Werk-Stück II. Die neue Regie-Generation (TdZ Arbeitsbuch 2024)

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Theater der Zeit Werk-Stück II

Die neue Regie-Generation

Arbeitsbuch 2024 EUR 24,50 CHF 30,00 tdz.de

Lucia Bihler Claudia Bossard Alexander Eisenach Jan-Christoph Gockel Julien Gosselin Sapir Heller Florentina Holzinger Heinrich Horwitz Elsa-Sophie Jach Pınar Karabulut Ewelina Marciniak Antú Romero Nunes Bonn Park Christopher Rüping Marie Schleef Rieke Süßkow Luise Voigt Wilke Weermann Julia Wissert Stas Zhyrkov


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Theater der Zeit

Werk-Stück II

Die neue Regie-Generation Herausgegeben von Nathalie Eckstein


Editorial

D

as vorliegende Arbeitsbuch versammelt 20 Porträts einer neuen Generation von jungen Schauspielregisseur:innen. Sie arbeiten an großen Häusern, ihre Arbeiten werden zu großen Festivals eingeladen, teilweise leiten sie selbst Ensembles und Häuser – und das nicht nur in Deutschland, sondern im ganzen deutschsprachigen Raum. Und: Sie alle sind in den 1980er und Anfang der 1990er Jahre geboren. In den vergangenen Jahren hat sich im Theater einiges getan. Es stand unter großen gesellschaftlichen wie historischen Belastungen – bis zur Zerreißprobe. Gleichzeitig hat es sich, das ist sicher die einzig allgemeine Feststellung, die sich ohne weiteres treffen lässt, diversifiziert. Das Theater ist weiblicher geworden, es ist migrantischer geworden und die Millennials, zu denen alle hier Vorgestellten gehören, arbeiten kollektiver. Sie haben sich in ihrer Praxis von der Idee der erfolgreichen Einzelkünstler:in mit Genie­ anspruch verabschiedet. Deutschland ist nicht länger durch eine physische Mauer ge­ teilt, das Internet hat das Aufwachsen selbstverständlich begleitet, die negativen Konse­ quenzen eines globalen Kapitalismus intensivieren sich unablässig. Und all das zeigt sich auch. Als eine neue Generation waren sich Regisseur:innen niemals mehr der eigenen Ver­ ortung, der eigenen Position und damit auch der eigenen Privilegien bewusst. Denn nach wie vor geht mit dem Regieberuf ein Machtbegriff einher, doch dieses Arbeitsbuch zeigt, wie Macht und Verantwortung zusammenhängen und der Machtbegriff selbst auch sub­ versiv verwendet werden kann. Dazu hat sich auch das Verhältnis zum Text radikal verändert. Kanonische Texte wer­ den nicht mehr unhinterfragt angenommen, sie werden von der Regie kommentiert, ver­ ändert, überschrieben, collagiert – wenn nicht die Regisseur:innen selbst schreiben. So bezieht sich dieses Arbeitsbuch zwar auf „Stück-Werk I“, das 2003 bei Theater der Zeit erschien, aber die Prägungen, Erfahrungen und Arbeitsweisen, das ganze Feld des Theaters hat sich seither grundlegend verändert. Höchste Zeit also, die neue Generation erstmals so zusammengestellt in Porträts zu präsentieren.

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Ein solches Arbeitsbuch kann immer nur eine Auswahl bieten, die selbst wieder Aus­ schlüsse produziert und weder als vollständig gelten kann, noch als kanonisch anzu­ sehen ist. Auch soll diese Auswahl nicht als Bestenliste verstanden werden, sondern eher als eine Art Querschnitt. Die Positionen der Regisseur:innen sind so unterschiedlich wie ihre Inhalte und Motivationen. Sie arbeiten freischaffend, sind als Hausregisseur:in­ nen einem Theater verbunden oder leiten als Schauspieldirektor:innen gar ein eigenes Ensemble. Auch das Alter soll nur als eine Wegmarke verstanden werden, nicht als Krite­ rium der Bewertung oder Beurteilung. So geht es immer auch um ihre Ausbildungen und Herkünfte, ihre Verortungen und Herangehensweisen. Alle Regisseur:innen haben von anderen gelernt, die vor ihnen da waren. So gibt hier mit „Stück-Werk II“ im Anschluss ans „Stück-Werk I“ auch eine Generation einer neuen den Staffelstab in die Hand. Und so unterschiedlich die verschiedenen Positionen sind, so unterschiedlich werden sie hier auch vorgestellt. Längst ist der Gedanke überholt, aus einer objektiven Perspek­ tive über Inszenierungen ebenso wie über Menschen berichten zu können. Längst arbeiten wir alle in dem Bewusstsein unserer jeweiligen Perspektive, die begrenzt ist. Das Arbeitsbuch versucht nicht nur, eine neue Generation der Regisseur:innen vorzu­ stellen. Es versucht mehr noch, die je eigene Perspektive der Autor:innen produktiv zu machen und auf die Form des Porträts anzuwenden. So unterscheiden sich die Texte zu den einzelnen Regisseur:innen und nähern sich ihnen aus verschiedenen Blickwinkeln – einem wissenschaftlichen, einem journalistischen, einem des persönlichen Gesprächs, oder durch eine Infragestellung des Einzelporträts überhaupt. Es ist ein Arbeitsbuch der Eigenwilligkeiten geworden – in der Kunst wie im Sprechen darüber. Ich bedanke mich bei allen Beteiligten für die schöne Zusammenarbeit und wünsche viel Freude und Anregung beim Blättern, Lesen und Entdecken. Nathalie Eckstein

N AT H A L I E EC KST E I N

E D I TO R I A L

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Inhalt LUCIA BIHLER

CLAUDIA BOSSARD

Orgien der Präzision

6

Theater dritter Dimension

12

Wie Lucia Bihler mit formstarken Setzungen der Realität näher kommt Von Hannah Schünemann

Wie Claudia Bossard Theorie produktiv macht Von Hermann Götz

ALEXANDER EISENACH

Eklektisches Graben in Schichten

Wie Alexander Eisenach als Autor-Regisseur kanonische Stücke aufmischt

18

Von Thomas Irmer

JAN-CHRISTOPH GOCKEL Sinnliche Überfülle als Mittel der Utopie

24

Jan-Christoph Gockel findet ästhetisch anspruchsvolle Gegenmodelle zu unserer Gegenwart Von Christoph Leibold

JULIEN GOSSELIN

Das Publikum als kurzsichtiges Insekt

30

Das Ausnahmetheater von Julien Gosselin Von Eberhard Spreng

SAPIR HELLER

„Meine Themen sind oft sehr dunkel, aber meine Inszenierungen sind es nie“

36

Wie Sapir Heller Humor als Mittel zur Veränderung nutzt Von Sabine Leucht

FLORENTINA HOLZINGER Radikale Verbindungen

In ihren Arbeiten entgrenzt Florentina Holzinger Körper, Materialien, Elemente und Maschinen zu einer neuen Gemeinschaft

44

Von Hannah Schünemann

HEINRICH HORWITZ

Multiperspektivität als Leitmotiv

Wie Heinrich Horwitz Synergien gestaltet

50

Von Theresa Schütz

ELSA-SOPHIE JACH

„Theater ist ein wundersames Konstrukt“

Elsa-Sophie Jach liebt das Zusammenspiel verschiedener Künste auf der Bühne Von Anne Fritsch

56


PINAR KARABULUT

Play what you can’t play

Wie sich Pınar Karabulut Klassikern mit Herz und Courage nähert

62

Von Martin Krumbholz

EWELINA MARCINIAK

Radikal weiblich

Wie Ewelina Marciniak klassische Stoffe aus feministischer Sicht neu interpretiert

68

Von Elisabeth Maier

ANTÚ ROMERO NUNES

Stadttheater im besten Sinn

Wie Antú Romero Nunes das Schauspiel am Theater Basel lokal und spartenübergreifend mitgestaltet

74

Von Julie Paucker

BONN PARK

Schöne, neue Welten

Wie der Autor und Regisseur Bonn Park Utopien erforscht

80

Von Sarah Heppekausen

CHRISTOPHER RÜPING

„‚Die Möwe‘ hat mir den Abschied geschenkt“

86

Christopher Rüpings Zeit am Schauspielhaus Zürich Von Julie Paucker

MARIE SCHLEEF

Die Wirklichkeit scharf stellen

Wie Marie Schleefs technisch präzise Inszenierungen patriarchale Muster sezieren

92

Von Hannah Schünemann

RIEKE SÜßKOW

Keine Sahnetorte ohne Sahne Wie Rieke Süßkow Freiheiten im Theater schafft

98

Von Lina Wölfel

SEITE 132 Autoren:innen

Leben mit den Gespenstern

Luise Voigt inszeniert mit Forscherdrang und Ideologie­ bewusstsein

104

Von Michael Helbing

WILKE WEERMANN

Impressum

SEITE 132

LUISE VOIGT

Die gehackte Sprache der Gaming-Generation

112

Wie Wilke Weermann als Autor und Regisseur Isolation und Realitätsverlust auf die Bühne bringt Von Elisabeth Maier

JULIA WISSERT

Den Zerfall gestalten

Julia Wissert über Peinlichkeitstoleranz, reality hacking und die Poetik des Untergangs.

118

Von Yaël Koutouan

STAS ZHYRKOV

Kriegstraumatisches Theater

Stas Zhyrkov ist der bekannteste ukrainische Regisseur im deutschsprachigen Theater Von Thomas Irmer

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HANNAH SCHÜNEMANN

Orgien der Präzision

„N

ochmal, nochmal, nochmal!“, kreischt die lüsterne Stimme der Erzählerfigur auf der großen Bühne des Hamburger Schau­ spielhauses – und die Geschichte, die hier gespielt wird, beginnt von Neuem. In ihrer Inszenierung von Georg Büchners „Woyzeck“, die Ende Oktober 2022 Premie­ re feierte, versetzt die Regisseurin Lucia Bihler die Figuren in einen Loop. Ihr Protagonist, gespielt von Josef Ostendorf, stolpert wieder und wieder durch sein unglückliches Schick­ sal. Wieder und wieder wird Woyzeck ausgebeutet und er­ niedrigt, wieder und wieder ermordet er seine Freundin. Er ist gefangen in einer pastellfarbenen Stube, aus der die Türen nicht hinausführen, sondern nur hinein. Mit seinen langen Fin­ gern dreht der koboldartige Erzähler, den Bihler dem Stück schenkt, die Wanduhr in der Stube zurück. Raum und Zeit wie­ derholen sich unermüdlich und immer wieder stellt sich die Frage: Wird Woyzeck am Ende wieder zum Messer greifen, wieder die Marie erstechen? Oder gibt es einen Ausweg? Bih­ lers bildstarke Inszenierungen legen den Finger in die Wunde ihrer Stoffe. Indem sie die Textgrundlage ihrer Inszenierungen mit starken formalen Setzungen konfrontiert, kommt die Re­ gisseurin den strukturellen Mechanismen auf die Spur, die hinter den Figuren und ihren Verhältnissen liegen.

Binäre Ordnungen schwinden lassen Literarische Stoffe sind für Lucia Bihler Ausgangspunkt für eine Suchbewegung, die Inhaltliches und Ästhetisches von Beginn an verzahnt. Wie der Kosmos, in dem die Handlung stattfindet, beschaffen ist – wie er aussieht, welchen Rhyth­ mus er hat, wie er klingt – ist essenziell für die Art ihres Text­ zugriffs. Bleibt die Dramaturgie des Textes bestehen oder

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wird sie dekonstruiert? Wird der Text modular ergänzt, über­ schrieben oder bekommt er eine zweite Ebene, ein neues Ende? Derartige Entscheidungen gehen bei Lucia Bihler Hand in Hand mit einem feinen ästhetischen Gespür und einer konsequenten Verbildlichung des Stoffs. Auf ihrer Werkliste finden sich neben Büchner Autoren wie Kafka, Bernhard, Ibsen, Euripides. Diesen starken literarischen For­ men setzt sie jeweils andere starke Formen entgegen. In ihrer Adaption von Robert Musils „Die Verwirrungen des Zögling Törleß“ (Staatstheater Mainz, 2019) ließen Bihler und ihr künstlerisches Team die Schuljungen aus dem Roman von einer rein weiblichen Besetzung in Vampirkostümen spielen. In „Final Fantasy“ (Volksbühne Berlin, 2019), Bihlers Adaption von Oscar Wildes „Salome“, tummeln sich Aliens auf der Bühne, die sich den Figuren in Wildes Stück aus außeriridischer Perspektive nähern. Die Bühnenwelten der Regisseurin werden zumeist von Figuren bevölkert, die im Nicht- oder Übermenschlichen verortet sind; Vampire, Aliens, Untote, Teufel, Satyren. Und herkömmliche Rollen und Bilder von Geschlecht verdrehen, gar auflösen. Am Volkstheater München inszeniert sie 2023 Jean ­Genets „Die Zofen“ mit einer cross-gender-Besetzung: Die drei weiblich gelesenen Figuren werden von drei männlich gelesenen Schauspielern gespielt. Eine Setzung, die so vom Autor selbst vorgesehen war und in Bihlers Inszenierung in all ihren Facetten ausgekostet wird: Nicht nur die überstili­ sierten Abendkleider, entworfen von Leonie Falke, werden in diversen aufwendigen Kostümwechseln in Szene gesetzt. Auch die Körperlichkeit der Schauspieler trägt das Konzept. „Die Zofen“ von Jean Genet. Regie Lucia Bihler am Münchner Volkstheater, 2023. Bühne Jessica Rockstroh, Kostüm Leonie Falke

Foto Sebastian Arlt

Wie Lucia Bihler mit formstarken Setzungen der Realität näher kommt


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Entgegen anderen Arbeiten der Regisseurin, in denen die Körper einer durchdeklinierten Form folgen, kokettiert die körperliche Form in dieser Inszenierung mit einer Offenheit. Weder versteckt die Körpersprache der Schauspieler ihre Männlichkeit, noch behauptet sie anmaßend Weiblichkeit. Wenn die drei sich dann in lasziven Choreografien an den Poledance-Stangen räkeln, scheint etwa die teils üppige Körperbehaarung schon immer Teil dieses hochästhetischen Bilds gewesen zu sein: Wir sehen wunderschöne Körper. Die Frage nach dem Geschlecht wird hier nach und nach zweit­ rangig. Sie verschmilzt mit der feinen Manieriertheit1 und präzisen Exaltiertheit der Figuren, die viel spannender ist als jede binäre Ordnung. Die Autorin Maggie Nelson beschreibt in ihrem Buch „Die Argonauten“ fluide Geschlechteridentitäten. Ausgehend von persönlichen Erfahrungen verflicht sie Mythologie, Philoso­ phie und alltägliche Beobachtungen zu einem Essay, in dem der Umgang mit Identität neue Formen gewinnt. Dabei macht Nelson deutlich, dass Geschlecht nicht einfach ne­ giert werden kann, da genderbasierte Zuschreibungen das Subjekt gesellschaftlich und sozial immer noch maßgeblich prägen. Geschlecht müsse aber, so Nelson, als etwas ver­ standen werden, was ein Subjekt hat, nicht, was es ist. Sie beschreibt den Schlüssel, der nötig sei, um über herkömmli­ che, binäre Vorstellungen hinauszugehen als ‚Orgie der Prä­ zision‘. Demnach ginge es darum, die Instabilität des Konst­ rukts Geschlecht ins Auge zu fassen und den Umgang damit unnachgiebig und penibel neu einzuüben.

Form als Detektor systemischer Zusammenhänge Eben solche Orgien der Präzision scheint Lucia Bihler auf die Bühne zu bringen. Sie übernimmt nicht unhinterfragt die Rollenbilder aus Kanon und Gesellschaft, sondern lotet diese formal neu aus. So wie uns der Blick durch eine Lupe zeigt, was einen Gegenstand im Detail ausmacht, setzt Lucia Bih­ ler ihren Formwillen ein, um das Terrain ihrer Erzählungen zu erkunden. Geleitet durch eine Lust auf das Seltsame, Unge­ wöhnliche und Exzentrische findet sie gemeinsam mit ihrem jeweiligen Ensemble und Team formale Schablonen für die Figuren, die vom individuell Psychologischen abstrahieren und das Strukturelle freilegen. In ihrer Inszenierung von Ibsens „Hedda Gabler“ am Volkstheater München (2018) markiert sie die Figuren durch individuelle Gesten, die wiederum von spezifischen SoundEinspielern begleitet werden. Frau Elvstedt beispielsweise wiederholt ständig dieselbe nervöse Bewegung mit ihren Händen, die durch ein markantes Klacken hervorgehoben ist. Foto Arno Declair

1 Dank an Walter Hess für diese vortreffliche Beschreibungsformel

„Hedda Gabler“ von Henrik Ibsen. Regie Lucia Bihler am Münchner Volkstheater, 2020. Bühne Jana Wassong, Kostüm Laura Kirst

LU C I A B I H L E R

ORGIEN DER PRÄZISION

Lucia Bihler macht in ihren Arbeiten Platz für Außergewöhnliches und Un(zu)gehöriges. Auf diese Weise werden die psychologischen Zuschreibun­ gen der Figur in einer formalen Geste eingefangen und der Spielraum für fundamentalere Betrachtungen geöffnet: Wel­ che Fäden hat Thea Elvstedt in der Hand? Wie positioniert sie sich im Gefüge der Macht? Dank diverser formaler Stra­ tegien und des formal präzisen Spiels der Schauspieler:in­ nen werden die Figuren in Lucia Bihlers „Hedda“ nicht auf psychologische Einzelfälle reduziert. Sie handeln nicht schlicht aufgrund individueller Befindlichkeiten, sondern es wird deutlich, dass ihre Handlungen immer auch durch das geltende Machtgefüge bestimmt und getrieben werden. Da­ durch zeigt die Regisseurin die Gefangenheit ihrer Figuren in gesellschaftlichen und politischen Systemen auf. Ganz be­ sonders das Handeln der weiblichen Figuren wird in ihren Arbeiten nicht mehr entpolitisiert, indem es auf punktuelle und individualistische Emotionen zurückgeführt wird. Bei Bihler stehen Figuren und Gemeinschaften in ihrem Handeln für ein größeres Gefüge, das sich durch ihr formbewusstes Erzählen herauskristallisiert. Machtstrukturen treten auch in Bihlers „Die Eingebore­ nen von Maria Blut“ (Burgtheater, 2023) deutlich zutage. Die Inszenierung, die ihre erste Einladung zum Berliner Theatertreffen einbrachte. Der 1937 entstandene Roman von Maria Lazar erzählt vom Heraufbrodeln des National­ sozialismus in einem österreichischen Dorf. Diese Dorfge­ meinschaft stellt Bihler durch eine gekonnte Trennung von Spiel und gesprochenem Wort dar: Während die individuel­ len Figuren durch das Spiel und die Stimme einzelner Schauspieler:innen und durch individualisierte Kostüme gekennzeichnet sind, wird die anonyme Masse der Dorfge­ meinschaft abwechselnd von allen Schauspieler:innen ver­ körpert. Dabei tragen alle die gleichen Kostüme und über­ dimensionierte Masken. Sie sprechen nicht selbst; ihr Text wird von den verbleibenden Kolleg:innen über Standmikro­ fone an der Seite der Bühne live eingesprochen. Die Dorf­ gemeinschaft wird somit nicht in Form eines oder mehrerer geschlossener Subjekte dargestellt. Gleichzeitig müssen sich aber alle anwesenden Subjekte für die faschistische Mundpropaganda der Gemeinschaft verantwortlich zeich­ nen. Auch in dieser Arbeit geht es Bihler folglich um Hand­ lungsspielräume im Zeichen geltender Machtstrukturen. Durch die ausgeklügelte formale Anordnung nimmt Bihler Individuen und Gemeinschaft für die Folgen ihres Handelns gleichermaßen in die Verantwortung.

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wohl das Außergewöhnliche, Un(zu)gehörige, Befremdende aus der Idee der Freundschaft ausschließe. Im Nachdenken über eine hoffnungsvolle Form der Demokratie müsse, so Derrida, ein neues Verständnis von Freundschaft Platz fin­ den, das sich von den prioritären Verbindungen durch Blut, Geschlecht, Nation und Familie löst.

„Die Eingeborenen von Maria Blut“ von Maria Lazar, Bühnenfassung von Lucia Bihler und Alexander Kerlin. Regie Lucia Bihler am Burgtheater Wien, 2023. Bühne Jessica Rockstroh, Kostüm Victoria Behr

Die formale Erzählweise der Regisseurin erscheint vor ­diesem Hintergrund im Geiste eines Derrida’schen Politik­ verständnisses. In einem seiner späten Werke widmete sich der Philosoph einem Wort, das nicht nur in der französischen Politik hochfrequentiert ist; der Freundschaft. Unter dem Titel „Politik der Freundschaft“ analysiert er, inwiefern ­ Bedeu­tungsspektren der Zugehörigkeit, Gewohnheit, Ange­ hörigkeit und Wesensverwandtschaft den Begriff der Freundschaft und in demselben Zuge auch die Politik prä­ gen. Daraus folgert Jacques Derrida, dass eine solche Politik

Lucia Bihler macht in ihren Arbeiten Platz für Außergewöhnli­ ches und Un(zu)gehöriges. Kategorien, die die Regisseurin als Extravaganz und Groteske in die Selbstverständlichkeit ihrer hyperstilisierten Welten integriert. Das können erfundene Fi­ guren, wie der Kobolderzähler in Bihlers „Woyzeck“, oder ver­ vielfachte Figuren, wie in ihrer „Prinzessin Hamlet“ (Schauspiel Leipzig, 2017) sein, wo sich alle Ensemblemitglieder, unabhän­ gig von ihrem Geschlecht als Marilyn Monroes gekleidet, mit gesellschaftlichen Zuschreibungen auseinandersetzen. Das kann die Figur der Berte in Bihlers „Hedda“-Adaption sein, die sie verdoppelt. Die stummen und scheinbar nebensächlichen Handlungen der beiden Dienerinnen legen Unerzähltes frei. So gewinnt die Hybris, die im Hause Gabler in der Luft liegt, plötz­ lich an Schärfe, wenn die Bertes gemeinsam auf eine Leiter steigen, um die fluffigen Wolken am Bühnenhimmel bedächtig mit einem Staubwedel zu reinigen. Durch Bihlers Überstilisie­ rung der Figuren und den detailverliebten Blick für ihre Hand­ lungsweisen kommen Wesenszüge und Eigenarten der Men­ schen in all ihrer Schönheit zur Geltung und das Theater kann die Magie seines Mediums in voller Blüte entfalten. Das zeigt auch eine ihrer jüngsten Arbeiten am Akade­ mietheater Wien. Dort bringt sie Anfang 2024 Kafkas „Ver­ wandlung“ als expressionistisch verschnittenes Fragment auf die Bühne. Die ästhetische Setzung bringt die Grundfra­ ge der Erzählung genial auf den Punkt: Nicht nur die grell überzeichneten Kostüme der Figuren greifen die Thematik

„Die Verwandlung“ von Franz Kafka. Regie Lucia Bihler am Burgtheater Wien, 2024. Bühne Pia Maria Mackert, Kostüm Victoria Behr

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Foto oben Susanne Hassler-Smith, unten Marcella Ruiz Cruz

Ästhetische Hyperstilisierung


formal auf. Das Fremdwerden im Eigenen spiegelt sich auch scharfsinnig in der Form des farbkräftigen Schlafzimmers von Gregor Samsa wider, das es zweimal gibt. Eines ist groß, überdimensioniert, die Figuren muten darin zart und klein an. Das andere deutlich kleiner, was die Figuren groß und plump wirken lässt. Gemeinsam mit der Bühnenbildnerin Pia Maria Mackert hat Bihler hier eine brillante Illusion auf die Bühne gebracht. Durch das gekonnte Spiel mit dem Schein gewin­ nen Kafkas Beschreibungen von Fremdbestimmung, Tabui­ sierung und Befreiungsversuchen wortwörtlich an Dimen­ sion. Durch die starke Bildlichkeit werden sie plastisch fühlbar. Vor diesem Hintergrund muss ein aktualisierter Illu­ sionsbegriff zum Zug kommen: Techniken des Scheins die­ nen hier nicht der Verschleierung von Zuständen, sondern bringen diese auf eine Weise zur Geltung, die das Publikum affiziert, vereinnahmt und somit betroffen macht. Indem Lucia Bihler die Realität überzeichnet, kommt sie ihr näher als die meisten Realismen. Ihre formstarke Ästhetik verführt uns in eine sinnlich motivierte Wahrnehmung, für die vermeintlich Hässliches ebenso sexy sein kann wie ver­ meintlich Schönes. Damit vermittelt die Regisseurin einen Zugang zu Realitäten, der über die Grenzlinien gängiger Ideale hinausmalt, Ecken und Kanten hat, aber sich dennoch aus einem Guss vor uns entfaltet. Im bildstarken, formrei­ chen 21. Jahrhundert erwächst aus Bihlers Inszenierungs­

strategie eine zeitgemäße Politik der Kunst. Denn um be­ stehende Formen zu verändern, müssen neuen Formen angeboten werden.

Lucia Bihler, geboren 1988 und aufgewachsen in München, studierte Schauspielregie an der Hochschule für Schauspielkunst „Ernst Busch“ und ein Mastersemester Choreografie bei Wanda Golanka in Berlin. Wäh­ rend des Studiums Projekte mit ihrer Kompanie gold&hiebe am bat Stu­ diotheater, am Ballhaus Ost und am Maxim Gorki Theater. Nach dem Studium inszenierte sie u. a. am Theater Göttingen, Schauspiel Leipzig, Staatstheater Mainz und Schauspiel Hannover. Mit ihrer Inszenierung von Robert Menasses Roman „Die Hauptstadt“ (Schauspielhaus Wien, 2018) erhielt sie 2019 ihre erste Einladung zum Festival Radikal Jung in Mün­ chen. 2020 folgte eine weitere Einladung für ihre Adaption von Ibsens „Hedda Gabler“ (Volkstheater München, 2019). Von 2019 bis 2021 war sie Teil der Künstlerischen Leitung an der Volksbühne Berlin, wo sie 2020 „Iphigenie. Traurig und geil im Taurerland“, eine Überschreibung antiker Stoffe mit Texten der Wiener Autorin Stefanie Sargnagel, auf die große Bühne brachte. Es folgten mehrere Inszenierungen am Wiener Burgthea­ ter, Schauspiel Köln und Schauspielhaus Hamburg. In Kooperation mit dem Nationaltheater Oslo inszenierte Lucia Bihler im Sommer 2022 für das Ibsen-Festival „John Gabriel Borkman“. 2023 erhielt ihre Inszenierung von Maria Lazars „Die Eingeborenen von Maria Blut“ (Burgtheater Wien, 2023) eine Einladung zum Berliner Theatertreffen. Im September dessel­ ben Jahres eröffnete ihre Adaption von Jean Genets „Die Zofen“ die Spielzeit am Münchner Volkstheater.

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HERMANN GÖTZ

Theater dritter Dimension Wie Claudia Bossard Theorie produktiv macht

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s war ein ungewöhnliches Stück Studierendenthea­ ter, das es an der Kunstuniversität Graz im Januar 2019 zu sehen gab: Auf der symmetrischen Bühne, die ganz in tiefem Dottergelb erstrahlte, wurde eine streng choreografierte Inszenierung gegeben, die den jungen Schauspieler:innen Einiges abverlangte. Auch musikalisch. Regisseurin Claudia Bossard hatte Friedrich Dürrenmatts Komödie „Romulus der Große“ auf ihren Kern reduziert, das Absurde und zugleich politisch Griffige herausge­ arbeitet und in die Gegenwart geholt. Text wurde dabei mitunter als Sound verstanden. Deutlich war zu erkennen, dass Bossard die studentischen Akteur:innen – auch aus den Bereichen Bühnenbild und Theatermusik – auf Augen­ höhe eingebunden hatte: Ihr aller Anteil am Abend war nicht zu übersehen. Gerade in diesen Freiräumen, Auslassungen und Strichen wurde bereits manches sichtbar, was die weitere Entwick­ lung der Künstlerin Claudia Bossard bestimmt hat: ihr Zu­ gang, Literatur zu denken, ihr Umgang mit Musik, ihre Ten­ denz zur Teamarbeit. Letztere ist für Bossard ein wesentlicher Erfolgsfaktor: Performer:innen werden von ihr als eigenstän­ dige Künstler:innen wahrgenommen – das Ensemble als kreatives Kollektiv. Auch deshalb ist München, wo sie am Volkstheater drei Inszenierungen gemacht hat, ein wichtiger Ort für sie: „Es hat sich dort eine Spitzentruppe formiert mit einer spezifischen Arbeitsweise, die ich so noch nirgendwo sonst praktizieren konnte. Das liegt nicht zuletzt auch an der Offenheit dieses phänomenalen Ensembles.“ Mit Nikolaj Erdmanns „Der Selbstmörder“ wurde sie in der Spielzeit 2021/22 Teil des Münchner Eröffnungsreigens

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für den Neubau in der Tumblingerstraße. Erdmanns „Selbst­ mörder“ von 1928 ist für Bossard ein Stück mit hervorragen­ der Dramaturgie, das allerdings in einer „wahnsinnig ­verstaubten“ Sprache erzählt wird. Aus ihrer selbst als „ob­ sessiv“ beschriebenen Auseinandersetzung mit dem Thema wuchs eine Erdmann-Paraphrase in neuen zeitgemäßen Worten. Diesen Zugang vertiefte das Münchner Team Boss­ ards in der Folgesaison mit „Feeling Faust“, einer GoetheÜberschreibung, die der Italienreise des Dichters folgend Teil I und II des Faust nachspürt. „Literatur denken“ durfte das Ensemble dann auch dieses Jahr, als Bossard ihre Dra­ matisierung von Thomas Manns „Der Zauberberg“ vorlegte. Nun wieder wortgetreu. In der Auseinandersetzung mit Manns Romanmonster („Wir sind in diesen Roman hineingefallen! Haben versucht, das Ding durchzudenken, es ins Heute zu übersetzen, was echt manchmal nicht einfach ist! Wir haben keine Seite aus­ gelassen! Sind ja nicht faul!“) wurden für die Regisseurin im­ mer neue Bezüge sichtbar, die den Text mit zahlreichen an­ deren, späteren verbinden. Ein Stück Zauberberg scheint in allem zu stecken. Diese intensive Auseinandersetzung mit dem Text kommt nicht von ungefähr. Claudia Bossards Hintergrund liegt in der Geisteswissenschaft. Sie hat, wie sie betont, an keiner Kunst­ hochschule studiert, sondern Literatur- und Theaterwissen­ schaft an der Universität Bern. „Ich nenne das, was ich da tue, gerne ‚angewandte Literaturwissenschaft‘. Dass ich den Schauspieler:innen auch in Sachen Haltung und Ähnlichem helfen kann, kam mit der Erfahrung. Der Job braucht eben sehr viel davon. Es ist Übung, Übung, Übung.“


Fotos Thomas Aurin

Die Uraufführung von „Baracke“ von Rainald Goetz. Regie Claudia Bossard am Deutschen Theater Berlin, 2023. Bühne Elisabeth Weiß, Kostüm Andy Besuch

C L AU D I A B O S S A R D

T H E AT E R D R I T T E R D I M E N S I O N

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Fotos links Bettina Frenzel, rechts Kooné

Links „Das Werk“ von Elfriede Jelinek. Regie Claudia Bossard am Kosmos Theater, Wien, 2020. Bühne und Kostüm Elisabeth Weiß Rechts „Bunbury. Ernst sein is everything!“ von Oscar Wilde. Regie Claudia Bossard am Deutschen Theater Berlin, Übernahme vom Schauspiel­ haus Graz, 2023. Bühne und Kostüm Elisabeth Weiß

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„Musik ist mir immer wichtig: Sie öffnet einen Referenzrahmen.“

Erste Regie-Erfahrung sammelte Bossard an der Reitschule Bern mit dem All-Inklusive-Paket der Offszene: Alles. Selber. Machen. Die Regisseurin ist hier ihre eigene Assistenz. Und ihre eigene Kommunikationsabteilung. Bossard heuerte an den Bühnen Bern als Regieassistentin an und kam so, als Berns Schauspieldirektorin Iris Laufenberg nach Graz ging, in die Murstadt. Dort feierten ihre Arbeiten bald Erfolge. Be­ reits die wundervoll besetzte Inszenierung von Henriette Dushes „Lupus in Fabula“, einem reduzierten Kammerspiel für drei Schauspielerinnen, fuhr sie den Nachspielpreis des Heidelberger Stückemarktes ein. Es folgte die Uraufführung von „Erinnya“, einem der Theaterstücke des Grazers C ­ lemens J. Setz, damals noch nicht Büchnerpreisträger, aber von Kenner:innen bereits als literarische Ausnahmeerscheinung gehandelt – ein Vertrauensbeweis der Theaterleitung, dem Bossard mit einer hoch konzentrierten Annäherung an den sehr verqueren Text gerecht wurde. Mit „Die Physiker“ von Friedrich Dürrenmatt kam in Graz erstmals eine Inszenierung Bossards auf die große Bühne. Dürrenmatts Pointe der verkehrten Verhältnisse in der Irren­ anstalt spiegelte sie in einer cross-gender-Besetzung mit – im Vergleich zum Original – jungen Physikern. Den diskurs­ verliebten Text (auch Dürrenmatt bedient sich für Bossard, erraten, beim „Zauberberg“) konterkarierte sie mit Live-­ Musik. „Musik ist mir immer wichtig: Sie öffnet einen Refe­ renzrahmen. Wenn du eine Szene von der emotionalen Steuerung her gut aufbaust, bist du mit einem Lied an der richtigen Stelle viel schneller am Punkt als mit Text.“ Musik wird dann zum Beispiel auch in der Grazer Produktion ­„Making a Great Gatsby“ wichtig, beim „Selbstmörder“ oder beim „Zauberberg“. Fast konnte, als man Bossard 2019 an der Kunstuniversi­ tät Graz für den erwähnten „Romulus“ engagierte, der Ver­ dacht aufkommen, die Österreicher:innen wollten die Schweizerin auf Dürrenmatt festlegen. Ganz falsch wäre das nicht, denn in der Schweiz, wo in der Frage „Dürrenmatt oder Frisch“ eine klare Positionierung verlangt wird, war sie, so Bossard, immer das „Dürrenmatt-Kind“ gewesen. Ihr „Romu­ lus“ erhielt dann beim deutschsprachigen Bundeswettbe­ werb Schauspielstudierender 2019 den Ensemblepreis. Wegweisend wurde jedoch Bossards letzte Grazer Insze­ nierung, die sie 2022 – künstlerisch bereits in Wien ange­ kommen – ablieferte. Für Oscar Wildes „Bunbury“ erstellte sie eine eigene deutsche Fassung unter Einbeziehung von viel Originaltext (Untertitel: „Ernst sein is everything!“). Noch

C L AU D I A B O S S A R D

T H E AT E R D R I T T E R D I M E N S I O N

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„Ich habe beim Inszenieren die Möglichkeit, das Publikum gedanklich miteinzubeziehen.“ heute, 2024, ist die mit dem Nestroypreis für die „beste Bun­ desländer-Aufführung“ (sozusagen Wiens Auslands-Oskar) ausgezeichnete Produktion in Berlin zu sehen. Dass Bossard 2023 zum ersten Mal eine Wiener NESTROY-Gala erlebte, um sich den Preis abzuholen, passte. Denn zu diesem Zeitpunkt hatte sie sich die österreichische Hauptstadt bereits erarbeitet. Am Wiener Kosmostheater, einem kleinen Haus mit großem, deklariert feministischen Programm inszenierte Claudia Bossard 2020 kurz vor der Pandemie „Das Werk“ von Elfriede Jelinek. Der Text der zu­ rückgezogen in Wien lebenden Nobelpreisträgerin fokussiert auf ein zutiefst österreichisches Ereignis, einen Gletscher­ bahnbrand (und seine Aufarbeitung), das er dem Bau des ört­ lichen Wasserkraftwerks gegenüberstellt: Der soll einst eine

ähnliche Zahl an Opfern gefordert haben. In der ihr eignen Sprache vergrößert Jelinek die regionalen Dimensionen ­radikal ins Menschliche, allzu Menschliche. Dem näherte sich Bossard ganz im Sinne der sprachkritischen Österreich-­ Literatur. Und doch wieder neu: Zum Einstieg geben die Schauspieler:innen ein literarisches Quartett und diskutier­ ten eine halbe Stunde lang über das literarische Werk Elfriede Jelineks. Für Bossard eine Fortsetzung ihrer Darmstädter Dramatisierung von Roberto Bolaños „2666“. Noch mehr ­Jelinek in Wien folgte 2023 mit dem Doppelabend „In den Alpen // Après les alpes“ am Volkstheater. Der in Lubumbashi ge­bo­rene und in Graz lebende Fiston Mwanza Mujila hatte dafür Jelineks Drama zum oben skizzierten Thema fortge­ schrieben. Im Frühling des Jahres 2024 sitzt Claudia Bossard in Ber­ lin. Sie erinnert sich nostalgisch an das Klima am Südrand der Alpen und gesteht sich ein, dass der ehrfurchtgebietende Theaterbiotop Berlin die Häuser der Stadt schon einmal zur „spaßbefreiten Zone“ macht. Für das Deutsche Theater brach­ te sie eben „Baracke“ von Rainald Goetz zur Uraufführung. „Ich denke schon, dass ich sehr konzentriert auf den Text schaue. Bei wütenden Texten wie beispielsweise von Rainald Goetz, Elfriede Jelinek oder Lydia Haider ist es mir wichtig, die Sprache als natürlich zu betrachten, sich vorzustellen: Das existiert so in unserem Hirn. Um dann auf der Bühne einen menschlichen Umgang dafür zu finden. Die Auseinan­ dersetzung mit der Sprache steht bei mir am Anfang, aber in der Folge entsteht daraus ein Denken mit den Augen der Zu­ schauer:innen. Ich habe beim Inszenieren die Möglichkeit, das Publikum gedanklich miteinzubeziehen. Das ist ja gera­ de das Spannende am Theater: dass man etwas dreidimen­ sional im Jetzt aufreißen kann.“

Claudia Bossard, geboren 1985 in der Schweiz, studierte deutsche Litera­ tur- und Theaterwissenschaft an der Universität Bern. In ihrer Assistenz­ zeit an den Bühnen Bern inszenierte sie Rodrigo Garcías „Picknick auf Golgatha“ als deutschsprachige Erstaufführung und am Schauspielhaus Graz Henriette Dushes „Lupus in fabula“, das 2016 zum NachSpielPreis des Heidelberger Stückemarkts und zu den Autor:innentheatertagen Berlin eingeladen wurde. Seit 2017 arbeitet sie als freischaffende Regis­ seurin. 2018 war sie Stipendiatin des Internationalen Forums des Berliner Theatertreffens und realisierte die vielbeachtete Dramatisierung von Roberto Bolaños Roman „2666“ für die Kammerspiele am Staatstheater von „Romulus der Große“ von Friedrich Dürrenmatt gewann sie 2019 beim deutschsprachigen Bundeswettbewerb der Schauspielschulen in Berlin den Ensemblepreis. Für „Die Physiker“ am Schauspielhaus Graz war sie 2020 für den NESTROY-Theaterpreis in der Kategorie „Beste Bundeslän­

„Die Physiker“ von Friedrich Dürrenmatt. Regie Claudia Bossard am Schauspielhaus Graz, 2019. Bühne und Kostüm Frank Holldack, Elisabeth Weiß

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der-Aufführung“ nominiert. Sie arbeitete u. a. am Volkstheater München, am Volkstheater Wien und brachte 2023 am Deutschen Theater Berlin „Baracke“ von Rainald Goetz zur Uraufführung.

