und Lorca, Kleist und Müller. Bei Michael Thalheimer und Dimiter Gotscheff, bei Thomas Langhoff und Konstanze Lauterbach. In Hamburg und München, am Deutschen Theater und am Berliner Ensemble. Noch jede sportive Lockerheit hatte im Blut das Bleigift einer bösen Lähmung; noch jede Manneskraft war gezeichnet von gehetzter Untauglichkeit. Da lauerte eine Jägerseele in der Brust der gequälten Beute, aber unterm Kostüm des Jägers schlug auch das Herz eines Gejagten.

Denke ich an Gallinowski, denke ich an Dagmar Manzel, etwa an Neil LaButes „Tag der Gnade“ am Deutschen Theater, eine Paar-Tragikomödie inmitten des Explosionsstaubs von Nine-Eleven, oder an „Endstation Sehnsucht“ von Tennessee Williams am Berliner Ensemble. Beide

Fotos Theater der Zeit 5/ 2023 Akteure Nachruf ROBERT GALINOWSKI
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Foto Chrisitan Hartmann (christianhartmann.com)

boten grandiose Duelle, mobilisierten alle Masseteilchen an Zartheit, Argwohn, Nestkampf. Liebende im Schwerefeld einer geballten Befangenheit gegenüber jedem echten Gefühl. So spielten beide Weisheit: Wo sich Körper finden – wer unterscheidet da Umarmung und Schlag?

Beidem zugrunde liegt zerstörende Begierde. Was Manzel und Gallinowski in ihren gemeinsamen Aufführungen so unschreierisch, in einer raffiniert verzögerungsfreudigen Ökonomie der Bewegungen und Erschöpfungen spielten, riss bürgerliche Existenz bis zum Kern auf: Das Leben nach einer Katastrophe wird stets nur wieder um genau jene Bosheit, um genau jene Egozentrik verlängert, die uns vor dieser Katastrophe so lieb und vertraut war. Jede Moral sucht sich das schäbigste Niveau, um über den Dingen zu stehen.

Der 1969 in Aachen Geborene war auch Maler, Grafiker – und Lyriker. „Korrektur-Passagen“ heißt ein Band mit Bildern und Gedichten. Das Geheimnis war ihm mehr als dessen Enthüllung. „Ohne Ziel / auskommen: // Expedition“. Gallinowskis Malerei war purer Sinn fürs Abstrakte. „Wer genau hinschaut“, so die Schriftstellerin Kerstin Hensel, „sieht die durchlässigen Bereiche, Abgrenzungen, Überfließendes, die plötzlich gerissene Linie, den heiteren Durchbruch.“ Mit Schlagzeuger Klaus Mages präsentierte er am Deutschen Theater Berlin ein Hölderlin-Programm, expressiv, in hämmerndem Rhythmus. Schrei und Seufzer. Große Gebärde, stilles Weh. „Schmerzen der Sterblichkeit“, wie Hölderlin das nannte. Als sei alle Kraft nur Verzweiflung. So muss es auch außerhalb der Bühne gewesen sein,

irgendwann. Gallinowski wischte sich weg, ins Grobgelände der TV-Krimiserien, wo er meist nur der wulstige Gewaltkerl war. Irgendwann nicht mehr gefordert und gehalten von seinem Gratwanderungstalent: zwischen steinernem Ernst und romantischer Schwüle, zwischen strotzender Geschmeidigkeit und neurotischer Schräglage. Wenn ich ihn im Fernsehen sah, sah ich durchs Magere der Spielanlässe hindurch, ahnend: Wo Handwerk war, wäre Kunst möglich gewesen. Erzählungen darüber, dass nichts so verletzlich ist wie Hornhaut. Ihm konnte die Brutalität ins Kinngebiet rutschen, dass einem dieses Stiere und Stumpfe Angst machte. Er war das Krokodil, das hundert Jahre warten kann auf eine Zuschnappsekunde. Am 28. März ist Robert Gallinowski im Alter von nur 53 Jahren gestorben. T

Schauspiel / Eröffnungspremiere

EIN SOMMERNACHTSTRAUM

WILLIAM SHAKESPEARE / BARBARA FREY / MARTIN ZEHETGRUBER / BURGTHEATER WIEN

ab 10. August 2023

Kraftzentrale, Landschaftspark Duisburg-Nord

Schauspiel / Uraufführung

EXTRA LIFE GISÈLE VIENNE

ab 16. August 2023

Salzlager, UNESCO-Welterbe Zollverein, Essen

Schauspiel / Deutsche Erstaufführung

LE JARDIN DES DÉLICES / DER GARTEN DER LÜSTE

PHILIPPE QUESNE / VIVARIUM STUDIO

ab 7. September 2023

Kraftzentrale, Landschaftspark Duisburg-Nord

Akteure Nachruf 1969 – 2023
Die Ruhrtriennale findet vom 10. 8. bis 23. 9. 2023 statt. Tickets und das komplette Programm unter www.ruhrtriennale.de
Foto: loekenfranke / VG Bild-Kunst Anzeige
Gesellschafter und öffentliche Förderer

Sich lieben und sich freilassen

Die Autorin Lisa Krusche und der Uraufführungsregisseur Moritz Nikolaus Koch über „unsere anarchistischen herzen“ am Theater für Niedersachsen in Hildesheim im Gespräch mit Lina Wölfel

Als ich den Roman und später die Stückfassung gelesen habe, da sind direkt bei der Personenliste Bilder in mir aufgeploppt, weil die Orte für mich, die ja gerade in Hildesheim ist, total greifbar sind. Welche Rolle spielt Hildesheim als Stadt für den Text?

Lisa Krusche: Ich glaube, die Entscheidung ist vor allem ex negativo gefallen, weil ich nicht wollte, dass die Geschichte in einer Großstadt spielt. Und vielleicht war es auch wichtig für mich, mir Hildesheim zu erschreiben, mich durch den Text in ein anderes Verhältnis zu der Stadt zu setzen. Ich könnte auch behaupten, dass ich das Randständige, das Unspektakuläre dieses Ortes mag. Mich zu fragen: Wie vergeht hier die Zeit? Welche Figuren prägen das Bild einer solchen Mittelstadt? Wie lebt man sich dort ein oder raus? Aber irgendwie kommt mir das schon überinterpretiert vor. So wichtig, so im Fokus meines Schreibens war der Handlungsort gar nicht.

Moritz Koch: Ich habe diese Fassung für die Hildesheimer Uraufführung geschrieben, da den Bezug herauszustreichen, wäre ja völliger Quatsch. Aber es war wichtig, dass wir Hildesheim den Hildesheimer:innen nicht bebildern, sondern dieses Modell Kleinoder eher Mittelstadt, wie Lisa sagt, als Kompressor für die Geschichten von Gwen und Charles nutzen.

Wir kennen alle drei die Orte aus dem Roman ziemlich gut. Was holt ihr euch denn am Kiosk von Sinan?

LK: Ich habe schon sehr früh meine Kiosk-Karriere begonnen. Früher habe ich in der Nähe gewohnt und mir dann immer die Wendy geholt. Mit meinem ersten Taschengeld.

MK: Ich habe auch mal an der Steingrube gewohnt und mir da wahrscheinlich hauptsächlich Bier geholt.

Für mich sind es tatsächlich die bunten Tüten, die total krass nach dem Aftershave vom Besitzer schmecken. Moritz, wie bist du denn daran gegangen, aus dem Roman, der ja echt dick ist, eine Stückfassung zu schreiben? Welche Herausforderungen hattest du dabei?

MK: Der Roman besteht aus 444 Seiten. Unsere Zielvorgabe waren 50 bis 60 Seiten Stückfassung, und das ist natürlich ultrahart. Ich habe es das Lieblingsstellen-Massaker genannt. Es ist grausam. Ich habe einfach angefangen und den Roman noch mal gelesen und mir alle Kapitel markiert, bei denen ich fand, dass sie auf jeden Fall Futter für eine Bühnenszene ergeben. Und am Ende hatte ich genau zwei Kapitel nicht markiert. Das hat also nichts gebracht. Und dann habe ich von vorne angefangen und bin einfach das ganze Ding nach meiner Grundidee in einer Bühnenfassung abgegangen, wissend, dass das alles viel zu viel ist. Ich war dann bei über 200 Seiten und wusste, ich muss morgen Abend wieder mehr raushauen. Mit der Fassung arbeite ich in den Proben tatsächlich auch noch, was eigentlich total fatal ist, weil ich dann immer wieder merke, wie viel ich rausnehmen musste. Im Nachhinein kann ich sagen, der Prozess war mehr eine Konzentration auf die Geschichten von Charles und Gwen. Leider ist sehr viel Schönes dabei rechts und links rausgeflogen.

40 Stück Gespräch Theater der Zeit 5 / 2023
Foto Theater für Niedersachsen
„unsere anarchistischen herzen“, Uraufführung im Theater für Niedersachsen in Hildesheim

Was war zum Beispiel so ein Darling, den du killen musstest?

MK: Naja, also eine Sache, die mir immer noch die ganze Zeit leidtut, ist die WG in Heinde. Am Ende sind einfach alle Mitbewohner rausgeflogen und nur noch Missy ist übriggeblieben. Die natürlich auch Szenen von Fred und Gilda übernimmt. Die aber namentlich nur noch übrig sind, weil ich vergessen habe, sie in Missy umzubenennen, was manchmal vorkommt und die Schauspielerin, die Missy spielt, regelmäßig verwirrt.

Lisa, inwiefern warst du beteiligt an diesem Prozess?

LK: Moritz und ich haben vorher über den Roman gesprochen und zwischendurch auch mal telefoniert, wenn es von Moritz’ Seite Nachfragen gab. Ich hatte aber von Anfang an das Gefühl, dass ich das gut an Moritz abgeben kann. Und ich bin auch ganz froh, dass ich zum Beispiel nicht selbst meinen Text so stark zusammenstreichen musste.

MK: Die Hauptarbeit an meiner Fassung 1.0 habe ich in einem Schwung gemacht. Danach bin ich weggefahren und habe mich isoliert. Und dann habe ich Lisa immer mal angerufen, wenn ich Fragen hatte.

LK: Oder wenn dir ein Lektoratsfehler aufgefallen ist.

Wie verhalten sich Roman und Inszenierungsfassung jetzt zueinander?

MK: Ich finde, es ist eigentlich zu früh, das zu sagen. Die Fassung ist immer noch nicht fertig. Während der Proben merke ich auch, dass sich noch mal viel verändert. Wir haben auch schon wieder Bilder aufgemacht, die ich eigentlich rausgestrichen hatte. Der Roman ist der Roman und wir spielen einen Auszug. Eigentlich müssten wir das als Serie spielen in vielen episodischen Teilen.

LK: Ich empfinde die Stückfassung als etwas ganz Eigenständiges. Und das ist für mich auch das Besondere und das Schöne an diesem Prozess, dass jemand meinen Text nimmt, um damit künstlerisch zu arbeiten.

Welche Kraft liegt eurer Meinung nach in der Begegnung zwischen Gwen und Charles, der Beziehung der beiden zueinander, gerade in so einem Setting wie Hildesheim?

LK: Das arme Hildesheim, das muss alles auffangen.

Oder jede andere mögliche mittelgroße Stadt, die ähnlich funktioniert.

LK: Die Probleme und die Herausforderungen, mit denen Charles und Gwen konfrontiert sind, hängen aus meiner Sicht gar nicht in erster Linie mit Hildesheim oder dem Kleinstädtischen zusammen. Sicher, es gibt diese gefühlte Enge der Stadt, und für Charles steht sie ja auch dafür, ihre gewohnte Umgebung und ihre Freund:innen verlassen zu müssen. Aber die beiden haben ja vor allem Probleme mit den jeweiligen Familien, mit sich selbst und dem Aufwachsen und Existieren in dieser Welt, in der wir leben.

Was meinst du mit „in dieser Welt, in der wir leben“?

LK: Ich meine diese kapitalistische, koloniale, patriarchale Welt – diese schlimmstmögliche aller Welten.

MK: Ja, ich glaube auch, das Kernproblem ist ja nicht Hildesheim, weder für Gwen noch Charles, auch wenn Letztere das vielleicht manchmal so formuliert. Gwen sagt relativ am Ende: „Ich sage dir was, ich bin froh, dass dein Vater durchgeknallt ist. Weil sonst wärst du nicht hier.“ Mir ging es beim Lesen des Romans so, dass ich die ganze Zeit darauf gewartet habe, dass die beiden sich treffen. Und wo das spielt, welche Psychologie des Ortes dahintersteckt, ist eigentlich egal. Die könnten sich auch in Berlin kennenlernen.

Inwiefern hat diese Begegnung ein revolutionäres Potenzial?

MK: Diese zwei Personen haben für sich schon ein ziemlich revolutionäres Potenzial, das ist ja auch das Schöne daran. Vor allem, wenn sie sich dann treffen. Als Duo sind die beiden einfach unschlagbar. Klar, sie werden keine Revolution im größeren Sinne vom Zaun brechen. Aber eine innere, alltägliche, ja.

LK: Ich merke, dass ich in diesem Kontext sehr zaghaft bin, was den Begriff des Revolutionären angeht. Vielleicht kann man es so sagen: Es ist ein Ort, an dem Selbsterfindung stattfinden und ein anderes Miteinander erprobt werden kann. Einander mit großer Offenheit begegnen, Zärtlichkeit praktizieren, mit gemeinsamen Fuck-ups die bestehende Ordnung stören. Es ist wohl auch so, dass ich ein sehr pessimistischer Mensch bin, insgesamt und was die Möglichkeit eines guten Lebens für alle angeht. Aber es gibt auch immer wieder die Erkenntnis, dass sich verwandt zu machen eine Entscheidung ist, in deren Bewegung und Handlungen aufeinander zu doch so etwas wie Hoffnung liegt.

Und trotzdem hast du ein Buch über die Kraft von solchen Begegnungsorten geschrieben. Wenn du so eine Pessimistin wärest, hättest du dann dieses Buch geschrieben?

LK: Das ist eine gute Frage. Das Schreiben, insbesondere von Romanen, setzt immer auch das Glauben an ein Morgen voraus. Allein schon wegen dieses langen Prozesses, es behauptet immer ein Weiter oder den Glauben an ein Weiter. Vielleicht hast du mich da ertappt und bin gar nicht so pessimistisch.

MK: Gerade diese Forderung, eine andere Form von Liebe zu leben, ohne Anspruch, finde ich enorm revolutionär. Dass die offenbar in der Lage sind, einander freizulassen. Also sich lieben und sich freilassen.

Stück Gespräch Theater der Zeit 5 / 2023
„Ich empfinde die Stückfassung als etwas ganz Eigenständiges. Und das ist für mich auch das Besondere und das Schöne an diesem Prozess, dass jemand meinen Text nimmt, um damit künstlerisch zu arbeiten.“
Lisa Krusche

Du, Lisa, hast im Roman sehr viel mit artifiziell anmutenden Texten gearbeitet. Gerade die Twitter- und Songtexte. Welche Funktion haben die Texte für dich in deinem Roman?

LK: Da gibt es einmal die digitale Kommunikation, die über Messenger stattfindet. Das war für mich vor allem formal interessant, weil man die Möglichkeit hat, andauernd diese andere Ebene mitlaufen zu lassen und immer wieder Dialoge einzustreuen. Gwens Twitter-Texte lese ich als einerseits auch als eine Praxis der Selbsterfindung, die eigene Realität mit andauernden Metakommentaren zu begleiten und gleichzeitig in eine stumme Echokammer hineinzuschreiben, auch von Gwens Einsamkeit. Und ich glaube, grundsätzlich habe ich ein großes Interesse an etwas, das man grob als Künstlichkeit bezeichnen kann, als das Artifizielle, Hochgetunte, als Bubblegum-Ästhetik vielleicht auch.

Moritz, wie gehst du gerade mit diesen Passagen und dem Wechsel zwischen den verschiedenen Sprachebenen auf der Bühne um?

MK: Ich mochte das beim Lesen des Romans schon total gerne. Und jetzt ergeben diese Texte enorm spannende Synergien mit dem Zusammenstreichen des Romans für die Bühne. Es wird vermieden, was oft im Erzähltheater passiert, dass jemand vor sich hin erzählt und nicht wirklich viel mehr auf der Bühne passiert. Hier haben wir unglaublich schnelle Wechsel, die mit vielen Assoziationen aufgeladen sind. Wenn zum Beispiel Mo gerade ein Meme schickt, dann kann Mo auch auf die Bühne geflogen kommen und ist selber das Meme. Da haben wir keine Verständnisprobleme. Dadurch entstehen clipartige Sequenzen, die ich allgemein sehr spannend als Bühnenästhetik finde.

Du arbeitest auch immer wieder mit Musik in deinen Stücken. Welche Rolle spielt Musik für dich auf der Bühne und welche Funktion kann sie übernehmen, auch jetzt konkret in Bezug auf „unsere anarchistischen herzen“?

MK: Ich nutze Musik sehr gerne auf der Bühne als emotionalen Geschmacksverstärker. Alles fühlt sich doller an mit Musik. Und das kann man sich im Theater wahnsinnig gut zunutze machen – vor allem als Livegeschehen, das dann, so wie ich mit Musik arbeite, auch weil es live produziert wird, auf die Energien des Abends und des Publikums reagieren kann. Auf der Bühne finde ich es besonders interessant, die Musik mit den Texten zu verweben, wenn die Musik als emotionale Ebene mitredet. Ich sag´ immer, dass die Musik wie ein:e Dialogpartner:in funktioniert. Oft hört man von Regisseur:innen als Spieler:in: „Setzt

euch nicht auf die Musik, sonst doppelt sich das.“ Ich sage den Spieler:innen immer: „Setzt euch volle Kanne auf die Musik, so richtig breit, und nehmt sie mit.“ Und dadurch, dass man im Gegenteil zum Film nicht behaupten muss, dass man die Musik nicht hört, kann man sie auch in das Erzählprinzip mit einbinden. Also wenn jetzt eine Sommersequenz erzählt wird und es darum geht, wie die Sonne vom Himmel brennt, dann kann man auch sagen: Hört ihr, wie es klingt? T

Krusche ist Schriftstellerin. 2021 erschienen ihre Romane „Unsere anarchistischen Herzen“ bei S. Fischer und „Das Universum ist verdammt groß und super mystisch“ bei Beltz & Gelberg, 2022 „Ohne euch wärs echt scheiße“ (gemeinsam mit Jörg Bernandy). Für ihre Arbeit wurde sie mehrfach ausgezeichnet, unter anderem mit dem Edit Radio Essaypreis, dem Deutschlandfunk­Preis bei den 44.Tagen der deutschsprachigen Literatur in Klagenfurt sowie dem Kranichsteiner Kinderliteraturstipendium.

La

in Buenos Aires

und am Europäischen Theaterinstitut (ETI) in Berlin war er nach ersten Engagements am Jungen Theater Göttingen, am Schauspielhaus Zürich und an der Landesbühne Hannover festes Ensemblemitglied am Theater für Niedersachsen in Hildesheim (2007–2020). Er inszenierte am TfN sowie am Schleswig­Holsteinischen Landestheater. Mehrere Jahre lang leitete Koch den Jugendklub des TfN. In etlichen Inszenierungen war er auch als Bühnenmusiker aktiv.

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Stück Gespräch Theater der Zeit 5 / 2023
„Hier haben wir unglaublich schnelle Wechsel, die mit vielen Assoziationen aufgeladen sind. Wenn zum Beispiel Mo gerade ein Meme schickt, dann kann Mo auch auf die Bühne geflogen kommen und ist selber das Meme.“
Moritz Koch
Moritz Nikolaus Koch, geboren 1977 in Heidelberg. Nach einer Schauspielausbildung im Schauspielstudio Baraca (Argentinien) Lisa Foto oben Charlotte Krusche, unten Katharina Willberg

Theater

Stück

unsere anarchistischen herzen

Nach dem Roman von Lisa Krusche Stückfassung der Uraufführung am Theater für Niedersachsen von Moritz Nikolaus Koch

Für alle Freund:innen Personen:

CHARLES GWEN

SINAN der Kioskdude aus der Steingrube

CHARLES’ PAPA

CHARLES’ MAMA

NICO Charles’ Bruder, 10 Jahre alt

MISSY F reundin von Charles’ Eltern

GWENS VATER GWENS MUTTER

CHRIS Gwens älterer Bruder

MO Bad boy, Freund von GwEN

VINCE & DENNIS Freunde von Mo

FRITZ aka der Grabbler, ein Hausfreund & Schönheitschirurg

DIE BÜRGERMEISTERIN hängt auch mit Gwens Eltern ab GERD Pony und gottverdammte Beautyqueen

ELSA Nachbarsmädchen in Heinde

GORDON SCHRÖDER der echte Gordon Schröder

RUDOLF Gordon Schröders Hund, karamellfarben

FLORIAN einer von Gwens Tindertypen

ROBERT noch einer von Gwens Tindertypen

EINE ALTE FRAU mit Rollator und lila Haar

EIN DICKER MANN Ja, ja, Sie meine ich

HENDRIK Sohn des Schönheitschirurgen & Cabriobesitzer

EINE YOUTUBE-REITLEHRERIN

EINE REWE ITZUM-KUNDIN

EINE REWE ITZUM-KASSIERERIN

NACHBAR:INNEN, PASSANT:INNEN, PARTYPEOPLE, FLORIANS FREUNDE, CITY-BEACH-PEOPLE, STUDIERENDE, HILDESHEIMER:INNEN UND HEINDENER:INNEN

43 Theater der Zeit 5 / 2023
der Zeit

© S. FISCHER Verlag GmbH

Stand April 2023

Abdruck gefördert mit Mitteln des Deutschen Literaturfonds

Zum Konzept:

Charles und Gwen erzählen uns ihre Geschichte(n).

Dabei springen sie frei zwischen Spiel-Szenen (Direkte Rede = regular gedruckt) und Erzählhaltung, direkt ans Publikum gewendet (Erzähltexte = kursiv gedruckt). Die anderen Kolleg:innen springen jeweils in die Szenen als Mit-Erzählende, also als alle anderen Figuren, manchmal mehrere gleichzeitig. Die Erzähltexte sind zwar weitestgehend Charles und Gwen vorbehalten, die Mit-Erzählenden dürfen sie aber hören und eine eigene Mit-Erzähl-Haltung dazu haben.

Sowohl direkte Rede als auch Erzähltexte stammen direkt aus dem Roman von Lisa Krusche, wörtlich, aber natürlich stark gekürzt. Einzelne Szenen wurden in ihrer Chronologie umgestellt oder mit anderen verschnitten. Die Darstellerinnen von Charles und Gwen wechseln ihre Rollen nie.

Es wird viel über WhatsApp, Insta, Tinder usw kommuniziert. Diese Texte sind kursiv & konsequent in kleinbuchstaben & ohne satzzeichen gedruckt. Auch Gwens Twitter-Account spielt eine wichtige Rolle als eine Art Vakuum-Echo-Kammer.

Für diese digitale kommunikation muss eine eigene Sprache gefunden werden, dies kann über Bilder (Projektion o.ä.), Ton, oder spielerisch gelöst werden. Oder sowohl als auch.

Regieanweisungen stammen sämtlich direkt aus dem Roman, wörtlich, aber stark gekürzt. Sie sind (in Klammern und kursiv gedruckt). Sie sind als Spielfutter und Inspiration gedacht und müssen im Spiel nicht befolgt werden, dürfen aber. Sie können bei Bedarf auch als Material für weitere Erzähltexte genutzt werden. Das literarische Ich meint hier immer die Erzählerin der jeweiligen Szene.

Einzige Ausnahme: die Regieanweisung in Szene 10 stammt nicht aus der Feder Lisa Krusches, diese ist (in Klammern und kursiv in ABC Diatype gedruckt).

Prolog:

CHARLES & GWEN

GWEN: & die lange reise zu unseren träumen fing so an CHARLES: Papa rennt nackt durch Charlottenburg.

„Schneller“, sage ich zu Achim, dem Uberfahrer, „Papa war mal Autonomer, sein Verhältnis zur Polizei ist nicht das Beste.“

Achim fragt „Was ist er jetzt?“

„Ein armer Irrer“, sage ich und deute auf Papas nackten Hintern, strahlend weiß und unendlich peinlich.

GWEN: Außenspiegel abtreten und Fensterscheiben einwerfen und Motorräder demolieren färbt die Welt ganz rosa. Nie nachdenken, nichts zurückhalten, immer drauf, so funktioniert Zerstörungsmodus.

CHARLES: „Was hat’n dein Vater da eigentlich in der Hand?“

„Einen Kopf“, sage ich.

„Ah“, sagt Achim.

„Der ist nicht echt“, sage ich.

Wir sind kurz vor Papas Galerie.

„Sportlich, dein Vater.“

„Das sind die Drogen, die halten jung.“

GWEN: „Mach du“, flüstert Mo mir zu und meint den Typen, der gerade „gebt doch lieber gleich auf“ über den leeren Parkplatz gerufen hat.

44 Stück Lisa Krusche und Moritz Nikolaus Koch Theater der Zeit 5 / 2023
C

Eine Plastiktüte weht über den Platz. Ich habe noch einen Milchzahn, darunter kommt keiner nach, deswegen darf er nicht verlorengehen. Mein einziges Heiligtum: ein letzter Milchzahn

CHARLES: Papa stoppt.

„Halt an, halt an!“

Ich springe raus, sprinte zu Papa. „Kapitalistenschweine.“

Ich muss lachen, mein Vater, so verloren und so nackt.

GWEN: „Traust du dich doch nicht?“, fragt Mo. „Traut sich nicht“, sagt Dennis.

Vince macht sich noch ein Bier auf.

„Wir sind nicht zum Spaß hier“, kommt es von der anderen Seite.

Idiotisch, wir sind zum Spaß hier. Haben uns über Rumblr verabredet, die App für Gelegenheitskämpfe, kostenlos, anonym und mit guten Tipps für Treffpunkte.

CHARLES: „Hey!“ Gustav springt von seinem Rennrad. „Papa, komm mal runter“, sage ich.

Papa reckt die Hand mit dem Kopf in die Luft und taumelt leicht von links nach rechts.

GWEN: Ziel ist es immer, denke ich an den Thaiboxtrainer von YouTube, das Bein zu brechen. Endlich gerate ich in Bewegung.

Der Typ: „Echt jetzt, ihr schickt ein Mädchen?“ Und alles wird rot.

CHARLES: „Was ist das?“, fragt Gustav und meint den Kopf in Papas Hand.

„Er hat sich eine Puppe von seinem Galeristen genäht. Wegen Kokoschka und so. Gestern wollte er sich dann feierlich von ihr trennen. Um einen Schlussstrich zu setzen.“

GWEN: Alles wird rot. Es fließt über den Parkplatz, ein massives Rauschen. Meine Wut ist größer als ich, sie ist alles, was ich bin, und noch mehr, sie ist meine Hingabe, sie ist überall, und das ist gut.

CHARLES: Papa grölt jetzt Textfetzen von Leonard-Cohen-Songs und wiegt sein nacktes Becken hin und her. Sein Penis schlägt gegen seine Oberschenkel, links, rechts, links, rechts.

GWEN: Lässt sich meine Verzweiflung mit den Körperflüssigkeiten des anderen auf dem Boden ausbreiten? Wann verschwindet ein Mann? Wie sehr lässt sich die Textur des Körpers verändern, wann verliert sich das Menschliche?

Ein Körper unter meinem Schambein, der aufgegeben hat, ein Körper wie Puddingmasse, Erhabenheit kickt rein. Gold war immer meine Lieblingsfarbe.

CHARLES: Gustav sagt: „Oh. Wir sind in der Cohen-Phase.“

„Ja. Und zwar in der, wo nicht mal mehr die Texte sitzen.“

„Das ist Kunst, Gusti, Kunst“, sagt Papa.

„Nein“, sagt Gustav.

„Wirklich nicht“, sage ich, „das ist scheiße, Papa.“

GWEN: Arme, die mich aufhalten wollen, Stimmen, die mich rufen. Wie psycho könne man sein. Komplett durchgeknallt die Alte. Einer telefoniert.

Blaulicht, das näher kommt, die Jungs irgendetwas am Fluchen, ich stehe nur da, und das Sirenengeheul fickt mein Trommelfell, und Vince brüllt, das sind die Scheißbullen. Mein Herz ist ganz leise.

CHARLES: Gustav holt einen Bademantel aus seinem Rucksack.

„Dafür liebe ich dich“, sage ich. Und zu Papa:

„Zieh das mal an jetzt.“

Etwas in Papa sackt zusammen. Er legt den Kopf neben sich.

„Alles klar. Lass uns fahren“, sage ich.

GWEN: Ich renne los, irgendwohin, durch die Siedlung, über den Hof einer Grundschule, ein Zaun, noch ein Zaun, eine Kleingartensiedlung, noch ein Zaun. Mein Körper dampft. Ich stelle mir meinen Schweiß silbern vor, wie eine Schneckenschleimspur an meiner Flanke bis zur Taille.

CHARLES: Ich greife nach Papas Hand, die so groß ist wie immer, obwohl er mir irgendwie kleiner vorkommt. Gustav trägt den Kopf hinter uns her.

GWEN: willst du silber von meiner taille lecken, schreibe ich Mo. was?

egal sind jetzt bei mcces ok, schreibe ich, komme dahin Keine Antwort, aber blaue Haken.

CHARLES: „Könnte ich vielleicht, also ich würde gerne, wirklich gern kiffen“, sagt Papa.

„Kannst du, wenn du zu Hause bist. Ich drehe mich noch mal zu Gustav. „Danke“, flüstere ich.

GWEN: Mo steht vor McDonald’s.