Foto Johanna Lamprecht

Darmstadt. Mit ihrer für die Kunsthochschule Graz erarbeiteten Adaption


PREMIEREN SCHAUSPIEL KOELN GRMPF

EINE MUSIKALISCHE BAUSTELLE VON MIKE MÜLLER REGIE: RAFAEL SANCHEZ URAUFFÜHRUNG: 14 SEP 2024 DEPOT 1

*** BALKAN DRIFT

VON IVANA SOKOLA REGIE: JANA VETTEN URAUFFÜHRUNG: 27 SEP 2024 DEPOT 2

*** WE ARE FAMILY

EINE ANTIKENÜBERSCHREIBUNG VON TINE RAHEL VÖLCKER REGIE: JORINDE DRÖSE URAUFFÜHRUNG: 28 SEP 2024 DEPOT 1

EMPUSION

VON OLGA TOKARCZUK REGIE: ANTÚ ROMERO NUNES EINE KOPRODUKTION KÖLNER PREMIERE DER DEUTSCHSPRACHIGEN ERSTAUFFÜHRUNG: 03 NOV 2024 DEPOT 2

*** DER KÖNIG STIRBT VON EUGÈNE IONESCO REGIE: PAULA POHLUS PREMIERE: 08 NOV 2024 DEPOT 2

*** MOMO

FAMILIENSTÜCK VON MICHAEL ENDE REGIE: ILDIKÓ GÁSPÁR PREMIERE: 30 NOV 2024 DEPOT 1

Foto xxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxx

*** DIE KATZE *** AUF DEM HEISSEN AUS DEM SCHATTEN: BLECHDACH THIAROYE VON TENNESSEE WILLIAMS REGIE: BASTIAN KRAFT PREMIERE: 25 OKT 2024 DEPOT 1

***

XXXX

XXXX

VON ALEXANDRA BADEA REGIE: POUTIAIRE LIONEL SOMÉ DEUTSCHSPRACHIGE ERSTAUFFÜHRUNG: 10 JAN 2025 DEPOT 2

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WAS IHR WOLLT VON WILLIAM SHAKESPEARE REGIE: CHARLOTTE SPRENGER PREMIERE: 24 JAN 2025 DEPOT 1

*** VATERMAL

NACH DEM ROMAN VON NECATI ÖZIRI REGIE: BASSAM GHAZI PREMIERE: 07 FEB 2025 DEPOT 2

*** ENGEL IN AMERIKA

TEIL I: DIE JAHRTAUSENDWENDE NAHT TEIL II: PERESTROIKA VON TONY KUSHNER REGIE: MATTHIAS KÖHLER PREMIERE: 21 FEB 2025 DEPOT 1

***

AUSBLICK WAS NOCH KOMMT … … INSZENIERUNGEN VON

FRITZI WARTENBERG JAN BONNY LIDIA POLITO KAMILA POLÍVKOVÁ PINAR KARABULUT YAEL RONEN KIERAN JOEL 17


THOMAS IRMER

Eklektisches Graben in Schichten Wie Alexander Eisenach als Autor-Regisseur kanonische Stücke aufmischt

E

in Buch, das in der DDR Jugendliche zur Jugendweihe überreicht bekamen, ein feministischer Science-Fic­ tion-Roman aus der amerikanischen Literatur, viel Selbstgeschriebenes, das dann von den Schauspieler:innen weiter geformt wurde, auf der Bühne Architekturzitate aus Jugoslawien und Ostberlin – alles für eine Zeitreise in kosmi­ schen Dimensionen, eine „unwahrscheinliche Reise“, wie es der Autor-Regisseur Alexander Eisenach selbst nannte, das war „Weltall Erde Mensch“. Mit der Inszenierung wurde im September 2023 die Intendanz von Iris Laufenberg am Deut­ schen Theater in Berlin eröffnet und sie enthielt vieles, was Eisenachs ästhetische Mittel erkennen ließ, vor allem aber zeigte sie, wofür er sich interessiert als Autor, Regisseur, Mensch. Für ihn selbst war es „eine Zwischenbilanz von eigenem Schreiben und sozialer Praxis im Theater“. Eisenach wurde 1984 in Ostberlin geboren, die Wendeund Nachwende-Jahre erlebte der Sohn eines Interflug-­ Piloten also noch im Kindesalter. Von der Herkunfts- und Generationszugehörigkeit würde man ihn also den letzten Jahrgängen der in der DDR Geborenen oder schon den ers­ ten Jahrgängen der Post-Ost-Generation zurechnen können. Thema wird das in seinen Arbeiten aber höchstens am ­Rande. Eine Sensibilisierung für die Brüchigkeit deutscher Geschichte(n) ist indes häufig zu erkennen, wie eben der ­Bezug zu dem Jugendweihe-Buch spielerisch zeigt. Nach dem Abitur wollte er zunächst Drehbuch an der HFF in Babelsberg (heute Filmuniversität Babelsberg Konrad Wolf) studieren, eine Absicht, die bereits das Schreiben für eine inszenatorische Praxis erkennen lässt. Jedoch studierte er dann Germanistik und Theaterwissenschaften in Leipzig

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und Paris, dort an der Universität Nanterre unter anderem bei Jean Jourdheuil, dem Übersetzer der meisten Werke Heiner Müllers ins Französische und zugleich als Regisseur mit der Theaterpraxis eng verbunden. Noch während des Studiums begann er in Leipzig als Hospitant und später schließlich als Assistent an dem von Sebastian Hartmann geleiteten ­Centraltheater, u. a. bei Hartmann selbst sowie bei Sebastian Baumgarten, Martin Laberenz und Robert Borgmann. Eise­ nach bezeichnet diese Zeit rückblickend als „Lehrjahre statt eines Regiestudiums“. Alle genannten Regisseure zeichnet aus, dass sie sehr frei mit literarischen Vorlagen als Material ihrer Inszenierungen umgehen und diese zum Teil selbst ­adaptieren und um- oder neuschreiben. Darüber hinaus übte auch die Arbeit der Berliner Volksbühne, von der ja Hartmann nach Leipzig gewechselt war, großen Einfluss auf den wer­ denden Regisseur aus. 2013 arbeitete Alexander Eisenach für das von Intendant Oliver Reese neugegründete Regiestudio am Schauspiel Frankfurt, das vor allem der Förderung junger Autoren dien­ te. Hier entstanden die Thomas-Mann-Bearbeitung „Wäl­ sungenblut“ (2013) und „Fauser, Mon Amour“ nach dem ­Roman „Der Schneemann“ von Jörg Fauser. Parallel dazu in­ szenierte Eisenach „Der kalte Hauch des Geldes“ (2016) an den Kammerspielen im Schauspiel Frankfurt, wofür er den renommierten Kurt-Hübner-Preis für junge Regisseur:innen erhielt. Diese Frankfurter Jahre kann man als Ausreifungszeit des Autors und Regisseurs bezeichnen, der nun verstärkt auch in anderen Städten inszenierte – in Hannover, Zürich, Düsseldorf und Graz, wo er 2019 Clemens Setz’ Roman ­„Frequenzen“ für die Bühne adaptierte.


Foto Nicolas Wefers Foto Seite 20–21 Thomas Aurin

Die Uraufführung „Zonenrandgebiet“ von Alexander Eisenach in eigener Regie am Staatstheater Kassel, 2024. Bühne Daniel Wollenzin, Kostüm Lena Schmid Seite 20–21 Die Uraufführung „Weltall Erde Mensch“ von Alexander Eisenach und Ensemble. Regie Alexander Eisenach am Deutschen Theater Berlin, 2023. Bühne Daniel Wollenzin, Kostüm Claudia Irro

Am Schauspiel Hannover inszenierte Eisenach ebenfalls 2019 die große Stückcollage „Räuber-Ratten-Schlacht“ nach Friedrich Schiller, Gerhart Hauptmann und Heiner Müller. In dem anspruchsvoll nachvollziehbar großen Bogen

A L E X A N D E R E I S E N AC H

EKLEKTISCHES GRABEN IN SCHICHTEN

von den verfeindeten Brüdern in Schillers Sturm-und-DrangKlassiker zu Heiner Müllers apokalyptischer Szenenfolge über den finalen Zustand Nazi-Deutschlands sind markant diejenigen Szenen aus Hauptmanns „Die Ratten“ (1911) in die

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Der Eklektizismus ist Arbeits- und Stilprinzip und entspricht dem Charakter der Text-Arbeit. Mitte gerückt, die in dem Berliner Mietshaus mit dem Thea­ terdirektor Hassenreuter und dessen für einen neuen Realis­ mus aufbegehrenden Schüler Spitta auf dem Dachboden spielen. Hassenreuter will in dem von ihm als Fundus ge­ nutzten Speicher des rattenverseuchten Hauses Schillers idealistisches Drama „Die Braut von Messina“ proben – sym­ bolisch wird hier die abgehobene Vergeblichkeit des Thea­ ters angesichts der realen Verhältnisse gezeigt. Eisenach macht diesen die Rolle des Theaters problematisierenden Teil zu einem metaphorischen Scharnier zwischen den idea­ listischen Auffassungen Schillers und dem Blick Müllers auf deutsche Geschichte, mit dem auch die Theaterentwicklun­ gen in der Gegenwart befragt werden sollen, letztlich Eise­ nachs eigenes Theatermachen mit dieser Collage als „deut­ scher Tragödie“. Das strenge dramaturgische Konzept dieser Trilogie wurde durch einen überbordenden Stilmix in den Spielweisen gegen den Strich gebürstet – Slapstick bricht Pathos, Ironie unterläuft Ansätze von emotional-psychologi­ schem Spiel. Und die Ansage einer Figur, dass man „alle Theaterformen“ seit der Antike verwenden würde, betonte die Theatralität dieses Gebildes und zugleich die Relativität von absichtsvollen Theatersetzungen der Vergangenheit. „Räuber-Ratten-Schlacht“ ist auch ein gutes Beispiel da­ für, wie bei Eisenach als Autor-Regisseur umfassende TextBearbeitung, Überschreibung, Montage beziehungsweise Collage mit der Inszenierung zusammengehen. Diese vor al­ lem kanonische Stücke aufmischende Technik ist insgesamt eine Tendenz im deutschsprachigen Theater der letzten zehn bis fünfzehn Jahre, die Eisenach mit auffallender Radikalität ausgelotet hat. Für das, was Eisenach „den Stoff addieren“ nennt, muss das Publikum allerdings nicht nur eine gewisse Kenntnis des verwendeten Materials mitbringen, sondern auch die Bereitschaft für Assoziationen und möglicherweise provozierend widersprüchliche Eindrücke. Den Schauspie­ ler:innen wiederum wird häufig eine fast sprunghafte Flexibi­ lität der Darstellungsweisen abverlangt bis hin zum gespiel­ ten Zitat und Parodien etablierter Techniken. Auch hier ist der Eklektizismus Arbeits- und Stilprinzip und entspricht dem Charakter der Text-Arbeit. Diese kann nicht nur Texte der literarischen Tradition in sich aufnehmen, sondern auch philosophische Diskurse. So geschehen bei einer seiner jüngsten Arbeiten, „Zonenrand­ gebiet“ am Staatstheater Kassel. Die hessische Stadt gehör­ te zu den ehemaligen westdeutschen Zonenrandgebieten, die einerseits eine besondere Strukturförderung erhielten

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und deren Bewohner andererseits sich womöglich intensiver mit der Existenz zweier deutscher Staaten und der auf die Wiedervereinigung folgenden Entfremdung zwischen Ostund Westdeutschen beschäftigt haben. Eisenach bezieht sich in dem von ihm mit satirischer Haltung geschriebenen Stück u. a. auf Jacques Derridas Spätwerk „Marx’ Gespens­ ter“ (1996) und lässt die Ostdeutschen als Zombies einer nicht verarbeiteten Real-Geschichte in einer vom HorrorTrashfilm inspirierten Inszenierung auftreten, die vielleicht auch eine Krypto-Hommage an Christoph Schlingensief ist, der in seiner filmischen Deutschland-Trilogie (1989–1992) eine ähnliche Ästhetik zur Geltung brachte. „Zonenrandge­ biet“ ist ein weiteres Beispiel dafür, wie Eisenachs Arbeit als Autor und Regisseur immer wieder auf die offenen Fragen der Gegenwart mit dem Graben in tieferen Schichten vehe­ ment zu reagieren versucht. Mit knapp 40 und nach rund 15 Jahren Theater- und Schreiberfahrung sieht sich Alexander Eisenach – nicht zu­ letzt auch wegen der zahlreichen, sich immer noch vermeh­ renden Orte seines Arbeitens (seit der Spielzeit 2023/24 hat er allerdings als Hausregisseur am Münchner Residenzthea­ ter einen Fixpunkt) – in einer Bewegung der Suche, die er längst auch zu einer seiner wichtigsten ästhetischen Strate­ gien gemacht hat: eine Theaterlaufbahn als „unwahrschein­ liche Reise“.

Alexander Eisenach, geboren 1984 in Ostberlin, studierte Theaterwissen­ schaft und Germanistik in Leipzig und Paris, bevor er als Regieassistent ans Centraltheater Leipzig ging. In der Spielzeit 2013/14 war er Mitglied des Regiestudios am Schauspiel Frankfurt, wo sein erstes Theaterstück „Das Leben des Joyless Pleasure“ uraufgeführt wurde. Seitdem arbeitet er als freier Regisseur, u. a. am Schauspiel Hannover, Schauspiel Graz, am Düsseldorfer Schauspielhaus, am Berliner Ensemble und am Deutschen Theater Berlin. Für die Inszenierung seines Stücks „Der kalte Hauch des Geldes“ am Schauspiel Frankfurt wurde er mit dem Kurt-Hübner-Regie­ preis 2016 ausgezeichnet. Von 2016 bis 2019 war Eisenach Hausregisseur am Schauspiel Hannover. Mit der Spielzeit 2023/24 wurde er Hausregis­ seur am Residenztheater München.


PREMIEREN 2024/2025 TANZ

TANZ

TANZ

Spektrum / Raum Máté Mészáros / Unusual Symptoms 30. August 2024, Kunsthalle Bremen

Eine neue Arbeit Samir Akika / Unusual Symptoms 15. November 2024, Kleines Haus

Eine neue Arbeit Milla Koistinen / Unusual Symptoms 8. März 2025, Kleines Haus

SCHAUSPIEL

MUSIKTHEATER

SCHAUSPIEL

Wasserwelt. Das Musical Uraufführung Felix Rothenhäusler / Jan Eichberg // Felix Rothenhäusler 13. September 2024, Kleines Haus

La Bohème Giacomo Puccini // Sasha Yankevych / Alize Zandwijk 30. November 2024, Theater am Goetheplatz

Der Keim Uraufführung Tarjei Vesaas // Ruth Mensah 4. April 2025, Kleines Haus

MUSIKTHEATER

MUSIKTHEATER

Winterreise Franz Schubert / Wilhelm Müller / Sebastian Vogel / Thomas Kürstner // Armin Petras 7. Dezember 2024, Kleines Haus

Otello Giuseppe Verdi // Sasha Yankevych / Frank Hilbrich 13. April 2025, Theater am Goetheplatz

MUSIKTHEATER

SCHAUSPIEL

Sing, Sing, Sing! Eine Silvestergala Stefan Klingele / Frank Hilbrich 31. Dezember 2024, Theater am Goetheplatz

Cabaret Joe Masteroff / John Kander / Fred Ebb // Andreas Kriegenburg / Yoel Gamzou 3. Mai 2025, Theater am Goetheplatz

SCHAUSPIEL

SCHAUSPIEL

Draußen feiern die Leute Uraufführung Sven Pfizenmaier // Viktor Lamert 23. Januar 2025, Kleines Haus

Britney’s Fears. The Making Of: A Princess Ein Liederabend Anne Sophie Domenz / Maartje Teussink 17. Mai 2025, auf dem Goetheplatz

MUSIKTHEATER

TANZ

Béatrice et Bénédict Hector Berlioz // Stefan Klingele / Susanne Lietzow 9. Februar 2025, Theater am Goetheplatz

Eine neue Arbeit Michikazu Matsune / Unusual Symptoms 23. Mai 2025, Kleines Haus

MUSIKTHEATER

Lohengrin Richard Wagner // Stefan Klingele / Frank Hilbrich 15. September 2024, Theater am Goetheplatz SCHAUSPIEL

Antigone Deutschsprachige Erstaufführung Anne Carson / Sophokles // Elsa-Sophie Jach 28. September 2024, Theater am Goetheplatz SCHAUSPIEL

Frei. Erwachsenwerden am Ende der Geschichte Uraufführung Lea Ypi // Armin Petras 5. Oktober 2024, Kleines Haus MUSIKTHEATER

Der 35. Mai Uraufführung Erich Kästner / Martin G. Berger / Jasper Sonne / Michael Ellis Ingram // Stefan Klingele / Martin G. Berger / 8+ 20. Oktober 2024, Theater am Goetheplatz SCHAUSPIEL / MOKS

Soft Rebellion William Shakespeare // Yeşim Nela Keim Schaub / 14+ 25. Oktober 2024, Kleines Haus SCHAUSPIEL

Funklerwald Uraufführung Stefanie Taschinski // Jorinde Dröse / 6+ 10. November 2024, Theater am Goetheplatz

MUSIKTHEATER SCHAUSPIEL

Kohlhaas (No Limits) Uraufführung Felix Krakau / Heinrich von Kleist // Felix Krakau 14. Februar 2025, Kleines Haus

Wellen Uraufführung Elmar Lampson // Yoel Gamzou / Philipp Rosendahl 24. Mai 2025, Theater am Goetheplatz SCHAUSPIEL

SCHAUSPIEL

Solange wir leben Uraufführung David Safier / John von Düffel // Alize Zandwijk 1. März 2025, Theater am Goetheplatz

Die Kopenhagen-Trilogie Tove Ditlevsen // Anja Behrens 13. Juni 2025, Kleines Haus MUSIKTHEATER

Noperas! – Oper Otze Axt Dritte Degeneration Ost 4. Juli 2025, Kleines Haus


CHRISTOPH LEIBOLD

Sinnliche Überfülle als Mittel der Utopie A

ls „Green Corridors“ werden die Fluchtschneisen für Zivilist:innen bezeichnet, die dem Krieg zu entkom­ men versuchen. „Green Corridors“ heißt so auch ein Stück der Kyjiwer Dramatikerin Natalia Vorozhbyt, die darin ungeschönt (aber auch mit grimmigem Humor) von den Kriegs- und Fluchterfahrung ukrainischer Frauen erzählt, die sich durch solche Korridore nach Deutschland gerettet ha­ ben. Jan-Christoph Gockel hat es an den Münchner Kam­ merspielen uraufgeführt, auf einer Bühne, die kaum mehr als einen schmalen Streifen bietet zwischen Zuschauerreihen und einer Wand in Betonoptik, die sie rückwärtig begrenzt. Die Korridore sind eng, lassen wenig Spielraum. Das Theater als Abbild einer bedrückenden Realität, in der Kriege das Denken in die Ausweglosigkeit zu treiben drohen. Auch in „Wer immer hofft, stirbt singend“ fällt eine ­Fliegerbombe vom Himmel. Doch in Gockels Theaterrevue nach Texten von Alexander Kluge (ebenfalls an den Kammer­ spielen entstanden, wo der Regisseur seit Beginn der Inten­ danz von Barbara Mundel zum Künstlerischen Leitungsteam gehört) herrscht eine ungleich gelöstere Stimmung. Die Sprengkörper-Attrappe fährt im Zeitlupentempo vom Schnürboden herab, bremst dann jedoch knapp oberhalb eines Trampolins ab, ganz so, als könne dieses den Aufprall abfedern, die Detonation verhindern. Ein prägnantes Bild, passend zu dem, was der Text vorher in Aussicht gestellt hat: „Ein glückliches Ende entgegen aller Wahrscheinlichkeit.“ Gockels Kluge-Revue spielt im Zirkus und feiert ihn als Ort, an dem die Gesetze der Natur außer Kraft gesetzt wer­ den. Wo Artist:innen der Schwerkraft trotzend durch die Kuppel fliegen oder Dompteur:innen unbezähmbare Raub­

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tiere bändigen. Das ist natürlich eine Metapher für das Thea­ ter, das sich seinerseits an der Kunst des Unmöglichen ver­ sucht – indem es einer verstörenden Wirklichkeit utopisches Denken entgegensetzt. Die Inszenierung (sicher eine von ­Gockels besten) gleicht einer knallbunten Wundertüte voller Musik und Spektakel, mit Zaubertricks, fliegenden Elefanten und feuerspeienden Krokodilen, letztere in Gestalt der hinrei­ ßenden Marionetten von Michael Pietsch, die hier auf ganz besondere Weise für die Aussöhnung von Realität und Magie stehen. Man sieht die Fäden, die Glieder, den Puppenspieler, erliegt aber ihrem Zauber, als wären sie echte Tiere. Wo Gockel draufsteht, ist ganz oft auch Pietsch mit drin. So auch in Gockels jüngster Regiearbeit „Der Schimmelreiter/ Hauke Haiens Tod“. Abermals ist ihm hier Großes gelungen. Die Koproduktion des Deutschen Theaters Berlin mit dem Theater RambaZamba verschränkt nicht nur die Originalno­ velle von Theodor Storm aus dem Jahr 1888 mit dem frei dar­ an angelehnten Roman von Andrea Paluch und Robert Ha­ beck sprachlich elegant miteinander, sondern direkt auch Zeit und Raum, Leben und Tod, Natur und Mensch im Kapitalozän. Bei Storm sterben Frau und Kind des Schimmelreiters, als der alte Damm bricht. Die Bewohner:innen des nordfriesi­ schen Dorfs waren nicht bereit für den Fortschritt, der sie vor der Katastrophe hätte retten können (welche Rolle dabei die Habgier des Deichgrafen Hauke Haien spielt, bleibt ambiva­

„Green Corridors/Зелені коридори“ von Natalka Vorozhbyt. Regie Jan-Christoph Gockel an den Münchner Kammerspielen, 2023. Bühne Julia Kurzweg, Kostüm Sophie du Vinage

Foto Armin Smailovic

Jan-Christoph Gockel findet ästhetisch anspruchsvolle Gegenmodelle zu unserer Gegenwart



lent). Im Roman überlebt die geistig beeinträchtigte Tochter Wienke Haien. Der Knecht ihres Vaters, Iven, hat sie gerettet und in eine Wohngruppe gebracht. Mit der Frage nach ihrem Vater beginnt eine Reise in die Vergangenheit. Von nun an gibt es sie gleich zweimal doppelt. In der Wohngruppe lebte sie als Elisabeth Schmidt, jetzt ist sie auch Wienke Haien. Und sie wird von zwei Schauspielerinnen gespielt. Wienke Haien also, die Totgeglaubte, ist gleichzeitig tot und lebendig. Ebenso ihr Vater Hauke, dessen Wiedergän­ gertum der Novelle hier wörtlich genommen wird. Gleichzeitig tot und lebendig wirken auch die aufwändig präparierten Tiere von Puppenspieler Pietsch. Eine Maus, deren Füße sich scheinbar realistisch bewegen können, das abgezogene Fell des titelgebenden Schimmels, den Hauke Haien in einem Ein­ kaufswagen hinter sich herzieht, oder die Katze der Wirtin Tri­ ne Jahns, die ein einzelnes Lid öffnen kann. „Lass die Toten ruh’n, sonst lassen uns die Toten nimmer ruh’n“, mahnt Iven gleich zweimal. Doch das kann nicht gelin­

gen in einer Welt der Wiedergänger und Gespenster. So spie­ geln sich nicht nur die Figuren und die Zeit an der Scharnierfi­ gur Wienke, auch die Handlung auf der Bühne, einer Art postapokalyptischen Tankstelle hinter einer Gaze, wird verdop­ pelt, indem diese gleichzeitig im Inneren des geschlossenen Häuschens spielt und per Livekamera auf die Gaze projiziert wird. Der Abend verbindet damit auch die Flutkatastrophe der Novelle des 19. Jahrhunderts, dem Zeitalter der angehenden industriellen Revolution, mit den Gefahren der Klimakatast­ rophe heute. Das Ensemble spielt herausragend, die Inszenierung ist einmal mehr überbordend, dabei hochgradig stimmungsvoll.1 Ein Musterbeispiel für das, was Jan-Christoph Gockel meint, wenn er von „poetischer Poesie“ spricht. Womit wir beim Kern seines Theaterschaffens angekommen wären. Die sinnliche Überfülle seiner Arbeiten ist für ihn kein Selbstzweck, sondern „mein Ausdruck von Welt gerade: Diese Gleichzeitigkeit, in der Dinge passieren. Aber ich finde es schon erstrebenswert, dass auf der Bühne dann eine poetische, ästhetisierte Form von Welt daraus wird, die die Wirklichkeit nicht einfach ko­ piert, sondern noch etwas anderes anbietet.“ Zu erleben war das auch in „Les statues rêvent aussi. Vi­ sion einer Rückkehr“ an den Kammerspielen. Ein Abend über Restitution geraubter Kulturgüter nach Afrika. Beispiel: die Benin-Bronzen. Noch so ein Thema, bei dem es um begrenz­ te Spielräume und die Suche nach Auswegen geht. „Wir ­haben uns gefragt: Was ist denn die Aufgabe von Kunst in so einer Debatte? Klar beschäftigen wir uns dabei mit den 1 Der Abschnitt über „Der Schimmelreiter/Hauke Haiens Tod“ stammt von Nathalie Eckstein.

„Green Corridors/Зелені коридори“ von Natalka Vorozhbyt. Regie Jan-Christoph Gockel an den Münchner Kammerspielen, 2023. Bühne Julia Kurzweg, Kostüm Sophie du Vinage

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Fotos Armin Smailovic

Die sinnliche Überfülle seiner Arbeiten ist für ihn kein Selbstzweck, sondern „mein Ausdruck von Welt gerade: Diese Gleichzeitigkeit, in der Dinge passieren“.


­Fakten. Aber dann geht es darum, dem Thema eine andere Perspektive abzugewinnen“, beschreibt Gockel den Aus­ gangspunkt der Auseinandersetzung. Zu den harten Fakten, die die Basis von „Vision einer Rück­ kehr“ bilden, gehört die Tatsache, dass 98 Prozent der zu ­Kolonialzeiten nach Europa verschleppten Kunstschätze nir­ gends ausgestellt sind, sondern in den Kellern der Museen schlummern. Schauplatz des Geschehens ist daher ein ­Museumsdepot voller Regale, Sperrholzboxen und Contai­ nern, deren Außenwände als Projektionsflächen für Videobil­ der dienen können. Zum Beispiel Close-Ups der Hauptfigur, einer Statue der Prinzessin Yenninga, mythische Königstoch­ ter und Kriegerin aus Burkina Faso, die in Gestalt einer PietschPuppe im Depot erwacht und zurück in die Heimat will. Der Beginn einer Reise durch Raum und Zeit. „Vision einer Rück­ kehr“ spielt diese Reise durch. Was hat die Statue, die seit 100 Jahren in einem europäischen Museumsdepot schlummert, eigentlich alles gesehen? Durch welche Hände ist sie gegan­ gen? „Wenn so eine Statue anfängt zu leben, können wir durch ihre Augen auf die Welt blicken“, erklärt Jan-Christoph Gockel den inszenatorischen Ansatz. „Das eröffnet ganz andere Ge­ dankenräume, als wenn man immer nur fragt, ob restituierte Kulturgüter in afrikanischen Museen gut aufgehoben sind, weil die Klimaanlagen dort nicht gut genug sind. Mit solchen Fragen hält man das Denken klein.“ Afrika und das europäische Verhältnis zum einstmals kolo­ nisierten Kontinent beschäftigen Gockel immer wieder. Das war so beim mit dem Schauspielhaus Graz ko-produzierten Kongo-Projekt „Coltan-Fieber“, aus dem später ein Dokumen­ tarfilm hervorging; und auch bei „Wir Schwarzen müssen zusammenhalten“, einer grandiosen Abrechnung mit den ­ Machenschaften des einstigen bayerischen Ministerpräsi­ ­ denten Franz Josef Strauß in Togo. Der schwadronierte von Völkerfreundschaft zwischen Bayern und der ehemaligen Ko­ lonie Togoland – eine Ungeheuerlichkeit angesichts der Ge­ schichte der Ausbeutung, die Strauß auf seine eigene Weise fortschrieb. Als Herr eines internationalen SpezlwirtschaftsImperiums fädelte er profitable Deals für bayerische Unter­ nehmer in Togo ein. Bei Gockel aber zappelt der Strippenzie­ her selbst an Fäden (von Michael Pietsch natürlich). Und doch ist die Politiker-Marionette mit dem originalgetreuen bulligbayerischen Schnitz-Schädel alles andere als ein harmloser Hampelmann. Als „lauerndes Krokodil, das jederzeit zu­ schnappen kann“, habe er die Puppe gebaut, sagt Pietsch. Diese gemeingefährliche Ausstrahlung beweist, dass der Zauber von Puppentheater nicht immer Verzauberung be­ deuten muss, sondern auch schauriger Spuk sein kann. Und so ist „Wir Schwarzen müssen zusammenhalten“ eine Art Exorzismus, um den Ungeist des Kolonialismus auszutrei­ ben; und zugleich die Beschwörung eines guten Geistes interkulturellen Miteinanders. Für „Wir Schwarzen müssen zusammenhalten“ ist Jan-Christoph Gockel mit einem klei­ nen Team der Kammerspiele nach Togo gereist, um dort Filmsequenzen zu drehen, die später bei der Aufführung in München mit dokumentarischem Archiv-Material und Spiel­

J A N - C H R I STO P H G O C K E L

„Der Schimmelreiter/Hauke Haiens Tod“ nach der Novelle von Theodor Storm und dem Roman von Andrea Paluch und Robert Habeck. Regie Jan-Christoph Gockel am Deutschen Theater Berlin, 2024. Bühne Julia Kurzweg, Kostüm Sophie du Vinage

szenen collagiert wurden. Die Handlung von „Vision einer Rückkehr“ wurde sogar – um den Denkraum möglichst weit zu fassen – paritätisch auf beide Kontinente verteilt. Was an den Spielorten in Afrika auf der Bühne passierte, wurde live nach München übertragen – und umgekehrt. Bei der Uraufführung von Nis-Momme Stockmanns „Der unsichtbare Reaktor“ am Staatstheater Nürnberg über die Folgen der Nuklearkatastrophe von Fukushima holte der Re­ gisseur eine japanische Perspektive ein, indem er Yuichi Ishii, den Betreiber einer „Stellvertreter-Agentur“ (bei der man normalerweise Begleiter für gesellschaftliche Anlässe bu­ chen kann, die sich als Vater, Freundin oder Lebensgefährte ausgeben), als Dramatiker-Double die Schauplätze des Atomunglücks besuchen und mit Menschen vor Ort spre­

S I N N L I C H E Ü B E R F Ü L L E A LS M I T T E L D E R U TO P I E

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„Der unsichtbare Reaktor“ von Jan-Christoph Gockel und Nis-Momme Stockmann. Regie Jan-Christoph Gockel am Staatstheater Nürnberg, 2022. Bühne und Kostüm Julia Kurzweg

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denn je: „Ich finde wichtig, einerseits anzuerkennen, wo wir stehen, und anderseits den Horizont nicht aus den Augen zu verlieren. Darum müssen wir Erzählungen finden, die Gegen­ entwürfe zu den aktuellen Zuständen darstellen.“ In der Tat, die Kraft zu utopischem Denken hat die Welt ge­ rade bitte nötig. Für die neue Spielzeit plant Jan-Christoph Gockel eine Inszenierung in Lwiw in der West-Ukraine. Eine Theaterreise sozusagen durch den „Green Corridor“ in ent­ gegengesetzter Richtung. Grün ist die Farbe der Hoffnung.

Jan-Christoph Gockel, geboren 1982, studierte Theater-, Film- und Me­ dienwissenschaft in Frankfurt und Regie an der Hochschule für Schau­ spielkunst „Ernst Busch“ in Berlin. Von 2014 bis 2020 war er Hausregis­ seur am Staatstheater Mainz, seit 2020/21 ist er als Hausregisseur Teil der Künstlerischen Leitung der Münchner Kammerspiele. „Der Auftrag: Dan­ tons Tod“ von Heiner Müller/Georg Büchner am Schauspielhaus Graz wurde mit dem NESTROY-Theaterpreis 2017 als „Beste BundesländerAufführung“ ausgezeichnet, genau wie „Die Revolution frisst ihre Kinder“, das auf einer Recherchereise nach Burkina Faso basierende Nachfolge­ projekt. Weitere Koproduktionen führten ihn auf den afrikanischen Konti­ nent, wo er u. a. bei den Festivals Fabrique de Fictions in Lomé, Togo und Récréâtrales, Ouagadougou, Burkina Faso Arbeiten zeigte. Er inszenierte u. a. außerdem am Staatstheater Nürnberg, am Schauspiel Frankfurt und zweimal in der Spielzeit 2023/24 am Deutschen Theater Berlin. Seit langer Zeit arbeitet er mit Puppenbauer und -spieler Michael Pietsch zusammen, mit dem er die Kompanie peaches&rooster gegründet hat.