„Wo sind die anderen?“

„Schon los, einen buffen und bisschen Zocken.“

CHARLES: Wir fahren los. Aus dem Fußraum glotzt mich der Kopf an. „Charli Charles“, sagt Papa, „wir dürfen das nicht deiner Mama sagen. Die dreht durch sonst völlig durch.“

GWEN: Mo grinst mich an, „Hast du Bock?“

Er nickt mit dem Kopf Richtung Garagen. Ich zucke die Schultern. Hinter der Garage wachsen zu viele Brennnesseln, ich fasse rein, während ich mich an der Wand abstütze, es brennt, hinter mir Mo, ich muss an die schwebende Plastiktüte denken, und dann ist Mo fertig, zieht raus, das Kondom bleibt stecken, und ich gehe leicht in die Hocke, fingere es raus und werfe es auf den Boden.

„Ciao“, sagt Mo.

„Ciao“, sage ich.

I. Teil Szene 1 CHARLES

MAMA: Wir sind da.

CHARLES: sagt meine Mum.

Ich gucke aus dem Autofenster. Draußen nur Grün.

(Am Gartenzaun steht eine Frau im pinken Kimono, darunter einen türkisen Badeanzug, sie raucht. In ihrem Gesicht schimmert eine grüne Gesichtsmaske.)

JWD ist tatsächlich ein Ort. Hier ist nichts. Hier ist Heinde. Ich werde jetzt hier leben. Die Sonne scheint und spiegelt sich nirgendwo.

NICO: Hier ist ja gar nichts.

CHARLES: sagt Nico, mein kleiner Bruder.

MAMA: Missy!

(sie winkt euphorisch, steigt aus, kickt die Sandalen von den Füßen und läuft barfuß zu der Frau.)

CHARLES: Allen Ernstes, wtf.

PAPA: Ich glaube, ich mach hier eine Ausstellung. Was Skulpturales. Und bei der Vernissage werde ich einen Dackel auf die doppelte Größe aufblasen.

Szene 2 GWEN

(Ich rauche und gucke dabei über die Stadt.)

GWEN: Von unten hört man manchmal die Stimmen der Erwachsenen, abwechselnd mit dem Schlager, den sie hören. Im Dunkeln, und wenn

45 Stück „unsere anarchistischen herzen“ Theater der Zeit 5 / 2023

man von oben drauf guckt, ist Hildesheim am schönsten, die Lichter, als wäre alles friedlich und magisch und schön. Heile Welt für die, die tief in ihrem Inneren davon überzeugt sind, nichts befürchten zu müssen, und doch voller Angst. Mein Vater ist heute zurückgekommen, das wird gefeiert.

(Drinnen klopft es, ich drücke die Zigarette aus) manchmal sehne ich mich nach einem unachtsamen Schnippen in die falsche Richtung, und wie alles auf einmal Feuer fängt.

(Chris kommt rein. Er schmeißt sich aufs Bett)

CHRIS: Ich hasse sie.

GWEN: Wen?

CHRIS: Alle.

GWEN: Ja. (Pause) Hast du was genommen?

CHRIS: Geht dich gar nichts an.

GWEN: Okay.

CHRIS: Bisschen Emma.

GWEN: Willst du eine Kippe?

CHRIS: Guck, was er mir geschenkt hat.

GWEN: am Handgelenk eine Uhr, viel zu groß und protzig und typisch unser Vater eben.

CHRIS: Weil er in Thailand meinen Geburtstag vergessen hat.

GWEN: Wie sieht er aus?

CHRIS: Mies.

GWEN: War klar, mein Vater kommt immer fertig wieder und sagt, es wäre wegen dem Stress und den vielen Geschäften. Ich schätze, dass es wegen Alkohol, Nutten und einer Vorliebe für Sex ohne Gummi ist. Meistens ist in mir drin alles blau, ganz dunkelblau, wie sehr weit unten im Meer.

Nicht mein Fall.

CHRIS: Meiner auch nicht. Vielleicht tausch ich sie gegen Gras. (Chris steht auf und dreht sich in der Tür noch mal um)

CHRIS: Was ist das für ein Leben, Gwen?

GWEN: und ich schaue ihn an und er mich. & ich habe keine antworten & ich will ihn fragen, was ist los, sonst bist du doch nicht so, nimm dann doch ruhig immer diese Drogen, aber er dreht sich um und zieht die Tür hinter sich zu.

Szene 3 CHARLES

(Mama lädt Sachen aus dem Auto. Papa schludert hinter ihr her und weiß nichts mit sich anzufangen. Nico ist im Garten und guckt sich Steine an, weil Steine sein Hobby sind. Missy steht immer noch neben mir und ascht auf den gelben Teppichboden.)

CHARLES: Manchmal ertappe ich mich, wie ich früher war alles besser denke. Früher ist Berlin. Früher ist, als ich mit dem Fahrrad zu Gustav fahren konnte. Früher ist Graffiti, Allee der Kosmonauten, Döner, Freunde haben, früher ist am Wochenende nachmittags Schnappschussbilder von ans Licht tretenden Raver:innen machen.

MISSY: Na, Schätzchen, kommst du erstmal an?

CHARLES: Ich versuche klarzukommen, sie versucht, nicht beim Auspacken zu helfen.

Ich fasse es nicht Hippiekommune auf dem Land.

MISSY: Mobiles aus Naturfundstücken, Windlichter und Miniaturelefanten und Räucherstäbchenhalter und Blumengirlanden und ein Gong und Hängematten und Bücherstapel. Das meiste hier habe ich gemacht. Ich wollte ja auch mal Künstlerin werden.

CHARLES: Oh.

Szene 4 GWEN

GWEN: Mein Twitter-Account ist privat, und niemand folgt mir. Ich interagiere auch nicht mit anderen Accounts. Aber ich will mich auch in diesen Superorganismus eingliedern, der wie ein Pilz die Erde überwuchert, ich will mich auch selbst überdauern, als Teil einer endlosen Datenmasse. die zahnpasta, die ich ausspucke, sieht aus wie eine sternenexplosion, was hat das zu bedeuten?

Am Kriegerdenkmal klettere ich kurz auf einen hervorstehenden Stein und nicke der Stadt zu. Die Stadt nickt nicht zurück. So machen wir das jeden Morgen.

Auf der Fußgängerüberführung überkommt mich Fernweh. Hier wünsche ich mir immer, ich wäre woanders.

Sonst wünsche ich mir, ich wäre nicht da.

Mo schickt Memes von Boxern und schreibt:

MO: später rache gegen die wixer wegen bullen anrufen

VINCE: auf jedsten alter

GWEN: Normalerweise prügeln sich die Jungs, danach stehen alle zusammen, stoßen mit Bier an, klopfen auf die Schultern, nennen sich Ehrenmann. Normalerweise ruft niemand die Cops, normalerweise gibt es keinen Anlass zur Rache, normalerweise kämpfen aber auch keine Mädchen.

Ich schicke daumen hoch und hasse mich für das und alles andere, was uncool an mir ist.

Szene 5 CHARLES

MAMA: Wir ziehen weg.

CHARLES: hat Mama eines Abends verkündet.

Ich geh nicht aus Berlin weg, mir egal.

MAMA: Es ist das Beste für uns alle.

CHARLES: Niemals!

MAMA: auf jeden Fall.

CHARLES: Sie hat das Wohnungskündigungsschreiben auf den Tisch gelegt und jetzt sind wir hier. Ich schicke Gustav einen Robotersmiley.

Szene 6 GWEN

GWEN: Das erste Mal war Zufall. Ich sah Mo zum ersten Mal aus dem Autofenster. Er stand mit Vince und Dennis an einer Ecke rum, sie rauchten. Ich begleitete meine Eltern bei irgendwelchen Besorgungen, und mein Vater war die Abkürzung durchs Fahrenheitviertel gefahren. Sie sprachen über die Sanierungsmaßnamen, ein Freund von ihnen ist Geschäftsführer der Immobilienverwaltung.

MUTTER: Da willst du was Gutes tun, und die Leute stellen sich an, ständig hat der Stress mit dem Mieterverein.

VATER: Wer wie die die Heizkörper in jedem Raum voll aufdreht, muss nun mal mehr zahlen.

GWEN: Ich saß hinten und schaute durch die getönten Scheiben nach draußen.

MUTTER: Ist eben nicht so einfach, einen sozialen Brennpunkt zu einem Vorzeigeviertel zu machen.

GWEN: Die Jungs kickten eine Dose auf die Straße und sprangen hinterher, als wäre der SUV überhaupt nicht existent. Mein Vater bremste scharf und drückte auf die Hupe, mehrmals und lange.

VATER: Geht’s noch!

GWEN: & du kamst halt wirklich in wie ein wreckingball (Mo blieb einfach stehen und schaute durch die Frontscheibe meinen Vater an. Der hupte weiter. Mo ging einen Schritt nach vorne und schlug einmal mit der flachen Hand auf die Motorhaube. Mein Vater ließ den

46 Theater der Zeit 5 / 2023
Stück Lisa Krusche und Moritz Nikolaus Koch

Motor aufheulen, ich rutschte tiefer in meinen Sitz, Mo lehnte sich nach vorne und flüsterte)

MO: Fick dich, du Bastard.

(Dann ging er zur Seite, langsam und gemächlich, und als mein Vater losfuhr und das Fenster ein kleines Stück runterließ und)

VATER: Das wird Konsequenzen haben!

(sagte, lachte Mo, es war ein ehrliches Lachen von jemandem, der keine, nicht mal ein kleines bisschen Angst vor irgendetwas hatte, mit dem mein Vater ihm drohen konnte.)

GWEN: Dann warf er die Dose nach dem Auto, er traf genau die Mitte der Heckscheibe und in mein Herz, ich war sofort hin und weg.

Szene 7 CHARLES

CHARLES: Wir essen gemeinsam Abendbrot. Es ist komplett seltsam.

Mama, Papa, Nico, Missy und ich.

NICO: Ich mag überhaupt kein Curry, wieso gibt es keine Pizza wie sonst?

MAMA: Weil wir es jetzt besser machen.

(Missy steht auf, startet den Plattenspieler und beginnt zu tanzen.)

PAPA: Ich glaube, ich lasse es eine Zeitlang mit der Malerei.

MISSY: Das wird das Beste sein.

CHARLES: Du hast doch keine Ahnung, wovon du redest.

MISSY: Ist doch gut, wenn er sich Ruhe gönnt. Das ist jetzt genau das Richtige.

CHARLES: Papa, (sage ich leise), es ist nur eine Phase. War vielleicht ein bisschen viel zurzeit. Aber Malerei, das bist doch du.

MAMA: Dinge ändern sich.

MISSY: Das ganze Leben ist Fluss.

CHARLES: Ich merke es.

PAPA: Du hast ja recht

CHARLES: niemand weiß, wer gemeint ist. Das ist ungefähr der schlimmste Tag meines Lebens.

MISSY: Das spricht für dein bisheriges Leben.

NICO: Also ich mag’s hier. So viele Steine.

CHARLES: Steine sind sein Hobby.

Szene 8 GWEN

GWEN: Direkt nach der Rache wegen der Wixer-Aktion war ich nur aufgeputscht. Jetzt auf einmal bin ich so müde, und ich spüre, dass die Tränen kommen. Es ist nicht so, dass ich mich für unzerstörbar halte, allerhöchstens halte ich mich für egal.

Sinans Kiosk liegt zwischen Zuhause und den Jungs, zwischen den Welten, zwischen Rot und Rosa, ein ruhiger Ort und perfekt, um die Sachen zu wechseln.

SINAN: Alter. Was ist denn mit dir los?

GWEN: Straßenkampf.

SINAN: Ich sehe es. (Er reicht mir eine kalte Wasserflasche.)

Für dein Auge.

GWEN: jede zuwendung hätte ich gern als gif um es immer wieder abspielen zu können für die harten tage

SINAN: Und deine Lippe! Tut das nicht weh?

GWEN: Nicht so richtig. Mein Kopf tut weh.

SINAN: Willst du drüber reden? (er deutet auf mein Auge.)

GWEN: Kannst du mir meine Sachen geben?

SINAN: Kannst du aber ruhig.

GWEN: Ich atme, so flach ich kann, sonst zerknackt es in mir drin.

SINAN: Na gut.

Wie immer: obendrauf ein Melonenkaugummi.

(Er reicht mir meine Wechselsachen über den Tresen. Ich ziehe mich um)

SINAN: Wird schwer jetzt mit dem Undercover-Dasein, oder? Wegen des Auges.

GWEN: Ja. Mist. Aber wenn alles wie immer ist, ist das auch egal.

SINAN: Melonenmädchen…

GWEN: Es ist alles okay. Nur eine Sache. Kannst du mich vielleicht ins Krankenhaus fahren?

Szene 9 CHARLES

CHARLES: Ich schlage die Augen auf. Ich habe von Gustav geträumt. Ich fühle mich fehl am Platz und sehr alleine. So eine Scheiße.

Es ist vier Uhr zwölf. Ich schlurfe Richtung Bad. Plötzlich steht Missy vor mir.

MISSY: Sie ist nackt.

CHARLES: Ihre Brüste sind genau auf Höhe meiner Augen. Sie baumeln dort sanft herum. Öh.

MISSY: Charli. (zwitschert sie.) Noch wach?

CHARLES: Ja. Albtraum.

MISSY: Willst du erzählen?

CHARLES: Nein.

MISSY: Kauf dir doch ein paar Pflanzen für dein Zimmer. Eine Palme, so was. Pflanzen helfen, finde ich. (Missy gurrt wie eine unbeirrbare Taube.)

CHARLES: Du bist nackt.

MISSY: Ja, ich weiß. Während meiner Menstruation schlafe ich immer nackt. Free bleeding.

CHARLES: Gibt das keine Flecken? (Ich kratze mich am Kopf. Missy kichert und schaut mich an wie eine große Wunderlichkeit.)

MISSY: Ich habe ein Schafsfell zum Unterlegen.

CHARLES: Klar.

MISSY: Schlaf schön, kleine Charles.

Szene 10 GWEN

GWEN: Und so war das gekommen mit der Geheimidentität: Meine Eltern hatten Freunde zu Besuch. Ich stolperte direkt hinein.

FRITZ: Ach Gwendoline, wie geht es dir denn so?

BÜRGERMEISTERIN: Was macht die Schule?

FRITZ: Hübsch siehst du aus.

MUTTER: Willst du auch was essen?

GWEN: Nein, danke.

FRITZ: Wenn du nicht das Kind meiner Freunde wärst, hahaha.

GWEN: Viel Spaß noch. Ich ging rein.

FRITZ: Entschuldigt mich bitte.

GWEN: Er folgte mir in die Küche.

FRITZ: Ganz im Ernst, du siehst wirklich gut aus. Ich weiß noch, als du klein warst.

GWEN: Ich ließ Leitungswasser in ein Glas laufen.

FRITZ: Du hast dich richtig gemacht, bist ’ne Frau geworden. (Er stand ganz nah hinter mir, ich konnte ihn an meinem Hintern spüren. Die Hände und Arme rechts und links von meinem Körper stütze er sich am Waschbecken ab.)

GWEN: Ich schaute nach draußen, sah meinen Vater, wie er zu mir guckte, wie er zu Fritz guckte und dann wieder auf sein Steak.

47 Stück „unsere anarchistischen herzen“ Theater der Zeit 5 / 2023

Es gibt eine Endlosigkeit in mir, und es wird noch viele Faustschläge dauern, um sie zu füllen.

(Arbeitslicht. Die folgende Passage spricht Gwen am Mikro. Alle anderen Frauen des Ensembles sprechen manche Passagen chorisch mit. Niemand spielt mehr eine Figur. Nach und nach kommen Souffleuse, Abendspielleiterin, Ankleiderinnen, Requisiteurin, Maskenbildnerinnen, Technikerinnen, Garderobieren etc auf die Bühne. Auch sie sprechen diese Passagen mit. Alle an der Vorstellung beteiligten Mitarbeiterinnen aller Abteilungen dürfen teilnehmen an diesem Moment der Solidarität, aber nur wer möchte, niemand darf sich aufgefordert fühlen. Wichtig: Es darf hier keinesfalls um einen Theatereffekt, eine theatrale Wirkung gehen. Im Gegenteil. Der Theaterrahmen soll hier für einen kurzen anarchischen Moment völlig ausgehebelt werden für einen gemeinsamen Akt des Schweigenbrechens.

Auch wichtig: Dieser Moment darf sich nicht pauschal und persönlich gegen die anwesenden Männer richten, kein blaming, kein shaming Einzelner! Die anwesenden Männer halten bitte einfach die Klappe und hören zu. So können auch sie zu diesem Moment etwas beitragen, denn ums Zuhören geht es beim Schweigenbrechen ja auch.)

GWEN: Ich bin sieben und der Nachbarsjunge ist zu Besuch. Auf einmal fasst er mir mit der Hand an die Brust. Er sei der erste Junge, der mir an die Brüste gefasst hätte, sagte er. Ich bin weit davon entfernt, Brüste zu haben.

ALLE FRAUEN: Es gibt niemanden, dem ich davon erzählen kann.

GWEN: Ich bin elf und Ruben befingert mich auf der Übernachtungsparty von Emma. Ruben und ich liegen nebeneinander, und ich bin noch viel zu klein, um zu kapieren, was da eigentlich passiert, und dass ich nein sagen kann.

ALLE FRAUEN: Es gibt niemanden, dem ich davon erzählen kann.

GWEN: Ich bin zwölf und unser Nachbar, der Anwalt, steht mit geöffnetem Bademantel über den Boxershorts vor seinem Haus, sein Bierbauch hängt käsig und haarig rum. Er sieht mich auf der Terrasse sitzen. Ob ich rüberkommen wolle, ruft er. Ich gehe ins Haus und von da an lange nicht mehr auf meinen Balkon.

ALLE FRAUEN: Es gibt niemanden, dem ich davon erzählen kann.

GWEN: Ich bin dreizehn und im Sexualkundeunterricht grinst unserer Lehrer jedes Mal auf anzügliche Weise, wenn er über die Menstruation spricht. Ich muss jedes Mal an dieses Grinsen denken, wenn ich blute.

ALLE FRAUEN: Es gibt niemanden, dem ich davon erzählen kann.

GWEN: Ich bin dreizehn und Hendrik fängt mich auf dem Schulhof ab, drängt mich in eine Ecke und fragt, ob ich seinen Schwanz lutschen wolle. Ich sage nein, er sagt, warum denn, ich mache es doch mit allen, habe Ruben erzählt.

ALLE FRAUEN: Es gibt niemanden, dem ich davon erzählen kann.

Gwen: Ich bin vierzehn und habe ein Bikinitop und eine Shorts an, um ins Freibad zu gehen. Chris kommt mir auf dem Flur entgegen. Ich hätte ja richtig Titten gekriegt, sagt er und grinst. Ich gehe zurück in mein Zimmer und ziehe mir ein T-Shirt über.

ALLE FRAUEN: Es gibt niemanden, dem ich davon erzählen kann.

GWEN: Ich bin fünfzehn und gehe abends nach Hause. Ein Mann folgt mir. Ich gehe immer schneller. Ich traue mich nicht, mich umzudrehen. Ich nehme meinen Schlüssel zwischen die Finger und renne los. Gehe auf das Grundstück drei Häuser weiter, klettere über die Zäune, gehe durch die Hintertür ins Haus,

ALLE FRAUEN: Ich würge, weil mein Herz so sehr klopft.

GWEN: Es gibt niemanden, dem ich davon erzählen kann. (Spiellicht, weiter wie vorher)

FRITZ: Du hast dich richtig gemacht…

GWEN: Ich hasse dich, dachte ich, (ich kniff mir in den Unterarm, in die fleischige Stelle direkt neben dem Ellbogen) ich bin egal-wie-alt und alles, was ich mir wünsche, ist, dass ihr’s endlich kapiert, oder Fäuste aus Gold.

FRITZ: bist ’ne Frau geworden.

GWEN: Muss los.

FRITZ: Schade.

GWEN: Ich klaute Chris eine schwarze Jeans, ein paar schwarze Shirts und einen uralten schwarzen Kapuzenpullover, packte alles in einen Rucksack und machte mich auf die Suche nach Mo. Unterwegs kam ich bei Sinans Kiosk vorbei. Es gibt kaum einen friedlicheren Ort und Sinan mochte ich von Anfang an. Ich fragte ihn, ob ich mich hier umziehen und ein paar Sachen dalassen könnte, und er sagte ok und fragte nicht weiter nach.

Dann Fahrenheitviertel. Es gab keinen Plan. Wie gewinnt man das Herz eines bad boys?

Szene 11 CHARLES & GWEN

(Ich klemme mir meinen Oktopus unter den Arm. Der Oktopus ist fast halb so groß wie ich, grau mit orangenen Punkten.)

CHARLES: Das ist der Oktopus. Ich habe ihn aus einem Automaten an einer Raststätte. Man kann sich auf den Oktopus verlassen. Na dann mal los. (sage ich ermutigend zu ihm. Und zu mir. Vor allem zu mir.) Erkunden wir die Gegend. Vielleicht finden wir einen Kaugummiautomaten oder irgendetwas anderes Großartiges.

GWEN: Im Wald stehen die Bäume wie immer und neigen ihre Äste zur Begrüßung. Rippenbruch, hatte der Arzt gesagt.

CHARLES: Aber es gibt hier einfach nur die Realität. So eine riesengroße Scheiße (zum Oktopus.)

GWEN: Dieser Wald ist der Wald hinter meinem Elternhaus, mein Wald, ich kenne jeden Weg, jeden Baum, jeden Fleck auf dem im Frühjahr die Buschwindröschen blühen kenne ich.

CHARLES: werde zu dir, schreibe ich Gustav, rede jetzt mit meinem stofftier

GUSTAV: viel glück

GWEN: Vorbei am Galgenberg, ein Hügel, auf dem Hinrichtungen stattfanden, und am Bismarckturm, an dem die Nationalsozialisten Gedenkfeiern abhielten. Gewaltexzesse, die sich eingeschrieben haben, der Wald ist immer wieder die Kulisse, er kann sich nicht wehren, und davon erzählt er mir seit klein auf. Das Land, in dem ich lebe, ist ein verseuchtes Land, es gibt keine Unschuld, die Schuld, die ich zusammen mit den Privilegien bei meiner Geburt überreicht bekommen habe, ist nicht zu tilgen.

CHARLES: Wie kann das sein, wie kann das alles sein? Okto schweigt.

Szene 12 GWEN

GWEN: Im Vorgarten liegt eine zersplitterte Playstation. Wenn Chris etwas nicht darf kontert er mit Flugobjekten. Manchmal beneide ich ihn dafür. Keine Parallelleben. Keine falsche Zurückhaltung.

MUTTER: Gwendoline, das ist aber schon sehr spät, wo warst du denn? (Meine Mutter steht im Flur, sie schwankt ein bisschen, ein Sektglas in der Hand.)

GWEN: Unterwegs.

MUTTER: Oh, mein Gott, was ist mit deinem Auge passiert?

GWEN: Unfall.

(Meine Mutter verzieht den Mund.)

48 Stück Lisa Krusche und Moritz Nikolaus Koch Theater der Zeit 5 / 2023

MUTTER: So kannst du aber nicht in die Schule gehen. (Ich sage nichts.)

MUTTER: Ich lasse dich krankschreiben. (Ich lasse sie stehen. Oben klopfe ich an Chris’ Tür. Er antwortet nicht, ich gehe trotzdem rein.)

CHRIS: Hab nicht ja gesagt.

(Er sitzt vor seinem Computer und spielt ein Spiel. Neben ihm steht seine Bong. Auf dem Boden liegen ungefähr alle Klamotten, die er hat. Die Luft riecht schwer, nach Socken und Weed.)

GWEN: Was war los?

CHRIS: Nichts

GWEN: Taktisch klug mit der Playstation. (Es blitzt in seinen Augen.)

CHRIS: Ist doch scheißegal. Die kaufen mir eh eine Neue, also wen interessiert es.

(Er sagt nichts zu meinem Gesicht. Vielleicht bemerkt er es nicht, oder es ist ihm einfach egal.)

GWEN: Und was haben die Eltern gesagt?

(Ich schiebe mir den Daumen in den Mund, kaue ein Stück Haut ab, kratze mich am Kopf, obwohl es nicht juckt.)

CHRIS: Papa hat gesagt: „Geht’s noch?“ und Mama, dass ich es aufräumen soll. Aber morgen kommt eh Alicia.

(Er dreht sich wieder zu seinem Computer.)

GWEN: Ach so.

Plötzlich ist es mir ein Rätsel, wie ich hier überhaupt noch atmen soll. Ich tapse aus dem Zimmer in mein Badezimmer.

Szene 13

(Wir essen. Nico, Missy & ich.)

NICO: Woher kennt ihr euch eigentlich, Mama und Papa und du?

MISSY: Wir waren alle zusammen in einer Klasse auf der Kunsthochschule, bei Neumann. Aber Rufus war der Einzige, der am Ende etwas daraus gemacht hat. Ich hatte immer gedacht, eure Mama würde es am weitesten bringen von uns allen.

CHARLES: Mama?

MISSY: Klar, sie war die mit dem großen Talent.

CHARLES: Sie war wirklich gut?

MISSY: Richtig gut.

CHARLES: Aber?

MISSY: Na ja. Sie ist eine Frau. Erstens. Zweitens hat sie sich in Rufus verliebt. Dann ist sie auch noch schwanger geworden.

CHARLES: Oh.

Und kurz tut es mir irgendwie alles leid, bevor die Wut zurückkehrt, weil ich in Echt für nichts etwas kann und schon gar nicht hierfür.

Szene 14 GWEN

(Ich nehme mir die Nagelschere, binde mir einen Zopf und mache einen geraden Cut. Haare schneiden macht coole Geräusche, dieses dumpfe Ratschen. Der Zopf fällt auf den Boden. Ich schneide noch weiter ab. Ich seh aus wie ein zerrupftes Rabenküken, kurz davor, von einer Katze gefressen zu werden.)

GWEN: ich will mich easy fühlen wie ein jam skating video flawless und funky aber alles ist so heavy on my heart crushed ice tüten auf meinen augen crushed ice cypher in mir drin aber der arzt sagt das wird schon wieder vielleicht hau ich mir den letzten milchzahn

heute aus dem mund ich bin eine astronautin ohne raumschiff ich schwebe weit über dem mond der planet erde ist blau und ich kann nichts tun Den Zopf lasse ich liegen, noch mehr Schrott für Alicia, irgendwann kann sie ein Museum davon aufmachen, für die Nachwelt, als Abschreckung.

Szene 15 CHARLES

CHARLES: Es steht ein Pony im Garten. Es ist ganz weiß. Sogar die Wimpern. Eine gottverdammte Beautyqueen.

(Es steht seelenruhig da und kaut auf Gras. Es schaut mich an, ich schaue es an. In gewisser Weise mögen wir uns sofort. Nico und Papa kommen aus dem Haus. Nico hat eine Säge in der Hand. Papa trägt Holzbretter.)

CHARLES: Ein Pony.

NICO: Gerd.

CHARLES: Gerd?

NICO: Ja, Gerd. Den Namen hab ich ausgesucht. (Ich sehe, wie stolz er ist)

CHARLES: Cool.

NICO: Hat Mama einem Bauern abgekauft.

CHARLES: Einfach so?

PAPA: Komm, Nico, wir gucken mal nach dem richtigen Platz.

CHARLES: Hallo, Papa.

PAPA: Ach ja, hallo. (Er wirkt fahrig und nicht ganz da.)

Wir bauen dem Pony ein Haus.

(Er zieht Nico am T-Shirt und hinter sich her. Gerd, und ich sind allein. Das Pony guckt mich wieder an, ich gucke das Pony wieder an. Gerd schnaubt und macht zwei Schritte auf mich zu.)

CHARLES: Hallo, Gerd.

GERD: Hüühpfrrt. (oder so etwas Ähnliches.)

(Gerd frisst Gras. Seelenruhig tritt er von einem Huf auf den anderen. Ich rupfe ein paar Gräser raus und halte sie vorsichtig Richtung Ponymaul. Gerd hebt den Kopf und spitzt die Lippen, um die Halme abzuknabbern. Ich lache.)

CHARLES: Du bist ganz okay. Wie war dein Tag heute?

(Gerd guckt aus seinen riesigen Augen.)

Meiner war auch nicht so gut. Weißt du, Sartre? Vollkommen unspezifisch, oder? Die Hölle, das sind nicht einfach die anderen. Die Hölle, das sind die Eltern.

Szene 16 GWEN

GWEN: Nur im Bett rumliegen. Augenabschwell-Isolation. Mich fernhalten und stattdessen stundenlang durch Tinder wischen, auf der Suche nach Männern mit Geld.

Spiele Pottery HD auf dem Telefon, meine Vasen werden immer besser. Manchmal mache ich es mir, danach kann ich besser schlafen. Ich denke darüber nach, mir die Fingernägel zu schneiden, aber es kommt mir zu anstrengend vor.

Szene 17 CHARLES

CHARLES: Es ist nicht leicht, sich für eine Palme zu entscheiden. Ich stehe im Baumarkt vor den Pflanzen und komme nicht weiter. Wer ist denn einfach gut drauf von euch?

Sie antworten nicht. Ich muss an Gustav denken und es hittet mich deep down im Herzen.

Fuck.

Ich muss nach Swag entscheiden. Ich nehme die Bananenpalme.

49 Stück „unsere anarchistischen herzen“ Theater der Zeit 5 / 2023

Szene 18 GWEN

GWEN: Vor der Kulturfabrik Grüppchen rauchender Menschen. Auf der Veranda schaukelten die bunten Glühbirnen. Drinnen: Bassgewummer. Dubstepdeepness. Ich bestellte ein Bier, ich kriegte ein Bier. Lehnte an der Wand, trank, beobachte. Dann Mo, plötzlich, inmitten des Blitzlichtgewitters der Scheinwerfer, zwischen den anderen Schwitzenden, von der eigenen Euphorie euphorisiert. Er tanzte.

Und wie er tanzte.

So smooth, so schön.

Wie er tanzte, strahlte alles an ihm. Wie er tanzte, war er so Zucker.

(Er tanzte, wie er eben so tanzte. Die Bierflasche in einer Hand. Den Mund zum Flunsch verzogen. Immer, wenn ihm ein Beat besonders gefiel, zog er eine Schnute. Manchmal pfiff er auch, laut und durchdringend und dazu machte er diese Bewegung mit den Armen, nach oben und nach vorne. Er tanzte, ich tanzte. Vor ihm. An ihm. Mit ihm. Meine Nase an seinem Hals. Meine Hände unter seinem T-Shirt. Mein Lippenstift war rot, er küsste mich. Und, oh, mein Herz.)

MO: Ich geh mal rauchen. kommst du mit?

GWEN: Ein paar Straßen entfernt von der Kufa saßen wir auf einer Mauer und redeten und rauchten Joints, und die Staubkörner flogen in Slow Motion durch die Luft.

MO: Haun wir ab?

GWEN: Wir hauten ab. und was übrigblieb, waren unsere körper in der endlosen gegenwart.

Szene 19 CHARLES (Man muss geschickt sein, um eine Bananenpalme zu tragen und gleichzeitig ein Eis zu essen.)

CHARLES: Die Sonne hängt relativ unbarmherzig am Himmel. Ich gehe in einen Kiosk.

Puh.

SINAN: Hi.

CHARLES: Hi.

SINAN: Coole Pflanze.

CHARLES: Ja, aber ganz schön schwer.

SINAN: Ich hab dich noch nie gesehen.

CHARLES: Ich dich auch nicht.

SINAN: Ich bin Sinan.

CHARLES: Ich bin Charles. Neu hier.

SINAN: Herzlich willkommen, Charles.

CHARLES: Na, vielen Dank auch.

SINAN: Gefällt’s dir nicht?

CHARLES: Nein, Mann, dir?

SINAN: Und warum bist hier?

CHARLES: Weil meine Eltern eine Vollmeise haben.

SINAN: Vollmeise ist ein schönes Wort.

ALTE FRAU: Eine alte Frau mit Rollator geht draußen vorbei. Kurz bleibt sie stehen und schüttelt ihr lila Haar.

Szene 20 GWEN

GWEN: kann man in seinem kopf verlorengehen? mein kopf ist der wald, nur ganz anders ich finde mich nämlich nicht zurecht darin aber oft hört man ein rauschen wie wind in den blättern & ich hätte es mit brotkrumen versucht aber das ist mir leider erst eingefallen als ich schon verloren war

Ich kneife mich in den Oberschenkel. Ich gehe auf Tinder und entmatche ein paar Männer, die nett Smalltalk machen oder sich einfach auf einen Kaffee treffen wollen, und dann verabrede ich mich für abends mit Florian, der vorschlägt, sich am Citybeach zu treffen und was zu trinken. Ich hasse Citybeaches, und ich hasse den Namen Florian. Das wird gut.

Szene 21 CHARLES

CHARLES: Vor dem Haus grast Gerd. (Ich lege ihm sein Halfter um. Zur Belohnung gibt’s einen Apfel. Er kaut sabbernd vor sich hin.)

Wir spazieren los.

ELSA: Ein kleines Mädchen kommt auf Charles zugelaufen.

Hmm, ähm …?

CHARLES: Ja?

ELSA: Ist das dein Pony?

CHARLES: Ja.

ELSA: Ist das brav?

CHARLES: Ja.

ELSA: Darf ich das mal streicheln?

CHARLES: Klar.

ELSA: Mama sagt, bei euch geht es zu wie im Irrenhaus. Dass ihr alle Hippies seid und nichts im Kopf habt außer Drogen und der friedlichen Revolution. Aber eigentlich hast du ja auch dein Pony im Kopf, oder? Und was ist das eigentlich: die friedliche Revolution?

CHARLES: Das ist, wenn alle Kinder, die gerne ein Pony hätten, eins bekommen. Egal, ob die Eltern es erlauben oder nicht.

ELSA: Dann ist das ja eigentlich was Gutes, oder?

(Sie kneift die Augen zusammen.)

CHARLES: Ja, was sehr Gutes. Also! Wir müssen jetzt weiter.

ELSA: Ja, okay. Tschüs.

GORDON S: An der Bushaltestelle sitzt einer.

(Den Kopf müde an den Waschbeton gelehnt. Der Mann hat eine kurze blaue Satinhose an und Knieschoner an den Beinen. Über einem ausgeblichenen T-Shirt trägt er eine Weste, in deren vielen Taschen Schnapsflaschen stecken. Seine schwarzen Haare glänzen fettig. Ein rotes Bandana hält sie aus seiner Stirn. Ich setze mich neben ihn. Gerd schnaubt.)

CHARLES: Hi.

GORDON S: Ich bin Gordon. Schröder. Gordon Schröder.

CHARLES: Sein Mund sieht aus wie die Gemälde meines Vaters. Voller Leerstellen.

Ich bin Charles.

Ich schätze, er ist so alt wie meine Eltern. Diese ganze Generation scheint dermaßen am Arsch.

Die friedliche Revolution wird niemals kommen.

(Seine Augen blitzen, als flackere in seinem Hirn eine Erinnerung an etwas auf.)

GORDON S: So, genauso. (er streckt die Hand nach Gerds Nase aus.) Brutalität und Kämpfe.

(flüstert er, den Kopf jetzt an Gerds Kopf gelehnt. Er starrt dem Pony in die Augen, dann schließt er seine.)

Wir alle verlieren ständig…

CHARLES: Und mir ist, als würde eine Träne seine Wange hinabrinnen. (Gerd schaut Gordon an, schnaubt wieder, dann dreht er ab und senkt den Kopf, um zu fressen. Plötzlich taucht Nico auf. Unter dem Arm den Steinführer und in der Hand eine Plastiktüte mit Steinen drin.)

NICO: Hey, Charli! Wer ist’n das?

50 Stück Lisa Krusche und Moritz Nikolaus Koch Theater der Zeit 5 / 2023

CHARLES: Gordon Schröder.

NICO: Aha. (sagt er, dann guckt er eine Zeitlang in den Himmel.)

Trägst du meine Steine? Die sind voll schwer.

CHARLES: Tschüs, Gordon.

(Gordon hebt die Hand. Nico kramt in seiner Tasche und legt ihm einen Stein auf den Schoß. Gordon lächelt.)

CHARLES: Wir sehen uns.

Szene 22 GWEN

FLORIAN: Florian hat seine Freunde dabei. (Sie sagen halbherzig Hallo und mustern mich.)

GWEN: Der Citybeach ist voll, Menschen trinken Aperol Spritz und tippen auf ihren Smartphones und rauchen, und es ist das Beste, was ihnen einfällt. Ich kann nicht begreifen, wie man so leben kann, ohne zu bemerken, wie dünn das Eis ist, und wie man, wenn man es doch bemerkt hat, einfach weitermachen kann. Alles ist von Blau durchsetzt, es ist wie saurer Regen überall eingesickert.

Florian hat etwas Krampfiges an sich. (aber er gibt sich locker. Seine Freunde geben sich auch locker und vielleicht fühlen sie sich auch so, während sie sich Sprüche zuwerfen, über das letzte Wochenende und wer wie viel gesoffen und wer welches Mädchen abbekommen oder in den Vorgarten der eigenen Eltern gekotzt hat.)

Immerhin ist einer achtzehn, und also komme ich an Jägermeister. (Ich kippe ihn in einem runter, warte auf die nächste Runde, drehe mir Zigaretten.)

Ich höre nicht zu. Zwischendurch lächle ich Florian an, ein bisschen zurückhaltend, damit er denkt, er müsste hier noch was leisten, noch ein paar Jägermeister, noch ein paar Sprüche, und dann hat er es geschafft.

(Er greift er in meinen Nacken, zieht meinen Kopf zu sich)

GWEN : Er küsst, wie es zu erwarten war.

FLORIAN: Lukas’ Transporter steht um die Ecke.

(Ich nicke und sehe aus dem Augenwinkel das debile Grinsen seiner Freunde. Sie zahlen, und wir gehen, und Lukas schließt den Transporter auf)

GWEN: und Florian und ich klettern in den fensterlosen Laderaum und machen die Türen hinter uns zu.

(Dunkel. Draußen hört man seine Freunde feixen.)

GWEN: Ich fühle nicht mal eine Farbe. Florian liegt auf mir und flüstert mir mit Bieratem ins Ohr, FLORIAN: Ich mach jetzt was mit dir, das noch nie einer mit dir gemacht hat.

GWEN: und ich nicke und denke, woher willst du das wissen, vielleicht haben schon tausend Männer ihre Finger in mein Arschloch geschoben, und ich bin so gelangweilt von mir selbst, in Zukunft nur noch Männer, die Sex können. Ich taste mit einer Hand nach seiner Hose, stöhne, damit er abgelenkt ist, und fische alle Scheine raus und balle meine Faust drum. Als er fertig ist, ziehe ich mich an, öffne die Tür, springe raus, Ciao, und dann laufe ich los. Ich laufe so schnell ich kann. Irgendwann bin ich weit genug weg und habe außerdem brachiales Seitenstechen, es wird kurz ganz schummrig in mir drin. Fünfundachtzig Euro. Alles Geld, das ich so verdiene, spende ich an Organisationen, die sich für Gerechtigkeit einsetzen, oder wie mein Vater sie nennt: diese Terroristen, die für Enteignung sind.

Szene 23 CHARLES

CHARLES: Eine meiner ältesten Kindheitserinnerungen geht so: Papa sitzt auf dem Boden und liest mir Schopenhauer vor. Er sagt:

„Vorbereitung auf das Leben“.

Ich hab da nochmal reingeschaut, Schopenhauer. Ich hätte längst gewarnt sein können.

Papa hatte keinen guten Tag heute.

PAPA: Das wird uns alles bald um die Ohren fliegen. Wir werden als die armen, schwachen Schweine sterben, die wir sind. Als schwulenhassende, freiheitsbeschneidende, misogyne, Geflüchtete ertrinken lassende Schweine. Als wohlstandsverwahrloste, verfettete, dümmliche bis oben hin zugedröhnte Unmenschen ohne jedes Kunstverständnis.

CHARLES: Es gibt immer einen Punkt, an dem seine Besorgnis für die Welt in eine Besorgnis sich selbst gegenüber kippt.

PAPA: Die Leute haben einfach keine Ahnung davon, was gute Kunst ist, Charles.

CHARLES: Mein Fehler, dass ich mich direkt neben ihn gesetzt hatte. Mach einfach dein Ding, Paps. (Papa schnaubt.)

Klar. keep es real und dranbleiben.

PAPA: Das hier ist nicht Hip-Hop, und es sind nicht die Neunziger.

CHARLES: Chapeau!

sage ich, weil man es loben muss, wenn er überhaupt noch mal auf das eingeht, was man sagt.

Mama hat mir Osho vorgelesen, Beauvoir und Mühsam. „Gemeinsame Verantwortlichkeit aller für alles bedeutet aber genau dasselbe wie Selbstverantwortlichkeit eines Jeden für das Ganze, und das ist der eigentliche Sinn des Anarchismus.“

Gemerkt zu haben scheint sie sich nichts.

Szene 24 GWEN

GWEN: Ich schlendere durch die Nacht, in der Hand die Scheine. In mir drin britzelt es weiß. Ich denke an Florians Hautpartikel, die jetzt an mir kleben, ich will mich abtrennen von der welt oder vielleicht gerade auch nur eine dusche

GORDON S: Erschreckense nicht, junge Dame.

(sagt ein Mann, der wie aus dem Nichts aus einem Hauseingang kommt und mich sehr erschreckt. Er zieht einen Sessel hinter sich her.) Fundstück. (sagt er und deutet darauf.) Bring ich zur Steingrube, da, zum Schachfeld.

GWEN: Okay. Guter Sessel.

GORDON S: Ja (sagt er, klingt aber nicht überzeugt.)

GWEN: Zum Schachspielen?

GORDON S: (legt sich die freie Hand auf die Brust.) Gordon

GWEN: Gwen (ich lege mir auch eine Hand auf die Brust.)

Es hechelt, ein zottliger Hund folgt uns, das Fell karamellfarben.

GORDON: Rudolf (sagt Gordon und deutet auf den Hund.)

Bau da was. Steingrube. Schach kann ich nicht leiden. Bau da was, mit Sachen. Es geht um die Zusammensetzung. Muss jetzt da lang. (will gehen)

(ich schrecke selbst vor meiner plötzlichen Laustärke zurück:)

GWEN: Gordon!

GORDON: Ja, nun.

GWEN: Hier: (sage ich und gebe ihm das ganze Geld.) Für die Kunst.

GORDON S: Ist nicht alles Kunst, was glänzt.

Szene 25 CHARLES

CHARLES: Um mir die Zeit zu vertreiben lerne ich reiten.

YOUTUBE-REITLEHRERIN: schulter–hüfte–absatz müssen eine linie bilden

(Es klopft.)

51 Stück „unsere anarchistischen herzen“ Theater der Zeit 5 / 2023

Ja. (Nico kommt rein.)

NICO: Warum kommst du nicht runter?

CHARLES: Eltern. Gar kein Bock.

NICO: Aha.

Was machst du da?

CHARLES: Will reiten lernen.

NICO: Cool. Glaubst du, Mama und Papa denken an meinen Geburtstag dieses Jahr?

(Er versucht, es beiläufig klingen zu lassen. Aber ihm liegt etwas daran.)

CHARLES: Klar!

Das ist eine Lüge, wir wissen es beide.

NICO: Gehst du irgendwann mal mit mir Steine sammeln? Bitte?

CHARLES: Manchmal vergesse ich, dass er mich wirklich gern hat.

YOUTUBE-REITLEHRERIN: damit keine verdrehungen passieren, braucht der reiter isometrische spannung

CHARLES: Wenn ich irgendetwas habe, dann isometrische Spannung.

NICO: Ich kenne niemanden, der mehr hat.

Szene 26 GWEN

GWEN: das reale ist ein stein & ich auch in meinem herz macht es ein geräusch als würde ein fisch mit kopflampe im tiefsten punkt des ozeans sein trübes licht ausschalten

Szene 27 CHARLES

CHARLES: Ich schicke Mama eine Erinnerung an Nicos Geburtstag auf ihr Fon, sie wird sie niemals lesen. Etwas geht zu Bruch, niemand schert sich, und ich muss dringend mal ein bisschen Abgase einatmen. Aber keine Chance. Draußen nur frische Luft.

Szene 28 GWEN

GWEN: Emmanuel, ein Typ von Tinder, schreibt: süße, mal treffen?

Robert, auch ein Typ von Tinder, schreibt: oh ja!

Roberts Bilder zeigen ihn vor allem auf seinem Mountainbike, außerdem ein Bild mit einem Welpen, der sicherlich nicht ihm gehört, so einer ist der. lass uns doch morgen einen aperol bei dir trinken, schreibe ich.

Szene 29 CHARLES

CHARLES: Ich gucke aus dem Fenster. Ihr scheiß Bäume wozu seid ihr eigentlich gut? „Sauerstoff“, sagen die Bäume und da haben sie auch wieder recht.

Szene 30 GWEN

ROBERT: Robert lebt in einem Loft, ganz oben, Blick über die Dächer, arbeitet bei einem großen Konzern in der Kommunikation.

GWEN: Er redet dementsprechend viel. Vor allem über sich. (Er mixt uns Aperol.)

ROBERT: Du siehst noch sehr jung aus. (ich bedanke mich. Roberts Hand auf meinem Knie. Roberts Witze. Roberts Komplimente. Roberts Hand an meinem Oberschenkel. Robert stellt das Glas weg, ich trinke alles auf ex, kann ich noch einen Drink, Robert mixt mir noch einen, Robert redet über das schlechte Geschäftsjahr.)

GWEN: und ich denke, mir egal, und ich denke gleichzeitig, ich sollte mal wegkommen von diesen Schönlingen und Schnöseln, am Ende wird mir das als Vaterkomplex ausgelegt.

(Robert setzt sich wieder neben mich.)

Ich habe mal von einem Astronauten gelesen, der außerhalb seiner Kapsel war und fast nicht mehr zurückgekommen wäre, um ihn herum die Unendlichkeit, deren Teil er fast geworden wäre, ein menschlicher Stern, aber nur fast, und so ist er am Ende bloß auf diesen vermaledeiten blauen Planeten zurückgekommen.

Szene 31 CHARLES

(Ich schlurfe auf die Terrasse. Dort sitzt Missy, vor sich ein Xylophon. Sie tippt mit den Schlägeln bedächtig auf einzelne Klangstäbe. Dann hält sie inne und lauscht ihnen nach.)

CHARLES: Neues Hobby?

MISSY: Habe ich im Keller gefunden. Und das hier. Schau mal. Für dich.

CHARLES: ein Präparatglas. Darin drei Herzen. Auf einer kleinen goldenen Plakette steht: Octopus’s heart.

MISSY: Ich kann die Herzen für dich tragen, wenn du willst.

Szene 32 GWEN

GWEN: etwas in mir drin zerfällt wie brennendes papier in der luft

Szene 33 CHARLES

CHARLES: Wenn man drei Herzen hätte und ein Gehirn im ganzen Körper, was würde das ändern? Mehr Angriffsfläche.

Szene 34 GWEN

GWEN: Robert ist einer, der direkt danach duschen geht. Ich wische mir das Sperma vom Bauch. Kann ich auf deinen Bauch kommen, kann ich auf deine Brüste kommen, kann ich auf deinen Hintern kommen, das immer gleiche Spiel.

Ich hole mir sein Portemonnaie aus seiner Hose. Dreihundert, kein Kleingeld, vier 10-Prozent-Gutscheine für einen Drogeriemarkt, ein Einkaufswagenchip. Den Chip lasse ich ihm. (Ich atme dreimal tief durch.)

Robert kommt wieder ins Zimmer, nackt.

ROBERT: Kurz Mails checken.

GWEN: Klar. Ich werde mal eben ins Bad gehen.

Schaum, so viel Schaum, ich leere sein gesamtes Duschgel, lasse die Dusche laufen und ziehe mich an und verschwinde ohne mich zu verabschieden. Draußen beginne ich zu rennen, ich bin ein Meteorit, Menschen springen zur Seite, sie wissen, ich bin nicht aufzuhalten.

Szene 35 CHARLES

CHARLES: (zu Gerd) Tschuldigung, aber ich werde jetzt auf deinen Rücken klettern und mich von dir durch die Gegend tragen lassen. Wir zockeln durch die Landschaft. Mein Fon navigiert uns Richtung Kiosk. Über Felder und am Fluss entlang. Ich reite ohne Sattel. Ich habe auch nur einen Fahrradelm. Sollte mir eins dieser High-End-Pferdemädchen begegnen, sie hätte nichts als Verachtung für mich übrig. Aber ich reite. So ist das jetzt. Scheiß auf eure Elektroräder, ich reite ein Pony.

In der Stadt steige ich ab. Die Leute gucken irritiert. Im Park kurz vor Sinans Kiosk entdecke ich Gordon. (Er schimpft leise vor sich hin. Ich winke.)

CHARLES: Hallo (Er nickt, sagt aber nichts. Vor dem Kiosk binde ich Gerd vor dem Hundeverboten-Schild an.)

CHARLES: Hallo.

52 Stück Lisa Krusche und Moritz Nikolaus Koch Theater der Zeit 5 / 2023

SINAN: Interessantes, vormodernes Fortbewegungsmittel.

CHARLES: Das heißt guten Tag. Könnse nicht richtig grüßen, junger Mann? ’Nen Eistee und ’nen Bumbum bitte.

SINAN: Hier ist Selbstbedienung. (Ich stehe auf und hole mir die Sachen. Es bimmelt wieder. Gwen kommt rein.)

CHARLES: Ein Mädchen in meinem Alter kommt rein. Sie sieht mystisch aus. Sie könnte eins dieser High-End-Pferdemädchen sein. Labels dezent, aber all over her body. Nur ihre Haare. Zwar so seidig, als sei die Shampoowerbung doch keine Lüge, aber komplett weirder Schnitt. Richtig Punk. Etwas an ihr ist komplett verwackelt, wie unsauber abgepaust.

GWEN: Hey.

CHARLES: sagt sie. Ihre Stimme so leise. Sie ist fast nicht zu hören.

SINAN: Hi. Was macht die Geheimidentität?

GWEN: Draußen steht ein Pferd.

CHARLES: Meins.

SINAN: Das ist Charles, richtig?

CHARLES: So isses.

SINAN: Das ist das Melonenmädchen.

GWEN: Ich heiße Gwen.

CHARLES: Willst du auch einen Eistee, Gwen?

GWEN: Warum nicht.

CHARLES: Ihre Stimme immer noch nicht mehr als ein Flüstern. Muss man hier aber alles selbst holen. (ich hole ihr eine Dose aus dem Kühlschrank.)

CHARLES: Immer Sparkling. Ist ja klar. (Sie lächelt.)

Es ist ein Lächeln wie das von Papa. Eins, das nicht mal mehr bemüht ist, alles andere zu verbergen. Schon okay.

sage ich, wie ich auch manchmal schon okay zu Papa sage. (Dann schweigen wir alle und sippen hin und wieder von unseren Eistees. Manchmal schnaubt Gerd draußen. Gwen zieht die Augenbrauen zusammen und sitzt so da, mit dieser Falte zwischen der Stirn.)

GWEN: Ich muss los.

CHARLES: Bis bald mal.

GWEN: Tschüs.

SINAN: Pass auf dich auf. (Sinan wirft ihr ein Melonenkaugummi zu. Ich schaue ihr nach, wie sie die Straße heruntergeht. Die Schultern zusammengezogen. Die Schritte klein.)

CHARLES: Sie sieht aus wie eins dieser ganz blauen Bilder von Max Ernst. Daran erinnert sie mich.

SINAN: Hm?

CHARLES: Sie ist traurig.

SINAN: Ach so. Glaube ich auch.

CHARLES: Rest ist für dich.

SINAN: Da fehlen 3 Euro und vierzig Cent.

CHARLES: Schreib’s auf meinen Deckel. Bevor er sagen kann, Deckel im Kiosk gibt’s nicht, ziehe ich ab. (Draußen steht Gerd und wedelt gelangweilt Fliegen mit seinem Schweif weg.)

SINAN: Mach’s gut, Cowgirl.

CHARLES: Nieder mit dem Cowboymythos! Nenn mich höchstens motherfucking Pippi Langstrumpf.

SINAN: Aber motherfucking geht oder was?

CHARLES: Ihr Linken dürft nicht immer so sensibel sein. Kein Wunder sonst, wenn die Rechten ans Ruder kommen.

(Ich schwinge mich auf Gerds Rücken. Ein dicker Mann bleibt kopfschüttelnd stehen)

DICKER MANN: So was aber auch.

CHARLES: Ja, ja, Sie meine ich. Gerd und ich reiten los.

SINAN: Du hast sie nicht mehr alle. (An seiner Stimme kann ich hören, dass er dabei lacht.)

CHARLES: Und du hast zu teure Preise! 5 Euro vierzig, ich glaube, es hackt.

Szene 36 GWEN

GWEN: Wenn man sich innerlich vollkommen durchgeschüttelt fühlt, dann hilft es, mit einem Scooter über Kopfsteinpflaster zu fahren, dem homöopathischen Prinzip folgend. Der Wind ist so warm, die Ferne wird von der Hitze mit Trugbildern bespielt. Aus dem Flirren kristallisiert sich ein Mädchen heraus, ein Mädchen auf einem Pferd, wabernd und flackernd, und ich denke, jetzt werde ich hier gleich gerettet.

– PAUSE –

II. Teil

Szene 37 GWEN

(Im Badezimmer liegt die Farbe. Ich ziehe mir die Plastikhandschuhe an und verteile die blaue Paste in meinen Haaren.)

GWEN: Draußen der Regen, der erste seit Wochen. Ich scrolle mich durch die Nachrichten, seit Stunden schon, immer wieder neu laden, ist jetzt das Ende der Welt, ist es jetzt, jetzt, jetzt. Es ist ein Kick und bestürzend, es ist die Realität, zu der ich mich nicht in Bezug setzen kann. Es ist die Zukunft, die es nicht gibt.

Ich denke an das Mädchen im Kiosk. Ihr Pony vor dem Laden, ihre laute Art, wie sie einfach dort war, mittendrin. Ich mag sie nicht. Ihre Anwesenheit verunmöglicht mir den Ort. (Ich kneife mich.)

Szene 38 CHARLES

CHARLES: In der Schule fangen sie jetzt an, uns einzubläuen, dass es um alles ginge. Dieses Alles sei möglich mit entsprechender Anstrengung. Mit alles meinen sie den Versuch, seinen eigenen Arsch zu retten. Dabei ist draußen die Gesellschaft genau wie meine Familie: kurz vorm Abschmieren. Wenn ich meine Eltern sehe, sehe ich, was es heißt, wenn man mal an dieses Alles geglaubt hat und dann kapiert: nix is. Meine Eltern haben an so Dinge geglaubt: Emanzipation, Antikapitalismus, Anarchie, aber auch Rente. Und an die Kunst. Jetzt sind sie am Aufgeben und Durchdrehen gleichzeitig. Alles ist schon lange nicht mehr möglich und war es noch nie für alle. Mit großem Optimismus lässt sich hoffen, dass vielleicht noch ein bisschen Zukunft für uns übrig bleibt.

Szene 39 GWEN

GWEN: Meine Mutter schreibt: komm bitte in die küche, wir müssen etwas wichtiges besprechen

(Die Farbe hat blaue Flecken auf den Handtüchern hinterlassen, ich trete extra fest auf die vierte und siebte Stufe, damit alle hören, dass ich komme.)

MUTTER: Was? (Sie bricht ab.)

Wir haben wirklich genug Probleme, da musst du nicht auch noch anfangen. (Sie starrt auf das Himmelblau auf meinem Kopf. Fassungslosigkeit.)

GWEN: Guck mal, wie schön das aussieht. Eisblau.

53 Stück „unsere anarchistischen herzen“ Theater der Zeit 5 / 2023

MUTTER: Ich mache dir einen Termin beim Friseur.

VATER: Man muss das Kind ja jetzt nicht noch dafür belohnen, dass es die Handtücher ruiniert hat.

(Er sitzt am Küchentisch und schaut mich an.)

GWEN: Er sagt nicht Hallo, gar nichts zu mir, schüttelt nur den Kopf. Kopfschütteln ist die Geste meiner Kindheit, es ist das, was meine Eltern zu geben bereit sind.

MUTTER: Was ist denn nur los mit dir?

GWEN: Was für Probleme?

MUTTER: Jemand hat den teuren Gin geklaut.

VATER: Wahrscheinlich war es die Putzfrau.

GWEN: Wie dumm wäre das denn?

Das Rot tanzt in Wirbeln um meinen Vater herum. Die klaut doch nicht bei ihren Kunden.

VATER: Und wer sollte es sonst gewesen sein?

GWEN: Chris, denke ich, ist doch klar.

MUTTER: Unfassbar

VATER: Wie viel Geld wir der schon in den Rachen geschmissen haben.

GWEN: Sie hat ja auch für euch gearbeitet.

MUTTER: Na ja

VATER: In Zukunft können wir die nicht mehr unterstützen, die ist so link. Die hat schon damals, als sie nach Deutschland gekommen ist, immer geklaut.

GWEN: Ich verlasse mich selbst. (Ohnmacht.)

MUTTER: Oder hat Gwendoline den Gin genommen, sie ist so seltsam in letzter Zeit.

(Meine Mutter und mein Vater starren mich an.)

VATER: Kind, sag mal, bist du besoffen, oder was ist los mit dir?

GWEN: Geht schon. Ich bin nicht besoffen.

MUTTER: Ich werde auf jeden Fall die anderen anrufen und ihnen davon erzählen. Die kann man ja dann in Zukunft wirklich nicht mehr buchen.

GWEN: Uff (sage ich und gehe.)

VATER: Sorg dafür, dass die Handtücher wieder in Ordnung kommen, Gwendoline.

(Er schmeißt sie mir hinterher. Sie streifen meinen Rücken und fallen zu Boden. Rotes Flirren überall. Ich drehe mich um, packe die Handtücher, laufe die Treppen hoch, zu Chris rein. Er hängt vor seinem PC.)

CHRIS: Ey, klopfen.

GWEN: Hast du den Gin geklaut?

CHRIS: Wen interessiert es?

GWEN: Sie denken jetzt, es war Alicia.

CHRIS: Wen interessiert das? Ist doch scheißegal.

GWEN: Nein Mann. Die machen sie jetzt schlecht bei allen anderen. Die kriegt dann nirgends mehr Arbeit.

CHRIS: Was interessiert mich diese Putze?

GWEN: Was bist du denn für ein Arschloch? Du bist schon wie Papa.

CHRIS: Was willst du denn jetzt von mir?

GWEN: Ich will ihm auf seine häßlichen Lippen schlagen, die mochte ich noch nie.

Du bist so dermaßen scheiße.

ich will mir jede hautschicht einzeln abziehen

Ich stelle mich unter die Dusche und schrubbe mich so lange, bis es sich anfühlt, als würde meine Haut pulsieren. Ich lege die Hand auf meine Klitoris und mache es mir, bis ich komme, aber es ist ein angestrengter Orgasmus, und er löst auch nichts.

Szene 40 GWEN & CHARLES

GWEN: Die Luft flirrt auf der Straße, alles schmilzt, weicht auf, entgleitet sich selbst. Im Kiosk ist es verhältnismäßig kühl. Sinan ist nicht da.

CHARLES: Hi!