Foto Konrad Fersterer

chen ließ. Eingebunden wurden die Vor-Ort-Auslands-Erfah­ rungen einmal mehr als Videozuspielungen. Dem Ensemble von „Green Corridors“ schließlich gehö­ ren aus der Ukraine geflüchtete Schauspielerinnen an. Und übrigens: Auch dieser so hart an der Kriegsrealität entlang erzählte Abend ist nicht frei von utopischem Denken. Beson­ ders sinnfällig wird es, wenn die Wand, die den Spielraum der Figuren so eng macht, irgendwann umfällt. Von leichter Hand angetippt, rauscht sie lautlos zu Boden. Ein Luftstoß weht übers Publikum hinweg. The Wind of Change? Jan-Christoph Gockel ist freilich kein naiver Theaterträu­ mer, der an Wunder glaubt. Unlängst kombinierte er William Shakespeares Alters-Drama „Der Sturm“ mit Werner Her­ zogs Buch „Das Dämmern der Welt“. Die Geschichte des auf ein einsames Eiland verbannten Herzog Prospero, der sich an seinen Feinden rächen will, verquickt mit der des japani­ schen Soldat Hiroo Onoda, der – ebenfalls auf abgelegener Insel – fast drei Jahrzehnte lang den Zweiten Weltkrieg wei­ terkämpft. Onoda lebt in einem Wahn, in dem jedoch bittere Wahrheit steckt. Über seinen Kopf donnern die Kampfflieger hinweg, die ihre Bomben auf Korea und Vietnam werfen. Krieg folgt auf Krieg folgt auf Krieg. So wie in der Wirklich­ keit. Angetrieben von den Klanggewittern einer Live-Band entfesselt Gockel hier einen finsteren Bildersturm, der alle Zuversicht weitgehend hinweggefegt zu haben scheint. Der zunehmend grausamen Gegenwart etwas entgegenzuset­ zen, räumt Gockel ein, falle immer schwerer – „Wir können ja nicht so tun, als wäre die Welt nicht in dem Zustand, in dem sie gerade ist“ – sei aber gerade deshalb dringlicher geboten


SCHAUSPIEL SPIELZEIT 24 | 25 13. SEP 2024 URAUFFÜHRUNG

14. FEB 2025 URAUFFÜHRUNG

216 MILLIONEN

KOHLHAAS (CAN’T GET NO SATISFACTION)

von Lothar Kittstein Regie: Volker Lösch

Eine Maßlosigkeit von Kleist, David und Ensemble Regie: Rebekka David

14. SEP 2024

FREMD

von Michel Friedman Regie: Emel Aydo du

20. SEP 2024

AMPHITRYON

Komödie von Molière Regie: Martin Laberenz

7. MÄRZ 2025

ALLES, WAS WIR GEBEN MUSSTEN

nach dem Roman von Kazuo Ishiguro Regie: Hanna Müller

5. APR 2025

VESPERTINE

DON QUIJOTE

Stück nach Cervantes von Michail Bulgakow Regie: Sascha Hawemann

EIN POPALBUM ALS OPER Musikalische Leitung: Hermes Helfricht Regie: Kommando Himmelfahrt (Thomas Fiedler, Jan Dvo ák, Julia Warnemünde) Oper im Schauspiel

8. NOV 2024

6. APR 2025

7. NOV 2024

GLAUBE LIEBE HOFFNUNG Ein kleiner Totentanz in fünf Bildern von Ödön von Horváth Regie: Julia Hölscher

29. NOV 2024

DIE BRÜDER LÖWENHERZ Familienstück nach Astrid Lindgren Regie: Simon Solberg

17. JAN 2025

DIE HAND IST EIN EINSAMER JÄGER von Katja Brunner Regie: Sarah Kurze

24. JAN 2025

DIE DREIGROSCHENOPER von Bertolt Brecht (Text) und Kurt Weill (Musik) unter Mitarbeit von Elisabeth Hauptmann Regie: Simon Solberg Schauspiel in der Oper

26. APR 2025

FARM DER TIERE

Ein Märchen von George Orwell Partizipatives und inklusives Projekt Regie: Dominic Friedel

23. MAI 2025 URAUFFÜHRUNG

KOMÖDIE DER EINSAMKEIT

Stückentwicklung von Jan Neumann und Ensemble Regie: Jan Neumann

AM KÖNIGSWEG von Elfriede Jelinek Regie: Katrin Plötner

THEATER-BONN.DE

Spielzeit 24 | 25 zum HÖREN!


EBERHARD SPRENG

Das Publikum als kurzsichtiges Insekt Das Ausnahmetheater von Julien Gosselin

D

ie durchschnittliche Aufführungsdauer der Insze­ nierungen, von denen in diesem Text die Rede ist, ­beträgt etwa fünf Stunden und 20 Minuten: Gesamt­ kunstwerke, Bildergewitter, opulente Soundscapes, Schau­ spiel zwischen klassischer Filmästhetik und realer Theater­ präsenz. Der Regisseur will allen postdramatischen, post­heroischen und postmodernen Dekompositionsmoden zum Trotz noch einmal ins epische Erlebnis ausgreifen, das große Ganze historischer Epochen in den Blick rücken. Ver­ suchen wir den Zugang vom Rand her, einer kleineren Arbeit und mit 105 Minuten die kürzeste in dieser Reihung. Sie kam beim Festival de Marseille im Frühsommer 2017 heraus. Ausgehend von einem zeit- und zivilisationskritischen Es­ say von Aurélien Bellanger entwickelte der Regisseur, von dem hier die Rede sein wird, sein Europatriptychon mit dem Titel „1993“. Es geißelt ein technokratisches, neoliberales Europa, das Freiheiten in umfassenden Reglementierungen und administrativen Verhaltensdirektiven erstickt. Leitmeta­ pher sind zwei Tunnelgebäude: Der Teilchenbeschleuniger CERN und der Eurotunnel unter dem Ärmelkanal, Beispiele für ein technologisches Fortschrittsdenken im Europa der 1990er Jahre. Die Worte kommen zunächst aus dem Off, dazu blitzen Lichter auf wie auf einer nächtlichen Autobahn oder wie Elementarteilchen in Teilchenbeschleunigern, ­pures Lichtspiel vor schwarzer Bühne. Im „Erasmus“ genannten Finale zeigte sich dann das gro­ ße Talent des Nachwuchsregisseurs Julien Gosselin: Eine

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Horde EU-Stipendiat:innen ist zu einer kokainbefeuerten Party zusammengekommen. Die horizontal geteilte Bühne zeigt oben im Video die Großaufnahmen der Akteur:innen, unten ist das physische Geschehen als Gruppenbild zu ver­ folgen. Wie hier im Gruppenbild beunruhigende Wandlun­ gen entstehen, wie Rhythmus, Gesamtbild und Einzelereig­ nis verknüpft sind und ineinander übergehen, entfaltete eine große suggestive Kraft. Ein paar Partygäste haben eine un­ heimliche Agenda: Ein Revolver kommt ins Spiel. Handys werden eingesammelt, nach und nach gruppieren sich alle zu einem großen Kreis und heben den Arm langsam zum Hit­ lergruß. Aus der technoberauschten Spaßgesellschaft ist die Neue Rechte geworden. Aus heutiger Sicht hatte Gosselins Halluzination vor sieben Jahren eine prophetische Dimen­ sion. Historische Kipppunkte interessieren Gosselin. Eine betörende Verbindung waren Bühnen-, Licht- und Tontechnik mit dem Spiel des Ensembles auch im ein Jahr zuvor entstandenen Hauptwerk „2666“ eingegangen, das nach einigen Aufführungen in Valenciennes beim Festival in Avignon 2016 zu sehen war. Die 12-stündige Aufführung prä­ sentierte Roberto Bolaños nachgelassene Romanfolge. Die fünf Romane des „2666“-Zyklus sind Kriminalroman, Gesell­ schaftsstück, Poesie, Allegorie. Es geht um Sexualität und Gewalt, Literatur und Philosophie, Ausbeutung und Globali­ sierung, Poesie und die Lösung des Welträtsels. Wie die Leserin oder der Leser der Bolaño-Romane, so be­ wegt sich auch das Publikum in Gosselins Inszenierung gleich


Foto Christophe Raynaud de Lage

„2666“, basierend auf dem Roman von Roberto Bolaño. Regie Julien Gosselin beim Festival d’Avignon, 2016. Bühne Hubert Colas, Kostüm Caroline Tavernier

einem kurzsichtigen Insekt über die Oberfläche eines gewalti­ gen Wimmelbildes und verliert die Übersicht. Julien Gosselin hat die Psyche des Publikums mit einer cleveren Musikdrama­ turgie durch ein Wechselbad lauter und leiser, schneller und elegischer Passagen mitgenommen. Ein Theater als Gesamt­ kunstwerk mit dem Mutwillen zur Überwältigung.

Epochen und Welten Mit dem Festivalerfolg von „2666“ war Julien Gosselin inter­ national gesetzt. Entsprechend hoch waren Erwartungen für

JULIEN GOSSELIN

DAS P U B L I K U M A LS K U R Z S I C H T I G E S I N S E K T

eine Zyklus von drei Romanadaptionen des US-Amerikaners Don DeLillo: „Les Joueurs“; „Mao II“; und „Les Noms“. Ge­ nese und Transformation des modernen Terrorismus sollte mit ihnen thematisiert werden. Das war postmoderne Litera­ tur auf der Bühne in vom Kino inspirierter Ästhetik und der erneute Versuch, ein ganzes Epochenfresko zu zeichnen. Die Aufführung dauerte zehn Stunden und kam 2018 ebenfalls in Avignon heraus. Der Bühnenhandlung ist eine Filmsequenz mit Dokumen­ tarfilmaufnahmen aus dem New York vergangener Jahrzehn­ te vorangestellt. Immer wieder ist der Doppelturm des World

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Es geht darum, das Gewesene in seiner eigenen mentalen, emotionalen und ästhetischen Logik kenntlich zu machen. Trade Centers zu sehen, eine historische Stadtmarke, die die Zeitenrechnung vor und nach dem 11. September 2001 kenn­ zeichnet und als Symbol auf die wirklichkeitsverändernde Macht des Terrorismus verweist. Zunächst wird eine Stunde lang hinter einer großen Wand auf der Vorderbühne gespielt, nur Videobilder des Gesche­ hens dringen zum Publikum: Ungemein sauber gearbeitete Bilder, die an John Cassavetes, David Lynch und Jim Jar­ musch erinnern. Später öffnet die Vorderwand und diverse Innenräume werden sichtbar, für das Doppelspiel von physi­ scher Präsenz und filmischer Dopplung. Wir erleben die Frustration der Körper im uneinlösbaren Glücksversprechen der modernen Welt, das Leiden eines alternden Schriftstel­ lers an den Grenzen der Sprache, der Zweifel Don DeLillos an der Literatur, wenn es um das präzise Einfangen der Bilder geht. Aber Gosselins melancholischer Blick auf die Ge­ schichte der 1970er bis 1990er Jahre schafft immer wieder Inseln der Behutsamkeit im Lärmen der Zeit.

„Nieder mit der Philosophie, es lebe die Kunst um ihrer selbst Willen“ Julien Gosselins Arbeiten sind keine Aktualisierungen, die darauf abzielen, die Stoffe der Vergangenheit gegenwärti­ gen Gefühlsmoden gefügig zu machen. Es geht darum, das Gewesene in seiner eigenen mentalen, emotionalen und äs­ thetischen Logik kenntlich zu machen. Programmatisch wur­ de dieser dramaturgische Ansatz in „Le Passé“, das im Herbst 2021 am Théâtre National de Strasbourg herauskam. Mit dem russischen Dramatiker und Erzähler, dem Symbolisten Leonid Andrejew sucht der Regisseur eine untergegangene Welt auf. Das Bühnenbild dämmert in warmen Sepiatönen vor sich hin: ein reich ausgestattetes russisches Interieur, Teppiche, Mobiliar, Menschen in Kostümen der vorletzten Jahrhundertwende – darin Spiele um Liebe und Eifersucht, mit einer grandiosen Victoria Quesnel. Das symbolistische Kurzdrama „Requiem“ bildet den dra­ maturgischen Glutkern eines Abends mit mutwilligen ästhe­ tischen Brüchen und Neuanfängen. „Le Passé“ versammelt Gosselins Reflexionen über ein Theater am Ende der Zeiten. „Nieder mit der Philosophie, es lebe die Kunst um ihrer selbst Willen“, sagt da eine verfremdete Stimme aus dem Off. Die gehört einem Künstler, der ein ganzes Publikum aus Holzfi­

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guren geschaffen hat, das er nun einem Theaterregisseur vorstellt. Es folgen Gespräche über Theater, Sichtbarkeit und letzte Dinge. Das Ende hören wir nur. Durch das neblige Dunkel sucht sich die Übertitelung der gesprochenen Worte ihren Weg auf die Leinwand. Plötzlich ist dieses Theater des Todes nur noch eine Leuchtspur von Schriftzeichen. Wieder einmal inszeniert Gosselin das Ende des Theaters.

Theaterlabor im Hangar am Hafen Seit 2017 hoffte die Region Hauts-de-France, im Hangar Crespin in Calais, einen dauerhaften Arbeitsort für sein Pro­ duktionskollektiv Si vous pouviez lécher mon cœur zu etab­ lieren. Die Arbeitsweise des Ausnahmeregisseurs setzt vor­ aus, dass im Prozess der Proben schon alle technischen Gewerke eingebunden werden, so dass sich ein poetisches Zusammenwirken von Bild, Ton, Raum, Kostüm und Spiel entwickeln und trainieren lässt. Diese aufwändige und zeit­ raubende Probenpraxis ist im deutschen Theaterbetrieb un­ üblich. So scheiterte 2016 das Vorhaben, Julien Gosselin für eine Regie an die Münchner Kammerspiele zu holen. An der Volksbühne wagte man einen zweiten Versuch. Immerhin in Ansätzen ließ sich 2022 Gosselins Arbeit in einer Ko-Pro­ duktion mit dem Berliner Haus erleben: „Sturm und Drang. Geschichte der Deutschen Literatur I“ kam im Frühsommer an der Volksbühne am Rosa-Luxemburg-Platz heraus. Der Theatermann verband hierfür Thomas Manns Roman „Lotte in Weimar“ mit Goethes „Die Leiden des jungen Werther“ zu „Sturm und Drang – Geschichte der Deutschen Literatur I “. Im letzten Teil ist das realistische Dekor, der ehemalige Eingangsraum des Hotel Elephant in Weimar, verschwun­ den. Nun glüht eine Pappmachélandschaft unheilvoll wie die deutsche Gattungshöhle, aus der alles möglich hervorkrie­ chen kann: Die Nibelungen, Walhall, Faschismus. Führt der Weg vom Sturm und Drang direkt bis zu Hitlers Nationalso­ zialismus? Gosselins erste, etwas problematische Arbeit in Deutschland hinterließ einige unbeantwortete Fragen und konnte auch ästhetisch nicht zu seinen französischen Arbei­ ten aufschließen. Von Thomas Bernhards letztem Roman „Auslöschung“ bezog die deutsch-französische Folgeproduktion mit der Volksbühne „Extinction“ ihren Titel. Sie kam im Sommer 2023 in Montpellier heraus, vor der Wiederaufnahme an der Volksbühne im Herbst. Texte von Arthur Schnitzler und Hugo von Hoffmannsthal, aber auch die Poesie der Marlen Haus­ hofer flossen in den Abend ein. Der Anfang der Aufführung ist ein überraschendes Theaternovum: Podeste mit vielerlei Apparaten für elektroni­ sche Musik sind auf der Vorderbühne postiert. Wer will, kann zu Technomusik auf der Bühne tanzen. Dann löst sich eine Protagonistin aus dem Wimmelbild. Die erste Pause dient dem Bühnenumbau: Der offenbart im zentralen zweiten Teil eine Jugendstilglasfront vor hüb­ schem Salon, durch den die Kameras mit bildstarken Schwarz-Weiß-Aufnahmen das deutsch-französische En­


Fotos Luna Zscharnt

„Extinction“ mit Texten von Thomas Bernhard, Arthur Schnitzler und Hugo von Hofmannsthal. Regie Julien Gosselin an der Volksbühne am Rosa-Luxemburg-Platz, Berlin, 2023. Bühne Lisetta Buccellato, Kostüm Caroline Tavernier

JULIEN GOSSELIN

DAS P U B L I K U M A LS K U R Z S I C H T I G E S I N S E K T

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Julien Gosselin sagte einmal, er würde das Publikum am liebsten in seinem Kopf versammeln. semble begleiten. Debatten über Kunst und Kultur, amourö­ se Verwicklungen, dramatische Krisen. Gosselin hat Arthur Schnitzlers „Komödie der Verführung“ mit Motiven aus des­ sen „Traumnovelle“ und der „Fräulein Else“ zu einem bedrü­ ckenden Sittenbild montiert. Ein Alpdruck der Protagonistin Albertine in Schnitzlers „Traumnovelle“ ist Auslöser für eine universelle Apokalypse: Vögelkreischen wie in Hitchcocks berühmtem Film, Zittern der Bilder wie bei einem Erdbeben. Plötzlich Farbe: Die Salongesellschaft von eben ist unterge­ gangen und kommt in Dirndln und Lederhosen ins Leben zurück. Ein Beil macht die Runde. Aus Mord wird ein Gesell­ schaftsspiel. Die kollektive Mutation und mörderische Re­ gression einer Gesellschaft, die Gosselin in „1993“ schon einmal erzählte, hier wiederholt sie sich. Dann erneute Pause und ein weiterer, ästhetisch wieder­ um völlig anderer Ansatz zum Verstehen dessen, was Auslö­ schung meint: Ein rein sprachliches Projekt: Der Ich-Erzähler aus Bernhards Roman „Auslöschung“ rechnet mit der fami­ liären Vorgeschichte ab. Hier spielt Volksbühnen-Aktrice Rosa Lembeck den Protagonisten Franz-Josef Murau auf einem Podest vor großer Videoprojektion. Die französische Übersetzung legt sich in der Mitte der Leinwand quer über ihr in Trauer aufgelöstes Gesicht. Das ist kein technisches Versehen: Julien Gosselin stellt den Menschen nun hinter die Sprache und lässt die in opulenten Bildern präsentierte Welt in der Sprache wieder verschwinden. Ein Kreis schließt sich: Aus Literatur wurde Theater, und jetzt löst sich das Theater wieder in Schrift auf.

wollte und sich mit aktualistischen Detailbetrachtungen be­ gnügen könnte. Schon in den 2013 in Avignon uraufgeführten „Particules Élémentaires“ nach Michel Houellebecq wurde das deutlich. Der damals 26-jährige Regisseur und seine junge Truppe er­ zählten die Geschichte um Vereinsamung und Elend nach den Jahrzehnten der sexuellen Befreiung mit erfrischender Naivität und erschütternder Unvoreingenommenheit. Mit nichts als zartem Humor bewaffnet, folgt sie dem Weltver­ achter Houellebecq in alle Winkel seines Hasses und seines Spotts. Die Arbeit machte Gosselin und seine Truppe be­ kannt, die sich nach einem Ausspruch in Lanzmanns Doku­ mentarfilm „Shoah“ Si vous pourviez lécher mon coeur nennt. Manchmal erlebt man an langen Abenden des GosselinTheaters Momente der Verwirrung, wenn Gedankenspuren und Handlungslinien einmal unverbunden bleiben. Vielleicht will der Regisseur mitunter mehr, als das Theater kann, will weiterdenken, als der Zeitgeist es zulässt. Aber dann bleibt immer noch die pure Freude an einem maximalistischen Theater, das sich einfach alles zutraut.

Im Kopf des Regisseurs Julien Gosselin sagte einmal, er würde das Publikum am liebsten in seinem Kopf versammeln, wenn er Romane liest und dabei Musik hört. Man meint, es seinem Theater anzu­ sehen: Es ist ein von der Sprache getriggerter, synästheti­ scher Assoziationsraum aus Musik, Sound, Bild und szeni­ scher Energie. Es ist kein Zufall, dass sich auch in den fertigen Inszenierungen die Schrift immer wieder wie eine Leuchtspur ins Geschehen einschreibt. Seine Stoffe kom­ men fast ausnahmslos aus der epischen Literatur und fast immer sucht er in ihr nach Pfaden durch ganze geistesge­ schichtliche Epochen. Für die umfassenden und einfachen Welterklärungen des ideologischen 20. Jahrhunderts hat Gosselin zwar nur Spott übrig. Das heißt aber nicht, dass er auf das Ausspannen großer Gedankenbögen verzichten

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Der 1987 in der Nähe von Calais geborene Julien Gosselin studierte an der Theaterschule EPSAD des Théâtre du Nord in Lille, bevor er im Jahr 2009 mit sechs Studienkolleginnen und -kollegen das Theaterkollektiv Si vous pouviez lécher mon coeur gründete. Mit dieser Truppe realisierte der Autor und Regisseur zunächst „Genua 01“ von Fausto Paravidino und „Tristesse animal noir“ von Anja Hilling. Zuvor hatte er selbst in „Class Enemy“ von Nigel Williams gespielt. Mit seiner Theaterfassung der „Parti­ cules Élémentaires“ von Michel Houellebecq machte er 2013 beim Festi­ val in Avignon ein breiteres Publikum auf sich aufmerksam. Es folgen einige kleinere Arbeiten, bevor er mit dem 12-stündigen „2666“ nach Roberto Bolaño in Avignon 2016 für das Festivalhighlight sorgt. Es folgt mit „1993“ eine kleinere Arbeit, bevor er 2018 drei Romane des US-ameri­ kanischen Autors Don DeLillo zu einem weiteren gewaltigen Theater­ fresko verbindet. 2021 folgen die Stückcollage „Le Passé“ nach Leonid Andrejew, 2022 die Volksbühnenproduktion „Sturm und Drang“ und 2023, als Ko-Produktionen mit der Volksbühne „Auslöschung“.


U.A. MIT

DADA MASILO MABLE PREACH LASST UNS REDEN QUEERIENTAL

ARIEL ASHBEL JESSICA & FRIENDS NUPEN CHRISTIANE MUSEUM OF RÖSINGER AUSTERITY ZWANGSARBEIT MOHAMED UND WIDER- AMJAHID STAND U.V.M


SABINE LEUCHT

„Meine Themen sind oft sehr dunkel, aber meine Inszenierungen sind es nie“ V

iele haben eine und kultivieren sie bis zur Masche. Sapir Heller hat sie nicht: Eine Regie-Handschrift. Sagt sie jedenfalls: „Es gibt Leute, die haben ihren Trick gefunden, der immer funktioniert. Mich langweilt das. Ich gehe immer vom Stoff aus, vom Thema, und entwickle von da meine Form.“ Damit fährt die Mittdreißigerin seit rund zehn Jahren gut. Mehr als dreißig Stücke hat sie an mittleren und großen deutschen Theatern inszeniert. Viele (moderne) Klassiker, aber auch zeitgenössische Autor:in­ nen wie Lisa Danulat am Staatsschauspiel Dresden, Ivana Sokola und Necati Öziri am Nationaltheater Mannheim oder Tuğsal Moğuls am Zimmertheater Tübingen – und im­ mer wieder Maya Arad Yasur. Ob das Stück alt oder neu ist, spielt für sie keine Rolle. Wichtig ist, ob beim Lesen sofort ihre Fantasie anspringt. Und dass sie die Stoffe bestimmt und diese nicht auf sie projiziert werden. Deshalb hat Sapir Heller von Anfang an auch Angebote abgelehnt. „Neinsa­ gen“, sagt sie mit ihrer ruhigen, samtigen Stimme, die ein gehöriges Selbstbewusstsein übertönt, „hilft mir herauszu­ finden, was ich im Theater will. Und ich habe einen sehr starken Schwerpunkt auf Themen, die mit Krieg zu tun ha­ ben, mit Mitläufertum oder Widerstand, der Geschichte des Dritten Reiches und was sie in der Gegenwart mit uns

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macht oder damit, fremd irgendwo anzukommen. Alles Din­ ge, die ich erlebt habe und noch erlebe.“ Heller ist 1989 in Israel geboren. Krieg gehörte zu ihrem Alltag und ebenso die Frage: „Was kann ich der Gewalt ent­ gegensetzen, ohne selbst gewalttätig zu werden?“ Deshalb ist sie auch nicht zum israelischen Militär gegangen. Geht das überhaupt? „Es geht nicht, es war bürokratisch unmög­ lich und gesellschaftlich eine Qual. Freunde haben sich ab­ gewandt, ich wurde von der Familie ausgeschlossen, als ‚Volksverräterin‘ und Schlimmeres beschimpft“. Nach einein­ halb Jahren geheimdienstlicher Beschattung und einem Zwischenstopp in einer jüdisch-arabischen Theaterkommu­ ne in Haifa ist Heller richtiggehend geflohen. Nach Deutsch­ land, aus dem ihr damaliger Freund stammte. Seither lebt sie in München, hat inzwischen zwei Kinder. Aber ihre Themen verfolgen sie noch immer. „Wie Gewalt entstehen und wohin sie führen kann“ ist auch der Untertitel von Heinrich Bölls Stück „Die verlorene Ehre der Katharina Blum“, das Sapir Heller Anfang 2024 am

„Bomb. Variationen über Verweigerung“ von Maya Arad Yasur. Regie Sapir Heller am Theater Lübeck, 2020. Bühne und Kostüm Anna van Leen

Foto Stefan Loeber

Wie Sapir Heller Humor als Mittel zur Veränderung nutzt



„Der Besuch der alten Dame. Auftritt der Enkelin“ von Friedrich Dürrenmatt. Regie Sapir Heller am Münchner Volkstheater, 2024. Bühne and Kostüm Anna van Leen Seite 40–41 „Amsterdam“ von Maya Arad Yasur. Regie Sapir Heller am Münchner Volkstheater, 2019. Bühne und Kostüm Anna van Leen

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Foto Gabriela Neeb, Seite 40–41 Foto Gabriela Neeb

„Sapir, du machst immer Zirkus aus deinem Schmerz.“

SAPIR HELLER

Schauspiel Frankfurt inszeniert hat. Der Motor hier: Üble Nachrede und sensationslüsterne Spekulationen durch die Presse, zu Bölls Zeiten die Bild-Zeitung, bei Heller aktuali­ siert zu Influencern und Fake-News-Produzenten heutigen Zuschnittes, über die man trotzdem und erst recht lachen darf. „Humor ist für mich die beste Therapie“, sagt Heller und zitiert einen Freund, der zu ihr gesagt hat: „Sapir, du machst immer Zirkus aus deinem Schmerz.“ Das gefällt ihr. Betrof­ fenheitstheater nicht: „Da fließt eine Träne und dann ist es zu Ende.“ Lachen dagegen wirkt länger nach. Und da haben wir doch so etwas wie eine Handschrift oder zumindest einen roten Faden: „Meine Themen sind oft sehr dunkel, aber die Inszenierungen sind es nie.“ Selbst die allerdunkelsten nicht wie „Wie man nach einem Massaker humanistisch bleibt in 17 Schritten“. Der Text war ein Reflex der israelischen Autorin Maya Arad Yasur auf den blutigen Anschlag der Hamas vom 7. Oktober 2023. Es ist der innere Monolog einer Betroffenen, die sich aus ihren spontanen Rachefantasien immer wieder selbst zurückholt mit dem Mantra „Auch auf der anderen Seite der Grenze gibt es Mütter“. Seit November tourt die zwanzigminütige Instal­ lation durch gut 20 Theater in zwölf Städten in Deutschland Österreich und Israel. Während der Text aus dem Off kommt, gibt eine Schauspielerin – in jeder Stadt eine andere – dieser Zerreißprobe einen Körper, der in einer stilisierten Gebär­ position schwitzend und pressend die eigene Mensch­ lichkeit auf die Welt zu bringen versucht. Eine dieser Schau­ spielerinnen ist Nina Steils, eine von Hellers zentralen Inspirationsquellen im Ensemble des Münchner Volksthea­ ters, die über ihre langjährige Zusammenarbeit sagt: „Mit Sapir kann ich immer lachen, bei Erfolgen, beim Scheitern und über Fettnäpfchen. Der Ernst des Lebens geht niemals verloren, die Auseinandersetzungen sind immer sehr inten­ siv und doch vermittelt Sapir mir immer die Hoffnung und den Glauben ans Geschichtenerzählen und die Kraft des Theaters.“ Und Heller glaubt fest an das Theater – „als Ort, an dem ich mit dem Team, dem Publikum und durch die Überhöhung in eine Fantasiewelt Möglichkeiten durchspielen, Gewalt­ knoten auflösen oder überhaupt erst thematisieren kann“. Es ist ihr Labor, in dem sie etwas zusammenbraut, das am Ende alle Sinne anspricht. Mal als fast abstrakte und zugleich irr­ witzig komische Choreografie wie in „Amsterdam“ 2019, mal komplett musikalisch durchkomponiert wie die lustbetonte Jam-Session, mit der Heller Laura Naumanns Weltunter­ gangsfantasie „Das hässliche Universum“ gegen den Strich

„M E I N E T H E M E N S I N D O F T S E H R D U N K E L , A B E R M E I N E I N S Z E N I E R U N G E N S I N D E S N I E “

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Foto xxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxx


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„Sie versteht es, große abstrakte Begriffe und Ideen in eine performative Handlung zu übersetzen.“ bürstete. 2021 hat die fast vollständig aus gemeinsamen Im­ provisationen entstandene Pandemie-Produktion den Nach­ spielpreis des Heidelberger Stückemarktes gewonnen. Ihr ausgemachter Show-, ja fast Revuecharakter ist nicht un­ typisch für Heller, die aber gewöhnlich mit einem sehr klaren Konzept an die Arbeit geht, ohne fest daran zu kleben. Was die Dramaturgin Lena Wontorra bestätigt: „Die Arbeit mit ­Sapir ist immer von ihren großartigen konzeptionellen Ideen geprägt, die sie zu jedem Zeitpunkt des Prozesses zur Dis­ position stellt. Dazu bezieht sie voll Vertrauen alle anwesen­ den Expertisen ein und füllt das Entstehende mit unver­ wechselbarer Leichtigkeit und Humor. Denn das Abgründige, die Gewalt und die Komplexität unserer Welt lassen sich in Sapir Hellers Theater durch den Humor so freilegen, dass sie greifbar und damit veränderbar werden.“ Da haben wir ihn wieder: den Humor als Schmiermittel für Veränderungen. Hellers Feld ist die Hoffnung und die „Tragi­ sche Komödie“, wie sie zum Beispiel Friedrich Dürrenmatt mit seinem „Besuch der alten Dame“ geschrieben hat. Die Regisseurin hat das Stück in der Zeit verschoben und mit dem Titel-Zusatz „Rückkehr der Enkelin“ am Münchner Volkstheater inszeniert. Statt der Titelfigur, der Milliardärin Claire Zachanassian, die mit dem Plan in das verarmte Güllen kommt, sich an dem Mann zu rächen, der sie einst ge­ schwängert und dann fallengelassen hat, besucht hier Claires Enkelin das Dorf. Ganz ohne Arg, bis ihr klar wird, dass die Dörfler etwas unter den Teppich kehren. Ähnlich wie die junge Sapir, die nach Deutschland kam, ohne einen Ge­ danken an den Holocaust. Doch immer wieder wurde das Thema an sie herangetragen, seit dem Terroranschlag der Hamas sogar verstärkt: „Auch von Theatern werden mir oft Stoffe angeboten, bei denen ich mich frage: Wollen die, dass ich mich als Künstlerin damit auseinandersetze? Oder dass die Jüdin ihre Probleme für sie klärt?“ Auch die Enkelin im Stück, gespielt von Nina Steils, soll die Probleme der Gülle­ ner lösen. Mit Geld, das sie aber sinnigerweise gar nicht hat. Es geht um vererbte Traumata auf der einen und um kollekti­ ve Verdrängung auf der anderen Seite, mit der man sich schon selbst auseinandersetzen muss. Während der Proben, erzählt Heller, haben einige der jungen Volkstheater-Schau­ spieler:innen alte Tagebücher mitgebracht und zum ersten Mal ihre Großeltern nach der NS-Zeit gefragt. Formal ist das ein Abend, an dem die Körper immer schon mehr über die Verkommenheit der Figuren wissen, als sie

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sich verbal eingestehen wollen. Auch das kommt häufig vor in den Arbeiten von Sapir Heller. Und besonders eindrücklich 2019 in „Amsterdam“, ihrer ersten Auseinandersetzung mit einem Stück von Maya Arad Yasur, für das Heller sofort Feuer fing. Kein Wunder, schaut man auf den Plot: Eine junge ­jüdische Künstlerin kommt nach Europa, denkt sich nichts Böses, bis sie eine viel zu hohe Gasrechnung bekommt – „und zack“, sagt Heller, „das Thema hat sie gefunden, ohne dass sie es gesucht hat. Ok, that’s me!“. Anders als an Lessings „Nathan der Weise“, der schon zig Mal an sie herangetragen wurde, konnte sie an dieser Ge­ schichte einfach nicht vorbeigehen. Inzwischen hat Sapir Heller schon vier Stücke von Arad Yasur inszeniert. Sie liebt das vielschichtige Stimmengewirr, das in ihnen herrscht. In ihrer Vorliebe für dunkle Themen, aus denen sie den Witz he­ rauskitzeln, treffen sich die zwei. Auf die Frage, wo noch, meldet sich die israelische Dramatikerin stante pede: „Sapir Heller hat Zugang zu Schichten meiner Stücke, von denen ich immer denke, dass nur ich sie kenne. Das könnte an unse­ rem ähnlichen Hintergrund liegen, aber ich glaube, es ist mehr. Deshalb lasse ich sie auch Entwürfe von Stücken le­ sen, bei denen sie nicht Regie führen will. Es ist selten, dass eine Regisseurin die visuellen und darstellerischen Aspekte unserer Kunst so beherrscht und gleichzeitig so sensibel für die Musikalität eines Textes wie scharfsinnig in seiner Ana­ lyse ist. Sie versteht es, große abstrakte Begriffe und Ideen in eine performative Handlung zu übersetzen; sie macht sie konkret, ohne sie auf eine einzige Interpretation zu reduzie­ ren.“ Konkret und abstrakt zugleich ist zum Beispiel das pas­ tellbunte Lama, das in Hellers Lübecker Inszenierung von Arad Yasurs „Bomb. Variationen über Verweigerung“ die Bühne nie verlässt. „Lama“ heißt auf Hebräisch „Warum?“. Dieses „Warum“-Lama wacht an dem Abend über diverse Spielarten und Auswirkungen von Krieg und Gewalt. Warum hört das nie auf? Das Theater der Sapir Heller wird nie müde, das zu fragen.

Sapir Heller, geboren 1989 in Israel, lebt seit 2008 in München, wo sie Schauspiel- und Musiktheaterregie an der Theaterakademie August Everding studierte. Ihre Inszenierungen entstanden u. a. am Theater Re­ gensburg, Staatsschauspiel Dresden, Theater Augsburg, im Studio Я des Maxim Gorki Theaters, am Theater Hof, Theater Konstanz, Theater Stutt­ gart, Nationaltheater Mannheim und Landestheater Schwaben. Eine Art Durchbruch war „Des Teufels General“ am Theater Hof 2015, ein zweiter Maya Arad Yasurs „Amsterdam“ am Münchner Volkstheater, eingeladen zum Radikal jung Festival. Ihre 2016 am Zimmertheater Tübingen entstan­ dene Inszenierung von Tuğsal Moğuls „Auch Deutsche unter den Opfern“, eine Auseinandersetzung mit dem NSU-Prozess, tourt noch heute durch verschiedene Theater. Ebenfalls noch zu sehen: „Die verlorene Ehre der Katharina Blum“ am Schauspiel Frankfurt, „Der gute Mensch von Sezuan. Die Ware Liebe“ am Schauspiel Essen sowie „Animal Farm“ und „Der Besuch der alten Dame. Auftritt der Enkelin“ am Münchner Volkstheater.