(Im Türrahmen steht das Mädchen, alles neigt sich sofort zu ihr, der Raum, jede einzelne Flasche, selbst die Schaummäuse schauen anders aus ihrer Plastikbox.)

GWEN: Ich will gehen, aber…

CHARLES: Kommst du auch mit?

GWEN: Wohin?

CHARLES: Sinan zeigt uns seine liebsten Spots in Hildesheim.

GWEN: Ich weiß davon nichts

CHARLES: Na klar, warum solltest du nicht mitkommen?

GWEN: Ja.

CHARLES: Cool. (Und Charles lacht.)

GWEN: Es stimmt nicht, denke ich, dass ich sie nicht mag. Ich habe da etwas verwechselt.

SINAN: Hey.

GWEN: Hey.

CHARLES: Also los, oder?

GWEN: Im Auto ist es so heiß, sofort beginnt man zu schwitzen, ein irgendwie verzweifelter Akt des Körpers.

(Hektisch kurbeln wir die Fenster nach unten.)

Eines Tages, denke ich, wird sich der gesamte Planet anfühlen wie dieses Auto. Kurz kommt mir der Gedanke an Kinder, und ob ich besser meine Eizellen in meinem Körper vertrocknen lasse, als später ihre Körper auf der Erde auszudörren.

(Charles sitzt hinten, hat sich zurückgelehnt, die Augen geschlossen. Sinan pfeift zu der Musik, die aus dem Radio kommt. Er deutet auf Straßenecken)

SINAN: Dort habe ich meinen ersten Kuss erlebt.

Dort ist mir mal eine Einkaufstüte gerissen, Zitronen, die über den Bürgersteig rollten.

Hier gab es Streitigkeiten mit Freunden.

Diesen Platz hat man extra umgestaltet, um die Methadonabhängigen und Alkoholiker:innen zu verdrängen.

Hier habe mich das erste Mal im Suff in einen Vorgarten übergeben, und schau, dort habe ich mal gewohnt und dort auch, und hier bin ich aufgewachsen, hier wurde ich beschimpft und dort ein letztes Mal umarmt, und dort ist ein tag von mir, dass die Jahre überdauert hat, heute sprühe ich nicht mehr.

CHARLES: Wohin fahren wir denn jetzt?

SINAN: Nach Heersum. An die Innerste.

CHARLES: Draußen die Universität, Reformhaus, Tankstelle. Eine Bushaltestelle neben einer Gaststätte. Studierende, die aussehen wie Kopien meiner Eltern. Fahr mal langsamer.

(Ich lehne mich aus dem Fenster. Meine Haare raven begeistert umher.)

Nur ein Prozent der Studierenden an Kunsthochschulen bringt es zu etwas. (rufe ich ihnen zu.)

(Sie gucken mir irritiert hinterher und halten sich an den Zigaretten fest.) Ist nur die Wahrheit. Zur Abhärtung.

SINAN: Die machen hier gar nicht Kunst. Die machen Literatur und Theater.

CHARLES: Oh, mein Gott, dann haben sie wirklich verschissen.

54 Stück Lisa Krusche und Moritz Nikolaus Koch Theater der Zeit 5 / 2023

Fußballfelder. Dann Dörfer, Felder, Wälder, Seen. Alles blüht. Die Gräser und Blumen stehen hoch. Dann auf einem Deich am Fluss: (Wir essen von der Melone, die Sinan mitgebracht hat. Der Saft rinnt uns über das Kinn und die Hände und den Hals.)

CHARLES: Sinan spuckt die Kerne aus. Gwen und ich schlucken sie runter. Ich denke darüber nach, wie es wäre, würden in mir drin Melonenpflanzen ranken. Irgendwann würden sie mir aus den Ohren und den Nasenlöchern herauswachsen. Es wäre cool, mein eigener Melonenlieferant zu sein.

GWEN: Sinan spuckt die Kerne aus. Charles und ich schlucken sie runter. Ich denke darüber nach, wie es wäre, würden in meinem Inneren Wassermelonen wachsen.

ich tauge nicht mal als humus in mir drin gehen alle pflanzen ein vielleicht ist auch zu wenig licht

Wo wohnst du denn?

CHARLES: Heinde. (Sagt Charles und verzieht das Gesicht.)

SINAN: Gibt Schlimmeres.

CHARLES: Was denn bitte?

GWEN: Alfeld. (Sinan und ich lachen.)

CHARLES: Wollen wir auch irgendwann mal in diesen Fluss gehen?

GWEN: Ich weiß nicht.

Sinan hat seine Badehose schon an. Charles zieht sich das T-Shirt über den Kopf. Sie hat einen Badeanzug drunter. Charles und Sinan gehen den Hang runter. Ich stehe immer noch da.

Ich denke an meine Mutter, die an allen anderen Frauen etwas auszusetzen hat, zu dick, zu dünn, zu bleich, zu aufgequollen, zu pickelig, zu asozial gebräunt, verwachsen, verwahrlost, Klamotten unpassend, Schminke zu dick oder zu wenig, obwohl es nötig ist.

Charles sieht wunderschön aus, denke ich, und: Ich will anderen Körpern nie wie meine Mutter begegnen.

(Es platscht. Charles kommt den Hang wieder hoch. Ich stehe immer noch da.)

CHARLES: Was ist, kommst du auch?

GWEN: Ich habe keine Badesachen dabei.

CHARLES: Unterwäsche?

GWEN: Schon.

CHARLES: Aber?

(Ich schaue an mir runter, über die Schulter auf die Felder.) Du musst ja auch nicht ins Wasser. Alles ist okay.

GWEN: Ich schaue sie an. Sie schaut mich an. Ich fühle mich wie eine Flasche stilles Wasser, die jemand plötzlich mit Kohlensäure versetzt. Als ich beginne, das Kleid auszuziehen, dreht Charles sich zur Seite. Als ich fertig bin, dreht sie sich wieder um. Der softe Wind an und ihre Augen auf meinem Körper. Ich kneife mich.

CHARLES: Oh, Gwen.

(Sie schlingt ihre Arme um mich, sie ist ein ganzes Stück kleiner als ich, aber es fühlt sich so an, als würde sie mich ganz einschließen.)

GWEN: Sie riecht nach Vanille und Zimt und Schweiß.

CHARLES: Nicht, nicht!

GWEN: Manches sind auch Kampfspuren. (Sie legt ihre Hände auf meine Wangen.)

CHARLES: Alle, oder?

GWEN: Ach, fuck.

SINAN: Kommt ihr mal?

CHARLES: Das Wasser reicht uns nur bis zu den Knöcheln. Erklärt ihr mir jetzt eigentlich die Sache mit der Geheimidentität?

(Sinan schaut mich an. Ich hebe die Augenbrauen.)

GWEN: Ist ’ne lange Geschichte. Ich habe mich ’ne Zeitlang bei Sinan umgezogen, zur Tarnung. Um mich bei ein paar Jungs einzuschleichen.

CHARLES: Was waren das für Jungs?

GWEN: Wütende Jungs. Süße Jungs.

CHARLES: Klassiker.

GWEN: Bescheuert, oder?

CHARLES: Nö. Und wenn schon. Im Kreise des Vertrauens darf man alles sagen

(Sie malt mit dem Finger einen Kreis, um mich und sich.)

GWEN: Okay.

CHARLES: Okay.

GWEN: vielleicht ist es so dass manche abmachen die mit wenigen worten beschlossen werden an den ufern eines rinnsals während jemand sein motorrad mit heulendem motor die landstraße entlangjagt solche sind die zu tektonischen verschiebungen im eigenen herzen führen

CHARLES: Wir sitzen auf einer Bank am Rottsberg, Blick über die Stadt. Hinter uns geht die Sonne unter. Vor uns färbt sich der Himmel langsam dunkelblau.

SINAN: Die Bank ist mein Lieblingsplatz.

CHARLES: Von der ganzen Idylle hier muss mein Herz kotzen.

GWEN: Das ist, weil es so ein verrottetes Großstadtherz ist.

CHARLES: Sie ist schön wie ein Abgrund. Es schwindelt einem davon und man will nicht aufhören, dort entlangzubalancieren.

(Manchmal berühren sich die Fingerspitzen von Charles und mir, wenn wir uns gleichzeitig mit den Händen auf der Bank abstützen. Wir lassen sie einfach so liegen, bis eine von uns die Hand zaghaft zurückzieht.)

GWEN: Charles berühren ist, wie die Finger an einen Elektrozaun halten. Weil sie so voller Energie ist. Man zuckt zurück, dann macht man es noch mal, für den Kick.

CHARLES: Es stimmt. Es ist wirklich schön hier.

GWEN: Ja.

SINAN: Ich wusste es.

CHARLES: Was?

SINAN: Dass ihr beiden euch lieben würdet.

CHARLES: Ich denke an die Präsenz der Riesin. Wie sie am Waldrand steht und über uns wacht.

Szene

41 CHARLES & GWEN

GWEN: Am nächsten Morgen bei Charles zu Hause:

MAMA: Rufus! Wenn du dich nicht zusammenreißt jetzt, gehe ich. Ich gehe wieder nach Berlin. Gottverdammt, Rufus!

GWEN: Uhm, Charles…

CHARLES: Papa steht auf der Terrasse. In der Hand hat er eine Flasche Spiritus. Er wühlt in einem Haufen Sachen rum.

Was ist hier los?

PAPA: Hier! (Papa hält ein Feuerzeug in die Luft.)

MAMA: Rufus! Rufus, verdammt.

CHARLES: Papa!

MAMA: Rufus!

(Es ist schon zu spät. Papa hat den Haufen entzündet. Es ist ein großer Haufen.)

CHARLES: Seine Malereien. Seine Skulpturen. Sein gesammelter Müll.

GWEN: Uff.

MAMA: Er hat den Verstand verloren.

CHARLES: Mama, hol Papa da weg. Gwen, ruf die Feuerwehr, ich muss nach dem Pony gucken.

55 Stück „unsere anarchistischen herzen“ Theater der Zeit 5 / 2023

PAPA: Alles wird in Flammen stehen, alles, Charles, alles. (Dann fängt er an zu heulen.)

CHARLES: Feuer! Feuer! Irgendwer muss mal einen gottverdammten Schlauch organisieren.

(Ich ziehe Papa an seiner Hand hinter mir her. Weg vom Feuer. Er schluchzt unkontrolliert. Ich drücke ihn aufs Sofa. Draußen lodert das Feuer. Er muss verdammt viel Spiritus drüber gegossen haben. Ich hole Paper, Grinder und Weed.)

CHARLES: Setz dich hin. Und bleib sitzen. (Zu Gwen) Kannst du? (Gwen nickt. Ich gebe ihr die Sachen.)

Aber nicht so sparsam mit dem Weed, alles klar?! Ordentlich Gönnung. Wenn du fertig bist, anzünden und Papa in den Mund stecken. Den Rest kriegt er allein hin. Ich kümmer mich um das Feuer.

(Ich gehe wieder raus. Nico taucht neben mir auf, eine Tüte Steine in der Hand.)

NICO: Charli, was ist hier los? Sind das Papas Sachen?

CHARLES: Ja.

NICO: War er das selber?

CHARLES: Ja. Das wird schon wieder. Eine Träne kullert seine Wange runter.

(Nico schüttelt den Kopf. Ich lege meinen Arm um seine Schulter und ziehe ihn zu mir ran. Gwen stellt sich neben mich. Ich lege meinen Kopf auf ihrer Schulter ab.)

Wir stehen wir da und schauen uns an, wie alles, was Papa war, verbrennt, und das Flackern des Feuerns spiegelt sich bestimmt auf coole Art und Weise in unseren Augen, aber niemand sieht zu.

(Nico beginnt in gebrochenem Englisch The Times They Are A-Changin’ von Bob Dylan zu singen. Er lässt den Sack mit Steinen fallen und singt mit voller Kraft. Ich steige mit ein. Gwen steigt auch mit ein. Und schließlich Gerd. Wir singen, so laut wir können.)

Charles: Wenn gleich die Feuerwehr kommt, werden sie später allen erzählen können, wie die Kinder der Hippies am Feuer standen und sangen. Die Wangen ganz rot vor Hitze und Wut.

Szene 42 CHARLES

CHARLES: Kurz vor der Eisdiele treffe ich auf Gordon. Er steht vor einem alten, geschlossenen Kiosk.

(Er steht auf einem Bein. Das andere hat er im Fenstersims ablegt. Mit einem Kamm kämmt er sich die fettigen Haare zurück und beobachtet sich dabei in der Fensterscheibe. Der Hund sitzt neben ihm und guckt ihm zu.)

CHARLES: Hallo.

GORDON: Das volle Haar ist der Porsche des kleinen Mannes.

CHARLES: Ja.

GORDON: (deutet auf den Hund.) das ist Rudolf. Kannst du vielleicht eine Weile auf ihn aufpassen?

CHARLES: Warum?

GORDON: Ich muss in einen Zylinder springen, um auf die andere Seite zu gelangen, die, wo die verlorenen Sachen hinkommen.

CHARLES: Ach so. Was musst du auf der anderen Seite?

GORDON: Ein Mädchen und einen Jungen suchen.

CHARLES: Gut, dann nehme ich in der Zeit Rudolf.

GORDON: Formidabel. Hasta la und mach es gut.

CHARLES: Er lächelt, wo früher mal Lücken waren, blinkt jetzt Gold.

GWEN: Umverteilung!

(Er geht los, mit übernatürlich großen Schritten, der Hund und ich schauen ihm hinterher. Rudolf stellt eins seiner Ohren auf und schaut mich an.)

Szene 43 GWEN & CHARLES

GWEN: Mango, Himbeere, Banane, Schokolade. Charles hat vier Kugeln. Mit Sahne. Wir sitzen vor der Andreaskirche. (Der Hund liegt zu unseren Füßen und hechelt. Ich zünde mir eine Zigarette an.)

Meine Mutter findet, dass ich zu fett werde.

CHARLES: Deine Mutter kann sich ficken. (Wir lachen.)

GWEN: wenn ihr heute zwei Menschen auf einem scooter gesehen habt wie sie durch die feldmark fahren eine einen hund über die schultern gelegt karamell gold fell platinum attitüde jede einen earpod in den ohren laut gesungen i ’m gonna take, i ’m gonna take my place das waren wir

Szene 44 GWEN & CHARLES

(Wir liegen auf meinem Balkon. Es kann so still sein. Ich rauche, Charles schaut mir zu.)

CHARLES: Ich erzähle dir was. Von der Riesin.

GWEN: Von welcher Riesin?

CHARLES: Von der Riesin, die den Wald beschützt hat.

GWEN: Aha.

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Erbstücke

Stück Lisa Krusche und Moritz Nikolaus Koch
11.– 27.05.2023
Film Gespräch Festival Performance
Hideto Maezaw
Tanz
Foto:

CHARLES: Die Riesin war groß. Größer als der größte Baum. Sie konnte nicht durch den Wald laufen deswegen, aber ihn gut überblicken. Sie saß meistens daneben, aus der Ferne sah sie aus wie ein Berg. Sie beschützte den Wald. Sie war nicht grausam, aber unerbittlich. Sie führte die Chronik des Waldes. Und wenn Bäume starben, dann nahm sie Abschied von ihnen.

GWEN: Dann hätte sie heute viel zu tun.

CHARLES: Ja, wahrscheinlich.

GWEN: Wie nimmt man Abschied von Bäumen, die sterben?

CHARLES: Ich weiß es nicht genau. Vielleicht sagt man ihnen Adieu. Dass es in Ordnung ist, dass sie wieder zu Humus werden, aus dem neue Bäume wachsen.

GWEN: Das hätte früher funktioniert. Aber heute nicht mehr. Ich habe Angst, dass irgendwann keine Bäume mehr wachsen. Das könnte ich ihnen doch nicht vorenthalten.

(Wir schweigen)

Was ist aus der Riesin geworden?

CHARLES: Eines Tages kommt sie zurück.

GWEN: Sie darf sich nur nicht mehr so viel Zeit lassen.

Szene 45 CHARLES & GWEN

CHARLES: Ich beobachte Papa durch ein Loch in der Tür. Er liegt da. Im Staub des Scheunenbodens und starrt an die Decke.

GWEN: Ich stehe auf dem Balkon und schaue meine Mutter an. Sie steht am Tisch im Garten. Wie sie das Besteck zurechtrückt. Millimeterarbeit. Solche Feinheiten sind ihr wichtig.

CHARLES: Er weint, ihm läuft der Rotz aus der Nase. Er wischt ihn weg und hinterlässt eine Dreckspur in seinem Gesicht.

GWEN: Manchmal suche ich nach Ähnlichkeiten. Nach irgendetwas, das uns verbindet.

CHARLES: Ich will das Universum fragen, ob es noch alle Latten am Zaun hat. Aber es ist eine rhetorische Frage. Ich kenne die gottverdammte Antwort ja schon längst.

GWEN: Ich schreibe Charles, hört das auf eines Tages, dass sich das Verhältnis zu den Eltern anfühlt wie eine Schürfwunde, die juckt, aber nicht heilt?

CHARLES: ich bin eher ein pflaster auf den schürfwunden meiner eltern, und die wunde suppt

CHARLES: wir müssen unsere eigene familie gründen

GWEN: du meinst mit kindern und mann und all dem

CHARLES: nein auf keinsten ich meine mit uns

GWEN: ok

Szene 46 CHARLES & GWEN

(Ich stehe in Nicos Zimmer und singe so laut und vielstimmig ich kann.)

CHARLES: Wie schön, dass du geboren bist und so weiter. Ich bin froh, dass Rudolf da ist. Es wirkt weniger trist. (Er springt auf Nicos Bett und schleckt über sein Gesicht. Nico hebt den Kopf und lächelt verstrahlt.)

CHARLES: Alles Gute, Kleiner.

NICO: Danke.

CHARLES: Wünsch dir was. Hier!

(Er pustet die Kerze aus. Ich reiche ihm ein kleines Paket.)

NICO: Ein Turmalin? Cool!

Ich habe mir gewünscht, dass wir zusammen Steine suchen gehen.

CHARLES: Man darf das doch nicht verraten.

NICO: Es ist mein Geburtstag.

(Er guckt mich sehr ernst an. Dann legt er sich den Stein auf die Handfläche.)

Der ist wirklich schön, Charli.

CHARLES: Gustav schreibt: sag ihm hoch soll er leben

Ich schreibe Sinan: wo gibt es hier die schönsten steine?

SINAN: bodensteiner klippen wieso?

CHARLES: mein bruder hat geburtstag

SINAN: kann euch abholen und wir fahren zusammen

CHARLES: ja

Ich schreibe Gustav: er sagt danke

Ich schreibe Gwen: wir gehen wandern mach dich bereit (Wir laufen durch den Wald. Charles, Gwen, Nico, Sinan & Rudolf. Weil wir circa jeden Stein umdrehen, kommen wir nur langsam voran. Gwen raucht einen Joint.)

CHARLES: Steinesuchen.

Liebe den Pulli. Ich will auch so einen. May the bridges I burn light my way. Na klar. Wir fackeln alles ab. Die ganze große Scheiße. Unser Weg wird so was von erleuchtet sein.

GWEN: Damit hat man in deiner Familie ja Erfahrung.

CHARLES: Ja klar, jetzt muss ich mich hier von einem bekifften Bonzenkind beleidigen lassen.

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Szene 47 CHARLES & GWEN

CHARLES: An dem großen Tisch von Gwens Eltern sitzt die Bürgermeisterin, mit Haaren, von denen ich einfach nicht sagen kann, ob Perücke oder nicht. Außerdem ein Schönheits-Chirurg, aka Fritz aka der Grabbler, samt Sohn, Hendrik.

GWEN: Nimm dich vor dem in acht der grabbelt gerne,

CHARLES: hat Gwen gesagt. Seitdem warte ich darauf, dass er mir zu nahekommt, um ihm richtig eine langen zu können. Aber wir haben Fäuste aus Gold.

FRITZ: Ich bin konservativ. Daran ist ja nichts Schlechtes. Konservativ, das kommt von Latein conservare. Das bedeutet bewahren. Ich will einfach nur Werte bewahren.

(Einstimmiges Nicken in der Runde. Gwen schaut auf ihren Teller.)

CHARLES: Die faschistischen Werte deiner Großeltern oder welche?

(Alle Köpfe drehen sich zu mir.)

FRITZ: Nun mal langsam. Ich meine: mein Handschlag, der ist noch was wert. Auf mein Wort kann man sich verlassen. Meine Furche, die ist tief und gerade.

(Er lehnt sich entspannt zurück und verschränkt die Arme vor der Brust.)

CHARLES: Ach so. Das bedeutet es, konservativ zu sein? Furche tief?

(Alle schenken ihrem Essen übertriebene Aufmerksamkeit.)

VATER: Gwen, nun schling mal nicht so.

MUTTER: Ist ja nicht so, dass du es nötig hättest.

(Ich schaue von einem zu anderen. Zum Sohn des Schönheits-Chirurgen, der Gwen mustert. Zu Gwen, die einfach nichts sagt.)

CHARLES: Was geht Sie denn Gwens Figur an?

MUTTER: Ich bin ihre Mutter.

CHARLES: Umso schlimmer.

(Gwen sitzt ganz gerade da, den Blick auf weite Ferne gestellt.) Sie sollten genau deswegen die Klappe halten. Das ist das Mindeste, (zum Vater) und eigentlich sollten Sie Gwen in Schutz nehmen, wenn jemand anders so einen Bullshit von sich gibt. (Gwens Vater, der betont ungerührt seine Bratwurst schneidet.)

Ich meine Sie!

(sage ich, strecke meinen Arm und haue mit meiner Gabel auf seinen Tellerrand.)

MUTTER: Also das ist ja das allerletzte. Ich lasse mir doch nicht in meinem eigenen Haus den Mund verbieten.

VATER: Du bist hier zu Gast.

CHARLES: Ist mir scheißegal. Wissen Sie, wer hier nicht zu Gast ist? Gwen.

FRITZ: Also du bist sicherlich nicht konservativ, was?

(Er lacht auf ekelhaft beschwichtigende Art und Weise.)

MUTTER: Haben deine Eltern dir keinen Anstand beigebracht?

(Gwens Mutter ist kurz davor auszuflippen, jedenfalls glitscht ihre Stimme schon ins Quietschende ab. Neben mir kichert Gwen leise und verhalten. Es überträgt sich auf mich, ich fange auch an, unsere Körper synchronisieren sich und müssen immer mehr lachen. Die anderen, als wäre nichts gewesen, switchen in ein Gespräch über die Präsentation eines neuen Automodells auf Sylt.)

CHARLES: Weißt du, (sage ich sehr laut zu Gwen,) ich glaube, wenn man die Menstruationstasse im richtigen Winkel ausrichtet, kann man damit ziemlich zielgenau pissen. Zum Beispiel seinen eigenen Namen in den Schnee. Oder fick das Patriarchat.

(Das Gespräch stockt. Der Sohn des Schönheitschirurgen guckt maulaffenfeil. Die Glupschaugen seines Vaters ploppen ihm fast aus dem Kopf. Gwens Mutter wedelt mit spitzen Lippen eine Fliege weg, die es nicht gibt.)

VATER: Geht’s noch. (Er rollt mit den Augen.)

CHARLES: Ja. (sage ich und rolle auch die Augen.)

FRITZ: Ach ja, die wilden Zeiten. Das ändert sich nicht. Kaum haben die Jungs ein bisschen Bier gekippt, geht’s rund.

CHARLES: (Ich beuge mich zu Gwen.) Er macht einen Jungen aus mir. Damit sein Kopf nicht wegplatzt.

GWEN: Ich wünschte, denen allen würde die Köpfe wegplatzen.

(Dann laut:) Können wir aufstehen?

(Ihre Mutter mustert Gwen auf eine Art und Weise, dass einem alles vergeht.)

MUTTER: Ihr könnt aufstehen.

Szene 48 GWEN & CHARLES

SINAN: kommt ihr jetzt auf meine party oder was

GWEN: schreibt Sinan

CHARLES: kommen wir jetzt auf seine Party?

GWEN: schreibt Charles.

& oben auf dem berg wartet mein mädchen auf mich & ich bin glücklich (Charles sitzt auf einer Parkbank, das Pony grast auf dem Streifen neben dem Feld. Musik. Wir stehen an. Am Eingang macht Sinan den Einlasser. Mo taucht neben uns auf. Vince hält mir die Faust hin. Die beiden stellen sich Charles vor. Mo drückt mir seinen mit Koks beladenen Flyer in die Hände. Ich schaue darauf, ich schaue Charles an, Charles zuckt mit den Schultern. Mo rollt einen Geldschein. Auch? Der Geldschein, der auf das Koks deutet. Heute nicht. Mo grinst. Sinan hakt uns alle ab und bis später und habt Spaß. Charles macht die Leine vom Halfter und Gerd trottet davon. Musik.)

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Stück Lisa Krusche und Moritz Nikolaus Koch

& mein mädchen bringt mir mojito & ich bin glücklich

(Jemand verteilt kostenlos Shots, Charles holt mir einen Drink, wir tanzen unter den rosa Bäumen.Vince macht die seltsamsten Bewegungen, und dann ist Mo hinter mir, seine Hände an mir, er schlingt die Arme um mich, manchmal sein Oberschenkel zwischen meinen Beinen. Ich muss mal auf Toilette, Charles kommt mit, wir pinkeln ins Gebüsch, Mo geht an mir vorbei, eine Frau im Schlepptau, ich schaue ihnen hinterher und zucke mit den Schultern. Die Frau lehnt an einem Apfelbaum und Mo küsst sie. Ich schaue ihnen dabei zu. Der Sohn des Schönheits-Chirurgen taucht neben mir auf, baggert doof drauf los. Mo fasst der Frau an die Brust. Hendrik verschwindet. Mo lässt ab, er sieht mich, große Augen. Mo torkelt davon. Charles taucht neben mir auf)

CHARLES: Wollen wir tanzen?

GWEN: & wir tanzen

& über hildesheim geht die sonne auf & mein mädchen hat ihre arme um mich geschlungen

& jetzt steht sie da breitbeinig ein fuß auf der rückenlehne des fahrersitzes und einer auf der rückenlehne des beifahrersitzes & hebt ihr hemd in die luft & ein goldgelber strahl ergießt sich in hendriks cabrio & der strahl leuchtet im letzten licht der straßenlaternen & charles zähne & der ring an ihrem mittelfinger als sie die siegerinnenfaust macht & dann hören wir schritte & dieses mal rennen wir alle & wir alle & wir sind drei davon ein pony wollen dieses wilde life & wir reiten auf einer sich drehenden welt

Szene 49 CHARLES & GWEN

CHARLES: Es ist fast Mittag, als wir zu Hause ankommen, übermüdet und mit brennenden Beinen. Zu Fuß ist es ein ganzes Stück, nur für das Pony nicht. Irgendwo zwischen Alt-Itzum und Heinde hat der Kater eingesetzt.

(Wir entlassen Gerd mit einem Klaps auf den Hintern in den Garten. Gwen lehnt sich an mich an. Ru empfängt uns mit wedelndem Schwanz, er ist völlig euphorisch.)

CHARLES: Papa steht im Garten und ist in die Fangarme eines Oktopusdrachens verwickelt. Das Teil ist riesig. Allein der Körper ist zwei Meter lang, die Arme reichen fast durch den ganzen Garten. Papa.

PAPA: Guckt euch das an.

CHARLES: Wo hast du das her?

PAPA: Internet.

CHARLES: Wo ist Mama?

PAPA: Keine Ahnung.

CHARLES: Und wo warst du?

PAPA: Nachdenken. (Er wedelt mit einem der Arme herum.)

CHARLES: Ihr habt Nicos Geburtstag verpasst.

PAPA: Ach joar.

CHARLES: Ach joar? (Er dreht sich von mir weg.)

Ey, Papa, ich rede mit dir. (Er grunzt.)

Ist doch scheiße, was ist denn los mit euch?

PAPA: Weißt du, ich wollte eh nie Kinder. (Ich weiß nicht, was ich sagen soll. Papa schon.)

Diese Entscheidung hat mir mein ganzes Leben versaut. (Ich gehe ins Haus.)

GWEN: (zu ihm) Nicht gut. Richtig beschissen.

Szene 50 CHARLES

CHARLES: Ich klopfe an Mamas Zimmertür. Mamas Bett ist abgezogen und gemacht. Die Decken ordentlich gefaltet. Die Kissen aufgeschüttelt. Am Fußende liegt ein Stapel frischer Bettwäsche. (Ich drehe mich langsam.) Alle Oberflächen sind leer. An den Haken hängen keine Klamotten. Alles klar. Na super.

Ich klopfe an Nicos Zimmertür.

NICO: Ja.

CHARLES: Hey. Bin auf der Suche nach Mama.

NICO: Die ist weg.

CHARLES: Wie?

NICO: Nach Berlin.

CHARLES: Wann?

NICO: Schon vor meinem Geburtstag.

(Er wischt einen Stein mit einem Tuch ab und legt ihn zu den anderen.)

CHARLES: Warum erzählt mir das keiner?

NICO: Dachte, du weißt das.

CHARLES: Hat sie mit dir gesprochen?

NICO: Ja. Sie hat gesagt, ich solle nicht böse sein, sie braucht jetzt mal ein bisschen Ruhe. Du weißt ja, wie sie ist.

CHARLES: Er ist zehn Jahre alt und zehnmal so cool wie ich. Klar.

Ich klopfe an Missys Zimmertür. Wieso sagt mir keiner, dass meine Mutter abgehauen ist?

MISSY: Ich dachte, sie hätte mit dir gesprochen.

CHARLES: Nein.

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MISSY: Unschön.

Glaube, sie war wohl etwas verletzt und überfordert.

CHARLES: Tja, das ist sie schon ihr ganzes Leben lang. Dann sollte man vielleicht keine Mutter werden.

MISSY: War wohl keine Absicht.

CHARLES: Es gibt Möglichkeiten.

MISSY: Schlägst du die Negation deiner eigenen Existenz vor?

CHARLES: Ich schlage vor, dass man sich seiner Verantwortung bewusst ist.

MISSY: Insgesamt ist das Kind wohl jetzt schon in den Brunnen gefallen.

CHARLES: Vielleicht kann jemand dem Kind mal eine Stirnlampe in den Brunnen reichen. Ist doch für’n Arsch.

Szene 51 GWEN

GWEN: Für dich, steht auf dem Fetzen Papier, der neben der Uhr auf meinem Bett liegt, pass auf dich auf. Chris.

Chris ist nicht da. Auf seinem Schreibtisch steht eine angebrochene Flasche Schnaps.

(Quer durchs Haus rufe ich nach meiner Mutter.)

MUTTER: Was ist denn los in Gottes Namen?

GWEN: Chris ist weg.

MUTTER: Wie meinst du das: Er ist weg?

GWEN: Weiß ich nicht, er hat mir seine Uhr im Zimmer gelassen.

MUTTER: Das ist doch nur eine Spinnerei von ihm. Leg die mal wieder zurück.

GWEN: Da stimmt was nicht.

MUTTER: Kind wirst du jetzt vollkommen verrückt? Chris ist mit seinem neuen Auto unterwegs.

(Ich wähle Chris’ Nummer, er hebt nicht ab.)

GWEN: Er hebt nicht ab.

MUTTER: Na hoffentlich. Das geben schließlich auch die Verkehrsregeln so vor.

GWEN: Ihr Kopfschütteln geleitet mich aus dem Haus. Auf dem Weg zum Bahnhof laufe ich an Gordon Schröder vorbei. (Er sitzt an einen Baumstamm gelehnt und löst ein Kreuzworträtsel.) Hier. Ist echt. Gut aufpassen. (Er fängt die Uhr locker aus dem Handgelenk.)

GORDON S.: Was bist du? Robin Hood?

GWEN: Das dachte ich mal eine Zeitlang. So eine Art. Aber das Projekt stagniert. Die meisten Typen auf Tinder haben überhaupt nicht so viel Geld. Aber es ist auch Pause wegen Liebe.

GORDON S: Liebe, Liebe, Liebe. Liebe und Ficken.

GWEN: Ungefähr. Adieu.

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Mo, der im Türrahmen steht

MO: Spacko la grande! Hast du mich doch vermisst.

GWEN: Ja, ja.

charli irgendwas ist mit meinem bruder

CHARLES: warum

GWEN: hab ich im gefühl

CHARLES. urgh

GWEN: ja

Mo macht es mir mit dem Mund & ich sehe ganz schön aus dabei

CHARLES: wmd?

GWEN: wellness

CHARLES: gönn dir schwester (Mos Telefon klingelt.)

GWEN: Geh ruhig ran, bin eh fertig.

MO: Yo, was geht?

(Er legt auf. Springt auf, läuft hektisch durch das Zimmer, greift sich einen Rucksack und stopft alles Mögliche rein. Papes, Bong, Flyer, Tabak, Baggys, leer und voll, Alufolienknüddel.)

GWEN: Was ist los?

MO: Hausdurchsuchung bei Vince.

GWEN: Scheiße.

MO: Ja. Ey, wenn die herkommen, meine Mutter kriegt ’nen Herzinfarkt, ich schwör’s dir. (Drückt mir den Rucksack in die Hand.) Hier, du musst den mitnehmen. Gwen, schnell. (Es klingelt, ich gehe auf den Balkon.)

GWEN: Wir sehen uns.

(Ich springe ab. Ich gehe über die Wiese, den Rucksack auf dem Rücken) vielleicht wird es Zeit für ein neues Businessmodell.

Auf meinem Telefon eine Nachricht von meiner Mutter wo bist du? dein bruder ist im krankenhaus und ich denke, lieber Gott im Himmel. Chris hat ein Einzelzimmer. Es ist sehr still.

(Meine Mutter auf einem Stuhl neben dem Bett. Chris im Bett, schlafend. Mein Vater, der am Fußende steht, sieht nicht besorgt, sondern genervt aus. Auch meine Mutter wirkt weniger zusammengesunken oder aufgewühlt als mehr wie ein empörtes Schnauben. Beide blicken auf.)

GWEN: Was ist los?

VATER: Dein Bruder ist ein Vollidiot.

MUTTER: Konstantin!

GWEN: Wie geht es ihm?

MUTTER: Er schläft.

VATER: (geht auf und ab.)

Christian hat sich mit dem Auto auf der Landstraße überschlagen.

Wir laden ein zum Kompostieren, Kochen und Essen. Wir tauschen geheime Rezepte, sensibles Wissen und schmieden Pläne für Aktionen im öffentlichen Raum.

Stück Lisa Krusche und Moritz Nikolaus Koch
RESIDENZ VON CONDÔ CULTURAL UND MATRIARCHALE VOLKSKÜCHE THTR RMPE 18.04. – 19.05.2023
THEATERRAMPE.DE
CIDADE DAS MULHERES STADT DER FRAUEN*

GWEN: Absichtlich?

VATER: Also bitte.

MUTTER: Gwendoline, rede doch nicht so ein dummes Zeug. Wie soll er sich denn absichtlich überschlagen?

VATER: Er war betrunken.

GWEN: Ihr kapiert es nicht, oder?

(Meine Mutter, die die Augenbraue hebt. Mein Vater, der auf dem Absatz kehrtmacht.)

VATER: Was?

MUTTER: Konstantin.

VATER: Nein, wenn ich etwas nicht kapiere, würde ich schon gerne wissen, was.

MUTTER: Herzilein, findest du, jetzt ist der richtige Zeitpunkt für so eine Unterhaltung?

(Sie streicht sich unsichtbare Fussel von der Bluse. Sie runzelt die Stirn, und natürlich kräuselt sie die Lippen.)

GWEN: Es ist nie der richtige Zeitpunkt.

Hat das Auto Schaden genommen?

VATER: Natürlich. Ebert kümmert sich darum.

GWEN: Na dann ist ja alles paletti.

Szene 52 CHARLES

CHARLES: Gustav schreibt: ich vermisse dich charles

Szene 53 GWEN & CHARLES

GWEN: Das Außen zerläuft. Oder schwimmt mein Inneres weg?

Mein verficktes Herz, verdammtes.

Das Bildschirmglas so glatt in meiner Hand und kühl und Charles’ Nummer und dann:

CHARLES: Was geht ab?

GWEN: Ich kann nicht atmen.

CHARLES: Warum?

GWEN: Ich bin zu high.

CHARLES: Wo bist du?

GWEN: Im Supermarkt. Ich will nicht ich sein. Ich wünschte, ich wäre nüchtern.

CHARLES: Entspann dich. Atme. Ich komme. Schaffst du alleine oder soll ich dranbleiben.

GWEN: Schaffe alleine.

CHARLES: Wenn nicht, ruf noch mal an.

GWEN: Okay. Ciao.

CHARLES: Halt. Welcher Supermarkt?

GWEN: Rewe in Itzum.

& auf meinem rücken immer noch dieser rucksack

CHARLES: Ich finde Gwen im Sprühnebel der Gemüseabteilung. (Sie sieht eigenartig und sphärenmäßig verschoben aus. Vollkommen lädiert, man möchte ihr gratulieren, dass sie überhaupt in der Lage war, so viel zu konsumieren.)

Du erschreckst noch die Leute. (Sie fällt mir ohne Umwege in die Arme.)

GWEN: Mein Bruder hat höchstens eine Gehirnerschütterung, denn die Bösen sterben nie.

(Ich versuche, sie aufzurichten und zu tätscheln und der Frau einen verachtenden Blick zuzuwerfen, die uns gerade irritiert mustert. Ich bugsiere sie durch den Supermarkt.)

CHARLES: Was hast du da im Rucksack?

GWEN: Was, was wir zu Gold machen können.

(Sie öffnet die Packung Cornflakes schon in der Kassenschlange und schaufelt sich händeweise in den Mund.)

CHARLES: Wir sind die Zukunft dieses Landes. (zu der Kassiererin)

KASSIERERIN: Sammeln Sie Treuepunkte?

Szene 54 GWEN & CHARLES

GWEN: Hier oben kann man atmen. Hinter uns der Wald. (Wir liegen Rücken an Hügel, die Köpfe auf den Händen.)

Ist die Riesin da?

CHARLES: Was denkst du?

GWEN: Ja.

& wir haben kekse & dope für immer oder mindestens morgen Ich sage dir jetzt mal was, und es wird kitschig klingen. Ich bin froh, dass dein Vater durchgeknallt ist.

Ich liebe dich, verstehst du?

Ich würde dir meinen Milchzahn schenken.

(Sie reicht mir einen Hoodie. Ich nehme den Hoodie und ziehe ihn an.)

GWEN: Also los?

CHARLES: Also los.

GWEN: Unser Weg wird so was von erleuchtet sein.

Szene 55 GWEN & CHARLES

GWEN: & dieser eine junge schreibt was ist los meld dich mal & ich schreibe vergiss es & er schreibt was & ich schreibe alles

CHARLES: missy, nico, papa

– wenn ihr diesen zettel lest bin ich schon auf dem weg nach berlin

Stück „unsere anarchistischen herzen“
05 / 23
,
QUEIRÓZ , KARLA MAX , SASCHA RIJKEBOER , MORITZ SAUER , DALANG & CO , INSAKA ARTS , MIGRART , RITA NOUTEL & JOSÉ MALDONADO THEATER–ROXY.CH
ALY KHAMEES
ELENITA

macht euch keine sorgen ich bin nicht allein der hund ist mit und der oktopus und gwen bitte kümmert euch um meine palme und mein pony bis ich zurück bin

und auch um einander wir haben ja nur uns küsse auf eure augenbrauen

xoxo charli

GWEN: & die lange reise zu unseren träumen fing so an: Wir lauerten dem Schönheitschirurgensohn vor dem Schönheitschirurgenhaus auf.

(Als er irgendwann rauskam, verfolgten wir ihn ein Stück.)

CHARLES & GWEN: Ey!

(Er drehte sich um und guckte auf meine Hand auf seinem Arm. Augenbrauen hoch, Abscheu im Blick.)

HENDRIK: Was soll das? Bist du durchgedreht?

(Ich ging ran, auf zehn Zentimeter und blies ihm Melonenkaumgummiatem ins Gesicht. Er versuchte, sich rauszuwinden. Ich packte fester zu.)

GWEN: Es ist schön zu sehen, wie die Angst reinkickt. (ich drängte ihn klassisch in Richtung einer Häuserwand. Charles dicht hinter mir. Ich legte meinen Unterarm lässig auf seinem Schlüsselbein ab und schob ein bisschen Richtung Kehlkopf.)

HENDRIK: Ey!

GWEN: Du kleiner Hundesohn, ich schwöre, ich mach dich fertig.

CHARLES: Und jetzt gib den Schlüssel für deinen Wagen. (Er rückte die Schlüssel raus, ich reichte sie an Charles weiter.)

GWEN: Jetzt verpiss dich.

HENDRIK: Du bist echt komplett psycho.

GWEN: Ja. Erzähl es deinen Freunden!

CHARLES: Erzähl es der ganzen gottverdammten Stadt.

Wir hielten beim Kiosk.

(Charles blieb im Auto, ich lief rein.)

GWEN: Hast du Faden?

SINAN: Ja.

GWEN: Gib mal.

SINAN: Du führst doch was im Schilde.

(Er folgte mir nach draußen, Charles winkte ihm fröhlich aus dem Auto, ich wickelte die Schnur um meinen Zahn. Das andere Ende der Schnur knotete ich an den Heckspoiler.)

Halt mich mal fest.

(Er verdrehte die Augen, nahm mich aber in den Arm.) Fahr. Aber keinen Kickdown.

Und sie fuhr los.

(Ich spuckte den Zahn und Blut auf meine Hand. Sinan holte mir ein Taschtuch und ein bisschen Eis. Er schloss den Kiosk ab und scheuchte Charles auf die Rückbank. Ich stieg lächelnd ein)

CHARLES: Hübsches Lächeln. (Ich gab ihr den Milchzahn.)

GWEN: Hab’s ernst gemeint.

CHARLES: Kein Zweifel.

(Sie nahm ein Taschentuch, wickelte den Zahn ein und stecke ihn in ihren Brustbeutel. Dann Autobahn.)

GWEN: & wir drei sind unsere eigene bubble alles wird planiert aber vielleicht kapern wir auch eines tages die planierraupen & knacken die oberflächen

CHARLES: Wir sind so gottverdammt begabt, wir könnten wirklich einmal die Welt regieren, aber wir werden es nicht wollen, wegen unserer anarchistischen Herzen.

GWEN: & über der autobahn geht die sonne hundertfach unter am himmel & die ganze welt ist am glühen

GWEN & CHARLES: & alles ist so golden.

Stück Lisa Krusche
und Moritz Nikolaus Koch
– ENDE –
Schöne Welt, wo bist du? 22. Internationale Schillertage 22.06. – 02.07.23 schillertage.de Alle Alle Men Menschen schenwerden Swerden Schweschwestern tern
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Diskurs & Analyse

Kritik Zweimal Uwe Johnsons in Sachsen: „Mutmassungen über Jakob“ am Staatsschauspiel Dresden und „Jahrestage“ am Schauspiel Leipzig Essay Zur Bedeutung historischer Stoffe in der Praxis feministischer Dramatik Serie Warum wir das Theater brauchen #04. Jonny Hoff: Theater schlägt Netflix

Theater der Zeit 5 / 2023 63
Foto
Theater der Zeit
Yassin Trabelsi und Fanny Staffa in „Mutmassungen über Jakob“ nach dem Roman von Uwe Johnson in der Regie von Camille Dagen
Sebastian Hoppe

Zweimal Uwe Johnson in Sachsen: Erstmals kam der als schwierig geltende Debütroman „Mutmassungen über Jakob“ in Dresden auf eine Theaterbühne, danach folgte der erste Teil des epischen Großwerks „Jahrestage“ in Leipzig. Letzteres auch ein Beispiel für eine spezifisch deutsche Erinnerungskultur im Theater. Sind Johnsons Romane, die immer wieder neue Lesegenerationen erreichen, also für die Bühne interessant und tauglich?

Heißer Herbst 1956

Mit „Mutmassungen über Jakob“ gelingt am Staatsschauspiel Dresden die Adaption von Uwe Johnsons Debütroman

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Diskurs & Analyse Kritik
Von Greg Bond Yassin Trabelsi und Henriette Hölzel in „Mutmassungen über Jakob“ Thomas Eise, Moritz Dürr und Henriette Hölzel in „Mutmassungen über Jakob“, Regie Camille Dagen

„Aber Jakob ist immer quer über die Gleise gegangen“ – mit diesem je nach Lesart trotzigen oder traurigen und auf jeden Fall widerständigen ersten Satz des Nicht-Verstehen-Wollens fängt Uwe Johnsons Roman „Mutmassungen über Jakob“ an, veröffentlicht 1959. Der Eisenbahner Jakob Abs ist auf seiner eigenen Arbeitsstelle von einer Rangierlok erfasst worden und gestorben, im November 1956. Seine Freunde versuchen, dies zu verstehen, und in ihrer Erinnerung erzählt Johnson die Geschichte dieses Herbsts, benennt die Ereignisse, die diesem unversöhnlichen Tod vorangingen. Am Ende ist manches klarer, aber nichts ist gut.

Johnsons Roman schrieb neuere deutsche Literaturgeschichte – als ein Buch über das Leben in der DDR, das in der DDR nicht gedruckt werden konnte, als eine Geschichte über die deutsche Teilung, und auch in formeller Hinsicht. Angelehnt an Faulkner, der Roman ist kompromisslos modern, multiperspektivisch, sprachlich stark und eigenwillig und lässt vieles im Dunkeln.

Und die Figuren – Johnson nannte sie „seine Menschen“ –sind schillernd und voller Leben, gerade weil ihre Beweggründe, so zu handeln, wie sie handeln, nie ganz erklärbar sind. Da ist Jakob selbst, der nachdenkliche Arbeiter, nach dem Krieg mit seiner Mutter aus Pommern geflüchtet. Und Gesine Cresspahl, zu deren Familie er im Mecklenburgischen kommt und die zur Zeit der Geschichte schon in Düsseldorf lebt und als Sekretärin im NATO-Hauptquartier arbeitet, sowie der Tischler Heinrich, Gesines Vater, der in seinem Dorf in Mecklenburg lebt, wo alle auf dem Höhepunkt der Handlung zusammentreffen.

Halbdunkel und Nebel

Jonas Blach ist ein oppositioneller Intellektueller an der Universität in Ost-Berlin, der Gesine in West-Berlin kennenlernt. Und der Hauptmann der Staatssicherheit Rohlfs will Gesine für eine Zusammenarbeit mit der DDR gewinnen. Er bringt die Dinge ins Rollen, indem er Jakobs Mutter befragt. Sie „flieht“ gleich darauf in den Westen. Es ist die Zeit nach der stalinkritischen „Geheimrede“ Chruschtschows über den Personenkult auf dem XX. Parteitag der Kommunistischen Partei der Sowjetunion. Es ist der heiße Herbst 1956, in Ungarn ist Aufstand: Kann es Hoffnung geben?

Diese Geschichte für die Bühne zu adaptieren, Premiere war im Oktober letzten Jahres auf der Bühne des Kleinen Hauses des Staatsschauspiels Dresden, ist eine starke Herausforderung, die Regisseurin Camille Degen herausragend meistert. Die Fassung fürs Theater von Degen und Katrin Breschke ist so stark am Text des Romans angelehnt, als ob gar nichts dazu geschrieben wurde. Sie verlässt sich auf die Stärke von Johnsons Dialogen, die keineswegs versuchen, naturalistisch zu sein, und so entsteht ein sehr literarischer und poetischer Theaterabend, der nie ein bloßes Vortragen von Johnsons Texten ist, sondern hochspannendes Theater.

Die Bühne ist weitgehend leer und karg und sie wirkt dennoch bedrückend eng. Die Figuren stehen viel im Halbdunkeln und im Nebel, gelegentlich nutzen sie Telefone, die von der Decke auf Strippen fallen. Räume werden angedeutet: Gesines Wohnung in Düsseldorf auf einem hinteren Balkon, solange sie nicht direkt

65
Diskurs & Analyse Kritik

am Geschehen in Ostdeutschland beteiligt ist, und ganz stark ein Hinterzimmer in einem Hotel, wo Rohlfs versucht, Jakob für eine Zusammenarbeit bei der Anwerbung von Gesine zu gewinnen: zwei Stühle und durchsichtige gelbe Vorhänge, die das Konspirative andeuten. Cresspahls Haus ist ein Holzgerüst, Jakobs Arbeitsplatz in der Schaltzentrale am Bahnhof, wo er Züge mit Panzern, die nach Ungarn fahren, durchfahren lassen muss, ebenso ein einfacher Holzrahmen. Alles ist durchgehend untermalt von einer sehr stimmigen Musikkulisse, die nie aufdringlich wirkt – Sounddesign von Saoussen Tatah.

Die Schauspieler sind oder wirken jung, und das passt genau zu der Geschichte, macht erfahrbar, worum es hier geht – um die Zukunft einer neuen Generation in einem entscheidenden historischen Moment. Yassin Trabelsi spielt Jakob so wunderbar nachdenklich, verantwortungsvoll und doch unsicher und überfordert, und Henriette Holzel ist Gesine: lebendig, besorgt, selbstbewusst, aber im Westen allein und einsam. Franziskus Claus spielt Jonas Blach passend impulsiv und erregt, während Thomas Eisen den Stasihauptmann als entschlossenen und verletzten Menschen mit eigener Geschichte verkörpert. Die Vergangenheit der Geschichte, in der diese Personen zusammenkommen, ist immer präsent: Es sind die Verbrechen der vorigen Generation, die ihre Gegenwart mitbestimmen. In diesen Figuren hat der Theaterabend sehr viel Leben, und die Romanvorlage gewinnt vielleicht für manche Johnson-Leser eine neue Perspektive, weil Degen die Jugend dieser Personen so klar zeigt. Als Erzählerin hat Degen „die Frau ohne Eigenschaften“ hinzugefügt, gespielt von Fanny Staffa, sachlich und klar, an das Publikum gewandt.

Degen aktualisiert nicht, unternimmt keinerlei Versuche, ihren Zuschauern zu sagen, warum diese Geschichte aus den Fünfzigerjahren des letzten Jahrhunderts uns heute etwas angehen sollte. Und sie geht uns trotzdem an: Das, was damals passierte, als Ost und West sich entfremdeten und die Fronten härter wurden, hatte Folgen für Freundschaften und Familien, für die Zukunft und für die politische Verfassung der Welt. Die moralischen Fragen, die die Figuren sich stellen, über das richtige Leben im Falschen, über das Bleiben oder Gehen in der DDR, wirken hier nie plakativ, sondern sind nachvollziehbar.

Übertitel geben die Zeiträume an – die Daten der Handlung im November 1956, darauf hätte verzichtet werden können, da es nicht auf den genauen Tag ankommt und diese Angaben zur Orientierung hier nicht notwendig sind. Auch Johnson hatte eine solche Hilfestellung nicht geliefert. Interessanter wirken die französischen Übertitel des ganzen Textes. Diese sind vielleicht der französischen Herkunft der Regisseurin und der Unterstützung der Produktion durch das Institut Français geschuldet. Sie sind nicht immer textgenaue Übersetzungen des gesprochenen Worts auf der Bühne. Die andere Sprache und die Abweichungen wirkten in Dresden auf mich als ein Hinweis, dass ich eine von vielen möglichen Interpretation einer Geschichte und eines Texts erlebte, als Wink auf das Literarische dieses Abends und auf die Literatur und das Theater als eine mögliche Version der Welt, ganz in Johnsons Sinne – es sind eben Mutmaßungen. Diese Interpretation am Staatsschauspiel Dresden kann sich sehen lassen. T

66 Theater der Zeit 5/ 2023
&
Diskurs
Analyse Kritik

Klangvoll epische Montage

Am Schauspiel Leipzig bringt Anna-Sophie

Mahler „Jahrestage“ (Erster Teil) mit viel Musik auf die Bühne

Von Thomas Irmer

Uwe Johnsons „Jahrestage“, diese am Ende der Sechzigerjahre begonnene und 1983 kurz vor seinem Tod abgeschlossene Tetralogie, ist mehr noch als andere Großromane auf der Bühne kaum vorstellbar. Margarethe von Trottas Verfilmung (2000) ließ deutlich erkennen, wie schwer es ist, Johnsons epische Montage ästhetisch in ein anderes Medium zu überführen, und blieb die gewöhnliche Fernsehware einer Familiengeschichte zwischen New York und Mecklenburg, um deutsche Geschichte in Sentimentalität zu ertränken.

Nun also der erste Versuch auf der Bühne, und der geht so los, dass fast das ganze Ensemble an der Rampe sitzt und über das Buch spricht, über eigene Leseerfahrungen etwa oder objektiver, dass der Roman Grenzen überschreite und die Frage im Raum stehe, was man damit auf der Bühne anfängt. Es werden auch aktuelle Einwände vorgebracht wie der, er sei „aus weißer Perspektive“ erzählt. Bei dieser Metaebene des Über-das-BuchSprechens fehlen die beiden Darstellerinnen von Gesine Cresspahl und ihrer Tochter Marie, neben der New York Times und dem Genossen Schriftsteller Johnson die Hauptinstanzen des Erzählens.

Ein solcher Einstieg will das Publikum außerdem darauf vorbereiten, dass es sich hier um ein besonderes „Projekt“ handelt, wie es auf den überall in Leipzig zu findenden Plakaten angekündigt wird. Ein Wagnis ohnehin bei diesem Roman von 1800 Seiten, zu dem es sogar ein ganzes Adressbuch samt Personenverzeichnis gibt.

67
Theater der Zeit 5 / 2023
Diskurs & Analyse Kritik
Ensemble und Musikern von „Jahrestage“ Markus Lerch, Bettina Schmidt, Amal Keller und Thomas Braungardt in „Jahrestage“

Diskurs & Analyse Kritik

Die Beatles dienen für den Sprung nach vorn in der Zeit, in die wesentlich intensiver ausgespielten New-York-Szenen. Für den Sprung zurück gibt es leider nichts so Antreibendes, auch nicht mit Bach.

Der eigentliche Beginn setzt mit Johann Sebastian Bachs „Goldbergvariationen“ ein und einem Satz über die Wellen in New Jersey, wo Gesine gerade Urlaub macht. Sie erfährt dort, dass Schwarze von den Badeorten ferngehalten werden, und erinnert sich an den Umgang mit den Juden in ihrer mecklenburgischen Kindheitsheimat. Damit ist eines der großen Johnson-Themen beiläufig, aber doch wirkungsvoll auf die Bühne gebracht. Sonja Isemer setzt den Grundton für ihre Gesine in kühler Beherrschtheit, aus der sie in den folgenden zweieinhalb Stunden nie ausbrechen wird, aber auch beeindruckend aufrecht wirkt. Die Tochter Marie ist von ganz anderem Naturell: Paula Vogel, mindestens doppelt so alt wie ihre Figur, kann sie auch von der Physis her mit Leichtigkeit als das neugierige, von New York begeisterte Mädchen spielen, dem das Erzählte über die Vergangenheit gilt.

„A Day in the Life“

Dieses handelt vor allem von Gesines Vater und der Eheschließung mit Lisbeth Papenbrock. Heinrich Cresspahl kehrt aus England zurück, sein Schwiegervater, unter dessen Söhnen auch ein strammer Nazi ist, nötigt ihn, mit der jungen Familie in Deutschland zu bleiben, um Gesine willen. Das findet auf einer fast leeren Bühne statt, die damit ohne die üblichen Signale der Zeit (wie Hakenkreuze) auskommt. Alles, auch die eine soziale Rolle der Figuren nur andeutenden Kostüme von Katrin Connan, ist leicht in die Abstraktion gehoben und will so vielleicht eine Entsprechung zu Johnsons Stil herstellen. Diese Familienszenen wirken aber, vor allem in der ersten Hälfte des Abends, recht gleichförmig, und hier, im Wechsel zu den Amerikaszenen, spielt die ausgebildete Musiktheaterregisseurin Anna-Sophie Mahler zusammen mit ihren beiden exzellenten Musikern Martin Wenk und Michael Wilhelmi ihren größten Trumpf aus: Lieder von den Beatles (und auch eins von dem Protestheroen Pete Seeger) kontrastieren die behäbige Mecklenburg-Welt auf dem Sprung nach New York. Dort gibt es die in Gestalt von Thomas Braungardt personifizierte New York Times, die Gesine täglich auf dem Weg zur Arbeit studiert und aus der diese Figur in schwarzweißem Gewand doch recht ausführlich die Nachrichten des Tages aus dem Herbst 1967 vorträgt. Dazu passt wunderbar der letzte Titel des zu dieser Zeit gerade veröffentlichten Sergeant-PepperAlbums „A Day in the Life“ als Korrespondenz.

Johnson sei Beatles-Fan gewesen, wird diese Musikschichtung von der Regisseurin im Programmheft begründet. Da darf man skeptisch sein. Denn der kulturellen Revolution der Sechzi-

gerjahre, insbesondere der in den USA, stand er anders als andere Autor:innen seiner Generation recht distanziert gegenüber. Tatsächlich gibt es eine kurze Passage über die Band aus Liverpool in den „Jahrestagen“, und im Nachlass des Schriftstellers fand sich als einzige Beatles-Platte das Album „Revolver“, aus dem dann mit „Eleanor Rigby“ der zweite ganz und gar stimmige Titel über einsame Leute eingefügt wird. Es gibt aber auch weniger gelungene Einsätze. Eine Rede Hitlers, in der er die Machtergreifung als Revolution bezeichnet, wird erwähnt – und mit „Revolution“ vom Weißen Album gekontert. Die bohrende Problematik des Vietnamkriegs wird mit einem fröhlichen Saalumzug des Ensembles ausgerechnet mit „Give Peace a Chance“ entschärft, während Gesine sich doch ernsthaft Gedanken macht, warum sie in einem kriegführenden Land für die Finanzindustrie arbeitet, wo doch ihr Vater schon bereut habe, ein bald kriegführendes Land nicht verlassen zu haben.

Die hervorragend arrangierten und gesungenen Lieder bilden ohne Zweifel eine Entsprechung zu Johnsons breit angelegter Zeitbildmontage, sie verdecken aber kaum, wie schwer es der Regie vor allem mit den Mecklenburg-Szenen fällt, die in ihren knappen Dialogen für praktisch nur aufgestellte Figuren wie gebremst wirken. Markus Lerch als Heinrich Cresspahl, Amal Keller als Lisbeth, der Papenbrock-Patriarch von Andreas Keller, der sinnigerweise in New York Gesines jovialen BankerVorgesetzten De Rosny spielt, wie auch Bettina Schmidt, die zugleich als frömmelnde Louise Papenbrock und Maries katholische Lehrerin Schwester Magdalena besetzt ist, sie alle machen ihre Sache gut und wirken doch wie gerade von woanders reingeholt. Die Beatles dienen für den Sprung nach vorn in der Zeit, in die wesentlich intensiver ausgespielten New-York-Szenen. Für den Sprung zurück gibt es leider nichts so Antreibendes, auch nicht mit Bach.