11.7. – 11.8.2024 Vienna International Dance Festival

William Kentridge The Great Yes, The Great No 16. Juli, 21:00 & 18. Juli, 19:00 Burgtheater Ursonate 17. Juli, 19:30 Odeon

William Kentridge The Great Yes, The Great No © Stella Olivier


HANNAH SCHÜNEMANN

Radikale Verbindungen In ihren Arbeiten entgrenzt Florentina Holzinger Körper, Materialien, Elemente und Maschinen zu einer neuen Gemeinschaft

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­ emeinsam entwickelt, trainiert, präsentiert. Das Kernteam, g zu dem neben ihrem Bühnenbildner Nikola Knežević und ihrem Sounddesigner Stefan Schneider auch die Dramatur­ gin und Tänzerin Renée Copraij, sowie die Performerinnen Annina Machaz und Netti Nüganen gehören, begleitet ­Holzinger bei fast jeder Produktion und oft schon weit vor Probenbeginn. Für die jeweiligen Produktionen kommen dann stückbezogen Performerinnen hinzu, die zumeist spezielles Wissen und Können mitbringen. Gemeinsam ­ ­werden tausend Spuren einer Idee ergründet, erprobt und zu anspruchsvollen szenografischen Kompositionen verwebt. Die Arbeiten Holzingers sind ein besonders spannendes Beispiel dafür, dass sich Radikalität nicht schlicht mit ­Provokation gleichsetzen lässt.

Verwundbare Körper Das radikale Spektakel auf Holzingers Bühne vollzieht sich an den Körpern. Körperlichkeit wird hier zum Medium der ­Erzählung. An den Körpern zeigen sich Flexibilität, Kraft, Be­ lastbarkeit ebenso wie Schwäche, Verletzung, Erschöpfung. In „Tanz“ (2019) untersucht Holzinger mit ihrem Team die Balletttradition der Romantik und die Sehnsucht nach ­ Schwerelosigkeit. Wie der Untertitel zum Stück – „Eine syl­ phidische Träumerei in Stunts“ – schon andeutet, werden uns hier zwei Seiten einer Versuchsanordnung gezeigt: Die

„A Divine Comedy“ von Dante/Florentina Holzinger. Regie Florentina Holzinger an der Volksbühne am Rosa-Luxemburg-Platz, Berlin, 2022. Bühne Nikola Knežević

Foto Nicole Marianna Wytyczak

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s gibt Erzählweisen, die unter die Haut gehen. Über den Schriftsteller Gustave Flaubert wurde gesagt, er führe die Feder wie andere das Skalpell. Die Autorin Maggie Nelson bevorzuge ein Schreiben, das die Nadel direkt in die Vene sticht. Über die letzten Jahre hat auf der Bühne eine Form des Erzählens von sich Reden gemacht, die nicht nur metaphorisch, sondern auch buchstäblich durch den Körper geht. „What you are going to witness are some of the most fantastic, monstrous, and dangerous acts known to mankind. Things from your wildest dreams will unveil in front of your very eyes. [...]: Real blood, real pain, real sweat, real actortainment.“ Diese Worte stammen aus Florentina Holzingers „Apollon“ (2017). Es sind keine leeren Versprechungen. Die Inszenierungen der österreichischen Choreografin Florentina Holzinger ziehen die Körper auf der Bühne und im Saal in den Bann eines Spektakels, das – ganz im eigent­ lichen Wortsinn – Aufsehen erregt. Staunen, Schauder, Ekel, Ekstase, Entzückung. Das Spektrum der Emotionen, das Holzinger und ihr künstlerisches Team bei ihrem ausgespro­ chen heterogenen Publikum auszulösen vermögen, ist groß. Das mag daran liegen, dass Holzingers Bühnen von haupt­ sächlich nackten, ausschließlich weiblichen Körpern bespielt werden. Es liegt sicherlich auch daran, dass diese Körper in enge Berührung mit Nadeln, Fischerhaken, Kirchenglocken, Feuer, Wasser und Maschinen kommen. Das spektakuläre Potenzial der Inszenierungen bemisst sich jedoch zuerst an der schlauen wie harten Arbeit einer Gruppe von Künstler:in­ nen, die Florentina Holzinger um sich versammelt. Die Cho­ reografin ist die ultimative Teamplayerin. Sie steht in jeder Produktion mit ihrem Ensemble auf der Bühne und setzt auch ihren eigenen Körper dem Spektakel aus. Es wird



derbe Seite der Körperbilder; die Zurichtung, Anstrengung, Brutalität, die Wunden. Und gleichzeitig das magische Potenzial disziplinierter Körperlichkeit. In einer Szene durch­ bohren zwei Haken die Haut an den Schultern einer Perfor­ merin, an denen sie schließlich in die Luft gezogen wird. Die Live-Kamera zeigt den Akt in Nahaufnahme. Ein dünner Strahl Blut rinnt über ihren Rücken, während sich ihr elegan­ ter, vollkommen ruhiger Körper vom Boden löst. Die Szene erzählt von den Anforderungen an den (weiblich gelesenen) Körper. Von Sichtbarem und Unsichtbarem in der Balletttra­ dition. Von der Anstrengung und Disziplin, die jegliche Kör­ perbeherrschung verlangt. Und vom unauflöslichen Ineinan­ der von Schmerz und Erhabenheit. Dadurch wird der Körper zum Schauplatz ungeheurer Stärke, die sich in Form von Blut, Schweiß, Schmerz materialisiert. Diese Gleichzeitigkeit von Belastbarkeit und Verwundbarkeit der Körper bildet den grundlegenden Gestus der künstlerischen Arbeit Holzingers. Ihre Darstellungen von Körperlichkeit referieren auf den Wiener Aktionismus, die Body Art der 70er und 80er Jahre

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und auf körperpolitische Vulnerabilitätskonzepte, wie wir sie im Denken Judith Butlers finden. Bei Butler zeichnen sich Körper durch eine prinzipielle Vulnerabilität aus. Körper ­stehen, laut Butler, grundlegend in Relation zu Anderen und Anderem und sind somit verletzbar. Entscheidend ist, dass für Butler Vulnerabilität kein rein negatives Phänomen dar­ stellt. Neben Erfahrungen von Schmerz und Leid ermög­ liche, so Butler, die Verwundbarkeit des Körpers auch das Erleben von positiven Affekten wie Liebe und Leidenschaft. Eben diese doppelte Dimension des verwundbaren Körpers kommt bei Holzinger auf radikale Weise zum Zug: Körper zei­ gen sich hier nicht bloß als Möglichkeit, verletzt zu werden. Sie zeigen, im Wortsinn der Vulnerabilität, die Fähigkeit, in Verbindung mit der Welt zu treten.

Transmateriale Gemeinschaft Die Offenheit der Körper erkundet Holzingers Team nicht nur durch die Begegnung menschlicher Körper untereinander,

Fotos Nicole Marianna Wytyczak

„Ophelia’s got Talent“ von Florentina Holzinger in eigener Regie. Volksbühne am Rosa-Luxemburg-Platz, Berlin, 2022. Bühne Nikola Knežević


sondern durch das Zusammenspiel diverser Elemente auf der Bühne. Verschiedene Materialien und Objekte werden von Beginn an in den Probenprozess integriert und körperlich er­ probt. Vor diesem Hintergrund bringen Holzinger und ihr Team zwischen ihren großen Produktionen immer wieder soge­ nannte Etüden zur Aufführung, im Rahmen derer sie das musi­ kalische Zusammenspiel von Körpern mit spezifischen Objek­ ten üben. Dabei sticht Holzingers Faszination für Maschinen besonders ins Auge. In „Apollon“, ihrer Adaption von George Balanchines gleichnamigem, neoklassizistischem Ballett, wird der titelgebende Protagonist mit einem mechanischen ­Rodeobullen, wie wir ihn von Jahrmärkten und aus diversen Filmen kennen, ersetzt. Der glitzernd gehörnte Bulle kann in Tempo und Schwierigkeitsgrad variiert und extern gesteuert werden. Die rhythmischen Bewegungen der Maschine über­ tragen sich auf die Körper, die mit ihm interagieren. In „Apol­ lon“ entstehen so – aus der Verbindung von menschlichem und technischem Körper – verschiedenartige Szenenbilder. Durch mal langsame und geschmeidige, mal schnelle und ab­ gehakte Bewegungen erzählen sich Szenen des Kampfes und der Beherrschung, aber auch Bilder der Harmonie und Erotik. Dafür setzen die Performerinnen ihre Körper der Maschine aus. Die Radikalität im Umgang mit der Maschine entsteht al­ lerdings durch Gegenseitigkeit: Auch der mechanische Bulle ist den Performerinnen ausgesetzt. Gegen Ende der Inszenie­ rung bauen die Performerinnen den Bullen auseinander und entblößen sein rohes technisches Gerippe. Das Verhältnis von Mensch und Maschine beschäftigt die Philosophie, seit es Maschinen gibt. Bei Holzinger wird die­ ses Verhältnis auf radikale Weise in die künstlerische Praxis überführt und auf verschiedene Spielräume untersucht. Sol­ che Versuchsanordnungen, die das Verhältnis zu techni­ schen Objekten unter Körpereinsatz erproben, finden sich in Holzingers Arbeiten immer wieder. In „Tanz“ kollaborieren die Performerinnen mit zwei Motorrädern, die von der Decke hängen. In akrobatischen Choreografien verschmelzen die menschlichen und technischen Körper schwebend – ein ex­ tremes wie poetisches Bild. Ein komplettes Helikopter-Ge­ häuse wird in „Ophelia’s Got Talent“ (2022) aus dem Theater­ turm auf die Bühne abgesenkt und von den Performerinnen im Flug bestiegen und bespielt. Der Maschinenkörper scheint mit den menschlichen Körpern, die ihn bedrängen, zu ringen. Das Ganze kulminiert in einem wilden Liebesakt zwischen Maschine und Performerinnen. Doch es wird nie vollkommen klar, wer die Macht über wen hat: Obsiegt der Helikopter, der schließlich alle menschlichen Körper ab­ schüttelt und davonfliegt? Behalten doch die Performerin­ nen, durch den Triumph ihres kollektiven Orgasmus auf der Maschine, die Oberhand? In jedem Fall wird Macht hier nicht nach alter binärer Ordnung, zwischen weiblich und männlich gelesenen Akteuren verhandelt. In Holzingers Arbeiten zeigt sich eine transmateriale Verhandlung von Macht, die sich auch zwischen Performerinnen und technischen Objekten vollzieht. Florentina Holzinger und ihr Team verschieben da­ mit nicht nur genderspezifische Perspektiven auf Macht­

F LO R E N T I N A H O L Z I N G E R

RADIKALE VERBINDUNGEN

Das Verhältnis von Mensch und Maschine beschäftigt die Philosophie, seit es Maschinen gibt. diskurse. Sie verschieben auch den Blick auf das mensch­ liche Subjekt im Anthropozän. Die Politikwissenschaftlerin und Philosophin Jane Ben­ nett plädiert im Rahmen ihrer Theorie zu einer politischen Ökologie der Dinge für eine lebhafte Materie. In ihren Augen sollte nicht nur das Menschliche als lebhaft wahrgenommen werden. Auch die nichtmenschlichen Kräfte, die uns umge­ ben, sollten in ihrer Vitalität anerkannt werden. Denn eine

„Ophelia’s got Talent“ von Florentina Holzinger

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Auffassung von Materie als toter oder gänzlich instrumenta­ lisierter Masse befeuere, so Bennett, die menschlichen Fan­ tasien von Beherrschung und Konsum. In Holzingers Welt kann demnach nicht nur der Helikopter als lebhafte Materie verstanden werden. Auch die schier unendlichen Massen an Wasser, die in Form verschiedener Aquarien und Pools das Bühnenbild von „Ophelia’s Got Talent“ prägen, wären als ­materielle Kraft zu betrachten. Ganz im Sinne Bennetts er­ gründen die Performerinnen im Laufe der Inszenierung ihre Beziehung zur materiellen Kraft des Helikopters wie zu der des Wassers. Auch das Wasser ist hier Vieles: Verlockung,

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Symbol, Muse, Gefahr, Unterstützung. Durch die Erkundung des Wassers als eigenständigem Akteur auf der Bühne de­ konstruiert die Inszenierung gängige Machtkonzepte grund­ legend. Hierarchien und Beherrschungsnarrative werden befragt, verkehrt, neu erprobt. Was herauskommt, ist ein zu­ tiefst berührendes Gefühl von Gemeinschaft. Gemeinschaft zwischen Menschen und Gemeinschaft mit Nicht-Mensch­ lichem, die über die menschliche Hybris hinausgeht. Das Wasser verdeutlicht diese Radikalität durch seine Struktur. Es dezentriert die Bühne als Raum ebenso wie die Beziehun­ gen, die hier stattfinden.

Fotos Nicole Marianna Wytyczak

„Sancta“ , Opernperformance von Florentina Holzinger mit Paul Hindemiths Oper „Sancta Susanna“, geistlichen Werken und Neukom­ positionen von Johanna Doderer, Born in Flamez, Stefan Schneider u. a. Regie Florentina Holzinger. Uraufführung am Mecklenburgi­ sches Staatstheater, Schwerin, 2024. Bühne und Kostüm Nikola Knežević


Holzinger verzahnt Realität und Spektakel wie kaum eine an­ dere Künstler:in. Die unerbittliche Betrachtung gesellschaft­ licher Realitäten und Herausforderungen findet mit theatra­ len Illusionsstrategien zusammen. Neben echten Wunden finden in Holzingers Inszenierungen auch allerhand blutige Körperreplikate – unechte Requisiten – ihren Platz. Die ech­ te, schweißtreibende Disziplinierung des Körpers wird mit technischen Tricks gemischt. Dass beides, das Echte und das Unechte, gleichermaßen in Holzingers Kosmos zur Geltung kommt, lässt sich an der Akribie ihrer technischen Abläufe ablesen: Sicherheitsfra­ gen sind hier ebenso von Relevanz wie die Nutzung der Büh­ nenmittel zum Zweck der Illusion. Es handelt sich um ein ausgeklügeltes Verzahnen von Realem und Schein und allem dazwischen. Authentisches und Artifizielles sind bei Holzin­ ger kein Entweder-oder, sondern extreme Pole im Spektrum des Möglichen. Indem Holzingers Team das ganze Spektrum erzählt, bringt es die Zuschauer:innen dazu, nicht nur zu re­ flektieren, wie die Welt ist, sondern auch, wie sie sein könnte. Vor diesem Hintergrund ist es vollkommen einleuchtend, dass Holzinger, eine Künstlerin, die eigentlich aus dem Tanz kommt und lange in der Freien Szene zuhause war, seit eini­ gen Jahren mit größtem Erfolg auch das Theater und seine Institutionen verzaubert. Sie stellt eine alte Frage des Thea­ ters neu: Wie und welche Realität erzählen? Für die Ausfor­ mulierung dieser Frage nutzen Florentina Holzinger und ihr Team die gesamte Palette der Erzählmittel im Theater und darüber hinaus. Mit der Komposition verschiedener Körper, Disziplinen, Objekte und Elemente finden andere und neue Realitäten in den Theaterraum und erweitern das Bild. Da­ durch entstehen auf Holzingers Bühne Welten, die in ihrer vielschichtigen Form multiple Realitäten repräsentieren. Welten, die uns über zähe gesellschaftliche Zustände hin­ auskatapultieren können. Sie überraschen uns, verführen und verzaubern uns, schaffen Raum für Zuversicht, Mut. Aber ohne dabei den Schmerz, die Probleme und Ängste unserer Zeit zur Seite zu drängen.

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Spiel mit dem Spektrum des Möglichen

Künstler*innenhaus Mousonturm Vorschau Saison 2024 / 25

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She She Pop Bullshit ( 23. und 24. November) Florentina Holzinger, geboren 1986 in Österreich, studierte Choreografie an der School for New Dance Development Amsterdam. Auszeichnung

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ihrer Diplom-Soloarbeit „Silk“ beim Festival ImPulsTanz 2012 mit dem Prix

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Jardin d’Europe. Seither zahlreiche Preise und internationale Einladungen.

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Arkadi Zaides

(2020), den letzten Teil ihrer Trilogie zum Körper als Spektakel. Im selben

The Cloud

Jahr erste Arbeit mit Stadttheaterensemble an den Münchner Kammer­

( 4. und 5. Dezember)

spielen. Mit „Ophelia’s Got Talent“ (2022), entstanden an der Berliner Volks­ bühne, erneute Einladung zum Berliner Theatertreffen. Seit 2020 ver­ schiedene Etüden im öffentlichen Raum, darunter 2023 „Étude for Church“ beim Berlin Atonal. 2024 Uraufführung der Opernperformance „Sancta“.

Marcelo Evelin Uirapuru ( 11. und 12. Dezember)

F LO R E N T I N A H O L Z I N G E R

RADIKALE VERBINDUNGEN

mousonturm.de


THERESA SCHÜTZ

Multiperspektivität als Leitmotiv

Fotos Maria Bolz

Wie Heinrich Horwitz Synergien gestaltet

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H

einrich Horwitz ist Regisseur:in, ist Choreograf:in, ist Schauspieler:in, ist Aktivist:in, ist Performer:in, ist Tän­ zer:in, ist Musiktheatermacher:in, ist Künstlerische Leiter:in, ist Preisträger:in. Alle diese Kategorien passen – und verpassen zugleich. Denn Heinrich Horwitz ist dies alles stets mit anderen zusammen, in Relation, Austausch und Prozess; als Teil eines vielstimmigen, hybriden Netzwerks von Part­ ner:innen, Institutionen und Kompliz:innen. Richtig passend scheint deshalb hier auch die Form des Einzelporträts nicht zu sein. Denn der kulturjournalistische Versuch aus außenstehender Perspektive über eine Person und ihr künstlerisches Schaffen zu schreiben, basiert nicht nur auf in aller Regel intransparenter, subjektiver Selektion dessen, was hervorgehoben wird und was nicht, sowie auf festschreibender Wiederholung dessen, was schon ge­ schrieben wurde. Als Format inkorporiert das Porträt vor al­ lem auch noch die Idee vom genialischen Einzelkünstler – und verpasst damit die komplexe Wirklichkeit eines zeitgenössischen Künstler:innenverständnisses, das auf Vielheit und Kollektivität beruht. Und für ein solches steht Heinrich Horwitz meiner Auffassung nach zuvorderst. Erste Begegnung: Zu Gast im Flipperverse. Ich sitze auf einem Fell auf dem Boden der Zuschauer:innenpodesterie im Ballhaus Ost in Berlin-Prenzlauer Berg. Schnell wird deut­ lich: Hier findet heute keine klassische Aufführung statt, son­ dern eine Art Happening – mit einer angekündigten Dauer von 24 Stunden. In der ersten ruhigen Willkommensphase kommen alle Körper zunächst an, stellen den Raum gleich­ sam gemeinsam für- und miteinander her. In der zweiten Phase formieren sich die zehn eben noch vereinzelten Per­ former:innen-Körper zu einem Schwarm, der zu einem stren­ gen, vorwärtstreibenden Beat eine kreisförmige Schrittkom­ bination aufführt. Die beständige Wiederholung wird von immer mehr Gästen nach und nach als Einladung verstan­ den, hinzuzukommen und mitzutanzen. So mischen sich die Erfahrungssphären, Menschen bewegen sich miteinander, schwitzen, geben Flüssigkeit ab, nehmen Flüssigkeit auf. Es folgen Phasen gemeinsamen Essens, Meditierens, Singens, Tätowierens, Ruhens oder der Trance, die allesamt spürbar machen, dass es in „Flipper“ um verschiedenste Erfahrun­ gen von Flow, um nicht-sprachliche Bewusstseinsströme und eben – konzeptuell wie sinnlich – um Fluidität von Le­ bensformen geht. Das 24-stündige Flipperverse wird damit zur realisierten Heterotopie eines queerfeministischen ZeitRaums verbundener Körper. In den Regie- und/oder choreografischen Arbeiten von Heinrich Horwitz rücken Körperlichkeit und Musikalität an Stelle der gesprochenen Sprache ins Zentrum des szeni­ schen Geschehens. Heinrich spricht von einem ausgepräg­ ten „Misstrauen gegenüber Sprache“, welche – gerade aktu­ ell – immer wieder auch in ihrem gewaltvollen, verletzenden Potenzial in Erscheinung tritt. Während Heinrich als Kind einer Schauspielfamilie und ehemalige Protagonistin der TVSerie „Bruder Esel“ von früh auf mit einer auf Sprache fokus­ sierten Form des Schauspiels sozialisiert wurde, verschiebt

HEINRICH HORWITZ

M U LT I P E R S P E K T I V I TÄT A LS L E I T M OT I V

„Flipper“ von Heinrich Horwitz in eigener Regie am Ballhaus Ost, Berlin, 2023

Narration die emotionale Komplexität der Musik sowie die affektive Dimension des miteinander geteilten Erfahrungs­ raums als Trägerinnen des Worldbuildings treten. Zum ande­ ren, indem – entgegen der ersten Generation immersiver Theatermacher:innen wie Paulus Manker, SIGNA oder Punchdrunk – nicht mehr bestimmte patriarchale, hetero­

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Fotos Jörg Landsberg

„Noperas!-Freedom Collective“, immersives Musiktheater von Emmerig, Horwitz, Hut Kono, Petrović, Vincze, Wernecke. Regie Heinrich Horwitz, Theater Bremen, 2024. Bühne und Kostüme Magdalena Emmerig


sich in den Jahren der künstlerischen Ausbildung der Schwer­ punkt hin zur Musik und zur Choreografie. Die Leidenschaft für Musik war bereits über langjährige Klavierspielpraxis so­ wie eine eigene Punkband („Die gescheiterten Existenzen“) im Jugendalter ausgeprägt. Mit der Ausbildung beim Kompo­ nisten Michael Maierhof begann dann schließlich Heinrichs intensive Berührung und Beschäftigung mit Neuer Musik. Und im Rahmen des Regiestudiums an der Hochschule für Schau­ spielkunst „Ernst Busch“ wählte sich Heinrich konsequenter­ weise den französischen Regisseur und Choreografen Lau­ rent Chétouane als Mentor, um ein eigenes körperbezogenes, szenisches Handwerk zu entwickeln. Zweite Begegnung: NOperas! Ich sitze im Foyer des Thea­ ters Bremen und warte auf Einlass. Über die Seitenbühne be­ treten wir den fiktiven Untergrund-Club „Freedom Collective“. Darin begeben sich vier performende Opernsänger:innen mit ihren virtuellen Avataren in eine gamifizierte Parallelwelt voller Gewalt, Drogenexzesse und unerfüllter existenzieller Sehn­ süchte. Zuschauer:innen sind eingeladen, sich mit ihnen frei über die Bühne zu bewegen. Gleichzeitig bekommen sie die Möglichkeit, über ihre Smartphones in Kontakt mit der virtuel­ len Spieldimension zu treten. Die experimentelle Musikthea­ ter-Inszenierung verhandelt Genderfluidität und Queerness im digitalen Raum als hart umkämpfte Utopie – zumal Gewalt­ formen aus der Realität auch in der Virtualität fortwirken. Das Thema der Grenzverwischung der Wirklichkeitssphären wird dabei vielgestaltig übersetzt – einmal auf der Ebene der klang­ lichen Expressivität des Gesangs und der zur Narration affek­ tiv immer etwas quer stehenden Neuen Musik, einmal in dem Spiel mit Unschärfe und Auflösung von Rändern und Bild­ punkten der Avatare auf den Screens. Heinrich Horwitz arbeitet nach dem Studium genreüber­ greifend in verschiedensten künstlerischen Konstellationen, so u. a. zusammen mit dem Decoder-Ensemble im Bereich zeitgenössischer Musik (wie z. B. für das Projekt „Unterdeck“ an der Hamburger Elbphilharmonie 2017), mit der Gruppe The Agency im Bereich immersiver Performanceinstallation (wie z. B. für „Love Fiction“ im Rahmen des Freischwimmer Festivals 2016) oder mit der Komponistin Sarah Nemtsov so­

Aus beruflichen Perspektivwechseln ergeben sich nicht nur künstlerisch wertvolle Synergien, sondern auch ein starkes Bewusstsein für die jeweiligen handwerklichen Skills. HEINRICH HORWITZ

M U LT I P E R S P E K T I V I TÄT A LS L E I T M OT I V

wie Licht-, Medien- und Videokünstlerin Rosa Wernecke im Bereich musiktheatraler Raumperformances (wie z. B. für „Haus“ im Rahmen der Ruhrtriennale 2022). Heinrich Hor­ witz lebt das Privileg, als Regisseur:in, Choreograf:in, Schau­ spieler:in oder Tänzer:in für Projekte im Stadt- und Staats­ theater ebenso angefragt zu werden wie für internationale Festivals und die Freie Theaterszene. Aus diesen beruflichen Perspektivwechseln ergeben sich nicht nur künstlerisch wertvolle Synergien, sondern auch ein starkes Bewusstsein für die jeweiligen handwerklichen Skills. Wenn Heinrich in Projekten wie „Flipper“ oder „Freedom Collective“ also die Künstlerische Leitung übernimmt, dann werden Räume der Zusammenarbeit geöffnet, in denen sich jede:r Beteiligte sorgsam und wertschätzend den eigenen Skills zuwenden kann. Selbst wenn es vor Probenbeginn eine vorbereitete Konzeption gibt, sind alle eingeladen, sich einzubringen und den gemeinsamen Arbeitsprozess aktiv mitzuprägen.

Dritte Begegnung: IRL. Ich sitze Heinrich in einem Restau­ rant in Berlin-Mitte gegenüber. Wir unterhalten uns über die Zukunft hybrider Tätigkeiten im Theaterbetrieb, über politi­ schen Backlash und die Stagnation des Diskurses zu Macht­ missbrauch im Theater, den Umgang mit Theaterkritik und: über immersives Theater. Es ist schließlich diejenige zeitge­ nössische Theaterform, die mit der konsequenten Durchbre­ chung der Trennung von Bühnen- und Zuschauer:innenraum, mit einem multiperspektivisch erfahrbaren Worldbuilding sowie der Exploration utopischer Räume arbeitet. Sehr schlüssig und sinnfällig also, dass sich Heinrich Horwitz just dieser Form, die nicht zuletzt für Erfahrungen ästhetischer Grenzverwischung steht, angenommen hat – und sie über­ dies zukunftsweisend weiterentwickelt. Zum einen, indem an die Stelle einer sonst dominanten, sprachlich vermittelten

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normative oder ableistische Machtverhältnisse reproduziert werden, sondern fragile Räume geöffnet werden, von denen das sich beteiligende Publikum nicht vereinnahmt wird, son­ dern gerade in einer Geste radikaler Offenheit belassen wird. Auf diese Weise transportieren Aufführungen wie „Flipper“ oder „Freedom Collective“ spürbare Momente einer Hoff­ nung auf hierarchiefreie Räume gelebter Gleichberechti­ gung – auch über die Theatersituation hinaus. Damit mehr Menschen ins Theater gehen, müsste es ein Prinzip geben wie dasjenige, das Heinrich u. a. aus Hamburg unter dem Begriff des „stehenden Kaffees“ kennengelernt hat: Dabei kauft man nicht nur für sich einen, sondern direkt zwei Kaffees, wobei einer stehen bleibt – für diejenige Per­ son, die sich gerade vielleicht keinen leisten kann. Theater­ häuser hätten aktuell die Aufgabe, einerseits safe spaces für die in ihnen arbeitenden Künstler:innen zu bleiben; anderer­ seits müssten sie mit Blick auf den demografischen Wandel und notwendige institutionelle Transformationen zwingend durchlässiger werden. Ein Weg kann hier auch der Weg nach draußen sein. So wie für das Projekt „Amazon Rising“, für das Heinrich Horwitz 2021, noch während der Pandemie, ge­ meinsam mit einer Gruppe von Kompliz:innen Abschnitte vom Berliner Alexanderplatz bis zur Straße des 17. Juni für einen queer-feministischen künstlerischen Umzug selbstbe­ stimmter Amazon:innen-Figurationen sperren ließ. „Amazon Rising“ ist dabei nur eine neben weiteren, öf­ fentlichkeitswirksamen Aktionen wie z. B. dem Manifest #ActOut, zu dessen Unterzeichner:innen Heinrich als nicht­ binäre trans Person gehört, bei welchen Horwitz die eigene Prominenz dezidiert auch für politische Akte der Sichtbar­ machung und Solidarisierung einsetzt. Das Zusammenklin­ gen der Vielen in gelebter Multiperspektivität ist bei Heinrich eben nicht nur innerästhetisches, sondern auch ein stimmi­ ges, außerkünstlerisches Leitmotiv.

Heinrich Horwitz (they/them) ist Regisseur:in, Choreograf:in und Schau­ spieler:in und realisierte Produktionen in der Freien Szene, Stadt- und Staatstheater und in der Szene der Neuen Musik. Studium der Schau­ spielregie und Choreografie an der Hochschule für Schauspielkunst „Ernst Busch“ Berlin. Heinrich war zum Heidelberger Stückemarkt einge­ des Landes Baden-Württemberg ausgezeichnet. 2021 entstand „Amazon Rising“ als queer-feministischer Umzug, 2022 präsentierte Heinrich „HAUS“ bei der Ruhrtriennale, 2023 entstand die Performance „FLIPPER“ am Ballhaus Ost. Außerdem Produktionen am Staatstheater Kassel, in der Elbphilharmonie Hamburg, dem Deutschland Funk, und Einladungen zu zahlreichen Festivals. Heinrich arbeitet 2022/2023 an dem Projekt „Free­ dom Collective“, einem immersiven Musiktheaterprojekt in Kooperation

„Amazon Rising“, ein aktivistischer Umzug – konzipiert von Heinrich Horwitz, 2021

mit dem Musiktheater im Revier Gelsenkirchen, Theater Bremen und Staats­ theater Darmstadt. Neben der Regie und Choreografie arbeitet Heinrich kontinuierlich auch als Schauspieler:in an Theater, der Oper, in Film und Fernsehen und lehrt als Dozent:in in der Regieabteilung der AdK Ludwigs­ burg. Heinrich ist neben 185+ Schauspieler*innen Mitunterzeichner:in des #ActOut Manifests und Aktivist:in. Heinrich arbeitet gemeinsam mit einem fluiden Team, bestehend aus Rosa Wernecke, Magdalena Emmerig und Annett Hardegen. Heinrich ist Preisträger:in des Tabori Preises 2023.

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Foto oben Dirk Cieslak, mitte und unten Katja Feldmeier

laden und wurde mit dem Tanz- und Theaterpreis der Stadt Stuttgart und


OPIUM – ICH HABE HUNGER, ICH MÖCHTE GOTT ESSEN Ein Trip in fünf Akten über Duft und Rausch von Katharina Kummer (UA) [15 plus]

T-REX, BIST DU TRAURIG? (STEHT DEIN T FÜR TRÄNEN?) Eine Geschichte über Dinos, Gefühle und den Weltuntergang | Von Fayer Koch | Stückauftrag für das TDJW (UA) [6 plus]

MOBB Tanzsolo im Klassenzimmer über Mobbing von Chris Jäger und Cordelia Lange (UA) [10 plus]

MARIAH STUART – HEADS WILL ROLL Frei nach Friedrich Schiller | Adaptiert für die High-School von Juli Mahid Carly [15 plus]

WIRBEL, WICKEL, WEICH Tanzstück mit Textilien von Magda Korsinsky | Theater für die Allerkleinsten | Relaxed Performance (UA) [2 plus]

TURBO #2 Inklusives Tanz- und Theaterfestival für junges Publikum Das TURBO-Festival wird gefördert von der Heidehof Stiftung GmbH, dem Landesverband Sachsen im Deutschen Bühnenverein und der Ostdeutschen Sparkassenstiftung.

CRASH BOOM BANG Ernstfalltraining für große und kleine Schulalltagskatastrophen | Entwickelt von TDJW-Ensemble und Prinzip GONZO [10 plus]

SOUNDS OF RESISTANCE Ein musiktheatrales Kooperationsprojekt des TDJW und der Deutschen Oper am Rhein Düsseldorf / Duisburg zu Jugendwiderstand gegen NS-Unrecht | Künstlerische Leitung: Schorsch Kamerun Gefördert von der Stiftung Erinnerung, Verantwortung und Zukunft (EVZ) und dem Bundesministerium der Finanzen (BMF) im Vorhaben »Bildungsagenda NS-Unrecht«

HELLO ATMOSPHERE Ein gesungenes Gespräch über die globale Erwärmung zwischen einem Kinderchor und einem Publikum voller Erwachsener | Kooperation mit Theater Artemis ’S-Hertogenbosch, Niederlande [18 plus]

KNUSPER KNUSPER Materialtheater für neugierige Sinne | Frei nach »Hänsel und Gretel« der Brüder Grimm | In einer Bearbeitung von Rike Schuberty [5 plus]

Karten: 0341.486 60 16 | www.tdjw.de


ANNE FRITSCH

„Theater ist ein wundersames Konstrukt“ Elsa-Sophie Jach liebt das Zusammenspiel verschiedener Künste auf der Bühne

„E

s gibt da so eine Anekdote“, sagt Elsa-Sophie Jach auf die Frage, wann diese Liebesbeziehung ange­ fangen hat zwischen ihr und dem Regieführen. Wir sitzen in der Schönen Aussicht, der Bar des Münchner Resi­ denztheaters, wo sie seit 2022 Hausregisseurin ist. An ihrem vierten Geburtstag wollte sie mit ihren Freund:innen „Das doppelte Lottchen“ nachspielen. Ihre Mama hat ihr das er­ zählt, sie selbst hat nur eine verschwommene Erinnerung dar­ an. Sie liebte den Film von Josef von Báky, konnte ihn auswen­ dig und hat für alle Kinder Kostüme vorbereitet: „Ich habe die Rollen verteilt und selbst auch mitgespielt, aber es hat alles in allem überhaupt nicht funktioniert.“ Die anderen konnten den Text nicht, kannten den Film nicht gut genug. Trotzdem war das so etwas wie ein „erstes Aufblitzen dieses Interesses“. Sie war ein bisschen ein „Nerd“ als Kind und Jugendliche, erzählt sie, war Ballettkind in der Oper Hannover, später im dortigen Kinderchor. Sie fand es toll, Teil des Bühnenkosmos zu sein, hat leidenschaftlich gerne gesungen und liebt bis heute chorisches Sprechen und Singen auf der Bühne. Mit 15 hat sie ein Schulpraktikum am Schauspiel Hannover ge­ macht. Eher durch Zufall, eigentlich wollte sie zur Zeitung, wie ihr damaliges Vorbild, Rory von den „Gilmore Girls“. Aber dann war sie mit ihrer Familie im Theater, ihre Mama fing nach der Vorstellung ein Gespräch mit den Schauspieler:in­ nen an. Und auf einmal stand die Frage im Raum, ob Elsa

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nicht mal dort reinschnuppern wolle. „Und dann war es Liebe auf den ersten Blick“, erzählt sie. „Ich war einen Tag im Thea­ ter und bin literally nicht mehr weggegangen. Ich habe sofort gefragt, ob ich länger bleiben kann als die zwei Wochen.“ Sie machte letztendlich acht Hospitanzen parallel zur Schule und später zum Studium. Ihre allererste Produktion war „Frühlings Erwachen! (LIVE FAST – DIE YOUNG)“ von Nuran David Calis, 2007 am Schau­ spiel Hannover. „Das war richtig toll“, erinnert sich Jach, „Nu­ ran hat Theater als Band gedacht und ein großes Gemein­ schaftsgefühl mit auf die Probe gebracht. Da wurde auch ich als Hospitantin stark einbezogen.“ Sie setzte sich einfach an den Tisch und redete mit. Nach ein paar Proben kam Calis zu ihr und sagte: „Eigentlich ist das gar nicht so üblich, dass die Hospitantin immer mitredet. Aber ich find’s richtig gut, ich war genauso wie du, mach weiter so.“ Er hat ihr viel Mut gegeben für ihren Start: „Ich habe Nuran eine Woche zugeschaut und wusste, dass ich das auch machen will.“

„Die Unerhörten. Technoide Liebesbriefe für antike Heldinnen“ mit Texten von u. a. Aischylos, Ingeborg Bachmann, Hélène Cixous, Euripides, Esther Hutfless, Enis Maci, Friederike Mayröcker, Helga M. Novak, Ovid, Sappho, Elisabeth Schäfer, Christa Wolf. Regie ElsaSophie Jach am Residenztheater München, 2021. Bühne Aleksandra Pavlović, Kostüm Johanna Stenzel


Foto Sandra Then

ELSA-SOPHIE JACH

„THEATER IST EIN WUNDERSAMES KONSTRUKT“

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Fotos oben Sandra Then, unten Birgit Hupfeld

Oben „Die Unerhörten. Technoide Liebesbriefe für antike Heldinnen“ Unten und rechts „Kopenhagen Trilogie“ nach den Romanen „Kindheit“ – „Jugend“ – „Abhängigkeit“ von Tove Ditlevsen, für die Bühne bearbeitet von Tom Silkeberg. Regie Elsa-Sophie Jach am Residenztheater München, 2024. Bühne Marlene Lockemann, Kostüm Aino Laberenz


Weil sie so schnell mit der Schule fertig war (sie hatte als kleiner Nerd zwei Klassen übersprungen und mit 17 ihr Abitur in der Tasche), war sie zu jung, um sich gleich bei einer Re­ gieschule zu bewerben. Dort musste man damals meist 21 sein, außerdem fühlte sie sich dieser Männerdomäne noch nicht gewachsen – die Quote regieführender Frauen lag da­ mals ungefähr bei 30 zu 70. Sie studierte also Theaterwis­ senschaft, Philosophie und Literaturwissenschaft. In einem Seminar bei Claudius Lünstedt über Kreatives Schreiben schrieb sie ein Kurzstück und bewarb sich damit an der UdK Berlin für den Studiengang „Szenisches Schreiben“. Sie wur­ de genommen. Ihr Stück „Bildstörung“ wurde in Salzburg ur­ aufgeführt, Werkstattinszenierungen ihrer Texte gab es unter anderem am Wiener Burgtheater und am Deutschen Theater Berlin. Zuzuschauen, wie andere ihre Texte inszenierten, fand sie nicht einfach: „Ich habe immer gedacht, ich würde es an­ ders machen.“ Auch war ihr die Arbeitsweise einer Autorin auf Dauer zu einsam. „Es tat mir nicht gut, immer nur in mei­ nem eigenen Kopf rumzugraben.“ Bei einem Austauschse­ mester in Zürich inszenierte sie zum ersten Mal, Elfriede Je­ lineks „Prinzessinnendramen“. Danach „gab es keinen Weg mehr zurück“. Sie begann, in Hamburg an der Hochschule für Musik und Theater Regie zu studieren. Sie mochte vor allem den praktischen Unterricht mit Sprecherziehung, chorischem Sprechen und Körpertraining. Bis heute arbeitet sie mit Menschen, die sie dort kennen­ gelernt hat. Die Bühnenbildnerinnen Marlene Lockemann und Aleksandra Pavlović gehören ebenso zu diesem Kreis wie die Musiker Max Kühn und Samuel Wootton. Das Arbei­ ten in vertrauten Teams war wichtig für sie. Von der Uni selbst

„Es tat mir nicht gut, immer nur in meinem eigenen Kopf rumzugraben.“ bekam sie „ziemlich viel Gegenwind“: „Da gab es noch so veraltete Vorstellungen wie ‚Du bist ja gar keine richtige Re­ gisseurin, du arbeitest ja gar nicht autoritär‘.“ Sie fühlte sich wie eine Außenseiterin, wurde nie zum Körber Studio oder anderen Hochschul-Treffen geschickt. „Das ist mir schon nah gegangen“, sagt sie, „aber es hat zum Glück nicht überhandgenommen in meinem Denken.“ Nach ihrem Abschluss 2018 lief es ziemlich rund für sie. Sie inszenierte am Theater Oberhausen, am Theater Bremen und am Luzerner Theater. Ihre dritte Arbeit nach dem Stu­ dium war „Mitwisser“ von Enis Maci am E.T.A. Hoffmann Theater in Bamberg. Als sie am Tag nach der Premiere ver­ katert im Zug nach Berlin saß, bekam sie eine E-Mail vom Residenztheater-Team, das damals noch am Theater Basel war: ob sie sich nicht mal kennenlernen wollten? Sie wollte, inszenierte 2021 in München „Herz aus Glas“ nach Herbert Achternbusch. Eine ungewöhnliche Textwahl und eine eben­ solche Inszenierung: der Außenseiter, der Mühlhiasl, wurde gespielt von Pia Händler als einzig Normale in einer wahn­ sinnigen Umgebung, in der alle gigantische Allongeperü­ cken tragen und bedrohlich im Chor sprechen.