Der Abend endet in der Chronologie Weihnachten 1967, mit dem ersten Buch des Ganzen. Für den zweiten Abend in einem Jahr wollen Mahler und Ko-Bearbeiter Falk Rösler sich vor allem auf den vierten Band konzentrieren, der auf der MecklenburgEbene die frühen Jahre der DDR erzählt. Johnson brauchte – aus den verschiedensten Gründen – zehn Jahre für den letzten Band seines Romans, aber da erst wurde die große Kontur seines Unternehmens deutlich. Deshalb wird man das „Projekt“ nach seinem Abschluss erst beurteilen wollen. T

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Theater der Zeit 5/ 2023
Fotos Seite 64-64 Sebastian Hoppe, Seite 66-67 Rolf Arnold
PERFORMING ARTS BER LIN FESTIVAL 30.5. –  4.6.2023 paf.berlin chamaeleonberlin.com In_between by Circo Aereo 23.02. — 30.07.23
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Photo: Andy Phillipson

Und was träumt Rosi heute? Ein Aufruf

Zur Bedeutung historischer Stoffe in der Praxis feministischer Dramatik

Von Sophie-Margarete Schuster

Ein Mann versucht, nachts in das Gemach dreier Frauen einzudringen. In geistiger Verwirrung irrt er sich in der Tür und beginnt, liebestoll die Töpfe und Pfannen einer Vorratskammer zu küssen und „auf seinem geilen Schoß zu erwärmen“. Durch einen schmalen Spalt in der Wand beobachten die drei Frauen heimlich das Geschehen, bemüht, sich ihr Lachen zu verkneifen. Der mit Ruß verschmutzte Mann – davon überzeugt, die Frauen hätten ihn mit einem Zauber belegt – fordert anschließend die öffentliche Entkleidung der drei. Dies gelingt allerdings nicht, denn die Kleider heften aus unerfindlichen Gründen fest an den Körpern der Frauen.

Was hier beschrieben wird, ist die Fantasie einer jungen Frau, die während der Regierung Ottos des Großen im Benediktinerinnenkloster Gandersheim lebte und – ungeachtet aller kulturellen Tabuisierungen – Dramen verfasste. In den Jahren zwischen 960 und 970 schrieb die frühmittelalterliche Autorin neben acht Legenden, kürzeren poetischen Erzählungen und zwei umfangreichen Epen auch sechs Dramen in einer Art gereimter und rhythmisch fallender Prosa. Die Tatsache, dass diese Frau, bekannt unter dem Namen Roswitha von Gandersheim, Dramen schrieb,

Theater der Zeit 5/ 2023 70
Diskurs & Analyse Essay
Foto links Moritz Haase, rechts picture alliance / Heritage Art/Heritage Images | Albrecht Durer
Via Jikeli in „Alias Anastasius“, in der Regie von Fritzi Wartenberg

ist aus verschiedenen Gründen bemerkenswert: Das frühmittelalterliche Christentum stand der Praxis des Theaters keineswegs aufgeschlossen gegenüber; vielmehr sah man dem Schauspiel eine Art des Wahnsinns innewohnen, die es sich zu verbieten gelte und die sich unter keinen Umständen mit dem Willen Gottes vereinbaren ließe. Mit der Entscheidung, sich selbst der dramatischen Dichtung anzunehmen, begab sich von Gandersheim dementsprechend auf verbotenes Terrain. Sie wandte sich der Dramatik in einer Zeit zu, in der das europäische Theater praktisch nicht existent war. Hinzu kommt, dass sie dies als Frau tat.

Stücke ohne Bühne

Dem hierarchisch geordneten Geschlechterdualismus des Frühmittelalters zum Trotz ermächtigte sich von Gandersheim dem geschriebenen Wort: Sie erlaubte sich, im Kopf ein Theater zu spielen, das in der Welt, in der sie lebte, undenkbar war. „Freilich ergriff mich oft Scheu vor meiner Arbeit, brennendes Rot übergoß mein Gesicht, denn ich mußt’ ja im Geiste gestalten, mit dem Griffel festhalten verbuhlter Knaben abscheuliche Thorheit und ihr unerquicklich Geschwatz, vor dem wir uns sonst die Ohren zuhalten“, schrieb die Autorin in ihrer Vorrede zu den Dramen und deutete dabei einen der Praxis des Schreibens inhärenten, feministischen Befreiungsakt an, der sich in der Bewusstwerdung des eigenen Tabubruchs manifestierte. Als Leitmotiv ihrer Stücke tritt eine sich im Kostüm des Glaubens vollziehende, weibliche Befreiung vom irdischen Mann hervor, die sich maßgeblich durch eine Wahrung der Jungfräulichkeit, einer Verwehrung, den eigenen Körper zur sexuellen Verfügung freizugeben, auszeichnet. Hier kommt der Religion eine spannungsvolle Stellung innerhalb eines feministischen Behauptungsimpulses zu, dessen historische Zeitlichkeit durchaus Anreiz zur künstlerischen Gegenwartsanalyse dieses Phänomens bietet. Szenen wie die, in der ein ungläubiger Mann in die Grabkammer der gläubigen Drusiana einzudringen versucht, um sich an ihr zu vergehen, und daraufhin von einem Engel in der Gestalt eines Schlangenungetüms getötet wird, geben Aufschluss über eben solche Motive. Zwischen der Bedienung christlich-patriarchaler Ideologien fand die dramatische Dichterin gekonnt Schlupflöcher, um sich dem Theater zu ermächtigen – um das Bild willensstarker Heldinnen zu zeichnen; Heldinnen, die sich sowohl durch ihre körperliche als auch ihre intellektuelle Stärke beweisen. So legt von Gandersheim der Figur der Mutter in „Die Leiden der heiligen Jungfrauen Fides, Spes und Caritas“ beispielsweise die Zahlentheorie des antiken Philosophen Boethius in Form eines Zahlenrätsels in den Mund, mithilfe dessen die Frau den heidnischen Kaiser vorzuführen versteht. Die Frauen werden daraufhin vom Kaiser in den Kerker geworfen, wobei weder vor Auspeitschungen und Verstümmelungen noch vor Verbrennungen und Enthauptungen haltgemacht wird. „Sieh da, wie in dem Feuersqualm ich spiele! Ohne zu verletzen umgaukeln mich die Flammen, statt Feuersglut fuhl’ ich des Morgenthaues Kuhle?“, heißt es von einer der Töchter während des Folterdialogs. Hier stellt sich die Frage: Wieso haben es diese Stücke nie auf die Bühnen ihrer Nachwelt geschafft? Nun ja, ein erster Ver-

such hat bereits stattgefunden: Der ostdeutsche Dramatiker Peter Hacks nahm sich der Sache erstmalig in den Siebzigerjahren des letzten Jahrhunderts an und entwarf inmitten der zweiten Welle der Frauenbewegung das Stück „Rosi träumt“. In seinem 1975 am Maxim Gorki Theater uraufgeführten Stück machte Hacks die Autorin zur zentralen Figur einer Komödie, in der diese als Tochter des Kaisers und Christenverfolgers Diokletian auftritt und im fleißigen Gebet die Handlung zu lenken weiß: Schlachten beeinflussen, Enthauptungen rückgängig machen und den Mann, dem sie eigentlich verfallen sollte, zum Christentum bekehren. Alles kein Problem für Rosi. Auch die eingangs beschriebene Szene eines im Wahn irrenden Vergewaltigers taucht in Hacks’ Fassung auf, mit dem Unterschied: Die Szene ist ihrer weiblichen Perspektive beraubt. Das sich bei von Gandersheim im Lachen der drei Frauen entladene Empowerment – durch den Spalt in der Wand blickend, über den Eindringling belustigt – ist durch eine Passage, die den Angreifer in einer ironischen Zuspitzung seine Gewaltfantasien begründen lässt, ersetzt worden. Ohne zu missachten, dass es sich um einen ersten richtigen Schritt Hacks‘ handelte, in eine Auseinandersetzung mit diesem Stoff zu treten, ließe sich nun,

Theater der Zeit 5 / 2023 71
Diskurs & Analyse Essay
Eine Zeichnung von Albrecht Dürer: Roswitha von Gandersheim präsentiert ihre Dramen dem Kaiser

„Freilich ergriff mich oft Scheu vor meiner Arbeit, brennendes Rot übergoß mein Gesicht, denn ich mußt’ ja im Geiste gestalten, mit dem Griffel festhalten verbuhlter Knaben abscheuliche Thorheit und ihr unerquicklich Geschwätz, vor dem wir uns sonst die Ohren zuhalten“, schrieb Roswitha in ihrer Vorrede zu den Dramen.

48 Jahre später, doch fragen: Wieso nahm Hacks von Gandersheim ihre Rolle als Autorin aus der Hand und schrieb sie stattdessen für sein eigenes Stück in eine aus einer männlichen Perspektive erzählte Figur um? Möglich wäre also ebenso die Frage, ob die Zeit jetzt nicht reif sein könnte, um diesem Perspektivenraub etwas entgegenzuhalten und dem Material eine neue Form zu geben? Eine Form, die – im Sinne des geistigen Erbes der Dramatikerin –eine weibliche Perspektive zu Wort kommen lässt, die erneut dem bislang Unerhörten eine Stimme zu verleihen versucht. Denn: Der literarische Kanon einer Kultur ist stets der Spiegel ihrer Macht-

verhältnisse. Diesen Gedanken hatte Roswitha wohlmöglich so noch nicht für sich gefasst, und doch hat sie ihn gelebt. Sie hat ihn in ihrem Schreiben aufleben lassen und ihn den nachfolgenden Generationen junger Dramatiker:innen und Autor:innen zur Verfügung gestellt – ein Erbe, das es zu verwalten gilt. Welche Dinge ließen sich sichtbar machen, wenn die Dramen der Roswitha von Gandersheim nun noch einmal neu geschrieben würden? Wovon träumt eine Rosi des 21. Jahrhunderts? Was sind ihre Wünsche und Sehnsüchte? Und viel wichtiger: Wo liegt das Unerhörte?

Die Strategie, den Blick in der Auswahl dramatischen Materials historisch weiter zu fassen, sodass der Erkundung wichtiger Kontinuitäten und Zäsuren unserer Gesellschaft im Theater eine künstlerische Sprache zur Seite gestellt wird, ist offenkundig keine revolutionäre Neuentdeckung. Als ein aktuelles Beispiel dieses Verfahrens sei das Autor:innen-Duo Matter*Verse (Marie Lucienne Verse und Selma Matter) zu nennen, das für eine Inszenierung der Regisseurin Fritzi Wartenberg im Rahmen des Nachwuchsförderprogramms WORX am Berliner Ensemble im März 2023 das Stück „Alias Anastasius“ entwickelte. Hier wurde das Leben einer historischen Figur mit dem Namen Catharina Margaretha Linck aus dem 18. Jahrhundert herausgegriffen: Linck, später bekannt unter dem Namen Anastasius Lagrantinus Rosenstengel, floh als junger Mensch aus einem Waisenhaus in Halle, um in Männerkleidern ein neues Leben zu beginnen. Nach einer Zeit als Soldat im Spanischen Erbfolgekrieg desertierte Anastasius und verhinderte durch Offenbarung des eigenen Geschlechts seine/ihre Hinrichtung. Anschließend heiratete sie/er eine Frau und wurde 1721 als letzte weiblich gelesene Person wegen Sodomie enthauptet. Das Stück erzählt die Geschichte eines kriminalisierten Menschen, der in dem Versuch, die eigene innere Wahrheit nicht ersticken zu lassen, eine scheinbar festgelegte Welt ins Wanken bringt. Was bei „Alias Anastasius“ passiert, ist die künstlerische Sichtbarmachung einer Vergangenheit. Mithilfe dieser Sichtbarmachung – mithilfe des Erinnerns – wird dem Theater eine politische Sprengkraft bereitgestellt, die in ihrem Explosionsradius niemals zu unterschätzen ist (siehe „Zwischen Wolken und Gummizellen” unter tdz.de).

Rosi im 21. Jahrhundert

Im Fall von Roswitha von Gandersheim ließe sich nun also fragen, ob Peter Hacks‘ „Rosi träumt“ nicht womöglich sein feministisches Haltbarkeitsdatum überschritten hat. Also: Die Zeit für eine erneute Sichtbarmachung ist gekommen – die Zeit, in der eine nächste Generation von Autor:innen nach den Stücken der ersten deutschen Dramatikerin greift, einen neuen Versuch wagt und die Fantasien dieser frühmittelalterlichen Frau in eine neue Zeit trägt, sie selbst und anders denkt, sie zerlegt, neu aufbaut, würdigt, verwirft und neu befragt. Die Herausforderung dieses Erbes liegt vermutlich in der Aufgabe aufzuspüren, worin das Unerhörte unserer Zeit liegt – zu erspüren, worin die Differenzen und Gemeinsamkeiten jener Träume liegen, die Rosi im 18. Jahrhundert zu träumen wagte, und jenen, die Rosi im 21. Jahrhundert träumt. Und dann zu beginnen, mit eben diesem Unerhörten im eigenen Geist Theater zu spielen. T

Theater der Zeit 5/ 2023
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Foto Martina Berg
Diskurs & Analyse Essay
Denkmal für Roswitha in Gandersheim

Die Kleiststadt Frankfurt (Oder), die Dramaturgische Gesellschaft und das Kleist Forum Frankfurt (Oder) vergeben im Jahr 2024 zum 29.Mal den Kleist-Förderpreis für junge Dramatikerinnen und Dramatiker. Bewerben können sich Autorinnen und Autoren, die zum Zeitpunkt des Einsendeschlusses am 31. August 2023 nicht älter als 35 Jahre sind, mit deutschsprachigen Theatertexten, die zur Uraufführung frei sind.

Der Preis ist mit 7.500 Euro dotiert und mit einer Uraufführungsgarantie am Deutschen Theater Berlin verbunden.

Bewerbungsverfahren www.Kleistförderpreis.de

ST KL 24 20

AUSSTELLUNG

WANDELKONZERTE PERFORMANCES WORKSHOPS

KLANG- UND VIDEOINSTALLATIONEN

WIND

mit Lei Ban

Daniel Ott

Capella De La Torre

Edward B. Gordon

Franziska Baumann

Georg Aerni

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Peter Conradin Zumthor

Sonar Quartett

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FÜR JUNGE DRAMATIKERINNEN UND DRAMATIKER EI

Diskurs & Analyse Serie: Warum wir das Theater brauchen #04

Theater schlägt Netflix

Von Jonny Hoff

In unserer TdZ-Serie schreiben Theatermacher:innen über innere Antriebe, gesellschaftliche Bedingungen und künstlerische Motivationen

# 04

Bisher erschienen

Nora Schlocker

Anne Lenk

René Heinersdorff

Theater der Zeit 5/ 2023 74

Ich sitze in einem mittelgroßen Theater und sehe die Neuinterpretation eines Klassikers, „Antigone“, in der Inszenierung einer etablierten Regie. Ausverkauftes Haus, das Publikum meist im Alter meiner Eltern oder Großeltern. Tolle Spieler:innen auf der Bühne, die alles geben. Schwere Sätze über sechs Zeilen hören sich bei ihnen an wie „Hallo, Tschüss, wie geht´s dir?“, das Regiekonzept ist klar zu erkennen. Zwei Stunden vergehen, Held:innen sterben, existenzielle Emotionen werden spürbar, am Ende zu Recht großer Applaus. Aber ich merke, dass mich nichts in diesen zwei Stunden wirklich berührt hat. Es gab keine Katharsis, keine Läuterung, und ich denke, dass liegt nicht daran, dass hier irgendwer etwas falsch gemacht hat. Aber woran dann?

Theater ist ein Ort der greifbaren Identifikation mit etwas, der Ort, an dem Lebensrealitäten eine künstlerische Übersetzung bekommen, sodass sie für mich erlebbar werden. Dabei gilt nach meiner Beobachtung, je entfernter die Lebensrealität von meiner eigenen ist, desto mehr muss die Übersetzung leisten, damit sie spürbar für mich wird.

Antigones Kampf, ihrem Bruder die letzte Ehre erweisen zu dürfen, Kreons unmenschlicher Entschluss, sie dafür zum Tode zu verurteilen, oder der Umstand, dass sie bei lebendigem Leibe begraben wird – alles grausame Dinge und trotzdem ungreifbar für mich. Nichts davon hat seinen Wert verloren, aber ich kann mich damit nicht mehr identifizieren. Briefe, die auf der Bühne überreicht werden, Machtkämpfe innerhalb von Königshäusern, religiöse Rituale usw. – alles Dinge, die ich kenne, zu denen ich aber keinen emotionalen Bezug habe, weil sie mir in meinem Leben nicht mehr begegnen.

Ich erinnere mich daran, wie meine Oma mir die Briefe gezeigt hat, die sie und Opa sich schrieben während des Kennenlernens – wie viel sie ihr bedeutet haben, jeder einzelne! Aber ich habe meinen letzten emotionalen Brief mit 13 geschrieben, finde die Lebensrealität von Monarchen maximal noch in der Netflix-Serie „The Crown“ interessant und bin aus der Kirche ausgetreten. Jetzt wird mir jemand erklären: Aber das ist doch das Tolle am Theater, dass du das dann da erleben darfst. – Ja! Stimmt! Aber ich erlebe nicht, obwohl ich weiß, was gemeint ist, ich schaue von außen zu. Jetzt versetze ich mich mal in die Lage eines 15-Jährigen, der heute zum ersten Mal im Theater sitzt, seine Urgroßoma nicht kennt, ohne Religion aufgewachsen ist und Briefe eigentlich nur in Form von Rechnungen kennt, die seine Eltern jeden Monat mit der Post bekommen. Dem wird das doch alles noch viel weiter weg vorkommen als mir.

Warum genau spielen wir den Kanon? Weil das unsere einzige Legitimation als Kunstform ist? Weil das Theatertradition bedeutet? Oder weil wir wirklich, wahrhaftig und jedes Mal aufs Neue nach dem Universellen, das zweifelsohne existiert, in diesen Texten und ihren Konflikten suchen?

Verstehen Sie mich bitte richtig, das hier wird kein Manifest, um traditionelles Sprechtheater abzuschaffen. Nein! Dieses Sprechtheater war nämlich der Grund, warum ich Schauspieler werden wollte. Es wird die Formulierung des Wunsches, sich nochmal des gesamtgesellschaftlichen Auftrags des Theaters als Spiegel der Gesellschaft bewusst zu werden. Die Verantwortung

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Theater der Zeit 5 / 2023
Foto Nathan Ishar Anzeigen ZENTRUM fü R Clow N , H UM o R UN d Ko MMUN i K aT ioN
f oto: Eric Engel (fentemennes.com)

Mit meinem Kollektiv punktlive versuchen wir uns daran, Social Media mit Theater und Film zu fusionieren. Wir begreifen Digitales Theater als neue und eigene Sparte, für die es gilt, eine Sprache zu finden. Eine Sprache, die verständlich ist, denn für ganz neue künstlerische Übersetzungen müssen wir unserem Publikum neue Sehgewohnheiten antrainieren.

darin zu sehen, dass diese Legitimation auch zukunftsfähig bleibt, und sich als kulturschaffender Mensch immer wieder zu fragen: Ist unser Theater wirklich für alle? Ohne dass jedes Stück allen gefallen muss.

Eine Identifikation mit dem, was auf einer Bühne passiert, kann durch verschiedenste Dinge hervorgerufen werden, und ich glaube, wir müssen da unser Repertoire nochmal ein bisschen erweitern, um andere Formen, aber auch um andere Geschichten, sodass jeder den Zugang zu dieser wunderbaren Kunstform findet.

Der Alltag unserer Gesellschaft wird immer digitaler, aber Digitalität gibt es im Theater kaum, allerdings zwang die Pandemie zu einem Auftrieb als ein Ersatz. Ich glaube fest daran, dass es eine realistische Chance ist, das Theater um neue Bühnen und Geschichten zu erweitern, Theater überregional zu machen und ganz andere Menschen mit diesem Medium anzusprechen und zu erreichen als die, die wir eh schon fürs Theater gewinnen konnten.

Wie oft haben Sie, während Sie das hier lesen, schon auf Ihr Handy geschaut? Vielleicht eine tolle Nachricht erhalten, die sie zum Lachen gebracht hat, oder eine Sprachnachricht abgehört, die mal wieder viel zu lang war, oder eine Nachricht an die Liebsten geschickt, dass sie an sie denken? Sind das keine Geschichten, die uns bewegen? Wir verlieben uns online, wir bilden uns online, wir erleben uns selbst online – klar, sicherlich unterschiedlich häufig, von den Generationsunterschieden ganz abgesehen, aber wir tun es alle tagtäglich!

Mit meinem Kollektiv punktlive versuchen wir uns daran, Social Media mit Theater und Film zu fusionieren. Wir begreifen Digitales Theater als neue und eigene Sparte, für die es gilt, eine Sprache zu finden. Eine Sprache, die verständlich ist, denn für ganz neue künstlerische Übersetzungen müssen wir unserem Publikum und auch uns selbst neue Sehgewohnheiten antrainieren. Digitalität rein um der Digitalität willen kann nicht der Weg sein. Sie muss aus den Geschichten heraus begründet sein, Narration und Lebensrealitäten bedienen, damit sich ein Publikum, gerade eines, das vielleicht eigentlich nicht ins Theater geht, darauf einlassen und damit identifizieren kann. Um es konkret zu machen: Hamlet in der Schlegel-Tieck-Fassung wird niemals in einem Videocall funktionieren, weil es schlicht einfach keine Lebensrealität dafür gibt.

Mit unseren ersten Arbeiten („werther.live“, „möwe.live“ und „odysseus.live“), die entweder rein digital oder hybride Formate

sind, durfte ich feststellen, dass diese digitalen Geschichten nicht nur gut funktionieren, sondern auch ganz andere Menschen tief bewegen, die ich mit analogem Theater niemals erreicht hätte. Bestes Beispiel: mein älterer Bruder. Er hat noch nie verstanden, was ich daran toll finde, mich acht bis zehn Stunden in dunkle Räume einzusperren und klassische Texte zu erarbeiten. Er geht auch nie ins Theater, es sei denn, ich spiele und habe ihn vorher angefleht, sich ein Stück anzuschauen. Weil er denkt, er sei zu dumm, um es zu verstehen, weil er glaubt, es sei ein Relikt aus längst vergangener Zeit, weil er keine Lust auf die gesellschaftliche Etikette eines Theaterbesuchs hat und weil es ihn in seinem Alltag nicht abholt.

Mit den digitalen Formaten gelang es mir, ihn zu Hause auf der Couch zu erreichen, mit beispielsweise einer Form von „Die Leiden des jungen Werther“, bei der Lotte und Werther feststellen, dass es viel leichter ist, sich online bei Instagram, WhatsApp und Co. zu verlieben, sich in endlosen Chats und Sprachnachrichten miteinander zu verlieren, als sich in Realität wirklich zu begegnen. Etwas, das mein Bruder kennt, das viele kennen, schließlich ist das die Lebensrealität beim Online-Dating. Diesen Theaterabend konnte nicht nur mein Bruder in Wien genießen, sondern auch rein theoretisch andere Menschen rund um den Globus, gleichzeitig, während ich in Bochum live gespielt habe.

Theater schlägt Netflix an diesem Abend, ist genauso mit einem Klick zu erreichen und stülpt sich damit ganz neu in die Leben der Menschen, die es schauen. Das empfinde ich als eine Chance und als Möglichkeit, Menschen so sehr fürs Theater zu begeistern, dass sie vielleicht auch den Weg ins nächstgelegene Theater wagen, weil sie sich eben doch von diesem Medium verstanden fühlen. Vielleicht ist da meine Generation auch ein bisschen im Vorteil: Ich weiß noch, was es bedeutet, ein selbst zusammengestelltes Mix-Tape oder eine selbstgebrannte CD zu verschenken, aber ich verstehe genauso, wie sich jemand durch das InstagramProfil einer Person in sie verknallen kann. Vielleicht müssen genau wir, die Millennials, uns das zur Aufgabe machen und Verantwortung übernehmen, weil wir diese Brücke schlagen können.

Ohne Goethe, Tschechow und Homer wären wir nie auf diese Ideen gekommen, ohne die Erfahrung des analogen Theaters hätten wir nicht gewusst, dass diese Geschichten funktionieren und berühren, und ohne Digitalität hätten wir sie nicht erzählen können.

Deshalb brauchen wir das Theater, weil alle diese Geschichten, egal ob analog oder digital, wichtig sind, weil sie alle erzählt werden sollten. Damit wir zusammen darüber lachen, weinen und nachdenken können, egal ob im Foyer oder im Zoom-Meeting. T

Jonny Hoff wurde 1993 in Magdeburg geboren. Seine Darstellung in „werther.live“ in der Regie von Cosmea Spelleken gilt als eine der wichtigsten Arbeiten des Digitalen Theaters der CoronaJahre. Er ist Mitglied des freien Theaterkollektivs punktlive.

Theater der Zeit 5/ 2023
Diskurs & Analyse Serie: Warum wir das Theater brauchen #04
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Luzern Wie sich das Luzerner Theater mit seiner Schauspieldirektorin Katja Langenbach und der Intendantin Ina Karr erneuert hat Hamm Das HELIOS Theater aus Hamm präsentiert zum zehnten Mal sein internationales Festival hellwach Bologna Die kollektive Vernetzung zur Commonisierung hermetischer Kulturbetriebe

77 Theater der Zeit 5 / 2023
Report
Foto Remi Angel
„Up!“, eine Produktion von LagunArte für das Festival hellwach
Theater der Zeit

Patenbabys und Selfies im Bühnenbild

Wie sich das Schauspiel am Luzerner Theater mit seiner Schauspieldirektorin

Katja Langenbach und der Intendantin Ina Karr erneuert hat

Besser kann man nicht empfangen werden: ein Selfie auf dem Sofa mitten im Bühnenbild von „Stützen der Gesellschaft“. Das Luzerner Publikum folgt dieser Einladung, genießt die Nervosität ringsum, die sonst nur das Ensemble hinter der Bühne kennt. Eine Inszenierung zur Inszenierung. Gleich vorab. Diese jüngste Arbeit von Katja Langenbach, der Schauspieldirektorin am Luzerner Theater, hatte Mitte Februar Premiere und vertritt durchaus die künstlerische Linie des Schauspiels unter der Intendanz von Ina Karr in ihrer zweiten Spielzeit: klar erzählte Stoffe und Geschichten, davon die Hälfte klassisch oder zumindest bekannt, die andere Hälfte neu geschrieben oder dokumentarisch. Diese Gewichtung ist für ein städtisches Theater wie das Luzerner eher ungewöhnlich und mutig. Selbst der Ibsen kommt frisch und direkt daher. Wie Tableaus schieben sich die Szenen fast auf Augenhöhe vor das Publikum, Bürgerthemen für Luzerner:innen. Bernick: Am Ende blendet dieses Logo einer fatal geschäftstüchtigen Familie um den gleichnamigen Hausherrn ihre eigenen Mitglieder. Selfies würde man mit denen nicht mehr machen, fast schämt man sich für die eigene anfängliche Naivität, aber den Bernicks geht es genauso. Ein letztes gemeinsames Familienporträt will nicht gelingen.

Jede Familie hat ihre Geheimnisse. Und jede Familie ist auf ihre eigene Art speziell und damit erst recht geheimnisvoll – und entsprechend theatralisch. Das Schauspiel am Luzerner Theater scheint diese Rezeptur zur Praxis zu machen und schickt gleich im April fast die komplette Besetzung von „Stützen der Gesellschaft“ in eine neue Familienaufstellung mit dem Titel „Bad Girls“, eine Adaption von Wagners Walküre. Unter der Regie von Brigitte Dethier geht es hier um Geschlechterverhältnisse, aber auch um Fragen nach Herkunft und uralte Ablagerungen von Verwandtschaft. Explosive Mechanismen und Dynamiken eingeschlossen. Opernarien werden zu Sprechgesang, das Ensemble auf der Bühne live musikalisch begleitet. Und als wäre das alles nicht schon Bezug genug, gibt es den einst in Luzern wahlbeheimateten Wagner über mehrere Spielzeiten hinweg, als sogenanntes „Ring-Ding“ und gemeinsames Projekt von Oper, Schauspiel und Tanz. Aber nicht nur die Sparten werden gemischt, auch die Altersklassen: „Bad Girls“ läuft unter dem Label „jung“ und richtet sich damit im Abendspielplan auch an ein jugendliches Publikum.

Theater der Zeit 5/ 2023 Report Luzern 78
Fotos Ingo Hoehn und das Luzerner Theater

Katja Langenbach lacht, als sie auf das Thema Familie angesprochen wird. Sie ist erstaunt, dass es von außen in dieser Weise wahrnehmbar ist, denn es sei eine Umgangsform und ein Thema, das ihr sehr entspreche, wie eine innere Agenda, aber nicht als Aushängeschild über dem Theater. Unabhängig von den genannten Inszenierungen spürt man auch als Zuschauer, dass sich im gesamten Luzerner Theater seit dem Amtsantritt von Intendantin Ina Karr etwas verändert hat. Das Haus strahlt eine angenehme Präsenz aller Beteiligten aus, gern geht man hier in die Premieren und Vorstellungen, schnell kommt man ins

Vielleicht hat das Luzerner Theater manch anderen Theatern eines voraus: Es gibt hier offenbar eine gute Stimmigkeit zwischen dem, was auf der Bühne passiert, und dem, was hinter der Bühne geschieht.

Gespräch mit Beteiligten oder anderen Zuschauer:innen. Eine Gastfreundlichkeit, die an anderen Häusern programmatisch verkündet wird, findet hier selbstverständlich statt. Man fühlt sich mit dem Angebot des Theaters gemeint und spricht über die spartenübergreifende Offenheit. Katja Langenbach möchte das „Familiäre“ der Arbeit größer fassen und in einen sozialen Kontext stellen. Das Ensemble steht dabei an vorderer Stelle, es wurde auf zehn Spielende aufgestockt. Da tatsächlich viele der Kolleg:innen Familien und Kinder haben, wird weitgehend auf Abendproben verzichtet. Dies ermöglicht eine andere Verbindung mit der Stadt aufgrund neuer Freiräume für ein Leben außerhalb des Theaters.

Die Großen Geheimnisse

Sie selbst fühle sich am eigenen Haus sehr wahrgenommen, sagt Katja Langenbach und möchte das weitergeben an ihr Team im Schauspiel. Wenn sie ihre eigene Arbeit beschreiben wolle, interessiere sie die Idee von Gemeinschaft, besonders ein gemeinsames Erzählen, das Erfinden anderer Welten, ein Imaginieren von Möglichkeiten und – weil im Theater – das Herstellen von Berührungen. Über sechzehn Jahre war sie freischaffend im Spagat zwischen Sophiensälen, Kampnagel, Gessnerallee und diversen Stadttheatern (u.a. St. Gallen, Ingolstadt, Magdeburg, Aachen, Ulm). Daneben gab es immer eine feste Konstante: das Produzieren von Hörspielen und Features; seit Jahren macht sie dies parallel, mit großem Anliegen für das Erzählen von Geschichten. Gerade erst gesendet wurde im Deutschlandfunk eine sehr poetische Reflexion mit Raoul Schrott („Inventur des Sommers“) über das Abwesende und Nicht-Präsente in unserem Leben. Darin geht es wieder um die großen Geheimnisse, die für Kunst und Theater Zwischenräume aufmachen.

Und Luzern selbst? Wie verbindet man sich mit dieser Stadt? „Wir haben Steine aus dem Vierwaldstättersee auf die Bühne geholt“, antwortet Katja Langenbach sehr konkret, „und diese im Sinne der Nachhaltigkeit nach der Produktion in den See zurückgebracht.“ Die Steine waren für ihre Eröffnungsinszenierung vor über einem Jahr, für „Maria“ von Simon Stephens, ein Balanceakt für die Spielenden zu Themen wie Geburt, Liebe und Tod. Sozusagen vorfamiliäre Themen, auch wieder für ein jüngeres Publikum. Tatsächlich fällt auf, wie sehr das Luzerner Theater um junge Menschen bemüht ist. In diesem Ausmaß hat es das hier noch nie gegeben. Mit klaren Zeichensetzungen: So konnten alle Kinder, die während der ersten Spielzeit in Luzern geboren wurden, automatisch zu Patenbabys des Theaters werden. Sie gehören damit sehr jung bereits zum Publikum und werden jedes Jahr zu einer extra für ihre Altersgruppe kreierte Produktion eingeladen.

Doch auch für die vorausgehenden Generationen gibt es im Programm genug Anbindungen. Dominik Busch, Autor und Dramaturg am Haus, hat in der letzten Spielzeit einen traumatischen Amoklauf in Luzern mit seinem Stück „Der Chor“ aufgegriffen und viele Menschen aus der Stadt auf die Bühne geholt. Noch in diesem Frühjahr entwickelt Regisseurin Anna Papst mit „Ich, aber anders“ eine Parabel über die Kraft des Verkleidens – in einer

79 Theater der Zeit 5 / 2023 Report Luzern
„Stützen der Gesellschaft“ von Henrik Ibsen in der Regie von Katja Langenbach am Theater Luzern

Hochburg der Schweizer Fasnacht. Nicht weiter erstaunlich, dass unter Ina Karr und Katja Langenbach Frauen eine zentrale Rolle spielen. Antje Schupp verhandelte in „LIEBE / eine argumentative Übung“ mit drei Schauspielerinnen eine klassische Beziehung zwischen Frau und Mann und in Kleists „Amphitryon“ ließ die Regie von Elsa-Sophie Jach die hintergangene Alkmene vielgestaltig zur Hauptfigur werden.

Vielleicht hat das Luzerner Theater manch anderen Theatern eines voraus: Es gibt hier offenbar eine gute Stimmigkeit zwischen dem, was auf der Bühne passiert, und dem, was hinter der Bühne geschieht. Dazu hat es sogar eine hauseigene Akademie gegründet, die „Reflektor“ heißt und intern junge Bühnenangehörige fördern soll durch Mentoring von erfahrenen Kolleg:innen. Eigene künstlerische Arbeiten der Teilnehmenden können auf die Bühne gebracht werden, außerdem besteht die Möglichkeit monatlicher Fort- und Weiterbildungen. Zuständig für den „Reflektor“ ist Valentin Köhler, gleichzeitig Hausszenograf des Theaters. In dieser Funktion wird er zu Beginn der kommenden Saison eine originale Mosterei aus dem Luzerner Umland mitten in das Theater hinein verfrachten. Als offenes Spielhaus für eine richtig große und alte Familie. Für die Atriden. In der Regie der Schauspieldirektorin. Mehr sei hier aber nicht verraten. In jedem Fall schließt sich sinnträchtig der Kreis. T

Theater der Zeit 5/ 2023 80
Report Luzern Foto links Ingo
Hoehn und das Luzerner Theater, rechts oben Gergo Bardi, mitte Hans Gerritsen, unten Mitja Vasic „Maria“ von Simon Stephens in der Regie von Katja Langenbach in der Spielzeit 2021/22 am Theater Luzern Katja Langenbach, Schauspieldirektorin des Luzerner Theaters Ina Karr, Intendantin des Luzerner Theaters

Wege zum Anderen

Das HELIOS Theater aus Hamm präsentiert zum zehnten Mal sein internationales Festival hellwach

Eine weiße rechteckige Spielfläche. Zwei Männer balancieren, liegen, sitzen auf Holzplatten. Sie nehmen einander wahr, beginnen zu kommunizieren, schaffen Wege zueinander. Ganz konkret, indem sie die Holzplatten aneinanderlegen. Das Stück „Pulsar“ hat keine Sprache, es ist für Menschen ab zwei Jahren gedacht.

Die beiden Tänzer José Agüero und Adrián Hernández nehmen das Denken und Fühlen kleiner Kinder auf. Sie haben noch keine Souveränität darin, mit anderen umzugehen, über sich selbst hinauszudenken. Es sind vorsichtige Schritte, die Vertrauen erfordern. Und für Ältere ist dieses halbstündige Stück eine Reise zurück zu den Wurzeln des sozialen Verhaltens. Kindertheater, das über die Kindheit hinausweist. Also Theater. Für alle.

Das Teatro al Vacío aus Mexiko und Argentinien spielt zum ersten Mal in Deutschland. Das Hellwach-Festival in der Region rund um Hamm zeigt zum zehnten Mal ein internationales Programm in einer Gegend, die sonst nicht von Theatergastspielen aus anderen Ländern verwöhnt ist. Das künstlerische Leitungsteam, bestehend aus Barbara Kölling und Michael Lurse, ist mit ihrem eigenen Ensemble, dem HELIOS Theater, viel unterwegs, koproduziert und schaut sich andere Produktionen an. So ist ein großes Netzwerk entstanden, das alle zwei Jahre ein vielschichtiges und faszinierendes Festival ermöglicht.

Die Eröffnungspremiere ist eine Musikshow, in der das Ishya Arts Centre aus Ruanda den Klimawandel und die vielen anderen Bedrohungen der Erde reflektiert. „Little Kesho“ wird in einem Sprachmix unter anderem aus Englisch, Französisch und Suaheli gespielt. Mit dem Theater aus Kigali, der Hauptstadt Ruandas, hat das

Hammer HELIOS Theater schon oft zusammengearbeitet. Gerade entsteht eine neue Koproduktion, ein Stück über die Familie und das Aufwachsen in Ruanda und in Deutschland, über Tabus und das Schweigen.

Das Hellwach-Festival ist also keine Leistungsschau, sondern Teil und Höhepunkt eines Prozesses, einer gemeinsamen Arbeit daran, mit Theater die Welt zu beschreiben. In sehr unterschiedlichen Ästhetiken, die für alle – Kinder, Jugendliche und Erwachsene – zugänglich sein sollen. Das Rahmenprogramm ist dabei ebenso wichtig wie die Aufführungen. Da geht es um die Frage der Nachhaltigkeit, denn das Festival und die Koproduktionen bedeuten Reisen, oft auch Flugreisen. „Wir arbeiten daran“, sagt Michael Lurse, „dass die Gruppen länger in Deutschland bleiben.“ Das Teatro al Vacío zum Beispiel gastiert nach dem Festival noch eine Woche im Dortmunder Theater im Depot und spielt insgesamt 14 Aufführungen. Stücke, die sich direkt mit Krieg, Gewalt und Tod beschäftigen, finden sich im Programm nicht. „Wir beschäftigen uns lieber mit Beziehungen, dem Kennenlernen, auch dem Wahrnehmen von Konkurrenzen“, sagt Barbara Kölling. Und Michael Lurse ergänzt: „Wir springen nicht auf jedes aktuelle Thema auf.“ Sie haben die junge ukrainische Regisseurin Kateryna Lykianenko mit Studierenden der Karpenko-Kary-Universität aus Kyjiw eingeladen, ihr Stück „Die sechs Sinne“ zu zeigen. Eine Aufführung, die mitten im Publikum gespielt wird, für Menschen mit und ohne Sehbehinderung. Im Rahmenprogramm werden die Ukrainer:innen davon erzählen, unter welchen Bedingungen sie im Moment arbeiten. Und dass sie unbedingt weitermachen, sich vom russischen Angriffskrieg nicht ihr Leben kaputtmachen lassen, das Recht auf Poesie behaupten wollen. Das HellwachFestival beweist, dass – mit Unterstützung der nordrheinwestfälischen Landesregierung – auch westfälischen Kleinstädte zu Orten eines internationalen Austauschs werden können. T

Theater der Zeit 5 / 2023 Report Hamm
20. – 28. Mai in Ahlen, Bergkamen, Hamm, Lippstadt und Lünen
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„Soundbird“ vom Kolibri Theater „Wait a Minute“ von De Stilte „Tunnel“ vom Puppentheater Ljubljana

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Vernetzen und Besetzen –eine Volksbühne der Commons

Über die kollektive Vernetzung zur

Commonisierung bisher hermetischer Kulturbetriebe. Ein Bericht aus Bologna

Von Cecilia Hussinger

1. „Squatted“, rotes Graffiti in Bologna, März 2023 2. „Die monarchischen Strukturen zu Fall bringen“, Graffiti in der besetzten Università di Bologna, März 2023 3. „Squat Chain“, Vernetzung für die Commonisierung der Berliner Volksbühne am Rosa-Luxemburg-Platz 4. „B6112 –Doch Kunst“, Besetzung der Berliner Volksbühne am RosaLuxemburg Platz, 2017

Die Zeichen stehen auf Krise: Machtmissbrauchsskandale, schwindende Besucher:innenzahlen, Delegitimierungsversuche von rechtsaußen. Unübersehbar ist auch die Diskrepanz zwischen emanzipatorischer Behauptung auf der Bühne und Demokratiedefiziten hinter dem Vorhang. Doch es formiert sich Widerstand. Während die einen auf Schönheitskorrekturen wie Stadtdramaturg:innen oder Diversitätsmanagement setzen, sind andere der Meinung, dass es einen grundlegend anderen Ansatz braucht. Letztere berufen sich dabei auf ein sehr altes Konzept: die Commons. Sie fordern völlig neue, solidarische Strukturen und sind international und interdisziplinär aufgestellt.

Am 20. März 2023 bekam die Thematik des Commoning, die zunehmend auch für etablierte Kulturinstitutionen zum Modethema wird, mit der Veranstaltung „Art Occupations & the City as Cultural Common” im Ateliersi-Theater in Bologna eine Bühne. Das Institute of Radical Imagination (IRI) hatte Kulturschaffende aus mehreren europäischen Städten eingeladen, die an Besetzungen von Kulturräumen beteiligt waren oder sind. Das IRI besteht aus einer Gruppe von Kurator:innen, Aktivist:innen, Wissenschaftler:innen und Kulturproduzent:innen, die ein gemeinsames Ziel haben: die Entwicklung von Wissen, künstlerischen und politischen Interventionen, die auf die Umsetzung postkapitalistischer Lebensformen abzielen. In Bologna verhandelt werden sollten Cultural Commons, das heißt Kulturorte, die von Gemeinschaften unter demokratischen Grundsätzen der Teilhabe jenseits von Marktlogik und bürgerlicher Exklusivität organisiert werden.

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Theater der Zeit 5/ 2023
Report Bologna Foto 1 und 2 Staub zu Glitzer, 3 Darius Savelsberg, 4 David Baltzer
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Massimiliano Mollona, Gründungsmitglied des IRI und Professor an der Università di Bologna, gab den Anstoß für das Netzwerktreffen. Als langjähriger Forscher an der Goldsmiths University in London war der etablierte Kulturanthropologe auch Kodirektor der Bergen Assembly 2016 und Direktor der Athener Biennale 2017. Seine Abhandlung „Art/Commons: Anthropology beyond Capitalism” gehört mittlerweile zu den Standardwerken des Theoriefelds. Er untersucht darin internationale Praktiken des Commoning, die auf gleichberechtigter Teilhabe, Koproduktion und der Aufwertung von Care Arbeit basieren.

Alle Teilnehmer:innen verbindet, dass sie Verdrängung und Isolation solidarische Beziehungsweisen von unten entgegensetzen wollen. Für ein Theater der Commons, das gleichsam integriert und stört, sind dabei eine die Radikaldemokratisierung und Öffnung eines Hauses notwendige Voraussetzung. Arbeitskämpfe, selbstorganisierte mieten- und stadtpolitische Initiativen, ein Parlament der Wohnungslosen, eine Küche für alle, ein Hackspace – was in ein Theater gehört, entscheidet die Community.

Gemeinsame Kämpfe

Die Veranstaltung begann mit kurzen Präsentationen. Falk Lörcher und ich traten als Vertreter:innen des Kollektivs Staub zu Glitzer auf. Wir führten in das transmediale Geschichtenuniversum der Inszenierung „B6112” und die am 10. Februar gestartete Squatchain-Kampagne für die erneute Besetzung der Berliner Volksbühne am Rosa-Luxemburg-Platz ein. Anlass der Kampagne war die Ankündigung einer polizeilichen Räumung im Falle einer erneuten Besetzung. Volksbühnen-Intendant René Pollesch hatte 2017 unsere Besetzung des Theaters noch öffentlich unterstützt, konnte sich dann aber selbst nicht zur Umsetzung unserer Forderungen durchringen.

Elena Novakovits und Thanos Papagodiannis waren über Zoom aus Athen zugeschaltet und berichteten über die aktuellen Besetzungen von Staatstheatern und Hochschulen, in die sie involviert sind. Grund für die Tumulte in der griechischen Hauptstadt ist ein kürzlich erfolgter Präsidialerlass, der künstlerische Studienabschlüsse auf das Niveau eines Abiturs degradiert. Die Lage ist unübersichtlich: Die Besetzer:innen hangeln sich von einem Tag zum nächsten, stellen Forderungen, organisieren Workshops und zeigen Inszenierungen aller Sparten. Es wurde auch auf frühere Besetzungen verwiesen, wie die des anarchistischen Embros-Theaters, das mittlerweile seit über zehn Jahren gemeinschaftlich verwaltet wird.

Emanuele Braga vertrat mit dem aus einer Besetzung hervorgegangenen MACAO Milano einen commonisierten Kulturort in einem Wolkenkratzer von Mailand. Anders als die übrigen Akronym-Spaces – von MOMA bis MACBA – wird das MACAO autonom betrieben und fungiert als Safer Space und Protestzentrum gegen die Kommerzialisierung der Kunst und die Privatisierung des öffentlichen Raums. In seinem Vortrag erzählte Braga von der Entstehung des Ortes und der Rolle von technischen Lösungen bei seiner Verwaltung, denn Braga ist auch Experte für Blockchain-Anwendungen in Kulturgemeinschaften.

Den ersten Veranstaltungsblock schloss Gabriella Riccio als Vertreterin von L’ Asilo Neapel ab. Das Kulturzentrum, gelegen im historischen Zentrum der Stadt, hat sich ebenfalls über eine Besetzung etabliert und wird seither von einer offenen Gemeinschaft selbstverwaltet. L‘Asilo bietet Raum für verschiedene Kunstformen und war Vorbild für eine ganze Reihe weiterer „urban commons“ in Neapel. Mittlerweile ist die Stadt bemüht, die selbstverwalteten Zentren in ein Tourismuskonzept zu integrieren. Es gilt, Widerstand gegen diese Vereinnahmungsambitionen zu organisieren.

Aus Brüssel schließlich war Anna Rispoli angereist. Im Projekt Attrito arbeitet sie aktuell mit Schüler:innen aus Bologna zu Ideen einer commonisierten Schule. In Workshop-Formaten führt sie junge Menschen an Konzepte des Commoning heran. Auch in einer mehrtägigen Schulbesetzung soll mit Strategien experimentiert werden. Demokratische Strukturen und ein emanzipatorisches Selbstverständnis von Bürger:innenschaft sollten möglichst früh verhandelt und erprobt werden, findet Rispoli. Sie berichtete auch von ihrer derzeitigen Forschung zu den prekären Arbeitsverhältnissen bei der Biennale in Venedig – ein weiteres Großevent, das langfristig commonisiert werden sollte.

Vom anfänglichen Vortragsformat wurde schließlich in ein interaktives Plenum übergeleitet. Anwesend waren unter anderem Studierende der besetzten Universität, die gleich um die Ecke liegt. Wir diskutierten, inwiefern kulturpolitische Kämpfe von gesamtgesellschaftlichem Interesse sind und wie sich Kunst und Aktivismus auch mit anderen Arbeitskämpfen verbinden lassen. Aus singulären Ereignissen soll möglichst eine europäische Bewegung erwachsen. In einer Zeit, in der sich die postindustriellen Ökonomien des sogenannten globalen Nordens auf Immobilienspekulationen und Profite in der Kulturindustrie stürzen, kämpfen all diese Kulturschaffenden, Akademiker:innen und Aktivist:innen gegen Privatisierung, Gentrifizierung und Neoliberalisierung von Kulturräumen. Uns verbindet die Vision von commonisierten Kulturinstitutionen jenseits von Kommerz.

Eine Volksbühne der Commons

Unser Kollektiv Staub zu Glitzer engagiert sich seit 2017 innerhalb und mit der transmedialen Inszenierung „B6112“ für eine commonisierte Volksbühne am Rosa-Luxemburg-Platz. Mit der Squatchain-Kampagne mobilisieren wir öffentlich nicht nur internationale Partner:innen, sondern auch lokale Verbündete für eine erneute Besetzung der Volksbühne. Selbstorganisierte Wohnungslose und illegalisierte Menschen gehören zu unserem Netzwerk ebenso wie queerfeministische Gruppen, autonome Hausprojekte, etablierte Theaterschaffende und Wissenschaftler:innen. Teil der Kampagne ist auch ein halbernstes Crowdfunding: Über eine Spende können Squatchain-Coins erworben werden, um die Repressionskosten, die im Zuge der angekündigten polizeilichen Räumung entstehen werden, zu decken.

Mein Fazit zu Bologna: Staub zu Glitzer ist im Kampf um ein commonisiertes Theater nicht allein. Zurück in Berlin richtet sich der Blick wieder auf die Volksbühne. T

83
Theater der Zeit 5 / 2023 Report Bologna

Digital

All you can read

Lesen Sie unsere Bücher und Magazine online und entdecken Sie Assoziationen zum Thema aus unserem großen Verlagsarchiv mit mehr als 8000 Texten. tdz.de/streaming

Das ganze Theater

Musiktheater, Puppenspiel, Zirkus, Tanz, Kindertheater u. v. m. tdz.de/sparten

Podcast

Lina Wölfel und Stefan Keim sprechen im neuen TdZ-Podcast „Wölfel & Keim & Theater“ über aktuelle Streitthemen und Fragen der Theaterkritik. Diskutieren Sie mit auf Instagram, Facebook und Twitter.

tdz.de/podcast

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Neuerscheinungen aus dem Verlag Dazwischengehen!

Welche Inspiration, welche Kraft, welche Ideen und welche Praxisformen aus der Kunst heraus können für das soziale Handeln unserer Gesellschaft und ihrer Institutionen bedeutsam werden?

Seit 2018 führen die Herausgeber*innen Regina Guhl, Dorothea Hilliger und Mirko Winkel auf der Suche nach Antworten einen Dialog mit ganz unterschiedlichen gesellschaftlichen Akteur*innen, die sich in der Kunst, in der Wissenschaft, in der Pädagogik und in der Wirtschaft verorten lassen –und sie haben zwischen diesen Personen einen regen Austausch angezettelt. So haben sie in diesem Band Beispiele versammelt, in denen das Dazwischengehen! ganz selbstverständlich geschieht – vor allem da, wo das soziale Miteinander ausschließlich nach Kriterien der Zwecklogik, nach individuellem Gewinn­ oder Machtstreben organisiert wird; da, wo es schlichtweg in einem uninspirierten und uninspirierenden

Alltagstrott zu ersticken droht, oder da, wo demokratische Grundsätze missachtet und Gleichheitsgrundsätze außer Kraft gesetzt werden. Akteur*innen aus verschiedenen gesellschaftlichen Arbeitsfeldern haben hierzu beispielhafte, von der Norm abweichende Haltungen und Spezialkenntnisse entwickelt und eigensinnige Wege erprobt, die so zu einer Inspiration für soziales Handeln in der Gesellschaft insgesamt werden können.

Dazwischengehen! enthält Beiträge u. a. von Armen Avanessian, Augusto Corrieri, Jochen Gimmel, Simone Hain, Thomas Heise, Isabell Lorey und Joshua Wicke.

Recherchen 166

Dazwischengehen!

Neue Entwürfe für Kunst, Pädagogik und Politik

Paperback mit 168 Seiten, zahlreiche Abbildungen

€ 22 (print + digital)

Zur NewsletterAnmeldung Fotos:
K.
Nürnberg / Rudi Ott (double 47) Anzeige 84
Minneapolis, 2020 – Dieses Bild zirkulierte in den sozialen Medien während des Lockdowns, als die Proteste gegen rassistische Polizeigewalt in Minnesota ausbrachen, ausgelöst durch die Ermordung von George Floyd. Im Buch beschrieben von Joshua Wicke.
Birgit Hupfeld (Podcast), Aren Aizura (oben), Dietmar Gust (B.
Tragelehn), Spielzeugmuseum

In diesem Buch zieht Brechts letzter Meisterschüler und langjähriger Freund von Heiner Müller, B. K. Tragelehn, versonnen und verschmitzt, hellwach für die Finsternisse der Zeit, an seiner Zigarre und erzählt. Wieder. Noch einmal. In Gesprächen mit HansDieter Schütt wandert er durch sein Leben und besteht auf der Stimmung eines Abendspaziergangs. Der 1936 in Dresden geborene Regisseur, Dichter und Übersetzer verkörpert Lust am Widerspruch, Begehren nach dem Paradox, Freude an frivoler Verweigerung. Für ihn war das Leben im Osten eine Geschichte der Verbote, das Leben im Westen ebenfalls eine Chronik des Unliebsamen. Im verkoppelten Ostwesten dann die Wiederaufnahme des alten Möbelspiels: „Zwei Stühle kaufen / Und sich dazwischensetzen.“

Flankiert werden die Gespräche durch Texte von Josef Bierbichler und Friedrich Dieckmann.

Hans­Dieter Schütt

B. K. Tragelehn. Im Sturz. Sag Ja. Geh weiter. Paperback mit 206 Seiten

€ 18 (print + digital)

Impression aus der Ausstellung „Spielzeug und Rassismus“

Puppets of Color

Die US­amerikanischen Psychologen Dr. Mamie und Dr. Kenneth Clark führten in den 1940er­Jahren eine Studie über die Selbstwahrnehmung afroamerikanischer Kinder durch. Die Studie wurde später als „DollTests“ bekannt. Die Psychologen hatten vier bis auf ihre Hautfarbe identische Puppen dabei und fragten die Kinder u. a., mit welcher Puppe sie gerne spielen würden, welche „nett“ aussähe und welche „böse“, und fragten zum Schluss, welche Puppe für die Kinder am meisten aussähe wie sie selbst. Erschreckenderweise identifizierten die meisten Kinder die Schwarze Puppe als die böse, bevorzugten die weiße, erkannten sich selbst aber in der Schwarzen Puppe wieder. Die Tests der Studie haben später einen großen Anteil daran gehabt, dass die Rassentrennung an US­amerikanischen Schulen aufgehoben wurde.

Die neue Double­Ausgabe beschäftigt sich mit postkolonialen und antirassistischen Ansätzen im Figurentheater.

Double 47

Puppets of Color

Postkoloniale und antirassistische Ansätze im Figurentheater Heft mit 56 Seiten € 6 (print + digital)

TdZ on Tour

Eine Auswahl an Veranstaltungen, die wir mit unseren Partnern organisieren. Eintritt frei für TdZAbonnenten (abo-vertrieb@tdz.de)

DONNERSTAG, 11.5.

Zeitgenoss*in Gorki – 70 Jahre Maxim Gorki Theater Dussmann das KulturKaufhaus, Berlin

MITTWOCH , 24.5.

Recherchen 167: Dramatisch lesen. Wie über neue Dramatik sprechen? Versatorium Wien

SAMSTAG, 17.6.

Arbeitsbuch 2023: Johan Simons Schauspielhaus Bochum

Weitere Termine unter tdz.de/on-tour

Bücher in Planung

Klaus Thaler: Eine Puppe packt aus Moritz Ott: Der urheberrechtliche Schutz performativer Kunst 40 Jahre Kampnagel Martin Zehetgruber. Bühnen

Thomas Oberender: Gaia-Theater Arbeitsbuch Johan Simons

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B. K. Tragelehn 85
Vorschau
„Zwei Stühle kaufen / Und sich dazwischensetzen“

Lange hat sich Fiston Mwanza Mujila nicht mit Rassismus auseinandergesetzt. Was die eigene Position ist, sieht er heute viel klarer. Geboren im Kongo, lebt er in Graz und lehrt afrikanische Literatur an der dortigen Universität. Seine Identität, aber auch sein literarischer Raum haben sich mit den Geografien, die er durchquert hat, erweitert. Er schreibt sowohl Gedichte und Kurzgeschichten als auch dramatische Texte. Sein Beststellerroman „Tram 83“ kam am Schauspielhaus Graz auf die Bühne. Sein Stück „Après les Alpes“ wurde 2023 am Volkstheater Wien uraufgeführt.

Eine Welt in Aufruhr

Vom Kasala zum Jazz mit einem Streifzug durch das Theater, Romane und Lyrik:

Fiston Mwanza Mujila im Gespräch mit Charlotte Bomy

CHARLOTTE BOMY: In unserem ersten Gespräch hast du mir erzählt, dass du dich lange Zeit nicht mit Rassismus beschäftigt hast, dass deine Position aber heute, als französischsprachiger Autor, der in einem deutschsprachigen Land lebt, aber auch als Schwarzer Mann, der in Österreich lebt, genauer gesagt in Graz, viel klarer ist. Könntest du die Stationen deines Werdegangs, die geografischen Veränderungen, die historischen Ereignisse und Entwicklungen beschreiben, die deine Vorstellungswelt geformt haben?

FISTON MWANZA MUJILA: Ich bin in Katanga im Südosten der Demokratischen Republik Kongo geboren und aufgewachsen. Die Region ist weltberühmt für ihre Mineralien – insbesondere Uran, Kupfer und Kobalt. Diese Tatsache findet in meinen Texten Niederschlag, da meine Existenz intrinsisch mit meiner Heimatstadt verbunden ist. Katanga weist alle Merkmale einer typischen Bergbauregion auf. Wir haben den gleichen Bezug zu Zeit, Geld, Handwerk und Familie. Als zu Beginn des Jahrhunderts in der Provinz Katanga Bodenschätze entdeckt wurden, war für die belgische Regierung sehr schnell klar, dass sie diese abbauen würde. Doch schon bald stand sie vor einem riesigen Problem: Es gab nicht genug Arbeitskräfte. Also startete sie eine große Rekrutierungskampagne innerhalb der Kolonie, in Ruanda, aber auch

Theater der Zeit 5 / 2023 86
Theater der Zeit Vorabdruck
Verlag
Foto Marcel Urlaub
Die Inszenierung „In den Alpen/Après les Alpes“ von Elfriede Jelinek und Fiston Mwanza Mujila in der Regie von Claudia Bossard am Volkstheater Wien

in den Kolonien des südlichen Afrikas. Das waren brodelnde, unvorstellbare Zeiten, ein veritabler Goldrausch. Damit die Männer nicht einsam oder depressiv wurden, Heimweh oder saudade bekamen, wurde die Umsiedlung von Frauen und Kindern erleichtert (jedoch ohne die Bevölkerung nach ihrer Meinung zu fragen). Während dieser Massenumsiedlungen kamen sehr viele Luba, von denen auch ich abstamme, mit Sack und Pack nach Katanga. Diese Migrationen und insbesondere die Vorstellung von Zügen im kollektiven Gedächtnis der Luba halten immer wieder Einzug in meine Texte. Zur selben Zeit, als der Zug in Europa mit Fortschritt gleichgesetzt wurde, stand er in Afrika für Entwurzelung, Deportation, Exil, Zwangsarbeit und Einsamkeit. Mein Großvater sprach nie darüber. Die Kolonialisierung war ein Tabuthema. Er und seine Frau wurden ganz unruhig, wenn man Leopold II. erwähnte. In meiner Eigenschaft als Schriftsteller bin ich mir dieses nebulösen Teils der Familien- und Stammesgeschichte bewusst. Aus diesem Schmelztiegel von Menschen, die in den Süden geschleppt wurden, ist eine Stadt- und Volkskultur entstanden, mit der ich mich identifiziere. Mehr denn als Kongolese, also als Zugehöriger eines bestimmten Landes, sehe ich mich zuallererst als Kind der Minen und der Eisenbahn. Es heißt, dass das portugiesische Wort saudade schwierig zu übersetzen ist. Meiner Meinung nach gilt das genauso für einige der Begriffe aus der Welt der Minenarbeiter von Katanga, wie z. B. mpombé (Bier, das die Arbeiter nach getaner Arbeit in Gemeinschaft trinken und das in der Welt des Bergbaus mit Männlichkeit gleichgesetzt wird) oder mbunga (Mehl, das in der Katanga-Kultur Grundnahrungsmittel ist und täglich gegessen wird). Mit dem Gebrauch dieser Wörter taucht man bereits in die Vergangenheit ein.