Jach fühlte sich wohl an diesem Haus. „Da war so viel Offen­ heit und der Wille, sich künstlerisch zu begegnen“, erinnert sie sich. Nach ihrer zweiten Inszenierung fragte Intendant Andreas Beck sie, ob sie als Hausregisseurin nach München kommen wolle. Auch wenn es seinen Reiz hatte, „nur mit einer Reisetasche in einer neuen Stadt anzukommen“: Sie wollte ein fester Teil dieses Hauses werden, kontinuierlich mit einem Ensemble arbeiten und mit ihm zusammen weiter­ kommen. Sie hat am Residenztheater sehr verschiedene Stoffe auf die Bühne gebracht: „Das Käthchen von Heilbronn“ von Heinrich von Kleist, „Werther“ nach Johann Wolfgang von Goethe, Jean-Paul Sartres „Die Fliegen“ und zuletzt „Die Ko­ penhagen-Trilogie“ nach Tove Ditlevsen. „Ich lese unglaub­ lich viel, bevor ich einen Stoff finde“, sagt sie. Ob es klickt, ist intuitiv. Oft hat es mit der Sprache zu tun. „Ich bin großer Fan einer poetischen, geformten und auch etwas weirden Spra­ che“, sagt sie. „Dazu muss eine Geschichte mich berühren. Und ich muss das Gefühl haben, dass es relevant ist, diesen Stoff hier und jetzt zu erzählen.“ Ob es nun eine Uraufführung ist, bei der sie sich in den Dienst des Textes stellt, oder ein Klassiker, den sie entschlos­

Sie ist keine Regisseurin, die am Anfang der Proben weiß, wie das Ergebnis aussehen soll. 60

Foto Birgit Hupfeld

Szene aus „Kopenhagen Trilogie“

sen an sich heranzieht, spielt dann eher eine untergeordnete Rolle. Sie sieht sich als eine, die Texte sampelt: „Ich lese sie kritisch gegen und füge eine andere Stimme hinzu, die in meinem Kopf mitklingt. Manchmal nehme ich andere Texte des Autors oder der Autorin mit rein“, erklärt sie. „Ich nähe mit einer Nadel die Dinge zusammen und versuche, sie ein­ zuweben in ein größeres Bild. Das ist eher ein Weiterspinnen als eine Dekonstruktion.“ Da der Kanon nun mal sehr männ­ lich ist, bringt sie häufig einen feministischen Gegenblick hinein, zum Beispiel in den Goethe’schen „Werther“. Sie füg­ te der männlichen eine weibliche Perspektive hinzu: die der romantischen Dichterin Karoline von Günderrode, die sich nach der Lektüre des „Werther“ und einer ebenfalls unglück­ lichen Dreiecksgeschichte mit einem Dolch erstach. Jach erhob Günderrode zum weiblichen Spiegelbild Werthers: Die Frau, die bei Goethe reine Projektionsfläche der männli­ chen Fantasie bleibt, kam selbst zu Wort. Eine ihrer wichtigsten Arbeiten in München war „Die Un­ erhörten – Technoide Liebesbriefe für antike Heldinnen“, die zum Brandhaarden Festival 2023 am Internationaal Theater Amsterdam in der Edition „Female Voices“ eingeladen wurde. Jach arbeitete mit antiken Texten von Aischylos, Euripides, Ovid und Sappho, die sie mit Neudeutungen von Ingeborg Bachmann, Christa Wolf und anderen zusammenbrachte. Auf dem humanistischen Gymnasium hatte sie Altgriechisch gelernt, konnte also tief in die Texte eintauchen, mit den Be­ deutungen der Worte spielen und sie in ein performatives Setting mit der Live-Techno-Band SLATEC heben. „Ich be­ greife Theater immer als Experimentierfeld, wo Körper, Raum, Sprache und Musik aufeinanderprallen“, so Jach. Selbst ein Stück zu schreiben, würde sie nicht ausschlie­ ßen, sagt sie: „Aber eigentlich mag ich dieses Geheimnis am Theater. Man forscht als Regisseurin an den Texten und Sät­ zen, aber man weiß nicht, wie sie wirklich gemeint sind. Wenn ich meinen eigenen Text inszenieren würde, wüsste ich zu viel. Dann würden nicht zwei Bildwelten aufeinander­ treffen.“ Jach glaubt, dass jeder Stoff eine Form einfordert und dass es in der Probenarbeit darum geht, dem nachzu­ spüren. Sie ist keine Regisseurin, die am Anfang der Proben weiß, wie das Ergebnis aussehen soll. Sie hat eine These, die sie mit ihrem Ensemble überprüft. „Das ist schön, aber es ist manchmal auch wahnsinnig anstrengend, weil man sich selbst immer wieder hinterfragen muss“, findet sie. Ihre jüngste Inszenierung basiert auf den Romanen „Kind­ heit“, „Jugend“ und „Abhängigkeit“ der dänischen Autorin Tove Ditlevsen – und dieser Stoff war „absolut eine Heraus­ forderung“. Als wir uns treffen, steht die Premiere noch be­ vor. Sie sagt: „Bei der Kopenhagen-Trilogie ist der Kosmos enger und privater als bei meinen anderen Inszenierungen. Die Autorin schreibt sich da raus, das hat eine große Kraft. Aber ich muss mich auf die intimen Situationen einlassen.“ Nun, da die Premiere stattgefunden hat, ist klar, dass ihr das gelungen ist. Drei Schauspielerinnen verkörpern die autofiktionale Erzählerin: Naffie Janha, Pia Händler und ­Cathrin Störmer. Sie spielen diese Tove, die sich aus der


Enge ihres armen Elternhauses befreit und in der vermeint­ lichen Weite einer Medikamentenabhängigkeit strandet. Der Raum von Marlene Lockemann schiebt sich wie eine Harmo­ nika auseinander und zusammen; mal werden die Spieler:in­ nen beinahe zerquetscht, dann springen sie in die Freiheit. Es ist ein dichter und emotionaler Abend, der das Gefühl der Lektüre famos ins Spiel übersetzt. Es war vor allem ein Satz von Tove Ditlevsen, der Jach fasziniert hat: „Wenn ich schrei­ be, kann ich auf niemanden Rücksicht nehmen.“ Ihre Sehn­ sucht, trotzdem in ihre Familie, in die Gesellschaft zu passen. „Sie ist getrieben von den Wörtern in ihrem Kopf, die sie auf­ schreiben muss“, so Jach. „Durch das Schreiben kommt sie sich selbst immer näher, aber sie sprengt gleichzeitig die Welt um sich herum.“ Im Gespräch mit Elsa-Sophie Jach fallen immer wieder sol­ che Sätze, die einen Moment stehenbleiben im Raum. Bei denen ich die Dramatikerin sprechen höre, die Liebhaberin der Sprache, die vielleicht gerade darum in dieser Inszenie­ rung über eine schreibende Frau eine Direktheit findet, die einen umhaut. Man sieht den Zwiespalt der Figur auf der Büh­ ne: Sie will eine Familie haben und Menschen um sich herum, aber sie will auch schreiben. „Tove Ditlevsen hat diesen inne­ ren Prozess öffentlich gemacht“, so Jach. „Sie hat sich wahn­ sinnig angreifbar gemacht.“ Jach hat versucht, diese beiden Kräfte zu erwischen: das Intime und das Öffentliche, die Enge ihrer Herkunft und den Furor, der in ihr tobt. Es ist ihr gelungen. Auf die Frage, was sie am Theater und an ihrem Beruf liebt, gibt Elsa-Sophie Jach eine Antwort, die nach einer neuen Generation von Regisseur:innen klingt. Nach einem Zusammen viel mehr als nach Autorität. Zum Glück. Sie sagt: „Theater ist ein wundersames Konstrukt, weil so viele unter­ schiedliche Künstler:innen und Gewerke daran beteiligt sind. Für mich ist es immer die größte Aufgabe, einen Gedanken­ raum zu schaffen, in dem ich all diesen Mitspieler:innen die Möglichkeit gebe, zu erstrahlen. Das klingt jetzt pathetisch, aber darum geht es: das alles unter einem Gedanken zusam­ menzuführen, ohne selbst alles festzulegen. Den richtigen Rahmen abstecken, in dem die Leute frei arbeiten und spie­ len können.“

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Bertolt Brecht (Text), Kurt Weill (Musik) Mitarbeit Elisabeth Hauptmann PREMIERE: SO 29.9.2024

THE PARTY

Schauspiel von Sally Potter PREMIERE: FR 24.1.2025

AUTOMATENBÜFETT Anna Gmeyner PREMIERE: FR 2.5.2025

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BILDER DEINER GROẞEN LIEBE Wolfgang Herrndorf PREMIERE: SA 21.9.2024

HOMO FABER

Max Frisch PREMIERE: SA 16.11.2024 Elsa-Sophie Jach, geboren 1991 in Vorwerk bei Bremen, studierte zunächst Theaterwissenschaft an der Freien Universität Berlin, dann Szenisches Schreiben an der UdK Berlin und schließlich Regie an der Hamburger Theaterakademie. Ihre Produktionen waren bei Festivals wie dem Radikal jung am Volkstheater München und den Autor:innentheatertagen am Deut­ schen Theater Berlin eingeladen. Elsa-Sophie Jach arbeitet an Theatern in Deutschland, Österreich und der Schweiz. Für „Die Zukunft reicht uns nicht (Klagt, Kinder, klagt!)“ (UA 2017, Schauspielhaus Wien, gemeinsam mit Thomas Köck) war sie als beste Regie für den Nestroypreis nominiert. Seit der Spielzeit 2022/2023 ist Elsa-Sophie Jach Hausregisseurin am Resi­ denztheater München, wo sie zuvor „Herz aus Glas“ und „Die Unerhörten. Technoide Liebesbriefe für antike Heldinnen“ inszenierte. Mit letzterer Arbeit wurde sie zum Brandhaarden Festival 2023 ans Internationaal Thea­ ter Amsterdam eingeladen.

WALD

Miriam V. Lesch PREMIERE: SA 25.01.2025

MUTTER VATER LAND Akın Emanuel Şipal PREMIERE: SA 15.3.2025 HOFTHEATER

EINE SOMMERNACHT David Greig und Gordon McIntyre PREMIERE: FR 16.5.2025

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MARTIN KRUMBHOLZ

Play what you can’t play Wie sich Pınar Karabulut Klassikern mit Herz und Courage nähert

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chriftsteller wie Ludwig Wittgenstein oder Philip Roth, schreibt der Philosoph Martin Seel, machten Dinge, die „in jeder Hinsicht unseriös“ waren, bis sie sie machten. Vermutlich ist es in jeder Hinsicht unseriös, ein Tschechow-Drama auf ein aufblasbares Bühnenbild zu ­setzen, ein Trampolin, die Spieler in bonbonfarbene Daunen­ kostüme zu stecken, in denen sie nicht mehr anecken, son­ dern allenfalls anrunden können, sie Purzelbäume schlagen zu lassen und sie, dank nachlassender Schwerkraft, gewis­ sermaßen auf den Mond zu schießen. Genauso hat es Pınar Karabulut gehalten, als sie vor eini­ gen Jahren am Schauspiel Köln „Drei Schwestern“ insze­ nierte. Karabuluts Humor hat sich einfach geweigert, vor Tschechows Fatalismus zu kapitulieren. Der Mond oder das Kinderparadies eines Ikea-Möbelhauses stellen die größt­ mögliche Entfernung von einer russischen Provinzstadt des 19. Jahrhunderts dar; wie andererseits eine Techno-Disco des beginnenden 21. die größte denkbare Distanz zu einer mittelalterlichen Residenz bildet, in der Shakespeare zwei verfeindete Sippen, die Capulets und die Montagues, aufei­ nanderprallen lässt. Konflikte aus vergangenen Epochen ließen sich, wenn man denn als seriös gelten wollte, gewiss 1:1 auf der Bühne rekonstruieren, man hätte einen fabelhaften Geschichts­ unterricht. Nur wäre das ein Ansatz, der die junge Regisseu­ rin Pınar Karabulut kalt lässt. Sie interessiert sich nicht für Rekonstruktionen des Vergangenen, sondern für heiße

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­Emotionen, die oft den Kern alter Geschichten ausmachen, und die uns, wenn auch in veränderter Gestalt, auch heute noch beschäftigen. „Trauer muss Elektra tragen“ oder „End­ station Sehnsucht“ sind typische Karabulut-Projekte: Sie ­benennen die Affekte, um die es geht, schon im Titel.

Mit Herz und mit Courage Oder eben „Romeo und Julia“, diese idealtypische tragische Liebesgeschichte. In Pınar Karabuluts Inszenierung des Klassikers findet das Publikum sich in einem modernen Club, in dem getanzt wird. Bettina Pommer hat ein Labyrinth aus Plexiglas auf die Bühne gesetzt, man sieht gleich zu Anfang alle auftretenden Figuren in Masken wie beim Karneval (oder eben wie bei einem Ball im Hause Capulet). Die Menschen, die zu Techno-Musik tanzen, gehen aus sich heraus, diesen Impuls spürt man deutlich, aber sie bleiben doch alle für sich. Jeder tanzt für sich allein. Sie sehen einander durch die Glas­ wände, aber die Drehtüren versperren ihnen auch den Weg zueinander, und die Masken machen sie unkenntlich (die fantastischen Kostüme hat Teresa Vergho entworfen). Den besten Autoren, Shakespeare und Tschechow, nä­ hert Karabulut sich mit Herz und mit Courage; sie erkennt den Mechanismus, etwa den zwischen Begehren und Isola­ tion, und überträgt ihn fast beängstigend zielsicher in eine zumindest dem jüngeren Publikum intim vertraute Welt. Die­ ses Publikum kann hier mühelos andocken, und gleichzeitig


Fotos Krafft Angerer

„Romeo und Julia“ von William Shakespeare. Regie Pınar Karabulut am Schauspiel Köln, 2017. Bühne Bettina Pommer, Kostüm Teresa Vergho

P I N A R K A R A B U LU T

P L AY W H AT YO U C A N ’ T P L AY

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Fotos Krafft Angerer

„Like Lovers Do (Memoiren der Medusa)“ von Sivan Ben Yishai. Regie Pınar Karabulut an den Münchner Kammerspiele, 2021 (UA). Bühne Michela Flück, Kostüm Teresa Vergho


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„Vom Hirn übers Herz in den Körper“, das ist so etwa ihr Motto.

erzählen sich die Geschichten frisch und plastisch. Eine Nebenfigur wie den neidischen Tybalt, der später von Romeo erschlagen wird, hat man selten so bitter, so glühend has­ send erlebt wie in dieser Kölner Inszenierung. Das Schauspiel Köln war die erste wichtige Station in Ka­ rabuluts Karriere. Geboren wurde sie 1987 in Mönchenglad­ bach als jüngstes von fünf Geschwistern. 1968 gelangte ihr Vater, aus Kayseri in Anatolien stammend, über Istanbul und München nach Mönchengladbach, wo der gelernte Buch­ halter in einer Bank arbeitete. 1972 durfte ihre Mutter nach­ kommen. Karabulut erzählt von einem Foto, das der Vater nach Anatolien geschickt haben muss: Der junge Mann posiert stolz vor einem Zigarettenautomaten. Zwischen die­ sem symbolgeladenen Foto und der, man darf schon sagen: steilen Karriere der jüngsten Tochter spannt sich eine einzig­ artig gelungene Migrationsgeschichte auf, die mit Bega­ bung, Glück und Ehrgeiz zu tun hat, die aber natürlich nicht ohne weiteres exemplarisch ist. Pınar Karabulut hat in München Theater- und Literatur­ wissenschaften studiert. Ihr Weg auf die Bühne lässt sich in­ sofern als ein akademischer beschreiben, aber das bloß Aka­ demische beschreibt ihren Ansatz so wenig wie das „in jeder Hinsicht Seriöse“. „Vom Hirn übers Herz in den Körper“, das ist so etwa ihr Motto. Insofern erstaunt es nicht so sehr, dass es die Regisseurin inzwischen vermehrt zum Musiktheater zieht. In Berlin, an der Deutschen Oper, hat sie Puccinis „Tri­ ptychon“ inszeniert, drei Einakter, in denen es, wie sie selbst resümiert, um „Verlust, Tod und gebrochene Herzen“ geht. Und gar nicht nebenbei, sondern mit aller Emphase berichtet Karabulut, wie großartig und respektvoll das Arbeitsklima dort gewesen sei, unter den Musikmenschen. Am Opern­ haus im französischen Nancy wird sie den „Romeo-und-­ Julia“-Stoff ein zweites Mal aufnehmen, diesmal in Gestalt der Oper von Vincenzo Bellini. An den Münchner Kammerspielen war Karabulut drei Jahre lang (2020–2023) Mitglied der Künstlerischen Lei­ tung; mit dem Stück „Like Lovers Do (Memoiren der Medu­ sa)“ der Israelin Sivan Ben Yishai wurde sie hier zum ersten Mal zum Berliner Theatertreffen eingeladen. Gleichwohl, be­ richtet sie, sei der Spielraum für Gestaltung, zugegebener­ maßen in einer pandemiebedingt schwierigen Phase, für sie als junge Hausregisseurin begrenzter gewesen, als erhofft. Offenbar geht Karabulut die feministische Agenda ein wenig gelassener an als die Intendantin Barbara Mundel; wobei: In feministischen Dingen sei sie schon streng, vergisst sie nicht

P I N A R K A R A B U LU T

P L AY W H AT YO U C A N ’ T P L AY

HILDENSAGA

Ein Königinnendrama von Ferdinand Schmalz

DIE ZAUBERFLÖTE

DEUTSCHE ERSTAUFFÜHRUNG

Die berühmteste Oper der Welt (turned upside down) In einer Fassung von Nils Strunk und Lukas Schrenk Nach Wolfgang Amadeus Mozart und Emanuel Schikaneder

ROMEO UND JULIA

Tragödie von William Shakespeare

SONNE UND BETON UA Nach dem Roman von Felix Lobrecht

MORD IM SCHÜTZENVEREIN UA

Komödie von David Gieselmann und Clemens Bechtel

DIE GLASMENAGERIE Familiendrama von Tennessee Williams

ON THE ROAD AGAIN UA Multimediale Lyrik-Performance Von Björn Hayer

HAPPY END (KEINE GARANTIE) Komödie von Felix Krakau


zu betonen, nur müsse nicht jede Inszenierung feministisch gelabelt sein. Ein Armin Petras (fällt ihr als Beispiel ein) habe eben andere Themen.

Romantik versteckt unterm Theorie-Überbau Sie misstraue, sagt sie, Maßnahmen und Anpassungen, die aus „Marketinggründen“ erfolgten. So forsch und radikal sie gelegentlich klingt, wenn sie etwa über den patriarchalen Machtanspruch des „Kanons“ lästert, so feinfühlig und auf­ merksam ist sie eben doch im Modus des Inszenierens, und so intelligent und strategisch im Beurteilen kulturpolitischer Vorgänge. Für ihre zukünftige Aufgabe als Ko-Intendantin des Zürcher Schauspielhauses dürfte dies von entscheiden­ der Bedeutung sein, denn bekanntlich wurden dort etliche

Ihren Ko-Intendanten Rafael Sanchez kennt Karabulut übrigens schon lange, ausgerechnet in Zürich haben die beiden sich kennengelernt. 66

Empfindlichkeiten verletzt, insbesondere im Umgang mit einem älteren, eher traditionsgebundenen Publikum. Ihren Ko-Intendanten Rafael Sanchez kennt Karabulut übrigens schon lange, ausgerechnet in Zürich haben die beiden sich kennengelernt, bevor Sanchez die damalige Anfängerin 2013 nach Köln lotste. Und dort entpuppte Pınar Karabulut sich ja nicht nur als empathische Assistentin und mitreißende Regiedebütantin, sondern auch als Kuratorin (für das Nebenschienen-Projekt „Britney“ im neu eingerichteten Studio am Offenbachplatz) und, das vielleicht Verblüffendste, als eine veritable Filme­ macherin! Der Web-Sechsteiler unter dem Titel „Edward II. – Die Liebe bin ich“, basierend auf einem Text von Ewald Pal­ metshofer, der sich seinerseits auf eine Vorlage von Christo­ pher Marlowe bezieht, hat am Schauspiel Köln maßgeblich dazu beigetragen, die Pandemie zu überbrücken. Mit einem kleinen Kernensemble und einem erweiterten Cast für Hofund Partyszenen, vor allem aber mit einem stupenden Blick für Ikonografien, für Settings, für Dekor und Kostüme erwies sich „Edward II.“ als eine augenzwinkernde Reverenz an das zeitgenössische (amerikanische) Kino und, Überraschung, an dessen singuläre deutsche (!) Wurzel. Marlowe erzählt in seiner Tragödie von einem überforder­ ten König, der vor Liebe (zu einem Mann) fast blind ist und den Kabalen und Machenschaften am Hof zum Opfer fällt. Edward ist kein Held, auch kein Charismatiker, schon gar kein Politiker, sondern ein Kerl, dessen ganzes Programm, wie es Palmets­ hofers Titel so schön pointiert, eben „die Liebe“ ist. Die mehr

Foto Screeshot_Schauspiel Köln

„Edward II. – Die Liebe bin ich“ nach Christopher Marlowe, von Ewald Palmetshofer. Regie Pınar Karabulut am Schauspiel Köln, 2021. Bühne Bettina Pommer, Kostüm Teresa Vergho


oder weniger heimliche Romantikerin versteckt die Regisseu­ rin ja fast verschämt unter ihrem emanzipatorischen TheorieÜberbau, aber in dieser ausufernden Web-Serie outet sie sich geradezu als eine Wiedergängerin, als ein weiblicher Rainer Werner Fassbinder (ohne Zigaretten und andere toxische ­Dependenzen selbstverständlich, aber ähnlich emotional und mit einer ähnlichen Schwäche für Trash)! Karabulut hat für jede der sechs (etwa 30-minütigen) Epi­ soden einen entsprechenden Schauplatz gefunden. Einmal sind wir in einem noblen Hotel zu Gast und schwelgen in den unterschiedlichsten Schattierungen von Rot; dann erkennen wir das „Offenbach“, die in einem Container untergebrachte Gaststätte des Schauspiels Köln in seiner Übergangsspiel­ stätte, dem ehemaligen Carlswerk – und die vierte Episode spielt gar im Kolumba, jenem erzbischöflichen Museum in Köln, das sich religiöser Kunst widmet. Die eher kühlen Räumlichkeiten des Hauses eignen sich vorzüglich als Kulis­ se für die zu Posen stilisierten und verfeinerten Macht- und Eifersuchtskonstellationen zwischen den Figuren. „Te Deum Laudamus“ nennt sich, mit hoffentlich von Amts wegen eben noch tolerierter Ironie, dieses Kapitel der opulenten WebSerie für Nicht-nur-Theater-Aficionados. „Edward II.“ ist das beeindruckende Dokument der Eman­ zipation und der Grenzüberschreitung einer Künstlerin, die selbstbewusst und eigenwillig genug ist, sich nicht in ein ­ästhetisches Ghetto, sei es elitärer, esoterischer, ja selbst fe­ ministischer Provenienz einsperren zu lassen. Sie weiß ver­

mutlich, dass ihr Ansatz im Trend liegt, dass sie aber gerade deswegen auch mit heftigem Gegenwind rechnen muss. Pınar Karabulut nennt ihre Teams und Crews gern ihre „Familien“, und man nimmt ihr, hört man sie so sprechen und gerne lachen, diese warmherzige Geste ohne weiteres ab. Der eingangs zitierte Martin Seel bemerkt in seinem Band „Theorien“ einmal: „Können heißt scheitern können.“ In die­ sem und in jedem anderen Sinn wird Karabulut sich nach menschlichem Ermessen auch in ihrer zukünftigen Wahl­ heimat Zürich als Könnerin bewähren.

Pınar Karabulut, 1987 geboren in Mönchengladbach, studierte Theaterwis­ senschaft, Kunstgeschichte und Neuere deutsche Literatur an der LudwigMaximilians-Universität in München. In der Spielzeit 2016/2017 leitete sie zusammen mit dem Kurator:innenteam Britney die Außenspielstätte am Offenbachplatz des Schauspiel Köln. Von 2020 bis 2023 war sie Teil des Künstlerischen Leitungsteams der Münchner Kammerspiele. In der Spiel­ zeit 2020/2021 inszenierte sie die von der New York Times gelobte, queerfeministische Theaterserie „Edward II. –Die Liebe bin ich“ für die OnlinePlattform des Schauspiel Köln. 2021 wurde sie mit dem Förderpreis für junge Künstler:innen des Landes Nordrhein-Westfalen in der Sparte Dar­ stellende Kunst ausgezeichnet. 2022 wählte das Wirtschaftsmagazin Capi­ tal sie zu den „Top 40 unter 40“ in der Kategorie Gesellschaft. Ihre Inszenie­ rung „Like Lovers Do (Memoiren der Medusa)“ wurde zum Theatertreffen 2022 eingeladen. Ab der Spielzeit 2025/2026 wird Pınar Karabulut zusam­ men mit Rafael Sanchez die Ko-Intendanz am Schauspielhaus Zürich über­ nehmen.

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ELISABETH MAIER

Radikal weiblich Wie Ewelina Marciniak klassische Stoffe aus feministischer Sicht neu interpretiert

I

n der moosgrün getäfelten Küche streitet sich Siegfried mit seinem Ziehvater Mime. In dieser beschränkten Welt will der Zwerg den Heranwachsenden zum Helden erziehen. Doch seine Versuche, den übermütigen Knaben für seine Zwecke zu instrumentalisieren, scheitern. Im Feinripphemd und mit einer alten Schlabberhose steht Thomas Ebenstein als Mime auf dem alten Elektroherd. Ihn dürstet nach Macht. Regisseurin Ewelina Marciniak demontiert die falsche Vaterfigur, indem sie den komö­ diantisch begabten Tenor seine Bosheit ganz offen zur Schau stellen lässt. Mit „Siegfried“ hat die polnische Regisseurin nach „Rheingold“ und „Die Walküre“ an den Bühnen Bern ihre drit­ te Wagner-Oper inszeniert. 2025 wird sie in dem mondänen Schweizer Opernhaus hoch über der Aare den vierten und letzten Teil des „Rings der Nibelungen“ auf die Bühne brin­ gen: „Die Götterdämmerung“. Im „Siegfried“ befreit sie das monumentale Werk vom Heldenmythos, lässt die Figuren Menschen sein. Jonathan Stoughton entwickelt seinen deutschen Helden als einen jungen Mann, der seinen Weg erst noch finden muss. In der Liebe wie auch im Leben fehlt ihm da noch Vieles. Dabei verortet ihn Marciniak in der Le­ benswirklichkeit ihres Publikums. Julia Kornacka schafft mit ihren Kostümen den Spagat zwischen moderner Alltagsmo­ de und fantastischen Elementen. Patricia Westley in der Rol­ le des Waldvogels trägt ein zartes Tierkostüm. Mit Textilien ahmt sie die runde Körperform nach. Mit ihrer vollen Sopran­ stimme füllt sie die Rolle des Federviehs, das Siegfried vor den bösen Absichten des Zwergen Mime warnt, mit geheim­ nisvoller Tiefe aus.

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Die Opernarbeiten in Bern waren Ewelina Marciniaks erste. Musiktheater ist für sie „eine spannende Herausforderung“, sagt sie. Mit ihrer bilderstarken, körperbetonten Theater­ sprache setzt die 40-Jährige Wagners musikalischen Kos­ mos großartig in Szene. Ihr Regiestil ist auch in den Produk­ tionen für das Schauspiel von Musikalität und von einem feinen Gespür für den Rhythmus der Texte geprägt. Da liegt die Arbeit mit Opern nahe. In „Siegfried“ schlägt das Büh­ nenbild Mirek Kaczmareks Brücken zwischen Wirklichkeit und Mythos. Die Sagengestalten des Nibelungenlieds ­bewegen sich in einem stilisierten Umfeld. Ein neongrünes Gebilde im Zentrum zieht die Blicke auf sich. Wilde Natur er­ greift da Besitz von den Menschen. Wirre Blattgespinste erinnern an den Wald, in dem sich die sagenumwobene Neidhöhle verbirgt. In dieser surrealen Landschaft bewegt sich das Tanzensemble, weist Mime und Siegfried den Weg in ein Heldenleben. Mit schroffen Körperbildern spiegeln die Tänzer:innen die emotionalen Kämpfe. Der Choreograf Mikołaj Karczewski treibt sie an körperliche Grenzen. Wenn der Gesang versagt, schreien die Körper. Marciniak spricht von „extrem wider­ sprüchlichen Gefühlen“, in denen die Charaktere in Wagners „Festspiel“ steckten. An diesen Schnittstellen lässt sie den Tanz sprechen. Wagners Musikdrama dirigiert Nicholas ­Carter in Bern spannungsreich. Den Weg des Komponisten zum Gesamtkunstwerk geht die Regisseurin beherzt mit. Dass sich Ewelina Marciniak bewusst mit den Werken und mit der Epoche auseinandersetzt, in der sie entstanden sind, ehrlich in sie hineinhorcht, das macht ihre Arbeiten so au­ thentisch. Die Charaktere in Wagners Oper werden nicht


Fotos Rob Lewis

„Siegfried“ Oper in drei Aufzügen von Richard Wagner. Regie Ewelina Marciniak an den Bühnen Bern, 2024. Bühne Mirek Kaczmarek, Kostüm Julia Kornacka

EWELINA MARCINIAK

RADIKAL WEIBLICH

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einfach dekonstruiert. Nie lässt die Regisseurin die mensch­ liche Seite der Helden und Sagengestalten verblassen. In ihren Opern- wie auch in den Schauspielarbeiten wird deut­ lich, dass Marciniak Stoffe und Formen durchdringt. Deshalb plant die Künstlerin sehr langfristig. Sie braucht eine lange Vorbereitungszeit, um die Werke, die Sänger:innen und die Schauspieler:innen kennenzulernen. Dass sie mit Siegfried eine klassische Männerfigur unter­ sucht, ist bei Marciniak auf den ersten Blick ungewöhnlich. Doch gerade darin liegt der Reiz ihres Berner „Rings“. Ihr Siegfried darf Schwächen zeigen. Im Liebeskampf mit der schönen Brünnhilde, gesungen und gespielt von Stephanie Müther, agieren die Liebenden auf Augenhöhe. Beide tragen bei ihrer ersten Begegnung Männerkostüme. Auch Wagners Oper, deren Handlung vom männlichen Heldenkult geprägt ist, betrachtet die Regisseurin aus weiblicher Sicht neu, un­ gewohnt und sehr originell.