Meine Eltern wurden in Lubumbashi geboren. Sie sind aus dem gleichen Holz geschnitzt: Kinder des Exils und der Zwangsarbeit … Die Kolonie war weder ein Jardin d’Acclimatation noch ein Kindergarten. Würdest du meiner Mutter sagen, dass sie ein Schwarzes Kind hat, lachte sie dich aus. Mein Onkel Katumbayi würde aufhören, sein Bier zu trinken. Meine Tanten mütterlicherseits würden

schäumen vor Wut, wenn man ihnen sagte, dass ich Schwarz bin oder Schwarz geworden bin, wie man’s nimmt. Schwarzer, Farbiger, Neger zu sein – die Liste lässt sich fortsetzen – ist eine Konstruktion. Die Erfindung des Schwarzen hat ihre Wurzeln in uralten Zeiten. Ich hatte meinen Koffer schon vor Ewigkeiten in Europa abgeladen, als ich erfuhr – und das war eine echte Entdeckung –, dass ich Schwarz bin, und mehr noch: ein Schwarzer Mann. Mit all den Klischees, die damit verbunden sind. Ein Schwarzer Mann ruft solche Stereotypen auf den Plan wie: Gigolo, sexuelle Zügellosigkeit, gefährlich, gewalttätig, verantwortungslos, Asylbewerber …

Im Kongo bin ich kein Schwarzer. Die Identität der Luba besteht aus zwei Polen: der Mensch in Bezug auf sich selbst, das heißt, sein Aussehen, sein Alter, seine Stärken, seine Schwächen, sein Geburtsname etc., und in Bezug auf sein Umfeld und die Gemeinschaft, in der er lebt – die der Lebenden und die der Toten gleichermaßen. Die Toten greifen auf irgendeine Weise in den Zyklus der Lebenden ein, da sie mukushi sind, Wiedergänger, wie man auf Ciluba sagt. In der Kultur der Luba würde man mich als großgewachsen beschreiben, als einen Schriftsteller, der in Europa lebt, und dazu kämen noch meine Tugenden und Schweinereien. Und ich würde immer untrennbar mit meinem Stammbaum verbunden sein: Ich bin das Kind von Mwanza Mujila und Nanga Musadi, der Enkel väterlicherseits von Julienne Odia Mwa Mwanza, der Neffe von Tante Ntumba und Tante Mbuyi und so weiter. Die Vergangenheit ist genauso entscheidend wie die Gegenwart und die Zukunft. Sie bildet das Fundament, auf dem die Welt aufgebaut ist. Übrigens wurde uns von meinen Großeltern, solange ich denken kann, mit derselben Beharrlichkeit, mit der man das Thema Züge in meiner Familie totschwieg, alles über unsere Ahnen beigebracht. Tausende von Namen von Menschen, noch lebend oder schon tot. Das sollte uns mit ihrer Kultur verwurzeln und die Ahnenverehrung in uns wachhalten. Noch heute werde ich von einigen von ihnen heimgesucht oder besucht. Vielleicht habe ich deshalb auf der Bühne immer das Gefühl, nicht allein zu sein, sondern von

Alten, Kindern, Frauen und Männern, Lebenden und Toten begleitet zu werden, allen voran von meinem Urahn Tshimbalanga, dem Urahn Mwanza Mukole und Mumbu und Kapolowayi, dem Baum der Geister.

In der Religion der Luba heißt es, dass Gott – ganz gleich, ob man ihn jetzt Mvidi Mukulu, Maweja Nangila, Tshiame oder Mamu wa Kanyiki nennt – bis zum heutigen Tag weiter Geister fabriziert. Die Erschaffung (der Welt) ist eine zeitlose Tätigkeit. Die Bühne als Entbindungsklinik. Man hat ständig das Gefühl, dass die Ahnen sich weiter vermehren.

Erst nachdem ich eine gehörige Portion Rassismus abbekommen hatte, wurde mir plötzlich klar, dass ich tatsächlich Schwarz geworden war. Rassismus ist so abstrakt, wenn man die Erfahrung nie gemacht oder ihn nicht im Alltag erlebt hat. Seine Wurzeln liegen unter anderem in der Kolonialisierung und der Sklaverei. Die Vorstellung und Sichtweise des Westens auf außereuropäische Völker hat sich jahrhundertelang entwickelt (durch seine Geografen, Philosophen, Reisenden, Ethnologen etc.). Rassismus, wie auch Antisemitismus, schöpft aus diesen abwertenden Diskursen. Zu unterscheiden sind der Alltagsrassismus und der strukturelle oder institutionelle Rassismus. Beide sind so schädlich wie die Pest oder die Pocken. Rassismus ist wie ein winziges Tier, das im Inneren deines Körpers an dir nagt und täglich deine Speiseröhre hinauf- und hinunterkriecht, deine Lunge zerfrisst und sich an deinem Blut labt, wie andere Leute an Rotwein … T

Dramatisch lesen. Wie über neue Dramatik sprechen? Herausgegeben von Edith Draxl, Ferdinand Schmalz und Eva­Maria Voigtländer Paperback mit 228 Seiten, € 22

Theater der Zeit 5 / 2023 87 Anzeige

Ein Siebenjähriger sitzt in seinem Kinderzimmer in Australien und hört auf Bitten seiner Großmutter eine Schallplatte an. Es ist Puccinis „Madama Butterfly“. Der Junge ist von dieser Musik erschrocken, überfordert, verstört und fasziniert. Er verliebt sich schlagartig in die fremdartige, alles umfassende Kunstform Oper und beschließt, Regisseur zu werden. Diese Urszene seines Kometenaufstiegs erzählt Barrie Kosky gern. Auch zwischen Buchdeckeln war sie schon nachzulesen: 2017 erschien im kleinen Wolff Verlag „Nächster Halt: Bayreuth“. Felix von Boehm und Rainer Simon hatten Kosky im Zug von Berlin nach Bayreuth ausgefragt, wo dieser als erster jüdischer Regisseur auf dem Grünen Hügel inszenierte. 2021 brachte Theater der Zeit das kleine, schön edierte Essaybändchen „On Ecstasy“ heraus, in dem Kosky frühe prägende Einflüsse entschlüsselt: die Hühnersuppe der Großmutter. Der erregende Schweißgeruch der Jungsumkleide nach dem Sportunterricht. Die Suche nach Dionysischem im Alltäglichen also.

Nun ein neues Kosky­Buch. Leicht verzögert flankiert es das Ende seiner Intendanz an der Komischen Oper. Der lapidar daherkommende Titel „Und Vorhang auf, hallo!“ ist der Eröffnungsmusik der Muppet Show entliehen, in der an Opernfiguren angelehnten Kapitelstruktur steht Miss Piggy zwischen „Gräfin Mariza“ (aus Emmerich Kálmáns gleichnamiger Operette), Tatjana (aus Tschaikowskis „Eugen Onegin“), „Hans Sachs“, „Salome“, „Tosca“ und „Mackie Messer“. Das überrascht, passt aber zu Kosky, der sich selbst als „Schwamm“ bezeichnet und die spießige Unterscheidung von E­ und U-Musik vehement ablehnt: „Viele Menschen haben mich in den letzten Jahren gefragt, woher ich meine Inspiration als Künstler und Intendant hole. Max Reinhardt? Walter Felsenstein? Nein. Es gibt nur eine Quelle: Kermit. […] Ich habe alles Mögliche in Kermit, Miss Piggy und Fozzie Bär projiziert und sie umgekehrt auch in mich aufgesogen. Ich bin zu einer Art Mischung aus einem Schwuchtel­Frosch, einer Schweine­Dragqueen und einem traurigen jüdischen Bär geworden.“ Dieser drastische, selbstironische Sound trägt wesentlich zum Lesevergnügen von „Und Vorhang auf, hallo!“ bei, das Inszenierungstagebuch und Künstlerautobiografie verzahnt.

Eindrücklich und pointenreich liest sich vor allem das „Hans Sachs“­Kapitel zur exorzismusgleichen Überwindung des Lebens­

traumas Wagner. Zur Konzeptionsprobe pinkelt Koskys Hund auf die heiligen Holzdielen des Festspielhauses, der tote Komponist rächt sich mit Regen am Premierenabend: „Meine Arbeit an diesem Ort war getan. Sie hat ihren Zweck für mich als Künstler und Mensch erfüllt. Ich bin geheilt.“

Koskys Ausführungen sind immer fundiert und meistens originell, doch das Nacherzählen der eigenen Regieheldentaten kennt man schon. Wo er aber über den Berufsalltag hinausgeht und rekonstruiert, wie sich die oft tragikomischen Wendungen seiner ungarisch­belarussisch­polnischaustralisch­jüdischen Familiengeschichte in sein Schaffen einschreiben, wo er gewitzt Leben und Opernkanon kurzschließt, da erweist sich der Bühnenkünstler als versierter Erzähler.

Schlüsselfigur und heimliche achte Protagonistin ist die erwähnte ungarische Großmutter Magda Löwy. Sie wächst in der Budapester Kulturelite auf, Opernbesuche gehören zum Leben „wie der Wocheneinkauf bei Edeka“, sie sammelt Autogramme von Richard Strauss, Kleiber, Caruso und Co. 1934 heiratet sie einen reichen Pelzhändler aus Australien und entkommt so dem Holocaust. Australien entpuppt sich jedoch als kulturelle Einöde. Ihre eigentliche Heimat bleibt die Welt der Oper und Operette. Das Leben, so Kosky, wird ihr zum Musiktheater: „Im ersten Akt ihrer Operette verbringt meine Großmutter ihre behütete Jugend im großbürgerlichen Budapester Milieu. Im zweiten Akt lernt sie meinen Großvater, den galanten russischen Ersatzprinzen, kennen, heiratet ihn und folgt ihm in ein fremdes Land. Im dritten Akt durchlebt sie nach dem Tod ihres Mannes eine Version der Mariza bzw. von Hanna Glawari aus ,Die lustige Witwe´ – allerdings in Australien während eines Weltkrieges.“

Koskys neues Buch handelt so auch von der Unverwüstlichkeit europäisch­jüdischer Kultur im 20. und 21. Jahrhundert und es bekennt sich entschieden zu einem diversen, weltoffenen Theater: „Hitler hat verloren, da wir diese Stücke genießen.“ T

88 Theater der Zeit 5 / 2023 Magazin Bücher
„Hitler hat verloren, da wir diese Stücke genießen“
Barrie Kosky verwebt Familienund Operngeschichte
Von Lucien Strauch
Barrie Kosky (mit Rainer Simon): „Und Vorhang auf, hallo!“ Ein Leben mit Salome, Mariza, Miss Piggy & Co. Insel Verlag, Berlin 2023, 250 S., € 26 Weitere Buchrezensionen finden Sie unter tdz.de

Die Suche nach dem Gemeinsamen

Theaterorte des Möglichen und ihre Raumpolitiken

Inwieweit hat Theater als institutionelle, soziale und auch ästhetische Praxis an einer gegenwärtig wieder dringlicher werdenden Suche nach alternativen und zukunftsfähigen Formen des Zusammenlebens Anteil?

Es ist diese große Leitfrage, die die Theaterwissenschaftlerin Laura Strack in ihrer Studie „farsi comune. Topographien prekärer Theaterorte im Europa der Gegenwart“ beschäftigt. Die Autorin versammelt sechs konkrete Theaterorte, an denen sich diese Suchprozesse exemplarisch auffinden und analysieren lassen: das transdisziplinäre Kulturhaus L’ Asilo in Neapel, das Tårnby Torv Festival am südlichen Stadtrand Kopenhagens, das Warschauer Teatr Powszechny, der zeitgenössische Kunstort Kino Kultura in Skopje, die Kreuzberger Freie­Szene­Spielstätte Vierte Welt in Berlin sowie eine Reihe theatral­performativer Ortsbesetzungen in Athen – allesamt zwischen 2010 und 2020 aus singulären, informellen Konstellationen hervorgegangen.

Das Buch gliedert sich in drei Teile und navigiert zwischen Theaterwissenschaft, politischer Theorie und Philosophie – vornehmlich französischer, poststrukturalistischer Provenienz (Gilles Deleuze, Félix Guattari und Judith Revel sind einige der wiederkehrenden, begriffsspendenden Denker:innen). Zuerst erläutert Strack sehr bündig und nachvollziehbar die mehrdeutigen Dimensionen ihrer zentralen Begriffe Topografie, Prekarität und „farsi comune“. (Letzterer adressiert aus dem Italienischen kommend den Prozess des kommun­Werdens, im Sinne einer Gemeinde, Gemeinschaft oder Institution.) Hieraus wird deutlich, dass sie einem postfundamentalistisches Verständnis von Gemeinschaft folgt und mittels Theorien der Relationalität (von Jean­Luc Nancy, Donna Haraway oder Judith Butler) Theater als Ort begreift, an dem der ontologische Modus des grundsätzlich verwobenen Miteinander­in­der­Welt­Seins nicht nur in Erscheinung treten, sondern auch körperlich erfahrbar, miteinander praktizierbar und zum Gegenstand der Reflektion wie auch der politischen Aushandlung werden könne. Der zweite Teil widmet sich den sechs Fallstudien, wobei selten die ästhetische Theaterpraxis konkreter Aufführungen im Vordergrund steht. Vielmehr geht es um die vorgefundenen kultur­ und gesellschaftspolitischen Kontexte, zu denen sich die entstehenden Orte je in ein kritisches Verhältnis setzen. Am Beispiel des L ’Asilo in Neapel

bedeutet dies zum Beispiel, den Akzent auf die Genese des Ortes zu legen: vom ehemaligen Konvent und späteren Waisenheim zum potenziellen Zentrum eines für 2013 geplanten Kulturforums, das „von oben“ bestimmt, was das Image der Stadt kulturell bereichern könnte, zur Besetzung des Gebäudes durch Kulturschaffende „von unten“ als entsprechendem Akt des Widerstands bis zur Implementierung eines common­basierten Modells, aus dem nun ein beispielhafter Ort hervorgegangen ist, der als öffentliches Gemeingut (im Besitz der Stadt) für alle offensteht und von Künstler:innen gemeinschaftlich organisiert wird (s. auch Vernetzen und Besetzen, S. 82). In diesem Teil besticht vor allem die Auswahl der Orte, die für ein bereicherndes Perspektivspektrum des gegenwärtig Möglichen stehen und Gemeinsamkeiten solcher topografisch­künstlerischen Suchbewegungen von Nord­ über Süd­ bis Osteuropa aufzeigen.

Der dritte Teil ist vor allem etwas für Theorieliebhaber:innen. Hier geht es Strack darum, entlang der abendländischen politischen „topologischen Figuren“ oíkos und pólis beispielgebunden auf ihre Begrenztheit hinzuweisen, um schließlich mit kósmos dasjenige Raumdispositiv vorzustellen, das die an den sechs Orten realisierten Suchen nach neuen Gemeinschaftsformen im Sinne einer umweltlichen, ethisch­ästhetischen Lebenspraxis stimmiger zu fassen vermag. Hier entkoppeln sich Theorie und die bis dahin sehr anschaulich analysierten Theaterorte mit ihren konkreten, realitätsbezogenen Anliegen leider etwas, ohne dass inhaltlich daraus nochmal ein größerer neuer Punkt gewonnen würde. Aber diese Kritik, die eher die Ebene der gewählten stichwortartigen Abhandlung in sprachlich hochkondensierter Form im dritten Teil betrifft, soll die beeindruckende Forschungsleistung, die hinter dieser Studie steckt, nicht schmälern. T

Laura Strack: farsi comune. Topographien prekärer Theaterorte im Europa der Gegenwart. Neofelis 2023, 433 Seiten, € 26

89 Theater der Zeit 5 / 2023 Magazin Bücher

Tamala Center Konstanz –Internationales Zentrum für Clown, Humor und Kommunikation

Tamala Clown Akademie

Deutschlands erste Berufsakademie für Clown, Gesundheit!Clown® und Comedy wird vierzig Jahre alt

Am 13.Mai 2023 feiert die Tamala Clown Akademie ihr vierzigjähriges Bestehen mit zahlreichen Aktionen auf der Straße in Konstanz und einer Bühnenshow mit den Absolventen aus ganz Europa unter dem Titel „The Best of Clown“.

Vom Clown über den Gesundheit!Clown® bis zum Schauspieler im Bereich Bühne, Film, Walk Act sowie in Seminaren (Seminarschauspieler) und Lehrfilmen für Online­Unterricht reichen die Ausbildungen an der inzwischen anerkannten Berufsakademie Tamala Clown Akademie in Konstanz – und dies schon seit mehr als vierzig Jahren. Fünf Trainer und verschiedene internationale Gasttrainer unterrichten den deutschsprachigen Clown­ und Comedy­Nachwuchs. Darüber hinaus können Teilnehmer auch das Zertifikat als Humorkom® Trainer, Coach und Dozent erwerben. Die Ausbildungen sind entsprechend einer dualen berufsbegleitenden Ausbildung in verschiedene einjährige Module gegliedert und können aufbauend besucht werden.

ner“. Nachdem namhafte Wissenschaftler die Bedeutung des Lachens für die Heilung erkannt haben, steigt auch die Nachfrage nach qualifizierten therapeutischen Clowns in Krankenhäusern, Altenpflegeheimen und in der Arbeit mit behinderten Menschen.

Inhalte der Ausbildung

Der Schauspieler für Clown, Comedy und Gesundheit!Clown® ist Gestalter und Interpret clownesker und komischer Figuren. Um diese Figuren den Zuschauern zu vermitteln, muss er sich selbst als eigenes Instrument begreifen und spezifische clowneske und humorvolle Ausdrucksfähigkeiten entwickeln. Dazu bedarf es einer umfassenden Ausbildung. Ein Gesundheit!Clown® benötigt zudem intuitive und therapeutische Fähigkeiten, um mit Patienten und Klientel „heilend“ arbeiten zu können. Unterrichtet wird in den Fächern Stimme, Körper (Bewegung und Ausdruck), Clown­Theater, Schauspieltraining, Persönlichkeitsentwicklung, Gesundheit!Clown® (Europäisches Patent) sowie Film und Fernsehen. Theorie in Geschichte der Clowns, Grundlagen medizinisch­therapeutischen Wissens sowie Schauspieltheorie des modernen Theaters runden die Ausbildung ab. An der Tamala Clown Akademie finden zwei Prüfungen in Theorie und Praxis statt: die Prüfung zum patentierten Gesundheit!Clown® im zweiten Ausbildungsjahr und die Diplomprüfung am Ende der Ausbildung. Die Ausbildung findet im Präsenzunterricht und im Online­Unterricht (theoretische Grundlagen) auf einer eigenen Plattform statt.

Bekannte Absolventen

Weitere Infos und das Jubiläumsprogramm finden Sie hier: www.tamala­center.de www.humorkom.de www.clown­und­comedy.de

Seit Dezember 2009 ist das „Diplom für Schauspieler für Clown und Comedy“ in ganz Europa und der Schweiz anerkannt und seit zehn Jahre gibt es das Zertifikat „HumorKom® – Humorcoach/Humortrai­

Der Erfolg einer Schauspielschule misst sich auch an ihren Absolventen. 1984 verließen die ersten Clowns und Comedians die Tamala Clown Schule. Regelmäßig etablieren sich seitdem die Absolventen erfolgreich auf dem Markt. Fast sechzig Prozent der Klinik­Clowns in Deutschland und der Schweiz kommen aus der Tamala­Schule. Die derzeit bekanntesten Absolventen sind Markus Just (Kleinkunstpreisträger der Stadt Nürnberg), Jutta Wübbe alias Marlene Jaschke (bekannt vom Schmidt Theater in Hamburg, NDR-Fernsehserie „Das Wartezimmer“ sowie Tournen in ganz Deutschland), Fabian Schläpper (Kleinkunstpreis Mainz) sowie Vera Badt (Kleinkunstpreis des Landes Baden­Württemberg). T

90 Theater der Zeit 5 / 2023 Foto links Tamala Clown Akademie, rechts Mathias Völzke
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Gründerin des Tamala Centers Jenny Karpawitz und Udo Berenbrinker auf der Bühne

Impressum

Theater der Zeit. Die Zeitschrift für Theater und Politik

1946 gegründet von Fritz Erpenbeck und Bruno Henschel

1993 neubegründet von Friedrich Dieckmann, Martin Linzer, Harald Müller und Frank Raddatz

Herausgeber Harald Müller

Redaktion Thomas Irmer (V.i.S.d.P.), Elisabeth Maier, Michael Bartsch, Michael Helbing und Stefan Keim, Nathalie Eckstein (Assistenz), Stefanie Schaefer Rodes (Assistenz), +49 (0) 30.44 35 28 5-18, redaktion@tdz.de, Lina Wölfel (Digitale Dienste), Sophie-Margarete Schuster (Hospitanz), Cecilia Hussinger (Hospitanz)

Mitarbeit Britta Grell (Korrektur)

Verlag Theater der Zeit GmbH

Geschaftsführender Gesellschafter Paul Tischler, Berlin

Programm und Geschäftsführung

Harald Müller +49 (0) 30.44 35 28 5-20, h.mueller@tdz.de

Paul Tischler +49 (0) 30.44 35 28 5-21, p.tischler@tdz.de

Verlagsbeirat Kathrin Tiedemann, Prof. Dr. Matthias Warstat

Anzeigen +49 (0) 30.44 35 28 5-20, anzeigen@tdz.de

Gestaltung Hannes Aechter (Konzeption), Gudrun Hommers

Bildbearbeitung Holger Herschel

Abo / Vertrieb Stefan Schulz +49(0)30.4435285-12, abo-vertrieb@tdz.de

Einzelpreis EUR 9,50 (Print) / EUR 8,50 (Digital); Jahresabonnement

EUR 95,– (Print) / EUR 84,– (Digital) / EUR 105,– (Digital & Print) / 10 Ausgaben & 1 Arbeitsbuch, Preise gültig innerhalb Deutschlands inkl. Versand. Fur Lieferungen außerhalb Deutschlands wird zzgl. ein Versandkostenanteil von EUR 35,– berechnet. 20 % Reduzierung des Jahresabonnements für Studierende, Rentner:innen, Arbeitslose bei Vorlage eines gültigen Nachweises.

© an der Textsammlung in dieser Ausgabe: Theater der Zeit

© am Einzeltext: Autorinnen und Autoren. Nachdruck nur mit schriftlicher Genehmigung des Verlags

© Fotos: Fotografinnen und Fotografen Druck: Druckhaus Sportflieger, Berlin

78. Jahrgang. Heft Nr. 5, Mai 2023. ISSN-Nr. 0040-5418 Redaktionsschluss für dieses Heft 04.04.2023

Redaktionsanschrift Winsstraße 72, D-10405 Berlin

Tel +49 (0) 30.44 35 28 5-0 / Fax +49 (0) 30.44 35 28 5-44

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Autorinnen / Autoren

5 / 2023

Greg Bond, Germanist, Groß Dölln

Rebecca Fischer, Studentin, München

Johnny Hoff, Schauspieler, Bochum

Burghart Klaußner, Schauspieler, Hamburg

Sabine Leucht, Theaterkritikerin, München

Ute Müller-Tischler, Kunstwissenschaftlerin, Berlin

Tom Mustroph, Journalist und Kritiker, Berlin

Hans-Dieter Schütt, Autor, Berlin

Theresa Schütz, Theaterwissenschaftlerin, Berlin

Lucien Strauch, Autor und Dramaturg, Berlin

Martín Valdés-Stauber, Dramaturg, München und Berlin

Isadora Wandt, Studentin, München

Martin Wigger, Theaterleiter und Dramaturg, Zürich

Vorschau

6 / 2023

Die nächste Ausgabe von Theater der Zeit erscheint am 1. Juni 2023

Das Berliner Haus der Kulturen der Welt wird unter der Leitung von Bonaventure Soh Bejeng Ndikung einiges anders machen und auch für die Theaterszene eine größere Rolle spielen. Ein großes TeamInterview mit Ndikung und seinen Mitarbeiter:innen.

Thomas Demand baut Objekte, die manchmal wie Bühnenbilder aussehen, und stellt dann Fotos davon aus. Thomas Oberender stellt ihn im Kunstinsert vor. Und Jette Steckel schreibt für die Serie „Warum wir das Theater brauchen“.

91 Theater der Zeit 5 / 2023
Bonaventure Soh Bejeng Ndikung (rechts) mit Carlos Maria Romero (links) und Marie Helene Pereira vom Haus der Kulturen der Welt.

Was macht das Theater, Tim Behren?

Tim Behren, gerade sind Sie auf Tournee in Großbritannien mit Ihrer Kompanie Overhead Project. Wie läuft es? Und wie anders ist das britische Publikum?

TB: Wir sind in Manchester, Bristol und London unterwegs, wo wir jeweils zweimal spielen. Wir geben zudem Workshops und Lectures und kommen auf diese Art in einen Austausch. Das Publikum ist tatsächlich anders, sehr gesprächig und euphorisch und sucht auch nach der Vorstellung den direkten Kontakt. Was wir aus Deutschland gar nicht kennen, ist, dass man auch gleich um Autogramme gebeten wird. Außerdem habe ich festgestellt, dass hier in Großbritannien die ganze Kulturlandschaft um einige Schritte weiter ist, was Diversität, Zugänglichkeit und Antirassismusarbeit sowie das Kreieren von Safer Spaces angeht.

In Köln wird es im Mai die mittlerweile vierte Ausgabe des CircusDanceFestival geben. Ich vermute, diese vierte Ausgabe wird noch größer, prächtiger, schöner und vielfältiger als die vorherigen?

TB: Auf jeden Fall! Es wird eine große Ausgabe, was natürlich auch daran liegt, dass die Kulturstiftung des Bundes dieses Jahr mitfördert. Dadurch konnten wir die Anzahl der in das Programm aufgenommenen Arbeiten erhöhen. Es sind jetzt 26 internationale Bühnenarbeiten in 34 Vorstellungen, unsere Sonderprojekte wie das VOICES Magazin und unsere Hochschulprojekte laufen weiter. Und wir haben dieses Jahr ein ausgiebiges Diskussionsprogramm.

Welche Themen wird es im Diskussionsprogramm schwerpunktmäßig geben?

TB: Ein wichtiger Schritt war sicher die Entwicklung von Festivals. Das führte dazu, dass überhaupt Stücke, auch internationale Stücke, sichtbar gemacht und damit zugänglich werden. Das zeigte, es gibt großes Interesse an zeitgenössischem Zirkus und auch ein Publikum dafür. Damit einher ging die kulturpolitische Arbeit, die sehr viel ausmacht in Deutschland. Die Gründung des Bundesverbandes BUZZ vor ungefähr zwölf Jahren in Köln war elementar. Köln ist damit eine Keimzelle des zeitgenössischen Zirkus. Heute ist er als eigenständige Sparte in den Verbänden und auch bei der Politik um einiges etablierter. Wichtig war, dass es während der Pandemie endlich eine Förderung auch für die Sparte Zirkus gab. Jetzt arbeiten wir daran, dass es weiter so bleibt. Denn wenn es Produktionsgelder, Kooperationsmöglichkeiten und Forschungsresidenzen gibt, können auch Zirkusproduktionen entstehen. Viele Künstler:innen aus Deutschland gehen auf europäische Zirkushochschulen. Wir sind jetzt an einem ganz spannenden Punkt, dass sie, wenn sie zurückkommen, inzwischen immer mehr Arbeitsmöglichkeiten hier finden, wegen der Förderungen und auch, weil sich immer mehr Häuser für Zirkusproduktionen interessieren.

Alles prima also?

Tim Behren ist Choreograf, Kurator und künstlerischer Leiter des Kompanie Overhead Project, das im vergangenen Jahr den Tabori Preis des Fonds Darstellende Künste erhielt. Er ist Mitbegründer des Bundesverbands Zeitgenössischer Zirkus, BUZZ, und initiierte 2019 das CircusDanceFestival, das jetzt im Mai zum vierten Mal stattfindet. Zudem ist er Mitherausgeber des TdZ-Arbeitsbuchs „Circus in flux“ (2022).

TB: Es geht um feministische Themen und dekoloniale Perspektiven auf den Zirkus. Wir wollen uns kritisch mit den Gesellschaften befassen, in denen Zirkus entsteht und gezeigt wird. Der Zirkus ist gerade auf Antrag von Nord­Rhein­Westfalen in das bundesweite Verzeichnis des immateriellen Kulturerbes als eigenständige Form der Darstellenden Kunst aufgenommen worden. Das ist natürlich toll. Es bedeutet aber auch, dass wir uns jetzt kollektiv mit diesem Erbe auseinandersetzen und die Machtstrukturen reflektieren müssen.

Wie beurteilen Sie generell die Entwicklung des Zeitgenössischen Zirkus in Deutschland in den letzten Jahren? Es hat sich ja viel getan. Wo liegen aber noch Hemmnisse?

TB: Es tut sich auf jeden Fall viel. Es braucht aber noch mehr: eine klare Zukunftsförderung für die Sparte. Und vor allem braucht es eine bauliche Nachrüstung der freien Theaterräume, eine Art Investitionsförderung, dass sie ihre Statik zum Beispiel professionell durchrechnen lassen können und sich Hängepunkte installieren lassen. Dann könnte zeitgenössischer Zirkus auch in solchen Häusern vermehrt stattfinden. T

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13-MAI / 19:30 UHR / GROSSES HAUS

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