Im Schauspiel hat sich Marciniaks vor allem mit Frauen­ figuren einen Namen gemacht, die sich in der Welt der Män­ ner behaupten müssen. Mit ihrer Inszenierung von Schillers pathetischer Tragödie „Die Jungfrau von Orleans“ am Natio­ naltheater Mannheim war sie 2022 zum Berliner Theatertref­ fen eingeladen. Gemeinsam mit der Dramaturgin Joanna Bednarczyk und dem Übersetzer Olaf Kühl hat sie den ­Klassiker, der vielen als unspielbar gilt, auf die wesentlichen Motive reduziert und überschrieben. Wie lässt sich diese problematische Frauenfigur, die doch bei Schiller ein erstarrtes Männerkonstrukt ist, heute noch interpretieren? Marciniak zerlegte die Figur in viele Lebens­ entwürfe aus unterschiedlichen Jahrhunderten. Mit dem ­Ensemble spürte sie den heutigen Johannas nach, die in der Männerwelt ihren Platz behaupten müssen. Wie intensiv sie dabei stets ihre heutige Zeiterfahrung mitdenkt, zeigt in der Inszenierung die Sicht zweier Schauspielerinnen. Die Jüngere, Annemarie Brüntjen, interpretiert ihre Rolle der ­ Johanna aus kritischer Distanz. Zu sehr ist sie ihrer heutigen Lebenswirklichkeit entrückt. Dagegen erinnert sich die

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Fotos Christian Kleiner

„Die Jungfrau von Orleans“ nach Friedrich Schiller. Regie Ewelina Marciniak am Nationaltheater Mannheim, 2021. Bühne Mirek Kaczmarek, Kostüm Natalia Mleczak


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PREMIEREN 2024_25

Auszug

GROSSES HAUS STOLZ UND VORURTEIL* (*ODER SO) / Komödie von Isobel McArthur / Nach Jane Austen / 12.10.2024 DIE BREMER STADTMUSIKANTEN / Weihnachtsmärchen nach den Brüdern Grimm / Ab 5 Jahren / 03.11.2024 ARSEN UND SPITZENHÄUBCHEN / Komödie von Joseph Kesselring / 30.11.2024 AMADEUS / Von Peter Shaffer / Spartenübergreifende Inszenierung / 18.01.2025 DIE RATTEN / Tragikomödie von Gerhart Hauptmann / 02.05.2025

ATELIERTHEATER ANGST ODER HASE / Schauspiel von Julia Haenni / Ab 10 Jahren / 20.09.2024 ORLANDO / Schauspiel nach dem Roman von Virginia Woolf / Koproduktion mit der hmt Rostock / 19.10.2024 22 BAHNEN / Schauspiel nach dem Roman von Caroline Wahl / Uraufführung / 25.01.2025 JEEPS / Komödie von Nora Abdel-Maksoud / 14.03.2025

KLEINE KOMÖDIE WARNEMÜNDE SMILEY / Komödie von Guillem Clua /

EWELINA MARCINIAK

RADIKAL WEIBLICH

HALLE 207 – VOLKSTHEATERSOMMER 2025 EIN NEUES MUSICAL / 12.07.2025 www.volkstheater-rostock.de Illustration: Cindy Schmid

­ ltere, Ragna Pitoll, voller Stolz, selbst „die Johanna“ gespielt Ä und sich dabei verliebt zu haben. Das war vor Jahrzehnten der Traum vieler Spieler:innen. Aus feministischer Sicht demon­ tiert Marciniak das Image, das die Theatergeschichte der Jungfrau von Orleans seit Jahrhunderten aufbürdet. Ihr konsequent feministischer Ansatz legt auch Defizite im Theatersystem offen. Denn Weiblichkeit kommt in der Bühnensprache immer noch zu selten zum Tragen. Regis­ seurinnen haben es noch immer schwer. Auch die Quoten beim Theatertreffen und die #MeToo-Bewegung brechen da nur zaghaft zementierte Denkmuster auf. So hinterfragte Marciniak in ihrer „Johanna“ jahrhundertealte Klischees von der „jungfräulichen Kämpferin“. Dass Frauen gerade im Theaterbetrieb mit vielen Hindernissen zu kämpfen haben, erlebt die junge Mutter derzeit selbst. Da klingt ihre ruhige, feste Stimme im Gespräch kämpferisch. Sie will „den Frauen eine Stimme geben“, damit sich Familie und künstlerisches Arbeiten für alle vereinbaren lässt. Dass die Bühnen da in der Praxis viel Nachholbedarf haben, bringt sie mit Nachdruck zur Sprache.

Deutsch von Stefanie Gerhold / 21.09.2024 DIE WILDEN ZWANZIGER / Musikalische Zeitreisen / Folge 6 / 09.11.2024 DER ABSCHIEDSBRIEF / Komödie von Audrey Schebat / Deutsche Erstaufführung / 31.01.2025


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Fotos Birgit Hupfeld

„Ein Sommernachtstraum“ nach William Shakespeare. Regie Ewelina Marciniak am Theater Freiburg, 2018. Bühne und Kostüm Katarzyna Borkowska

In Polen ist Ewelina Marciniak längst ein Regiestar. Gerade in Zeiten, da die polnische Gesellschaft immer mehr in die rechtskonservative Ecke rückte, hat sie ihre Haltung bewahrt. Das ist nicht einfach, denn in dem Land kämpfen kritische Künstler:innen seit Jahren mit Repressionen. Da Nein zu sa­ gen und sich gegen den Mainstream zu stellen, erfordert Mut. Ihr feministischer Ansatz sorgt in der polnischen Gesellschaft, die geprägt ist vom Katholizismus, für Reibung. Vor diesen De­ batten scheut sich die willensstarke Künstlerin nicht. 2017 hat der Freiburger Intendant Peter Carp Marciniak für das deutsche Theater gewonnen. Damals setzte sie Wil­ liam Shakespeares „Sommernachtstraum“ in Szene. Der Theatermann hat sich als Entdecker junger Talente einen Na­ men gemacht, und lag auch bei ihr goldrichtig. In Deutsch­ land hat Marciniak dann schnell den Sprung an die großen Häuser geschafft. Für ihre Inszenierung des Stücks „Der Bo­ xer“ nach dem Erfolgsroman des polnischen Literaten Szczepan Twardoch am Thalia Theater in Hamburg wurde sie 2020 mit dem deutschen Theaterpreis DER FAUST aus­ gezeichnet. Bei den Salzburger Festspielen inszenierte sie 2022 auf der Perner-Insel in der Salzbergwerkstadt Hallein „Iphigenia“ in einer Fassung von Joanna Bednarczyk, sehr frei nach Euripides und Goethe. Frauenschicksale interessieren Ewelina Marciniak. Im September 2023 hat sie am Hamburger Thalia Theater Elena Ferrantes „Meine geniale Freundin“ auf die Bühne gebracht. Dabei hat sie sich auf den vierten Teil der Neapolitanischen Saga konzentriert: „Die Geschichte des verlorenen Kindes“. Mit den Schaupieler:innen des Hamburger Ensembles, de­ ren Arbeit sie seit langem verfolgt, gelingen ihr scharfe, kom­ plexe Porträts. Die Geschichte der unterschiedlichen Freun­ dinnen Lila und Elena spitzt die Regisseurin auf ihre Konflikte in der männlich dominierten italienischen Gesellschaft zu. Die Träume der Frauen von Emanzipation und einem selbst­ bestimmten Leben platzen in der Realität, die den Frauen keinen Platz lässt. In roten Kleidern ringen sie um die An­ erkennung der Männer, tanzen sich in einen Rausch hinein. Klug löst sich Marciniak auch hier vom Text. Eine neue, bru­ tale Sprache erfindet die Choreografin Agnieszka Kryst im Tanz. Die Bühnenfassung des Romans hat Iga Gańczarczyk geschrieben. Mit Oscar Wildes „Salome“ inszeniert sie Ende dieses Jahres zum ersten Mal am Münchner Residenztheater – die Premiere ist für den 6. Februar geplant. Sie ist die Tochter des Herodias, fordert den Kopf von Johannes dem Täufer. Die Idee, sich mit dieser rachsüchtigen Frauenfigur zu be­ schäftigen, kam vom Intendanten Andreas Beck. „Sie ist so­ fort darauf angesprungen“, sagt der Dramaturg Michael Bil­ lenkamp, ein langjähriger Weggefährte Marciniaks, der ihre Arbeit kennt und schätzt. „Sie gehört zu den interessantes­ ten und spannendsten Regiestimmen des polnischen Thea­ ters der Gegenwart. Eines Theaters, das sich auch politisch und gesellschaftlich immer positioniert“, sagt Almut Wagner, die Chefdramaturgin des Hauses. Das war und ist Marciniak nach ihren Worten immer ein Anliegen.


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Weiblichkeit reflektiert Ewelina Marciniak in ihren Regiearbeiten. Sie bezieht Position, ohne dabei verbissen zu wirken.

Für Billenkamp ist die Regisseurin „eine Schauspieler:innenund Ensemble-Regisseurin“. Für dieses Leitbild stehe auch das Residenztheater. Dass Marciniak kontinuierlich mit den Schauspieler:innen arbeite, „zum Teil über Jahre hinweg“, zeigt dem Dramaturgen die Qualität ihrer Arbeit. „Sie geht gern mit klassischen Stücken und Stoffen um, die sie dann zeitgemäß hinterfragt und auf die Bühne bringt.“ So unter­ suche sie, „was uns die alten, klassischen Texte heute noch erzählen können, vor allem, wenn man die meist aus einer männlichen Autorenperspektive geschriebenen Stoffe aus einer heutigen, weiblichen Position heraus betrachtet, und die Rollenbilder dann radikal umdeutet und infrage stellt.“ Weiblichkeit reflektiert Ewelina Marciniak in ihren Regie­ arbeiten. Sie bezieht Position, ohne dabei verbissen zu wir­ ken. Ihr humorvoller Unterton nimmt auch tragischen Stoffen die bleierne Schwere. Ihr Theater fordert zum Diskurs her­ aus. Die Menschenporträts berühren. Feministische Kritik und Sinnlichkeit sind für die Künstlerin kein Widerspruch. Ganz im Gegenteil. In Marciniaks Theatersprache gehören sie untrennbar zusammen.

24.08.24 Prima Facie

von Suzie Miller

07.09.24 Biedermann und die Brandstifter von Max Frisch

26.10.24 Breaking Up Is Hard to Do Das Neil-Sedaka-Musical

DEUTSCHSPRACHIGE ERSTAUFFÜHRUNG

09.11.24 zwei herren von real madrid von Leo Meier

11.01.25 Die Verwandlung von Franz Kafka

17.01.25 Warten auf Godot

von Samuel Beckett

Ewelina Marciniak, geboren 1984 in Polen, studierte European Studies und Theaterwissenschaft an der Jagiellonen Universität sowie Regie an der Theaterakademie in Krakau. Seit 2008 inszeniert sie an den wichtigsten polnischen Theatern und erhielt für ihre Arbeiten zahlreiche Preise, u. a. im Jahr 2016 den renommierten polnischen Kulturpreis Paszport Polityki in der Kategorie „Theater“ für ihre epischen Bühnenvisionen sowie für die Erforschung von weiblichen Perspektiven in der männerdominierten Welt des Theaters. 2018 debütierte Marciniak am Theater Freiburg in Deutsch­ land mit „Ein Sommernachtstraum“, anschließend arbeitete sie mehrmals am Thalia Theater Hamburg: In der Spielzeit 2019/20 inszenierte sie „Der Boxer“ von Szczepan Twardoch, wofür sie 2020 mit dem Theater­ preis DER FAUST ausgezeichnet wurde; in der folgenden Spielzeit brachte sie „Die Jakobsbücher“ von Olga Tokarczuk als Deutschsprachige Erstaufführung auf die Bühne. Ihre Arbeit „Die Jungfrau von Orleans“ wurde 2022 zum Theatertreffen eingeladen, 2023 inszenierte sie „Das Tove-Projekt“ nach Ditlevsens „Kopenhagen-Trilogie“ am Schauspiel Frankfurt und Ferantes „Meine geniale Freundin“ am Thalia Theater Hamburg. Ihr Operndebüt erfolgte 2021 mit der Inszenierung „Das Rhein­ gold“ an den Bühnen Bern, wo sie bis 2025 den kompletten „Ring“-Zyklus inszenieren wird.

14.03.25 Die Nebenwirkungen

von Jonathan Spector DEUTSCHE ERSTAUFFÜHRUNG

22.03.25 Der Schiffbruch

der Fregatte Medusa von Alexander Eisenach

17.05.25 Minna von Barnhelm

von Gotthold Ephraim Lessing

31.05.25 1984 reimagined

nach George Orwell

14.06.25 Istanbul

Ein Liederabend von Akin E. Ş ipal, Selen Kara und Torsten Kindermann

04.07.25 Schöne neue Welt

nach Aldous Huxley Spielclub 2024/2025

www.theater-paderborn.de EWELINA MARCINIAK

RADIKAL WEIBLICH


JULIE PAUCKER

Stadttheater im besten Sinn

„Ein Sommernachtstraum“ von William Shakespeare. Regie Antú Romero Nunes am Theater Basel, 2022. Bühne und Kostüm Matthias Koch

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Foto Maurice Korbel

Wie Antú Romero Nunes das Schauspiel am Theater Basel lokal und spartenübergreifend mitgestaltet


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ieser Compagnie scheint kein Blödsinn zu blöd, kein Tiefsinn zu tief – kein spielerisches Mittel und kein Genre zu fern“. Es ist nun schon drei Jahre her, dass ich diesen Satz schrieb, anlässlich meiner Einladung des des Eröffnungsstückes des Theater Basel „Metamorphosen“ in der Regie von Antú Romero Nunes (2020) zum Schweizer Theatertreffen. Das neue Ensemble nannte sich ‚Compagnie‘, Antú ­Romero Nunes war frisch gebackener Ko-Schauspielleiter in einem Viererteam mit dem Schauspieler Jörg Pohl und den Dramaturginnen Anja Dirks und Inga Schonlau – in der neu­ en Intendanz von Benedikt von Peter. Der Satz scheint mir auch im Blick auf die vierte Saison noch ziemlich zutreffend. „Metamorphosen“ enthielt schon Vieles, was den Stil dieser Compagnie bis heute ausmacht, wahrscheinlich war es stilbildend. Ovids „Metamorphosen“: ein Werk bestehend aus 250 Geschichten, ausufernd, uralt, in Versen und ohne übergreifende Narration – das ist nicht gerade der nahelie­ gendste Stoff für ein neu zusammengekommenes Ensem­ ble. Doch der Start, den die Compagnie damit hinlegte, war fulminant und er verließ sich vor allem auf eines: auf die Kraft des Spiels. Was fast brechtisch in einem Stuhlkreis begann, endete im realistischen Kammerspiel. Dazwischen poppte die Soap neben allem Pathos der griechischen Tragödie auf, es fand ein Popkonzert statt, der Slapstick trieb seine Blüten, und der hysterische Anfall wurde in Versen kultiviert – kon­ terkariert von einem griechischen Chor und Live-Musik. Der Abend nahm sich auch Zeit, er enthielt zwar virtuos ausbre­ chende Soli, wie ein Jazz-Abend, funktionierte im Kern aber als Band-Stück. Mit einer unglaublichen Improvisationsfreude stürzten sich die Darsteller:innen in die Intrigen und Dramen der grie­ chischen Mythologie und hangelten sich – recht frei in Inter­ pretation und Textwiedergabe – an den Erzählungen Ovids entlang. Tatsächlich enthalten diese ja in nuce die größten Dramen und Melodramen der Literaturgeschichte. Die grie­ chischen Götter und Göttinnen sind so fehlbar wie wir: eitel, neidisch, rachsüchtig und lächerlich, aber auch fähig zu lie­ ben sowie Mitgefühl und Solidarität zu zeigen. Auch wenn das Ensemble die Geschichten in goldenen Tunikas erzählte, so verstand man problemlos: Das sind unsere Geschichten und Dramen. Die großen wie die kleinen, damals wie heute. Dass die Pandemie diesem upbeat gleich wieder den Wind aus den Segeln genommen hatte, war bedauerlich. Und wie alle Theater brauchte auch das Theater Basel einen Moment, um sich zu berappeln und sein Publikum zurückzugewinnen. Bleibend ist die Erinnerung an „Moby Dick“ (2021), mit dem Antú Romero Nunes und Jörg Pohl ein großes Ensemblestück vom Thalia Theater aus dem Jahr 2013 – eine für beide weg­ weisende Zusammenarbeit – pandemiebedingt in eine SoloPerformance auf der Großen Bühne umwandelten. Der Wiedereinstieg gelang dann aber. Ende 2023 ging es zwar wieder einmal um Sparkurs, aber das Haus hat sich ge­ fangen. Bei der diesjährigen Pressekonferenz waren alle op­ timistisch, es ginge gut und die Publikumszahlen würden

ANTÚ ROMERO NUNES

STA DT T H E AT E R I M B E ST E N S I N N

sich festigen, es kämen vor allem auch mehr junge Men­ schen. Programmatisch kann man auf dem aufbauen, was man angefangen hat. Durchschlagenden Erfolg hatten Antú Romero Nunes, sein Team und die ‚Compagnie‘ mit ihrem „Sommernachts­ traum“, der 2023 zum Berliner Theatertreffen eingeladen wurde und den auch das lokale Publikum feierte. Shakes­ peares „Sommernachtstraum“ bietet sich grundsätzlich an für Schabernack, aber die Idee, sämtliche Figuren, statt nur die Handwerker, auf (gespieltes) Laienniveau zu heben und dann noch auf Bildungsbürgerlaienniveau, war dem Humor des Stückes ziemlich zuträglich. Niemand liebt Shakespeare so sehr wie diese den „Sommernachtstraum“ in einer Aula aufführende Lehrer:innengruppe (Bühne und Kostüme Matthias Koch). Von der Heilpädagogin über den Rektor zur Englischlehrerin, sie alle wissen genau, was sie an ihrem Shakespeare haben: „Die Dinge, die man erlebt, die sind ja manchmal so existenziell, dass man jeden Abstand und jede Leichtigkeit verliert, und im Darstellenden Spiel haben wir eben die Möglichkeit, das Leben zu probieren.“ Es gibt kaum etwas Schwierigeres, als gut schlecht zu spielen. Dass genau dies aber genau diesem Ensemble ziem­ lich gut gelingt, ist nach allem bereits Gesagten nicht weiter erstaunlich. Sie stolpern und stottern, wollen ganz viel in ihrer „Metakommunikation mit dem Publikum“ und können wenig, aber verlieren sich umso tiefer im poetischen Zauberwald, aus dem sie am Ende zerzaust und irgendwie verwandelt wieder auftauchen. Regisseur Nunes, einst selbst in Schul- und Laiengruppen unterwegs, scheint eine Ader für diese beson­ dere Art der Aufführung zu haben, er sagt sogar, dass ihm der „Sommernachtstraum“ in Laienvorstellungen eigentlich im­ mer besser gefallen hätte als im professionellen Theater.

„Und so kam es, dass in der Mühle kein einzig Ton Musik mehr tut erklingen.“ Spartenübergreifendes Theater in Basel Meine persönliche Lieblingsinszenierung von Antú Romero Nunes in Basel war das Groß-Projekt: „Die Mühle von Saint Pain“ von Anne Haug und Lucien Haug, nach Motiven der Krabat-Sage, Komposition und Liedtexte von Anna Bauer und Werke von G. Mahler, W. A. Mozart, D. Schostakowitsch u. a. (2021). Es figurierte auf meiner Shortlist, einladen ließ es sich nicht, es war eine spartenübergreifende Produktion des ganzen Hauses, mit Orchester, großem Ensemble, Chor und Sängerin und sogar einer Tinguely-Skulptur auf der Großen Bühne (Bühne Matthias Koch). Hier kam wirklich viel zusam­ men: Oper und Schauspiel, Sage und heutige Dialoge, Or­ chestermusik, Komposition und Slapstick. Die verschiede­ nen Kunstarten, die an einem Mehrspartenhaus unter einem Dach versammelt sind, so kongenial auf die Bühne zu brin­ gen, glückt nur sehr selten, und dass dies mit einem Stoff ge­ lang, der weder bestehende Partitur noch Theatertext lieferte, im Gegenteil wurde sogar beides noch während der Proben weiterentwickelt, war wieder sehr viel Risiko und stellte einen

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Fotos Maurice Korbel

„Metamorphosen“ nach Ovid. Regie Antú Romero Nunes am Theater Basel, 2020. Bühne Matthias Koch, Kostüm Victoria Behr


Riesenkraftakt des ganzen Hauses dar. Es zeugte von dem großen Willen der Intendanz und aller Beteiligter, die Künst­ ler:innen am Haus zusammenzubringen. „Compagnien haben schon immer zusammen geschrieben“, sagt Nunes. „Alle hat­ ten ihre bestimmten Fächer, es war ziemlich geklärt, trotzdem war die Kunst nicht schlechter. Das ist ja auch der Basler Com­ pagnie-Gedanke. Da kann man schön Ping Pong spielen und sich gegenseitig helfen, denn niemand kann alles in der Kunst.“ Über seine eigene Rolle sagt er: „Ich kann ja nix selber, ich kann keine Noten schreiben oder so – ich kann nur alle infor­ mieren von allem, was ich sehe, weil ich alles gesehen habe. Und das zusammenzufriemeln, ergibt manchmal sehr er­ staunliche Ergebnisse. Das ist wie Denken, es schießen ver­ schiedene Gedanken durch den Kopf und wir sagen ab und zu: Halt! Die zwei gehören zusammen. So puzzeln wir uns unsere Gedanken zusammen. Genau so läuft unser Prozess auf der Probe: Es ist eigentlich ein großer Denkprozess.“ Die Compagnie spielte und wirbelte, die Lazzi kamen auf mehreren Bühnenebenen kaum zum Ende, gleichzeitig wirk­ te bisweilen alles wie im tiefsten Winter festgefroren, traurig und erstarrt. Unvergesslich Gala Othero Winter als wieder­ gängerische:r Krabat: wie entsprungen aus einem gezeich­ neten Buch (Kostüme Victoria Behr, Julia Brülisauer). Eine groteske, tragikomische Todesfuge mit Fantasy-SplatterMomenten. Im Kern einfach nur eine abgründig zerrüttete Kleinfamilie. In Anne und Lucien Haugs Geschichte kehrt Krabat am Tage ihres eigenen Begräbnisses als Geist zurück und führt die trauernden, einander längst entfremdeten Ge­ schwister in die „Mühle“ ihrer Kindheit, in ein verzerrtes Haus, in dem die Dinge zu groß sind für die darin hausenden Kinder und in dem die schwarze Magie für Gewalt, Blut­ schande und Familiengeheimnis steht. Bestimmt half dem Projekt, dass Nunes viel Erfahrung als Opernregisseur hat. Sein Stück „Don Giovanni. Letzte Party“, eine sogennate Bastardkomödie nach Mozart/da Ponte (2013, Thalia Theater Hamburg) begeisterte mich mit seinem Mix aus performativem, direktem Spiel, Live-Band, barocker Eleganz, Opernpathos und sichtbar arbeitender Bühnentech­ nik. Ziemlich genial die Sequenz, wo Don Giovanni 100 Zu­ schauerinnen auf die Bühne bat für eine rauschende Party. Die Männer waren nicht eingeladen, sie saßen vor dem herunter­ gefahrenen Eisernen Vorhang – wer weiß, was sich in ihrer Fantasie abspielte …

„Es macht mir sehr schöne Knoten in den Kopf“ Es ist schwer zu sagen, was diesen Regisseur ausmacht, be­ stimmt eine fast kindliche, intelligente Spielfreude, die er auf seine Spieler:innen zu übertragen vermag oder mit ihnen teilt, das Vertrauen darauf, dass eigentlich alles geht im Theater, man kann es ja spielen. Dann aber auch – in Zusam­ menarbeit mit seinem Team – ein fast ebenso verspielt wir­ kender Umgang mit dem, was Stadttheater technisch so al­ les kann. Bestimmt steckt harte Arbeit dahinter, am Ende wirkt es aber organisch und von leichter Hand.

ANTÚ ROMERO NUNES

STA DT T H E AT E R I M B E ST E N S I N N

Ich vermute, dass ein gewisser Leichtsinn, der ihm eigen ist, vielleicht mit seinem etwas unkonventionellen Theaterlebenslauf zu tun hat.

Irgendwie passt dieser Regisseur, der als Sohn eines portu­ giesischen Vaters und einer chilenischen Mutter mehrspra­ chig aufgewachsen ist, gut nach Basel. Ich vermute, dass ein gewisser Leichtsinn, der ihm eigen ist, vielleicht mit seinem etwas unkonventionellen Theaterlebenslauf zu tun hat. Bevor er von der Hochschule für Schauspielkunst „Ernst Busch“ – eher widerstrebend, wie er selbst sagt – den Ritterschlag der deutschen Schauspielkunst verliehen bekam, hatte er Laien­ theater gespielt, in der off-Szene Tübingens gearbeitet und erste Schritte im Berufsleben in Chile gemacht. Freiheit und Selbstvertrauen musste er nach der Hochschule erst wie­ derfinden. „Ich habe daran gedacht, was Brecht gesagt hat: ‚Talent ist Interesse‘. Wenn ich aufge­geben hätte, wäre ich selbst schuld gewesen.“ Die Auszeichnung zum Nach­ wuchsregisseur des Jahres direkt im Anschluss und An­ fragen aller großen Häuser in der Folge haben bestimmt ge­ holfen. Was Nunes – mit der Leitung des Theaters und mit seinen Spieler:innen – ganz entschieden tut, ist, auf die Stadt Basel zuzugehen. Sie öffneten das Große Haus für’s „Foyer Public“, und machten es so endlich zu dem Aufenthaltsort mitten in der Stadt, für den es von dessen Architektur her schon im­ mer gedacht war. Wieder so ein Kraftakt. In der Compagnie sind viele Schweizer:innen – ja, sogar Basler:innen engagiert, manche sind aus Deutschland wie­ der „nach Hause“ gekommen, wie zum Beispiel Sven Schel­ ker, einst sozialisiert im Jugendclub des Theater Basel, Anne Haug, Fabian Krüger oder Vera Flück, manche von denen, die schon länger da sind, konnten bleiben, wie Carina Braun­ schmidt, Martin Hug oder Andrea Bettini, neue kamen dazu, alte Weggefährt:innen aus der Zeit am Thalia Theater und von anderen Stationen. Nunes selbst hat mit Sophokles’ „Antigone“ (2023) nach seinem großartigen „Onkel Wanja“ (2021) schon die zweite Produktion gemacht, die sich das Schweizerdeutsch als Bühnensprache vorknöpft. Davon muss man Schweizer Schauspieler:innen, die ihre Ausbil­ dung damit verbracht haben, sich ihr Schwitzerdütsch abzu­ gewöhnen, erst einmal überzeugen. Nunes aber, der weiß, dass Sprache auch eine Heimat ist, scheint auch hier keine Berührungsängste zu haben. „Sven Schelker und Vera Flück arbeiten jetzt zum zweiten Mal in ihrer Muttersprache mit mir, und es ist schon interessant für Spieler:innen, die ihr

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„Die Mühle von Saint Pain“ von Anne und Lucien Haug, nach Motiven der Krabat-Sage (UA). Regie Antú Romero Nunes am Theater Basel, 2021. Bühne Matthias Koch, Kostüm Victoria Behr, Julia Brülisauer

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Diese Bemühungen ums Lokale, um nicht zu sagen „Volks­ nahe“, tun sie keineswegs ausschließlich in Basel, aber ir­ gendwie von Herzen. Das ist, so denke ich, Stadttheater im besten Sinn. Man holt tolle Künstler:innen in eine Stadt, kon­ frontiert sie wach, kritisch, aber auch liebevoll mit dem Ort, an dem sie aufeinandertreffen und bezieht, wo immer mög­ lich und künstlerisch sinnvoll, mit dem Ort vertraute Künst­ ler:innen mit ein. Das schafft Komplizenschaft zwischen einem Theater und seinem Publikum.

Antú Romero Nunes, 1983 in Tübingen geboren, sammelte erste Theater­ erfahrungen in der Freien Szene, arbeitete als Regieassistent in Chile und studierte Regie an der Hochschule für Schauspielkunst „Ernst Busch“ Berlin. Seine Diplominszenierung „Der Geisterseher“ nach Friedrich Schiller wurde 2010 zum Festival Radikal jung eingeladen. Von 2010 bis 2013 war Romero Nunes Hausregisseur am Maxim Gorki Theater in Berlin, seit 2014 inszeniert er auch Opern – mit „Don Giovanni. Letzte Party“ nach Mozart/da Ponte wurde er zum Festival d’Avignon eingeladen. 2014 bis 2019 war Nunes Hausregisseur am Thalia Theater Hamburg, seit 2020 ist er Ko-Direktor des Schauspiels am Theater Basel. Seine Inszenierungen „Die Odyssee. Eine Irrfahrt nach Homer“ (2018, Thalia Theater Hamburg) und „Ein Sommernachtstraum“ (2023, Theater Basel) wurden zum Berli­ ner Theatertreffen eingeladen.

Foto Maurice Korbel

Handwerk eigentlich in einer Art Fremdsprache gelernt ha­ ben, wieder zurückzukommen zu ihrer eigenen Sprache. Das ist oft verwirrend und erschreckend, aber auch sehr spaßig. Ich kann nur sagen, es wird sehr viel wärmer.“ Dieses Interesse für Sprache(n) wurde schon deutlich, als er 2018 am Thalia Theater in einem faszinierenden Satyrspiel „Die Odyssee. Eine Irrfahrt nach Homer“ die beiden Protago­ nisten eine skandinavisch angehauchte Kunstsprache spre­ chen ließ, die absurd, fremd und komisch wirkte, der man aber Wort für Wort folgen konnte. Danach ist Schweizerdeutsch dann auch nicht mehr erschreckend, im Gegenteil: „Wir erle­ ben Schweizerdeutsch im Versmaß und es ist erschreckend konkret. Es macht mir sehr schöne Knoten in den Kopf.“ Nunes arbeitete bei „Der Mühle von Saint Pain“, bei „On­ kel Wanja“ und „Antigone“ mit jungen Basler Autor:innen wie Lucien und Anne Haug, nächste Spielzeit plant er eine Arbeit mit Lukas Bärfuss. Christoph Marthaler ist wieder Dauergast in Basel. Die Produktion „Dämonen“ von Boris Nikitin und Sebastian Nübling, zwei wichtigen Basler Künstlerpersön­ lichkeiten, war geradezu genial, und zwar nicht nur künstle­ risch, sondern auch programmatisch. Hier rennt das Ensemble live durchs nächtliche Basel, während die Menschen im Saal geschlagene drei Stunden gebannt auf eine Übertragung starren. Nicht zuletzt darüber fasziniert, dass sie ihre Stadt als Bühne erleben dürfen.


2024/25 Nimm die Alpen weg (UA) nach dem Roman von Ralph Tharayil Inszenierung: Marin Blülle Ab 12.09.2024, Vidmar 2

Sturmhöhe nach dem Roman von Emily Brontë Inszenierung und Bearbeitung: Milena Michalek Ab 14.09.2024, Vidmar 1

Frühlings Erwachen frei nach Frank Wedekind ein Abend mit Berner Jugendlichen Inszenierung: Joanna Praml Ab 12.10.2024, Vidmar 1

Der Revisor von Nikolai Gogol Inszenierung: Roger Vontobel Ab 26.10.2024, Stadttheater

Bühnenbeschimpfung (Liebe ich es nicht mehr oder liebe ich es zu sehr?) (SEA) von Sivan Ben Yishai Inszenierung: Julia Skof Koproduktion mit dem Theater Winkelwiese Ab 06.11.2024, Vidmar 2 x-change

Woyzeck von Georg Büchner Inszenierung: Bojana Lasić eine Produktion des Theaters Freiburg Ab 14.11.2024, Vidmar 1 x-change

Ronja Räubertochter nach dem Roman von Astrid Lindgren Inszenierung: Franziska Stuhr Ab 23.11.2024, Stadttheater

James Brown trug Lockenwickler (SEA) von Yasmina Reza Inszenierung: Stephan Kimmig Ab 06.12.2024, Vidmar 1

Schimmernde Schluchten (UA) von Anaïs Clerc Inszenierung: Amelie von Godin Ab 15.01.2025, Vidmar 2

Graf Öderland

eine Moritat in zwölf Bildern von Max Frisch Inszenierung: Armin Petras Ab 01.02.2025, Stadttheater

Hedda Gabler von Henrik Ibsen Inszenierung: Barbara Weber Ab 21.02.2025, Vidmar 1

Eichmann – wo die Nacht beginnt (DSE) von Stefano Massini Inszenierung: Roger Vontobel Ab 26.03.2025, Tresorplatz

#lookoftheday (UA) ein globales Rechercheprojekt, in Kooperation mit dem Magazin Reportagen Inszenierung: Gernot Grünewald Ab 03.05.2025, Vidmar 1

Wachtmeister Studer nach dem Kriminalroman von Friedrich Glauser von und mit Roger Vontobel, Jonathan Loosli, David Berger, u. a. Ab 06.06.2025, Openair, Villa Morillon


SARAH HEPPEKAUSEN

Schöne, neue Welten Wie der Autor und Regisseur Bonn Park Utopien erforscht

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enn Bonn Park ein Stück inszeniert – und das ist in der Regel sein eigenes oder zumindest eine Art der Überschreibung – dann ist da erst mal der rote Vorhang. Der öffnet sich zum Beginn vor der Bühne und schließt sich wieder zum Ende. Bonn Park spielt – mit Spra­ che, Musik und für die Sinne. Und er erspielt Utopien, die einer neuen Religion zum Beispiel in der Inszenierung von „Keine Sorge (Religion)“, uraufgeführt im Oktober 2023 am Düsseldorfer Schauspielhaus; oder die einer friedlichen Ko­ existenz im 23. Jahrhundert, wie in „Rückkehr zu den Ster­ nen“ (UA 2022). Park kreiert Kunsträume, und per se sei das eine Lüge. Und genau das genießt er an seinem Beruf, beim Theatermachen auf den Proben: „Man denkt sich irgendet­ was aus und das hat alles keine Konsequenzen.“ Dass Bonn Park in seinen Arbeiten so lustvoll wie konse­ quent mutige, auch bizarre Ideen durchspielen lässt, mag an eben dieser Einstellung liegen. Da treffen zum Beispiel Schil­ lers „Räuber“ auf Soderberghs „Ocean’s Eleven“. Oder er setzt Disneys bekanntestes Reh Bambi mit seinen Freunden Klopfer und Blume dem Internet und in einer zerstörten, kol­ labierenden Welt aus. Oder er wagt es, in der Berliner Volks­ bühne die ganz große Oper mit Spieler:innen des dortigen Jugendclubs P14 und dem Jugendsinfonieorchester eines Gymnasiums zu inszenieren. „Drei Milliarden Schwestern“ wurde zur Kult-Oper und gewann den Friedrich-Luft-Preis für die beste Theaterproduktion in Berlin und Brandenburg 2018/19. Bonn Park wurde 1987 in Berlin geboren, als Kind koreani­ scher Migrant:innen. Es ist auch eben jener Jugendclub P14, in dem er als Schüler erste Theatererfahrungen macht. Nach dem Abitur wollte er Schauspieler werden, schreibt sich dann aber doch als Student an der Humboldt-Universität zu Berlin ein: Slawistik, eine Verlegenheitsentscheidung. Ab

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2010 dann Szenisches Schreiben an der UdK, es ist die pas­ sendere Wahl. 2011 erhält Park den Innovationspreis des Heidelberger Stückemarkts, 2014 den Nachwuchspreis des Else-Lasker-Schüler-Dramatikerpreises, 2016 zeichnet die Theaterlabor-Jury sein Stück „Wir trauern um Bonn Park“ bei den Essener Autorentagen „Stück auf!“ aus, ein Jahr später gewinnt er mit „Das Knurren der Milchstraße“ beim Stücke­ markt des Berliner Theatertreffens. Bonn Park wird zum er­ folgreichen Autor und Regisseur, heimst etliche Preise und Nominierungen ein, seine Arbeiten werden aber auch immer mal wieder kritisiert, als oberflächlich oder überschätzt. Für Bonn Park ist Theater ein sinnliches Medium, das unterhal­ ten kann und darf. Immer wieder distanziert er sich von einer allzu elitären Haltung des Betriebs. Die Sprache des Thea­ ters seien Gefühle, sagt er. In seiner Weltraumoper „Rückkehr zu den Sternen“ zum Beispiel, da wagt Park reichlich Gefühligkeit. Die lässt er in den – von „Star Trek“-inspirierten – unendlichen Weiten des Alls von Crewmitgliedern des Raumschiffs U.S.S. Wassong durchspielen. Die sind auf der Suche nach der guten Zu­ kunft, allerdings geplagt von Erinnerungen an schlechte Ta­ ten in der Vergangenheit: Als Kind hat einer Punica gestoh­ len. Damit werden Captain Jean Luc Yešilyurt (Serkan Kaya) und seine Sternenfahrer:innen auf dem Eisplaneten konfron­ tiert. Denn Alien Queen Königin Baraš und ihr Ambassador können nur die schlimmen Gedanken hören, seit die Antizi­ pationsfähigkeit für Katastrophen ihre Spezies überwältigt hat. Das Trauma hat sich nun in ihre Biologie gebrannt. Auch

„Keine Sorge (Religion)“ von Bonn Park in eigener Regie am Düsseldorfer Schauspielhaus, 2023 (UA). Bühne Jana Wassong, Kostüm Julia Nussbaumer, Ragna Hemmersbach


Foto Thomas Rabsch


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Fotos links un rechts Thomas Rabsch, mitte David Baltzer

Links „Keine Sorge (Religion)“ von Bonn Park in eigener Regie am Düsseldorfer Schauspielhaus, 2023 (UA). Bühne Jana Wassong, Kostüm Julia Nussbaumer, Ragna Hemmersbach. Mitte „Bambi & Die Themen“ von Bonn Park in eigener Regie am Düsseldorfer Schauspielhaus, 2021 (UA). Bühne und Kostüm Paula Wellmann. Rechts „Rückkehr zu den Sternen (Weltraumoper)“ von Bonn Park und Ben Roessler. Regie Bonn Park am Düsseldorfer Schauspielhaus, 2022 (UA). Bühne Jana Wassong, Julia Nussbaumer, Kostüm Leonie Falke


B O N N PA R K

S C H Ö N E , N E U E W E LT E N

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das Punica-Trauma. Solche so witzig-nachdenkenswerten Gedanken-, Gefühls- und Sprachwelten baut und inszeniert Bonn Park. Und er bringt sie zusammen mit reichlich Musik. Seit 2018 arbeitet Park regelmäßig mit dem Komponisten Ben Roessler (geboren 1985) zusammen. Die erste Theater­ probe mit dem Ensemble starten sie dann immer mit Musik, singen eine Stunde, hören erste fertige Songs. Park schätzt Musik als eine manipulative Kraft, die Reibung und Irritation erzeugen kann. Der Stücktext steht zur ersten Probe in der Regel noch nicht. In der Weltraumoper singen sie über „Sweet Emotions“, motivieren sich mit „Auf ins Abenteuer!“. Und ihr Gefecht ist ein Tanz im Schnee. In „Keine Sorge (Religion)“ ist die Musik fundamental. Hier ist es Vokalmusik, ein ganzer Chor begleitet, nein, bewegt Parks Gottesdienst. „Keine Sorge! Sorg dich nicht, sei unbe­ sorgt, wehe du sorgst dich!“, singt der Chor zum Orgelklang. Mantraartig, eindringlich, beruhigend und mahnend, wäh­ rend der Weihrauch die Bühne einnebelt. Es ist auch der Tonfall der Priesterinnen, dieser betende Singsang, die ­ sanft-monotone Stimme, die sich an einigen Stellen erhebt, die wir kennen aus der katholischen Kirche und die im Düs­ seldorfer Schauspielhaus einerseits einlullt, andererseits aber Welt(Sicht)en aufeinanderprallen lässt. Da wird man dann hin- und hergeworfen zwischen Seligkeitsruhe und ­Lächerlichkeiten, zwischen Ehrfurcht und Befürchtung, dass auch diese Messe keine Lösung sein kann: „Wir sind viele, du bist nicht allein.“ Aber: „Verhalte dich auch so!“ Die Bühne (Jana Wassong) ist protestantisch karg, aber noch praktischer aus IKEA-Elementen zusammengescho­ ben. Deren Bauanleitung ist das Neue Testament dieser Ge­ meinschaft. Und das dazugehörige Wunder: ein Menschen­ kind, frisch aus dem Ei geschlüpft. Unschuldig in Weiß gekleidet könne es alles für uns sein. Bonn Park geht der Sehnsucht nach Heilsversprechen und neuen Glaubenssät­ zen nach. „Ich habe das Gefühl, dass wir in einer Zeit leben, in der wir uns nach einfachen Antworten sehnen. Humanisti­ sche Werte, ein aufgeklärter Diskurs – das alles hat sich überdreht, hat das Haltbarkeitsdatum überschritten, ist ge­ kippt, hat sich ad absurdum geführt“, so erklärt er im Pro­ grammheft zur Düsseldorfer Inszenierung. Sein Unterfangen bringt er in eine extreme ästhetische Form, in der selbst je­ der Bühnenauf- und Bühnenabgang das Rituelle durchexer­ ziert und Sprache gemeinschaftsbildend simpel und wenig konkret gehalten wird. Man glaubt Park ein ernsthaftes Inte­ resse an seinem Sujet, an der Religion als einem gesell­ schaftlichen Phänomen. Bonn Parks Inszenierungen sind immer eine Auseinan­ dersetzung mit der Welt, die er um sich herum beobachtet. Aktuell ist es das Gefühl des Untergangs im Westen, das so viele Menschen umtreibe. Aufgewachsen ist er, ist seine Ge­ neration, völlig anders, nämlich mit einem Gefühl von Sicher­ heit. Also beschäftigt er sich in „They Them Okocha“ (2024, Schauspiel Frankfurt) mit dem komplexen Gefühl der Nost­ algie. 2020 inszenierte er in Bamberg seine Horror-Komödie „Das Deutschland“, ein Stück über den Mittelstand, über

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Deutschland als – wie es sich selbst verstehe – ein Land der Mitte. Für seine Arbeiten erspürt Park Gefühlswellen und überprüft Denkgewohnheiten. Er analysiert Welt, stellt sie auf der Bühne aber nicht analysierend dar. Da baut er lieber utopische Räume. Oder auch dystopische Szenarien wie in seinem Jugend­ stück „Bambi & Die Themen“. In Saurier-City brennt der Wald, die Wohnsiedlungen und Papp-Hochhäuser im Miniaturfor­ mat sind zerstört. Park und seine Ausstatterin Paula Wellmann kreieren eine bühnengroße Spielzeugeisenbahnlandschaft, die uns den Zustand der Erde spiegelt. In diesem Chaos leben Bambi und seine Freunde, hocken in einem Appartement und langweilen sich. Sie sind hier übergroße Disney-Kuschelfigu­ ren, die sich auch selbst noch mal als Marionetten führen. Das ist eine doppelte Überzeichnung, die gut die Eigenwilligkeit dieser Inszenierung zeigt: Zur lieblich-sanften Musik, zum säuselnden Klang der übertriebenen Kinderfilm-Stimmen bricht hier die Welt zusammen. Bambi spricht über die ganze „Beschissenheit der Dinge“, ein „einziger Albtraum“. Was bleibt, auch im Publikum, ist ein Gefühl des Unwohlseins, der Unwissenheit und Ungewissheit. Diese staunenswerte Insze­ nierung lässt einen lange nicht mehr los. Park erschafft immer wieder so simple wie komplexe Kunsträume, voller kleiner Widerhaken und großer Wider­ sprüche, die uns Einblick geben in Gefühlslagen und ­Weltverhältnisse. Spielerisch und unbeschwert bringt er die Schwere der Welt auf die Bühne. 2017, beim Stückemarkt des Theatertreffens, leitete Bonn Park einen Workshop. ­Manifeste schreiben, lautete der Titel, seine Idee folgender­ maßen: „Statt sich in Angst vor Demokratieverlust zu ver­ lieren, wollen wir lieber über etwas Neues und Besseres als die Demokratie nachdenken. Denn die Welt braucht neue Manifeste. Wir schreiben sie gemeinsam.“ Womöglich ist jede seiner Regiearbeiten eine Art künstlerisches Manifest. Leidenschaftliche Kommentare zu unserer Zeit, mit Mut zum Kitsch und zum Chaos. Park denkt sich einfach neue Welten aus, statt den Verlust der alten zu bedauern. Dafür ist das Theater doch auch da. Bonn Park, geboren 1987 in Berlin, studierte zunächst Slawische Spra­ chen und Literatur an der Humboldt-Universität zu Berlin, ab 2010 Szeni­ sches Schreiben an der UdK Berlin. Er interessierte sich bereits seit seiner Jugend für Theater, machte beim P14 Jugendclub der Volksbühne am Rosa-Luxemburg-Platz mit und verwirklichte dort zu seiner Studienzeit schon erste Arbeiten als Regisseur und Autor. 2011 gewann sein Stück „Die Leiden des Jungen SuperMario in 2D“ beim Heidelberger Stücke­ markt den Innovationspreis. 2014 folgte der Nachwuchspreis des ElseLasker-Schüler-Dramatikerpreis sowie 2016 der Jurypreis der Essener Autorentage. 2017 gewann er mit „Das Knurren der Milchstraße“ den Stückemarkt des Berliner Theatertreffens, woraufhin es im September desselben Jahres am Theater Bielefeld unter Parks Regie uraufgeführt wurde. Sein Stück „Drei Milliarden Schwestern“ wird 2018 mit dem Fried­ rich-Luft-Preis ausgezeichnet und im Oktober 2018 unter seiner Regie an der Volksbühne Berlin uraufgeführt. Seit 2020 wurde er bereits mehrmals zum Radikal jung Festival des Münchner Volkstheaters eingeladen. Er arbeitete u. a. am Düsseldorfer Schauspielhaus, am Volkstheater Mün­ chen sowie als Autor und Regisseur derzeit in Belgrad und Seoul.


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WAS MACHT MACHT

Spielzeit 24/25 SCHAUSPIEL PREMIEREN Gametheaterprojekt

Zurück in die Zukunft – Der Fall der vier Ringe (UA) William Shakespeare

Richard III

Sabine Michel

Die Vogtland-Revue (UA)

Tamó Gvenetadze

EUdaimonía (UA) – Ein utopisches Versprechen von Glückseligkeit Ulrike Draesner

Monodramen 6 – Doggerland (UA)

Joseph Stein und Jerry Bock

Anatevka (Fiddler on the Roof)

Improvisationsshow von Michael Wolf

Komm ich mach dir eine Szene

Juan Mayorga

María Luisa – zu viert ist man weniger allein (DSE) Joseph Stein und Jerry Bock

Anatevka (Fiddler on the Roof) JUPZ! PREMIEREN nach der britischen Legende

Robin Hood [6+]

Ulrich Hub

Nathans Kinder [12+]

Reinhard Lakomy und Monika Ehrhardt Lakomy

Schlapps und Schlumbo [4+] SOMMERTHEATER LaZebnik/Kruschak/Cleary

Snow White and Me (DSE) [8+] Rico, Oskar und die Tieferschatten [8+]

PREMIEREN

T O B S 20.09.24 Stadttheater Solothurn

Orlando

Eine Biografie Virginia Woolf

Regie Olivier Keller

21.11.24 Stadttheater Solothurn

Bilder deiner grossen Liebe Wolfgang Herrndorf Bühnenfassung von Robert Koall

Regie Nadine Schwitter

13.12.24 Stadttheater Solothurn

Die Stühle Tragische Farce Eugène Ionesco

Regie Deborah Epstein

18.01.25 Stadttheater Solothurn

Maria Stuart

Von Stephan Teuwissen nach Friedrich Schiller Schweizer Erstaufführung Regie Mélanie Huber

01.02.25 Stadttheater Biel

Neue Körper am Ende der Welt Ein Sportstück Marion Rothhaar & Regina Dürig

Regie Marion Rothhaar

21.03.25 Stadttheater Solothurn

Frank Buchser Ein Recherche-Projekt

Regie Katharina Ramser

15.05.25 Drehscheibe Attisholz, Riedholz

Hier ist noch alles möglich

Gianna Molinari Schweizer Erstaufführung

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Andreas Steinhöfel

Saison 2024/25

Regie Olivier Keller

Dietmar Jacobs und Moritz Netenjakob

Extrawurst

nach dem gleichnamigen Bestseller

Der Medicus

theater-plauenzwickau.de

www.tobs.ch (Änderungen vorbehalten)

THEATER ORCHESTER BIEL SOLOTHURN THÉÂTRE ORCHESTRE BIENNE SOLEURE


JULIE PAUCKER

„‚Die Möwe‘ hat mir den Abschied geschenkt“ Christopher Rüpings Zeit am Schauspielhaus Zürich

I

rgendetwas wissen die – obwohl sie als moderne BühnenMenschen auch die Oberfläche lieben – über Abgründe. Darüber, dass da kein fester Grund ist unter ihren Füßen und unter diesen Brettern, die die Welt bedeuten. Sie wissen etwas über Einsamkeit, über das Verdammtsein zum Erfolg, über den Kampf um ein bisschen Rampenlicht. Gerade weil sie das Schnelle, das Lustige, den Pop und das Direkte ­virtuos beherrschen, wissen sie auch, was es kostet, den Ernst und das „echte Gefühl“ zu verweigern. Im Leben wie auf der Bühne. Tschechow wusste es auch. In diesem Sinne war die Be­ gegnung von Christopher Rüping, seinem Team und seinen Schauspieler:innen mit diesem Stück, das im Kern ein Meta­ stück über Theater ist, nur eine Frage der Zeit. Sie scheint zwingend. Niemand verkörpert und führt das zeitgenössi­ sche Theater so hinreißend vor wie Maja Beckmann – das Fleisch gewordene, moderne Abbild der von Tschechow ge­ schriebenen, exzentrischen Theaterdiva und Dichtermutter Arkadina. Gnadenlos zerquetscht von ihr und anderen ihrer Generation wird Kostja, auch das steht so geschrieben, Ben­ jamin Lillie scheint dafür geboren. Und niemand morpht sich so übergangslos vom Bühnenkantengnom zur Märchenprin­ zessin, zur Influencerin und von dort wieder zurück wie Wiebke Mollenhauer. Die Spieler:innen (meistens) oben auf der Bühne, die Figuren, die sie mal mehr, mal weniger theat­ ral verkörpern, die Menschen unten im Saal: Das ist alles

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i­rgendwie eins und alles irgendwie am Ende eine große Tschechow’sche Wunde. Wie kaum jemand zurzeit schaffen es Christopher Rü­ ping, sein Team und seine wunderbaren Schauspieler:in­ nen, das Theater in dem großen, suchenden Straucheln, das es gerade ausmacht, so lange aufs Glatteis zu führen, bis es – aus Notwehr quasi – wieder sein Haupt erhebt und zeigt, was es trotz allem immer noch kann: Drama, großes Gefühl und Poesie.

„Border“ nach dem Film von Ali Abbasi im Schiffbau Zürich Ganz ähnlich, und doch ganz anders ging es mir, als ich ein Jahr zuvor in einer Vorstellung von „Border“ im Schiffbau saß. Eine Vorstufe zu „Die Möwe“, vielleicht sogar ein Gegen­ stück. Auch da die Einsamkeit. Auch hier der Spott, der die Spottenden selbst am meisten verletzt. Auch hier diese fast physische Gegenwehr, sich dem Theater hinzugeben. Und dann doch und dafür ganz. In ihrer unnachahmlich angriffigen Art, für die man sie knuddeln könnte, schimpfte Maja Beckmann mit der Stadt Zürich und ihrem Publikum, das es ihr offensichtlich nicht leicht gemacht hatte. „Ich hab’ mich hier immer einsam ­gefühlt. Bei euch – oder Ihnen.“ Maja Beckmann kündigte­ die Abreise an. Endgültig und definitiv – und man dachte:


Fotos Orpheas Emirzas

Oben „Border“ nach dem Film von Ali Abbasi. Regie Christopher Rüping am Schauspielhaus Zürich, 2022. Bühne Peter Baur, Kostüm Ulf Brauner Unten „Die Möwe“ von Anton Tschechow. Regie Christopher Rüping am Schauspielhaus Zürich, 2023. Bühne Jonathan Mertz, Kostüm Tutia Schaad

C H R I STO P H E R R Ü P I N G

„ ‚D I E M Ö W E ‘ H AT M I R D E N A B S C H I E D G E S C H E N K T “

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Foto Orpheas Emirzas

Benjamin Lillie in „Die Möwe“ von Anton Tschechow


Ach, bleib doch noch ein bisschen! Und: Wenn wir das ge­ wusst hätten. Wir sind gar nicht böse. Nur etwas verklemmt. Wir reden doch auch nicht mit unsern Nachbar:innen. Auch nicht, wenn es Schweizer:innen sind. Oder nur während einer Pandemie. – Was, Maja Beckmann lebte in Wittikon? Am äußersten Zipfel, am Waldrand? Naja, kein Wunder … Wir sind ja auch allein. Zuneigung zeigen wir nicht gleich in den ersten Spielzeiten. Aber dann … wenn man uns verlässt, dann trauern wir lange, dann denken wir daran, wie schön es doch war. Wie schön es war, ihnen zuzuschauen. „Wenn man will, kann man im Theater die Realität erleben, ohne sich gleich zu ihr positionieren zu müssen“, sinniert Wiebke Mollenhauer im Gespräch mit der Dramaturgin ­Katinka Deecke im Programmheft zu „Border“: „Man braucht im Theater keinen Schutzschild für die Begegnung mit der Realität, sondern kann sich der vorgespielten Wirklichkeit überlassen und irgendwie frei darüber nachdenken. Man muss sich nicht sofort positionieren oder verhalten, man darf betrachten und sich Zeit zum Empfinden nehmen. Vielleicht geht es darum, im Theater eine Freiheit im Denken zu er­ reichen, weil man als Zuschauer:in im Theater keine Rolle spielen muss. Anders als in der Realität.“ Wo bei Tschechows „Möwe“ die Figuren ins Licht wollen, wollen sie hier – spätestens ab dem Auftritt Wiebke Mollen­ hauers als Tina wird es eindeutig – fort und in den Schatten. Am liebsten verschwinden unter den aufgeplatzten Bühnen­ brettern, eins werden mit dem Wald, dem Zwielicht, dem Fan­ tasy-Märchen, dem Traum an der Grenze zum Tod, der auch ein Alptraum sein könnte. Oder die Erlösung. Auf der Bühne das Leben und unter der Bühne der Tod. Das Vergessen. Christopher Rüping sagt, dass er in den Endproben der „Möwe“ begriff, dass dies nun sein Abschied von Zürich war, dass hier etwas zu Ende ging und dass die „Möwe“ eigent­ lich ein Stück über Abschied ist. Seltsamerweise hätte er das genauso gut über „Border“ gesagt haben können. Vielleicht war es ein Abschied in Raten. Oder sind sie alle nie hier ge­ wesen? Nicht angekommen? Blieben sie auf gepackten Kof­ fern sitzen? Oder ist es das Leben, das da, wo es zerbrech­ lich wird, immer den Abschied schon ahnt? Wie dieser einsam über die Bühne irrende Lichtkegel, der etwas zum Leben erweckt und es kurz darauf sterben lässt, wenn er sei­ ne Aufmerksamkeit etwas anderem zuwendet. Ein bisschen blieben sie dann noch – aber leider: Zur Sesshaftigkeit in Zürich konnten wir sie nicht verleiten.

Christopher Rüping als Teil eines Regie-Kollektivs in der Intendanz von Nicolas Stemann und Benjamin von Blomberg Christopher Rüping war einer der acht Regiepersonen, die Benjamin von Blomberg und Nicolas Stemann 2019/20 nach Zürich holten, um sie partnerschaftlich in die Konzeption des Spielplans und die Zusammenstellung des neuen Ensem­ bles einzubeziehen. Spannende, sehr verschiedene Künst­ ler:innen, die weitere spannende, noch verschiedenere

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Christopher Rüping sagt im Gespräch, dass er in der Zeit in Zürich als Regisseur zu sich gefunden hätte.

Künstler:innen, Sprachen, Theaterstile und Ästhetiken mit ans Haus und mit nach Zürich brachten. Es waren große Vorsätze: mehr Diversität, flachere Hier­ archien, ein künstlerischerer Zugriff auf Stücke und Stoffe. Einiges davon ging auf, anderes weniger. Wenn man die Lei­ tung eines der wohlhabendsten Schauspielhäuser der Welt übernimmt, ist Risiko eigentlich Pflicht. Das Experiment blieb bis in die letzten Wochen der Intendanz spürbar und das machte – zumindest für mich – jeden Theaterbesuch spannend. Man wusste nie, was eine:n erwartet und das ist doch das, was Theater eigentlich ausmacht. Doch, etwas wusste man schon: dass in jeder Inszenierung tolle Per­ former:innen, Spieler:innen, Tänzer:innen auf der Bühne standen. Mich persönlich tröstete das bisweilen locker über dramaturgisch weniger aufgegangene Inszenierungen hin­ weg – und ich bin Dramaturgin. Dass Corona in die Inkubationszeit dieser neuen Inten­ danz hereinplatzte und das künstlerische Zusammenkom­ men der neuen Menschen am Haus und mit seinem Publi­ kum torpedierte, war unglücklich. Dass darüber hinaus das Publikum in Zürich einiges, was gerade im deutschspra­ chigen Theater allgemein im Umbruch ist, als individuelles Züricher Experiment empfand (zum Beispiel ein grundsätz­ liches Umdenken in der Besetzungs- und Rollenpolitik), war ein Missverständnis, das leider von der Zürcher Presse eher geschürt als aufgeklärt wurde. Bis heute sind die Umstände, die zu der Beendigung der Verträge der Leitung geführt ­haben, nicht genau bekannt. Insofern ist es müßig, sich dazu zu äußern. Es ist jedoch gut möglich, zu der Kunst etwas zu sagen, die in den letzten Jahren hier stattgefunden hat, und da ist klar zu vermerken: schade, dass es schon zu Ende geht.

Zürich – das Wichtigste Christopher Rüping sagt im Gespräch auf die Frage, was das Wichtigste für ihn hier war, dass er in der Zeit in Zürich als Regisseur zu sich gefunden hätte. Das hätte vor allem mit den Leuten zu tun, mit denen er hier kontinuierlich arbeitete. Im Grunde hätte er zu sich gefunden, aber auch sie alle ­fanden zueinander. „Viele der Arbeiten, die wir hier gemacht haben, sind – so habe ich das Gefühl – eine akkurate Mani­ festation der Suche, die uns als Gruppe, aber die auch mich als Regisseur bewegt.“

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Als Weggefährten hatte es sie alle schon vorher gegeben: Den Bühnenbildner Jonathan Mertz kennt Christopher Rüping seit dem Studium an der Theaterakademie in ­ ­Hamburg, die Kostümbildnerin Lene Schwind begleitet ihn seit vielen Jahren, mit den Spieler:innen Maja Beckmann, Wiebke Mollenhauer, Nils Kahnwald und Benjamin Lillie hat er in vielen Produktionen gearbeitet. An den Münchner Kammerspielen zum Beispiel spielten unter anderem­ ­ Wiebke Mollenhauer und Nils Kahnwald in der berühmt ge­ wordenen Re-Inszenierung von Brechts „Trommeln in der Nacht“. Das war während der Intendanz von Matthias Lilien­ thal, die ähnlich endete, wie die von Stemann und Blomberg jetzt in Zürich. Neu aber war hier, dass sie alle im gleichen Moment am gleichen Ort arbeiteten, und das kontinuierlich. Diese Konti­ nuität empowert auch die Spieler:innen, sagt Christopher Rüping. „Sie müssen sich nicht ständig beweisen, es ent­ steht eine Vertrauensbasis.“ Neu war auch, dass sie gemein­ sam neue Stoffe und nächste Schritte andenken konnten, dass sich ein Stück aus dem anderen entwickelte, oder fast logisch ergab. „Früchte des Zorns“ war die erste, wohl noch schwierigs­ te Arbeit am Haus. Wie so oft bei einem Neustart war zu viel Druck drauf, einige der Beteiligten kamen frisch aus dem zehnstündigen Megaprojekt „Dionysos Stadt“ (Münchner Kammerspiele, 2018), die Erwartungen waren, wie Rüping sagt, „skyhigh“. Das Ensemble fand noch nicht richtig zu­ sammen. Aber doch lag in dieser Arbeit bereits der Kern zur nächsten, zu „Einfach das Ende der Welt“. Christopher Rü­ ping bezeichnet sie als eine seiner allerwichtigsten Arbeiten überhaupt. Sie bildete auch den Anfang seines sogenannten „Familientryptichons“, das er mit „Brüste und Eier“ nach Mieko Kawakami 2020 am Thalia Theater in Hamburg, sowie mit „Trauer ist das Ding mit Federn“ 2024 am Schauspiel­ haus Bochum weiterentwickelte. In Zürich folgten „Der Ring des Nibelungen“, „Border“, „Das neue Leben. Where do we go from here“ (als Gastspiel vom Schauspielhaus Bochum und eingeladen zum Berliner Theatertreffen 2022), „Gier“, welches sein größter Publi­ kumserfolg wurde, und nun eben, als Abschiedsstück, „Die Möwe“, welches wir zum Schweizer Theatertreffen eingela­ den haben. Schwer, sich das jetzt im Hochsommer in Zürich sitzend vorzustellen, aber der Satz: „Als mich Nicolas Stemann und Benjamin von Blomberg fragten, ob ich mit nach Zürich kom­ men wollte, fiel vor meinem inneren Auge Schnee“, be­ schreibt deutlich das etwas unterkühlte Verhältnis, das Christopher Rüping schon vor seiner Ankunft hier zu dieser Stadt hatte. Prägend die Erinnerung an ein einsames Gast­ semester im Winter an der Zürcher Hochschule der Künste. Dass es so geblieben ist, ist allerdings schade, und man fragt sich, warum da nicht mehr Wärme entstanden ist zwischen der Stadt und ihren Künstler:innen. Ich bin nicht einmal ganz sicher, ob es stimmt, dass da keine Wärme war, zwischen denen auf der Bühne und denen im Publikum.

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Christopher Rüping, der sehr zu der Zeit hier und dem Pro­ jekt dieser Leitung steht, meint nachdenklich, dass es viel­ leicht im Nachhinein strategisch nicht richtig war, so sehr zu kommunizieren, was man an interner Umstrukturierung vor­ hatte. Das führte zu einer Debatte, die sich zu wenig mit den künstlerischen Inhalten beschäftigte und zu sehr mit Haus­ politik und strukturellem Diskurs. Gleichzeitig gibt er aber auch zu, dass es in einer Zeit, wo die Stadttheater sich neu erfinden müssen, wo deren Machtstrukturen und Möglich­ keiten der Teilhabe zu Recht diskutiert werden, kaum mög­ lich ist, darüber nicht programmatisch zu sprechen, wenn man eine Leitung antritt. Politisch ist es sogar wichtig. Aber es stellt der Öffentlichkeit Wortfelder vor die Augen, es lenkt ab von dem, was innerhalb der Inszenierungen passiert. Die­ se seien ja nicht didaktisch, nicht dazu da, neue Besetzungsund Konzeptionsthesen zu demonstrieren, sie entfalteten sich einfach in einem zeitgemässen Kontext. Wir sprechen immer wieder darüber, wie es besser gelin­ gen könnte, – in einer Kulturszene, wo die Theaterkritik auch nicht gerade tiefgründiger wird, und vielleicht sowieso nicht mehr das gültige Kommunikationsmittel ist – einem Publi­ kum zu vermitteln, dass Offenheit und Neugier eigentlich al­ les sind, was man in eine Theatervorstellung mitbringen muss. Dass es darum geht, sich überraschen zu lassen. Mir selbst fällt über die letzten Jahre durchaus eine Veränderung des Publikums auf im Schauspielhaus. Es ­ ­erscheint mir urbaner, jünger, und tatsächlich zum Glück auch: diverser. Doch, ja. Das gäbe es schon in Zürich, dieses Publikum, das man sich eigentlich wünscht, sagt Christo­ pher Rüping. „Diese Menschen, junge auch, die wach sind, kritisch, bisweilen laut und neugierig. Eher so, wie man es aus der Freien Szene kennt.“ Wir können nur hoffen, dass sie dem Zürcher Schauspiel­ haus weiter verbunden bleiben, sich vermehren und neugie­ rig sind auf die nächsten Spielzeiten hier, die auch Spannen­ des versprechen.

Christopher Rüping, geboren 1984 in Hannover, studierte Theaterregie an der Theaterakademie Hamburg und ein Semester an der Zürcher Hoch­schule der Künste. Er arbeitet seit vielen Jahren mit dem gleichen Team und dem gleichen Kreis von Schauspieler:innen zusammen. Ihre Arbeiten wurden mehrfach ausgezeichnet und sind auf Festivals auf der ganzen Welt zu Gast. Von 2015 bis 2019 war Christopher Rüping Haus­ regisseur an den Münchner Kammerspielen, in den letzten Jahren gehörte er zu der Gruppe von Hausregisseur:innen, die das Programm des Zürcher Schauspielhauses gestalteten. Seine Inszenierungen wurden seit 2015 wiederholt zum Berliner Theater­ treffen eingeladen, „Das Fest“ (Staatstheater Stuttgart), 2015, „Trommeln in der Nacht“ (Münchner Kammerspiele) 2018, „Dionysos Stadt“ (Münchner Kammerspiele) 2019, „Einfach das Ende der Welt“ (Schauspielhaus Zürich) 2021 und „Das neue Leben. Where do we go from here“ (Schauspielhaus Bochum) 2022, die im Jahr zuvor den NESTROY-Preis als „Beste Auffüh­ rung im deutschsprachigen Raum“ erhielt.


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DAS VERSPRECHEN

Monolog nach Friedrich Dürrenmatt

Vorarlberger Landestheater, Bregenz

FRIDA – VIVA LA VIDA

EIGEN-/KOPRODUKTIONEN Doble Mandoble & Kopergietery, Brüssel

Odessa National Academic Opera and Ballet Theatre

Neuer-Zirkus-Theater

Ballett zur Live gespielten Szenischen Kantate von Carl Orff

DAS DINER

CARMINA BURANA

Maxim Gorki Theater, Berlin

PLANET B

ein Monolog von Leopold Huber

Science-Fiction-Komödie von Yael Ronen und Itai Reicher

Die Freitagsakademie, Bern

Nederlands Dans Theater | NDT 2

Zauberoper von Georg Friedrich Händel mit Menschen und Puppen

Choreografien von Marcos Morau und Nadav Zelner

RambaZamba Theater, Berlin

Thalia Theater, Hamburg

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EINER FLOG ÜBER DAS KUCKUCKSNEST

von Dale Wasserman nach dem Roman von Ken Kesey Schauspielhaus Bochum

MACBETH

von William Shakespeare

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FOLKÅ + TBA

DER TALISMAN

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Deutsches Theater Berlin

Urban Arts Ensemble Ruhr/ Company MEK

von Tennessee Williams

Hip-Hop-Dance-Theater von Muhammed Kaltuk

Schlosstheater Moers

WIEDERAUFNAHMEN

von Soeren Voima nach Jack London

BERMPOHL BLEIBEN ODER VON TRÄUMEN ERWEICHENDER STEINE

DIE KATZE AUF DEM HEISSEN BLECHDACH

RUF DER WILDNIS

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WEBEREI URAUFFÜHRUNG ODER DIE ERFINDUNG DES BADEMANTELS

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DER HIMMEL ÜBER NAZARETH (HOLY MOLY)

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Eine Art Krippenspiel von Fink Kleidheu

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HANNAH SCHÜNEMANN

Die Wirklichkeit scharf stellen Wie Marie Schleefs technisch präzise Inszenierungen patriarchale Muster sezieren

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uf der Probebühne 1 der Münchner Kammerspiele ist im Februar 2024 ein giftgrünes Probebühnenbild aufgebaut. Ein Stück neonpinker Bodenbelag, eine Spiegelwand. Darüber ein Element, das normalerweise von der Technik erst für die Vorstellungen aufgehängt wird: eine Übertiteltafel. Hier proben die Regisseurin Marie Schleef und ihr Team „Die Möglichkeit des Bösen“, eine Kurzge­ schichte der Autorin Shirley Jackson (s. TdZ 04/24). Jackson schrieb in den USA der Nachkriegszeit. Ihre literarischen Texte thematisieren das Verborgene und Verdrängte, das unter der alltäglichen Oberfläche schlummert. Sie seziert die Geheimnisse ihrer Figuren und legt die grotesken Strukturen hinter vermeintlich Banalem offen. Diesen forschenden Blick für das Unsichtbare teilt Shirley Jackson mit der Regisseurin, die ihre Kurzgeschichte in München für die Bühne vorbereitet. Marie Schleef inszeniert vorrangig Texte, die bisher unter­ gegangen oder nicht beachtet waren und literarische Werke, die sich mit marginalisierten Themen auseinandersetzen. Das können Kurzgeschichten sein, wie „Die Geschichte einer Stunde“ von Kate Chopin (Ballhaus Ost, 2022) oder ­Romane wie Cho Nam-Yoos „Kim Jiyoung, geboren 1982“ (Schauspiel Köln, 2023), aber auch in der Zeitung abge­ druckte Texte wie Amber Dawns „Once I lived with a stranger“ (Schauspiel Köln, 2022). Es sind oft Texte von Frauen*, Hausfrauen*, Müttern*, Ehefrauen*.1 Denn auch nach über zwei Jahrzehnten im 21. Jahrhundert ist die weiblich gelesene Perspektive immer noch eine, die um ihren Platz in 1 „Frau“ und „weiblich“ werden von Marie Schleef nicht als feststehende Kategorie oder Identitäten verstanden, sondern als kulturell entstandene Zuschreibung und Konstruktion. Geschlechteridentitäten sind vielfältig.

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der Gesellschaft und auf den Bühnen kämpfen muss. Marie Schleef reagiert auf diese Tatsache mit dem Gestus einer Goldgräberin. Mit Adleraugen, großer Aufmerksamkeit und intensiven Recherchen fördert sie Personen, Texte, Themen­ komplexe zutage, die uns bisher weitgehend entgangen sind. Dass dieser Ansatz bemerkenswert ist, wurde deutlich als Schleef direkt mit ihrer ersten Inszenierung nach dem Stu­ dienabschluss eine Einladung zum Berliner Theatertreffen 2021 erhielt: „NAME HER. Eine Suche nach den Frauen+“ (Ballhaus Ost, 2020), eine Long Durational Performance, ent­ wickelt in Kollaboration mit Anne Tismer, Jule Saworski und Laura Andreß. Die Arbeit entstand auf Basis einer monumen­ talen Recherchearbeit, bei der das Team weiblich gelesene Akteure aus diversen Kontexten ausfindig machte, die bisher kaum bis gar keine Beachtung in der Geschichte gefunden ha­ ben. Im Laufe der Performance werden die Persönlichkeiten nach Art eines Lexikons von A bis Z als alternative, performati­ ve Historiografie präsentiert. Eine Arbeit, die nicht nur inner­ halb der sechsstündigen Vorstellungen absolute Hingabe und immense Ausdauer gefordert haben muss.

Das szenische Handwerk der Übertitel Ihrem künstlerischen Impetus folgend, brachte Schleef bis­ her lediglich eine Inszenierung auf die Bühne, die sich dem

„Die Möglichkeit des Bösen“ nach einer Kurzgeschichte von Shirley Jackson. Regie Marie Schleef an den Münchner Kammerspielen, 2024. Bühne Ji Hyung Nam, Kostüm Teresa Vergho


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Foto Gabriela Neeb


Text eines männlichen Autors widmet: In einer Auftrags­ arbeit für das Schauspiel Köln erarbeitete sie eine Adaption von Günter Grass’ „Die Blechtrommel“ (2021). In Marie Schleefs Version spricht Peter Miklusz als Oskar Matzerath die berühmten Grass-Texte, während die Übertitel der Geschichte eine weibliche Perspektive hinzufügen. Eine ­ schlaue Setzung, die sich Grass’ Form des historischen Ro­ mans zu eigen macht und die geschichtlichen Vorgänge um Ereignisse, Fakten und Personen nach Schleef’scher Manier

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ergänzt. Übertitel sind Marie Schleefs Geheimwaffe im Kampf gegen patriarchale Strukturen. Bereits in ihrer Diplom­ inszenierung experimentiert die Regisseurin mit dem künst­ lerischen Einsatz dieser zweiten Textebene: Im dritten Stock der Volksbühne Berlin brachte sie 2018 „Die Fahrt zum Leuchtturm“ auf die Bühne. Virginia Woolfs Roman erzählt von dem kleinen James Ramsay, der seine Eltern immer wie­ der davon zu überzeugen versucht, mit ihm zum Leuchtturm zu fahren. Der Text strotzt vor unausgesprochener Bedürf­

Fotos Gabriela Neeb

„Die Möglichkeit des Bösen“ nach einer Kurzge­ schichte von Shirley Jackson. Regie Marie Schleef an den Münchner Kammerspielen, 2024. Bühne Ji Hyung Nam, Kostüm Teresa Vergho


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nisse und Erwartungen von Mutter, Vater, Kind, die in der Kleinfamilie zwar verborgen, aber permanent spürbar sind. In ihrer Inszenierung knüpft Marie Schleef formal an die Textform an. Die Figuren sprechen nur den oberflächlichen Text; artikulieren glatte, unverfängliche Aussagen. Ihre Ge­ danken, Gefühle, die Untertöne und Beweggründe ihres Handelns sind in den Übertiteln zu lesen. Auf diese Weise übersetzt Marie Schleef die Trennung von Oberfläche und Verborgenem aus dem Roman auf die Bühne und lässt sie sprachlich und räumlich sichtbar werden. Das Verhältnis der Körper zum Text ist damit grundlegend durch eine Dis­ tanz markiert. Das Publikum muss die verschiedenen Text­ ebenen immer wieder neu in Bezug zueinander setzen, um sichtbares und unsichtbares Leben der Figuren miteinan­ der zu verbinden. Im zweiten Teil der Inszenierung, der mit „Die Zeit ver­ geht“ überschrieben ist, folgt eine Szene, in der kein Wort gesprochen wird. Anne Tismer streicht als Mrs Ramsay die Wände des diagonalen Bühnenbilds, während in den Über­ titeln ein Querschnitt durch die Geschichte der Frauenrech­ te von 1914 bis heute zu lesen ist. Wahlrecht, Gesetzände­ rungen zu Führerschein, Ehe, Arbeit, Abtreibung. Fakten zur Antibabypille und genderbasierten Lohnunterschieden, die sich zum Beispiel so lesen: „August 2018: Laut nachtkritik.de verdienen Regisseurinnen für ihre Inszenierungsarbeiten 30%–50% weniger Gage gegenüber ihren männlichen Kolle­ gen. Dieser Unterschied wird u. a. durch die an deutschen Theatern üblichen NV-Bühnenverträge aufrechterhalten, die oftmals Verschwiegenheitsklauseln beinhalten.“ Die Szene ergänzt den Originaltext um historische und aktuelle Kontex­ te, die – ebenso wie die Bedürfnisse und Erwartungen in der Familie Ramsay – zumeist unsichtbar sind, aber unsere Welt entscheidend bestimmen. Durch das Zusammenspiel von gesprochenem Text und Übertitel-Text wird Schleefs Insze­ nierung zu einer dokumentarischen Erzählcollage. Ihren Ein­ satz von Übertiteln hat Marie Schleef in den letzten Jahren kontinuierlich weiterentwickelt. In ihren Arbeiten sind sie nicht nur Medium zur Dokumentation historischer Kontexte. Die Regisseurin nutzt Übertitel grundlegender; zur Dezent­ rierung von Bedeutungsebenen auf der Bühne. Wenn in ­Marie Schleefs Arbeiten Übertitel zum Zug kommen, repro­ duzieren sie nie schlicht das, was auf der Bühne passiert, wie es zum Zweck der Übersetzung üblich ist. Schleefs Übertitel transportieren ihr eigenes Wissen, ihren eignen Rhythmus, eröffnen eine zusätzliche Bedeutungsebene und fügen dem Spiel auf der Bühne einen Bezugspunkt hinzu. Das drei­ dimensionale Bild auf der Bühne – Spiel, Bewegung, gespro­ chenes Wort, Ausstattung, Medien – wird durch ein zweidi­ mensionales Bild erweitert. Die Übertitel werden zum Spielpartner, der Impulse setzen, nehmen und geben kann. Auf diese Weise erzeugen Marie Schleefs Übertitel eine situ­ ative Spannung, die szenisch eingebunden ist. Insofern dür­ fen sie als handwerkliche Regiepraxis verstanden werden, die die Logiken auf der Bühne erweitern, verändern und bre­ chen können.

MARIE SCHLEEF

D I E W I R K L I C H K E I T S C H A R F ST E L L E N

PREMIEREN SPIEL

Die Mausefalle Agatha Christie I: Leonardo Raab 13.09.24, Theater am Alten Markt

Der Gott des Gemetzels Yasmina Reza I: Michael Heicks 01.02.25, Stadttheater

antigone. ein requiem (τύφλωσίς, I) eine rekomposition nach sophokles Thomas Köck I: Dariusch Yazdkhasti 14.09.24, Stadttheater

Der große Gatsby Francis Scott Fitzgerald I: Malte Kreutzfeldt 22.03.25, Stadttheater

Deutschsprachige Erstaufführung Age is a Feeling Haley McGee I: Jette Büshel 27.09.24, TAMZWEI Grand Horizons Bess Wohl I: Dariusch Yazdkhasti 08.11.24, Theater am Alten Markt Pippi Langstrumpf Astrid Lindgren I: Nick Westbrock 16.11.24, Stadttheater Die Wut, die bleibt Mareike Fallwickl I: Christina Gegenbauer 23.11.24, Theater am Alten Markt Wolf Saša Stanišić I: Nadja Loschky 25.01.25, Theater am Alten Markt Trümmer (Wreckage) Tom Ratcliffe I: Fabian Thon 31.01.25, TAM DREI

Penthesilea. Ein Requiem Nino Haratischwili I: Rebekka Nilsson 23.03.25, TAM DREI Nathan der Weise nach Gotthold Ephraim Lessing I: Konrad Kästner, Dariusch Yazdkhasti 29.03.25, Theater am Alten Markt Uraufführung Ein Recherche-Projekt von Sina Ahlers und Marie Schwesinger I: Marie Schwesinger 10.05.25, TAM ZWEI Uraufführung Lonely Hearts Club (AT) Patty Kim Hamilton, Elias Kosanke I: Nick Westbrock 16.05.25, Theater am Alten Markt Spartenübergreifende Produktion Fahrenheit 451 Ray Bradbury I: Michael Heicks 17.05.25, Stadttheater Intendanz Michael Heicks · Nadja Loschky Schauspieldirektor Dariusch Yazdkhasti


„Kim Jiyoung, geboren 1982“ von Cho Nam-Joo. Regie Marie Schleef am Schauspiel Köln, 2023. Bühne Seong Ji Jang, Kostüm Ji Hyung Nam

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Anhand der Übertitel vollziehen Marie Schleefs Inszenierun­ gen ihre performative Emanzipation. Emanzipation von patriar­ chalen Erzählweisen und normativen Wissensstrukturen. Die Philosophin Donna Haraway kritisiert in ihrer Wissenschafts­ theorie gängige Formen der Wissensgenerierung. Sie macht deutlich, dass die Annahme, Wissen könne neutral und uni­ versell gültig sein, historische Machtstrukturen abbildet. Demnach ist die normative Wissensform von einer Perspek­ tive bestimmt, die sich marginalisierte Positionen, darunter auch weiblich gelesene, aneignet und unterordnet. Haraway zufolge gibt es nicht ein Wissen, sondern vielfältige Wissens­ formen, die ihre Subjekte und Umgebungen mitabbilden. Um den Dualismus zwischen Subjektivität und Objektivität auf­ zulösen, schlägt sie eine feministische Objektivität vor. Diese verabsolutiere nicht eine singuläre Perspektive, sondern ­markiere das Wissen als partiell und historisch, geografisch verortet. Im Kontext von Haraways Theorie wird die wissens­ politische Relevanz von Marie Schleefs Arbeitsweise deutlich: Ihr Ansatz überführt das Konzept feministischer Objektivität in die künstlerische Praxis. Durch die Verbindung spezifischer Textformen, Autorinnen, literarischer Figuren und Poetiken mit der Aufbereitung historischer und gesellschaftlicher Kontexte bringt sie feministische Episteme auf die Bühne, die ihre Ver­ bindung mit spezifischen Subjekten, Zeiten und Orten heraus­ stellen und erzählen. Die Basis dafür sind starke Konzepte, die auf feinem Gespür, intensiven Recherchen und poetischer ­Vision beruhen. Es ist naheliegend, dass Marie Schleef eher selten mit Stoffvorschlägen von Theatern arbeitet. Sie ist ihre eigene unerschöpfliche Quelle für Ideen, Themenkomplexe und Ansätze, für die sie von Beginn an klare Bilder im Kopf hat. Ihre Inszenierungen sind von starken visuellen und akusti­ schen Ästhetiken geprägt: farbenfrohe, abstrahierte Ausstat­ tung, detailliert entwickelte Körpersprache, prägnante Sound­ konzepte. Die einschlägige Form von Schleefs Konzepten trifft auf ausdrucksvolle Szenografien. Die szenischen Bilder auf der Bühne sind verspielt und stellen alltägliche Details scharf. In „Die Geschichte einer Stunde“ kriecht das minutiöse Abkratzen einer Tapete haptisch und akustisch durch den Raum. In „Once I lived with a Stranger“ ziert ein überdimens­ionaler Kaktus die Bühne. Wenn die Protagonistin sich an ihn schmiegt, fühlt man sich auch im Publikum der stacheligen Berührung ausgesetzt. In „The Mushroom Queen“ rückt eine scheinbar nebensächliche Schiebetür durch ihr wiederholtes Aufschieben, Anhauchen, Ablecken unwiderruflich in unseren Blick. In „Die Möglichkeit des Bösen“ klingen vermeintlich all­ tägliche Geräusche wie ein Vogelgesang oder das Schreien eines Babys seltsam verzerrt. Auf diese Weise wird die ­Geräuschkulisse des Schauplatzes zum unheimlichen Beglei­ ter der Figuren. So erprobt Schleef mit ihren schlauen künst­ lerischen Teams immer wieder neue Regelwerke, die die Welt auf der Bühne deklinieren: Wie schnell, langsam, laut, leise, geheimnisvoll, naiv, verstörend ist der Kosmos dieser ­Geschichte?

Fotos Tommy Hetzel

Feministische Objektivität


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Modulation von Wahrnehmung Die präzise Arbeit an Art und Tempo der Bewegungen ihrer Schauspieler:innen bildet einen integralen Bestandteil von Marie Schleefs formaler Technik. Technik ist dabei auch in­ sofern ein zentrales Stichwort, als die Bewegungsqualitäten auf Schleefs Bühne oft ästhetische Verbindungslinien in fil­ mische, digitale, technophile Welten aufweisen. Allerdings sind Schleefs Welten von einem anderen Tempo geprägt, als es uns heute in multiplen Medien begegnet. Ihre Figuren er­ zählen Körperlichkeit nicht selten über seltsam langsame, verzerrte Bewegungssprachen und Slow Motion. Denn Tempo ist bei Marie Schleef ein weiteres Modul der Präzision von Wahrnehmung. Mit der teils quälenden Langsamkeit ihrer szenischen Abläufe besteht die Regisseurin darauf, die Din­ ge genau in den Blick zu nehmen, sie wirklich anzusehen. Es geht dann auch darum, die Genauigkeit auszuhalten, die Geduld und Aufmerksamkeit aufzubringen, Empathie für ­ scheinbare Details zu entwickeln. Gemeinsam mit ihren künstlerischen Teams stellt Marie Schleef nicht nur inhalt­ lich, sondern auch ästhetisch in jedem Stück erneut die ­Frage, was unserem Blick auf die Welt entgeht. 2021 erhält Marie Schleef den CHANEL Next Prize, eine Auszeichnung für zehn aufstrebende Künstler:innen welt­ weit, die Innovation in die Künste bringen. Schleefs Inszenie­ rungen sind feine Essays über Lücken, Verschiebungen und potenzielle Veränderungen in unserer Wahrnehmung der Welt, die wir teilen. Im Vorwort der Diplomarbeit von Marie Schleef steht: „Nachdem meine Diplominszenierung an der Volksbühne Berlin herauskam, ich sieben Jahre Theater stu­ diert habe, sechs davon mit Stipendium, wurde ich von einem Mann gefragt, ob ich denn nun wirklich Regisseurin werden will. Ich habe daraufhin geantwortet: Ich bin es be­ reits.“ Marie Schleef ist eine Meisterin der Perspektivierung. Wir können davon ausgehen, dass sie noch vielen Men­ schen, deren Werden und Schaffen in dieser Welt verloren scheint, verdrängt wird oder untergeht, auf die Spur kommen und ihre Geschichten erzählen wird.

Marie Schleef, geboren 1990 und aufgewachsen in Graz, Österreich, machte ihren Schulabschluss am Waterford Kamhlaba United World College of Eswatini. Nach ihrem Abschluss in Theater und Performance am Bard College New York Regiestudium an der Berliner Hochschule für Schauspielkunst „Ernst Busch“. Als Regieassistentin an der Volksbühne Berlin arbeitet sie u. a. mit Susanne Kennedy zusammen. Einladung ihrer

JUBILÄUMSSPIELZEIT JEDER*MANN NACH HUGO VON HOFMANNSTHAL GELB IST DIE FARBE DER SONNE BRENDAN MURRAY (DSE) ELSE (SOMEONE) CARINA SOPHIE EBERLE WIR SIND NOCH EINMAL DAVONGEKOMMEN THORNTON WILDER STATUS QUO MAJA ZADE UNDINE, DIE KLEINE MEERJUNGFRAU FRANZISKA STEIOF, NACH H. C. ANDERSEN DIE AFFÄRE RUE DE LOURCINE EUGÈNE LABICHE SCHWALBENKÖNIG STEFAN HORNBACH HAYDI! HEIMAT! KATJA HENSEL HEUTE ABEND: LOLA BLAU GEORG KREISLER ÜBER MENSCHEN JULI ZEH ROBIN HOOD NORA KHUON & MARKUS BOTHE WAS IHR WOLLT WILLIAM SHAKESPEARE

Diplominszenierung nach Hamburg zum Körber Studio für Junge Regie 2019. Einladung zum 58. Berliner Theatertreffen mit „NAME HER. Eine Suche nach den Frauen+“ (Premiere am Ballhaus Ost Berlin). 2021 erhielt Marie Schleef den internationalen CHANEL Next Prize, der an Künstler:in­ nen aus verschiedenen Ländern und Disziplinen vergeben wird. Die Jury­ mitglieder waren Cao Fei, Sir David Adjaye Obe und Tilda Swinton. 2023 Auszeichnung mit dem Kurt-Hübner-Regiepreis für ihre Inszenierung „Once I lived with a stranger“ (Schauspiel Köln). Im März 2024 brachte sie „Die Möglichkeit des Bösen“ von Shirley Jackson an den Münchner Kam­ merspielen auf die Bühne.

MARIE SCHLEEF

D I E W I R K L I C H K E I T S C H A R F ST E L L E N

Badische Landesbühne Am Alten Schloss 24 76646 Bruchsal badische-landesbuehne.de


LINA WÖLFEL

Keine Sahnetorte ohne Sahne Wie Rieke Süßkow Freiheiten im Theater schafft

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eine erste (professionelle) Theaterkritik habe ich 2019 über das Spieltriebe-Festival am Theater Os­ nabrück geschrieben. Fünf Inszenierungen, ge­ quetscht in etwas über 4.000 Zeichen Festivalbericht. Am zweiten Tag, nach der dritten Aufführung und zweiten Instal­ lation betrete ich mit zwei anderen Journalist:innen den Zu­ schauerraum des emma-theaters. Die Bühne ist mit einem rot-pink schimmernden Stoff verhängt, der später noch über unsere Köpfe gespannt wird. Die folgende Inszenierung von Kevin Rittbergers „IKI. radikalmensch“ wird mein Festival­ highlight werden. Die moderne Überschreibung eines bür­ gerlichen Trauerspiels zwischen dem Mensch Peter und sei­ ner Künstlichen Intelligenz IKI. Ein Abend, der die Sinne anspricht, seine zunächst wohlig weiche Ästhetik wird schon bald kühl und bedrängend. Schon Jahre vor ChatGPT ent­ hüllt der Abend, dass die Art, wie wir künstliche Intelligenzen heute denken, mehr ein Spiegel unserer geheimen egozent­ rischen Wünsche als ein futuristischer Lebensentwurf ist. Die Konsequenz, mit der die Inszenierung nicht versucht zu viel zu wollen, sondern Aussagen klar zu definieren und äs­ thetisch erfahrbar zu machen, hat mich beeindruckt. Regie bei „IKI. radikalmensch“ führte Rieke Süßkow. Ge­ boren 1990 in Berlin, studierte sie Theater-, Film- und Me­ dienwissenschaft in Wien. Neben ersten Hospitanzen und Assistenzen entstanden in Wien Rieke Süßkows erste eige­ ne Regiearbeiten in der Freien Szene. Mit ihrem Regiedebüt „Die Beauty Queen von Leenane“ von Martin McDonagh wurde sie 2012 zum internationalen Theaterfestival Perm eingeladen. 2014 bis 2019 studierte sie nochmal Regie an der Theaterakademie in Hamburg. Für ihr gemeinsames Pro­

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jekt „Heimat in Dosen“ erhielten sie und Emre Akal den Jury­ preis des 10. Nachwuchswettbewerbs am Theater Drachen­ gasse in Wien. Süßkows Abschlussinszenierung „Medea“ nach Motiven von Hans Henny Jahnn hatte im März 2019 Premiere auf Kampnagel, wurde zum Fast Forward Festival des Staatsschauspiel Dresden und dem FIAT Festival in Montenegro eingeladen und gewann dort den Preis für die beste Regie. Ihre Inszenierung „Oxytocin, Baby“ von Anna Neata am Schauspielhaus Wien brachte ihr 2022 den NESTROY-Preis in der Kategorie „Bester weiblicher Nachwuchs“. Mit der Uraufführung von Peter Handkes „Zwiegespräch“ am Burgtheater Wien wurde sie 2023 erstmalig zum Berliner Theatertreffen eigeladen. Dieses Jahr erneut, mit „Überge­ wicht, unwichtig: Unform“ am Staatstheater Nürnberg. Aus der Freien Szene heraus legt Rieke Süßkow also die absolute Parade-Karriere im Stadt- und Staatstheaterbetrieb hin. Holt alle Preise, die es zu holen gibt. Inszeniert die großen The­ men und großen Namen an den großen Häusern. Aber gehen wir nochmal einige Schritte zurück. Zum Theater kam Rieke Süßkow nämlich, wie sie selbst sagt, sehr naiv. Als Kind und Jugendliche war sie nie in großen Thea­ tern. Eher im Zirkus oder Puppentheater. Später dann im Ju­ gendclub. „Aber nicht bei den coolen Kids von der Volksbüh­ ne oder so“, sondern in der Jugo Jugendtheatergruppe in der Torstraße Berlin. Wobei, einige Eidinger Uraufführungen oder Bob Wilson-Inszenierungen hat sie schon gesehen. Und diese großen ästhetischen Ideen haben sie geprägt. Trotzdem ist sie größtenteils an der (Yuppie-)Theaterelite vorbeigeschlittert. Und darüber ist sie irgendwie froh. Es hat sie vor einigem bewahrt, denke ich. Mein Theaterverständnis


Fotos Jörg Landsberg

„IKI. Radikalmensch“ von Kevin Rittberger. Regie Rieke Süßkow an den Städtische Bühnen Osnabrück, 2019. Bühne Lukas Fries, Kostüm Marlen Duken

war lange durch fünfstündige Sprechtheaterinszenierun­ gen geprägt, viel Text, wenig Handlung, kaum innovative Bilder, von eingeschlafenen Beinen und „Kann ihr Kind nicht mal eine Minute ruhig sein“-Ermahnungen von älteren Herren im Anzug aus der Reihe vor mir. Ich mochte Theater immer, fand es faszinierend, aber auch schmerzhaft. Ich habe mich nicht gebildet genug gefühlt. Bis zu meinem Studium, als ich gemerkt habe: Ne, manches ist einfach langweilig und schlecht gemacht, das liegt nicht an mir. In „so ein“ Theater geht Rieke Süßkow das erste Mal während ihres Regiestudiums in Hamburg. Und sie dachte sich: Krass, das gibt es noch?

R I E K E S Ü ß KO W

K E I N E S A H N E TO R T E O H N E S A H N E

Während ihres Studiums hat sich Rieke Süßkow dann doch in den Strudel reinziehen lassen. Auf einmal waren da Regeln und Konventionen, die sie aus ihrer bisherigen Theatererfah­ rung nicht kannte. Gegen die sie in freien Projekten und in der Theaterpädagogik selbst gearbeitet hatte. Sie versuchte, Erwartungen zu erfüllen und entfremdete sich in dieser Zeit von sich selbst, verstand ihre eigenen Inszenierungen selbst nicht mehr, war kurz davor, das Studium abzubrechen. Ein Jahr Auszeit. Nochmal hospitieren. Sich inspirieren lassen. Und daraus Kraft schöpfen, weiterzumachen. Rieke Süßkow versucht sich von den Einflüssen der Studierenden und Do­ zierenden zu lösen. Von ihrem intrinsisch gewordenen Druck,

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„Übergewicht, unwichtig: Unform“ von Werner Schwab. Regie Rieke Süßkow am Staatstheater Nürnberg, 2023. Bühne Mirjam Stängl, Kostüm Sabrina Bosshard

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Foto Konrad Fersterer

Immer wieder erlebt sie, dass Intendant:innen größerer Häuser ihre Arbeiten sehen und sich denken: Das will ich auch.

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ihrer Angst. Vertraut auf ihre eigene Intuition, ihre visuellen, klanglichen und inhaltlichen Fantasien. Sie widmet sich einem Roman von Robert Musil: „Die Verwirrungen des Zög­ lings Törleß“. Zerlegt ihn. Bis in der 40-minütigen Inszenie­ rung nur noch fünf Sätze übrigbleiben. Dieser Prozess war ihr innerer Durchbruch. Sie verabschiedet sich vom klassi­ schen Schauspiel. Noch immer ist ins Theater gehen die ­geringste Inspirationsquelle: „Was mich wirklich zum ­Nachund Weiterdenken bringt, sind Hörspiele, Musik, da ent­ stehen für mich Welten im Kopf.“ Das Theater als Erlebnis, als Ereignis für alle Sinne. Und durch diesen gemeinsam erleb­ ten Rauschzustand in eine Gemeinschaft zu kommen. Wie die Straßenfeste, Zirkusnachmittage und Konzerte, die Süß­ kow in ihren frühen Kulturjahren geprägt haben. Kein Wun­ der also, dass Musik und Sound in ihren Arbeiten mehr als nur Atmosphäre sind. Sie sind Akteure, handeln, als gleich­ wertige Partner:innen neben Bühne, Kostüm. Dürfen und sollen ein Eigenleben haben, dass auf die anderen Aspekte ausstrahlt. Das versucht Rieke Süßkow auf allen Ebenen der Arbeit zu etablieren. Sie versucht, geteilte Honorare als „Kollektiv­ honorare“ zu vereinbaren, sodass es keine Hierarchien ­zwischen den Kolleg:innen, die beispielsweise den Sound machen, und ihr als Regie gibt. Für diese Form der subversiven Praxis, die gegen hierar­ chische Modelle, auch auf finanzieller Ebene arbeitet, braucht es aber Kampfesgeist, Beharrlichkeit und „ein Stan­ ding“. Immer wieder erlebt sie, dass Intendant:innen größe­ rer Häuser ihre Arbeiten sehen und sich denken: Das will ich auch. Wenn sie dann erklärt, wie die Produktionen zustande kommen, welche Voraussetzungen es dafür braucht, stößt sie auf Unverständnis. Es gebe keine Ressourcen, keine Zeit, keinen Willen, Produktionsbedingungen umzudenken. „Es fühlt sich dann immer an wie: Ich will, dass du eine Sahne­ torte für mich backst, aber ich gebe dir nur Mehl und Eier“, sagt Rieke Süßkow in einem Gespräch. Spielraum zum ­Laborieren gäbe es da nicht. Gerade diese Probenstruktur zu verändern, flexibler zu gestalten, ist aber Voraussetzung für künstlerische Qualität. Wie so etwas aussehen kann, erprobt Rieke Süßkow aktuell in Frankfurt. In diesem Projekt soll Sprache, sprich Dialoge, in Musik übersetzt werden. „Das kommt einem als Schauspieler und Musiker erstmal total al­ bern vor“, schmunzelt Süßkow. Was passiert, wenn die Tuba

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„Zwiegespräch“ von Peter Handke. Regie Rieke Süßkow am Burgtheater Wien, 2022. Bühne Mirjam Stängl, Kostüm Marlen Duken

auf einmal für den Schauspieler spricht? Ihm oder ihr wie ein Geist folgt? Süßkow arbeitet mit Workshops, die sie vor Pro­ benphasen mit dem künstlerischen Stab und den Schau­ spieler:innen veranstaltet. Trampolin-Trainings, Spielweisen ausprobieren und verwerfen, Rollen noch nicht besetzen, Textlektüre und sich mit historischen Theaterformen be­ schäftigen. Diese Prozesse erfordern Mut, Zeit und vor allem eines: Flexibilität. Nicht nur von Schauspieler:innen, sondern und vor allem von Technik, Kostüm, Maske und allen sonsti­ gen, nicht sichtbaren Gewerken. Warum erarbeiten wir uns im Studium solche Techniken, die in der professionellen Welt dann keine Anwendung finden? Fragen zu stellen – nicht erst mit dem Endprodukt, sondern schon im Prozess: Das ist für sie Aufgabe ihres Jobs als Regisseurin. Die fertige Insze­ nierung ist in diesem Sinne die ästhetische Umsetzung der Fragestellung.

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Und die Ästhetik, mit der Rieke Süßkow aktuell assoziiert wird wie keine andere, ist: Regelhaftigkeit. Im Interview mit Karolin Trachte vom Berliner Ensemble formuliert sie einmal: „Freiheit an sich gibt es nicht. Nur im Verhältnis zu den Gren­ zen, die sie letztlich doch immer hat. Indem wir uns bewusst machen, dass wir in bestimmten Regeln leben, in Abhängig­ keiten, können wir die Freiheit spürbar machen.“ Freiheit an sich kann nicht gezeigt werden. Nur als Gegenteil zum Ge­ fangensein. Regeln funktionieren bei Rieke Süßkow also als Kontrastmittel. Doch eine solide Geschichte zu erzählen, reicht nicht mehr. Es muss knallen. So oder so: „Wenn es einfach um En­ tertainment geht, kann Netflix das besser.“ Das mag böse klingen, kulturpessimistisch, polemisch. Aber es stimmt. Es sei denn, es geht darum, während eines Theaterabends durch Gemeinschaft, durch Atmosphäre, durch unmittelbare körperliche Erfahrungen, eine andere Form von Auseinan­ dersetzung mit einem Thema oder Diskurs zu ermöglichen. Eine andere Form von Leben zu schaffen. Im Mai hatte Rieke Süßkow ihren ersten Lehrauftrag an der Hochschule für Musik und Theater Hamburg inne. An­ gehende Schauspieler:innen und Regisseur:innen unter­ richten. Und dort gegen das arbeiten, was sie in ihrer Aus­ bildung erfahren hat: sich selber aus dem Fokus rücken.

Fotos Susanne Hassler-Smith

Und die Ästhetik, mit der Rieke Süßkow aktuell assoziiert wird wie keine andere, ist: Regelhaftigkeit.


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„Man lernt in der Ausbildung, sich permanent selbst nach vorne zu spielen, alles auszuschütten, was man hat und in einem steckt“. Was aber, wenn es in einer Inszenierung nicht mehr um den Schauspieler geht, nicht mehr um das Genie der Regisseurin? Sondern um die Lampe, die in der Ecke steht, das Musikstück, dass eingespielt wird? Ein Ansatz, der die wohl grundlegendste Frage unserer Zeit ins Zentrum rückt: Sind wir als Menschen das Zentrum des Universums?

Spielzeit 2024/2025 J U N G E S T H E AT E R

Honigherz Gottfridsson | Fröse | Lehmann Die rote Zora Held | Godin Wölfinnen Haenni | Lehmann Shut Up Sobrie & Ruëll | Buri | Junghanns Kirsas Musik Tidrow | Lanzino M U S I K T H E AT E R

Rieke Süßkow, geboren 1990 in Berlin, studierte Theater-, Film- und Medienwissenschaft in Wien und Regie an der Theaterakademie in Ham­ burg. Als Mitbegründerin des Hallimasch-Komplex probiert sie nachhalti­ ge und kollektive Arbeitsstrukturen in der Zusammenarbeit freier Theater­ schaffender zu etablieren. Ihre Inszenierungen wurden auf renommierten deutschen und internationalen Festivals gezeigt, darunter Radikal Jung und der Heidelberger Stückemarkt. Sie erhielt den Preis für „Beste Regie“ beim Festival for International Alternative Theatre FIAT in Montenegro. Ihre Arbeit „Oxytocin, Baby“ von Anna Neata am Schauspielhaus Wien brachte ihr den NESTROY-Preis als „Beste weibliche Nachwuchskraft“ ein. Ihre Inszenierungen von Peter Handkes „Zwiegespräch“ am Burgthea­

Zauberdings Mozart | Showcase Beat Le Mot | Laurer Europeras 3 & 4 Cage | Albers Ich, ich, ich! (Je suis narcissiste) García-Tomás | Schüller | Engelhardt D E

Arabella Strauss | Schüller konzertant Moses in Ägypten Rossini | Yaskorski | Angerer Der Troubadour Verdi | Schüller | Röhr Wintergreen for President! (Of thee I sing) George & Ira Gershwin | George S. Kaufman & Morrie Ryskind | Deutsch von Roman Hinze | Grigorian D E

ter Wien und von Werner Schwabs „Übergewicht, unwichtig: Unform“

TA N Z

führten zu Einladungen zum Berliner Theatertreffen. Sie wurde von der

Am Ende Hochkeppel | Schüller UA Etudes Levy UA (un)leashed KimchiBrot Connection UA ANACONDA Shemesh UA Am Anfang Tänzer*innen des Ensembles UA

Fachzeitschrift Theater heute zur besten Nachwuchsregisseurin des Jahres 2023 gewählt.

SCHAUSPIEL

faulender Mond Clerc | Godin UA Die Orestie Aischylos | Jens | Krupa Meine Zeit, mein Tier Blasco | Muche | Niehaus DE Fabian oder Der Gang vor die Hunde Kästner | Nordalm Generation Arbeit (AT) Eisner STÜC K AUFTRAG | UA

Die Brücke von Mostar Memic | Birke | Sterr Garland Bungarten | Theunert Etwas kommt mir bekannt vor Fassberg | Safaeiyan UA = URAUFFÜHRUN G DE = DE UTS CHE E RSTAUFFÜHRU N G

www.stadttheater-giessen.de


MICHAEL HELBING

Leben mit den Gespenstern Luise Voigt inszeniert mit Forscherdrang und Ideologiebewusstsein

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den. Deren Magischer Realismus verdankte sich nicht selten Übermalungen. Sie öffnen fünf jungen Schauspieler:innen Assoziationsräume in der Zeit. Als sogenannte Generation Y der wie Voigt in den 1980er und 1990er Jahren in einen Zwi­ schenraum Geborenen erproben sie „das Leben mit den Ge­ spenstern, seien sie schon gestorben oder noch nicht ge­ boren.“ Das stammt, inklusive Hamlet-Bezug, aus „Marx’ Gespenster“ von Jaques Derrida, den sie konsequent zu Rate ziehen. Mitten unter ihnen: Thomas Lichtenstein, 65, als Radziwill, ambivalente Figur der (Kunst-)Geschichte, in zwei Weltkriegen an der Front, dazwischen expressionistisch unterwegs, ab 1933 einer jener Nazis, von denen viele Nazis bald nichts mehr wissen wollten, nach 1945 als Mitläufer, dann als unbelastet eingestuft. Mit schrulligen 87 nennt er in einem dem Regie­ team zugespielten Tondokument die Juden „ein unruhiges Volk“, an seiner Verfolgung „nicht ganz unschuldig“. Lippenbe­ wegungen zu O-Tönen als skurrile Verfremdung: So gehen sie hier, mit Derrida, mit den Gespenstern umgangslos um. Dieses Gesamtkunstwerk hätte heißer Kandidat fürs Ber­ liner Theatertreffen werden können, für das eine andere Arbeit Voigts gesichtet wurde: ihre Romanbearbeitung „Der Meister und Margarita“ nach Bulgakow in Weimar, womit sie für den Deutschen Theaterpreis DER FAUST nominiert und zu Radikal jung nach München eingeladen wurde. Seit

„Radziwill oder der Riss durch die Zeit“ von Luise Voigt und Jonas Hennicke. Regie Luise Voigt am Oldenburgischen Staatstheater, 2023. Bühne und Kostüm Maria Strauch

Foto Stephan Walzl

„S

o beginnt unser Stück: mit dem Erscheinen eines Geistes.“ Es ist dann jener von Hamlets Vater, der keine Ruhe findet, und jener des Malers Franz Radziwill (1895–1983), der ihnen keine Ruhe ließ am Olden­ burgischen Staatstheater, seit sie ihn in heimatlichen Gefil­ den heraufbeschworen. Es ist, mit ihm und durch ihn hin­ durch, pars pro toto der verstörte und verstörende Geist all unserer Väter, unserer Mütter aus dem 20. Jahrhundert, der seine Zeit aus den Fugen riss und bis heute wütet. Das Vergangene ist nicht tot, es ist nicht einmal vergan­ gen. William Faulkners Gedanke, den sich später Christa Wolf zu eigen machte, könnte diesen Abend ebenso grun­ diert haben wie das Gesamtwerk der Theater- und Hörspiel­ regisseurin Luise Voigt: eine reine Vermutung gewiss, ange­ sichts von vier sehr verschiedenen Bühnenarbeiten unter insgesamt zwanzig, woraus sich schon deshalb keine klare Handschrift ablesen lässt, weil sie dergleichen strikt verwei­ gert. „Wenn ich mich entscheiden müsste, was mein zentra­ les Thema ist, dann Ideologie“, überlegt sie selbst, als sie zwischen zwei Regiearbeiten erreichbar ist, in die sie sich „wie vom Erdboden verschluckt“ versenkt. Familie und Freunde kennen das schon und können gewiss sein: Luise taucht schon wieder auf. Was genau „Radziwill oder der Riss durch die Zeit“ ge­ worden ist, dafür fand die Regisseurin selbst bis heute „kei­ nen Namen“. Nun, jedenfalls ist’s eine Stückentwicklung für ein in Fiktion und Vision gewendetes Dokumentartheater, das sie mit dem Dramaturgen Jonas Hennicke aus Bildern, Texten und Originaltönen arrangierte, ausgehend von drei­ zehn mit 3D-Effekt auf und in die Bühne projizierten Gemäl­


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Foto Candy Welz

dieser ersten Arbeit in thüringischer und überhaupt ostdeut­ scher Heimat sind die Auftragsbücher auf Jahre hinaus ge­ füllt und eine Frage, die sie lange umtrieb, scheint erledigt: „Wird meine Arbeit jemals wahrgenommen werden?“ Doch ist sie im Nachhinein dankbar dafür, dass sie sich ohne allzu große Aufmerksamkeit ausprobieren konnte, zunächst in Freier Szene, bevor ihr Oldenburg 2015 eine Rampe bot: „Krieg der Welten“ fuhr als Live-Hörspiel gleich zum Heidel­ berger Stückemarkt. Voigt ist ein ostdeutsches Wendekind, geboren 1985 in Nordhausen, wo die Eltern wenige Jahre darauf die Arbeit verloren. „Darüber gab es ziemlich viel Schweigen.“ Das Stadttheater, das ihr zur zweiten Wohnung wurde, rettete sie daraus wie überhaupt aus der Langeweile. „Von den Gesprä­ chen dort habe ich nicht viel verstanden, aber gemerkt: Die setzen sich ins Verhältnis zu dem, was sie umgibt. Das war wie ein Blitzeinschlag!“ Obschon mit zwölf zu jung, schmug­ gelte sie sich mit einer Freundin in den Jugendclub, um sich dort Theaterübungen zu verweigern. Die waren ihr peinlich. Trotzdem wählte man sie für eine Tochter in Ibsens „Nora“ aus, bei Oberspielleiter Armin Petras. Wenn er „klassische Texte auf strukturelle Probleme im Osten ummünzte“, erin­ nert sie sich an dessen Bühnensprache, „haben wir uns darin wiedergefunden“. Nur so aus Spaß probierte sie mit Freun­ den Ulrich Plenzdorfs „Paul und Paula“, woraus in einer „Gue­ rillaaktion“ 2002 Voigts erste Regie im Theater wurde. Der Faust-Stoff folgte: „Gretchenfabrik“. Während ihres Abiturs wurde das Schauspiel 2004 abgewickelt. Voigt ging nach Gießen, zur Angewandten Theaterwissen­ schaft, weil sie für ein Regiestudium, schon wieder, zu jung war. Mit 21, so der der Plan, würde sie sich wegbewerben. Doch sie blieb, „in wahnsinnig spannende Auseinanderset­ zungen“ geraten. Diskurse, die heutzutage das Stadttheater umtreiben, fanden dort schon statt: zu patriarchal durchdrun­ genen Narrativen, feministischer Theorie und dergleichen. Voigts Sensibilität für weibliche Figuren, sagt sie, rühre daher. Im Seminar bei Heiner Goebbels entstand ihr erstes Kurz­ hörspiel, über Nordhausen, was ihr einen ersten größeren Auf­ trag und bis heute ein zweites Standbein bescherte. Die Hör­ spielregie bewahrt sie davor, jeden Theaterauftrag annehmen zu müssen. Der Karriereweg über Regieassistenzen blieb ihr indes verstellt, nachdem sie während des Studiums Mutter wurde. „Ich habe links und rechts Männer an mir vorbeiziehen sehen. Das konnte definitiv nicht an den Inszenierungen liegen.“ Dann die verbale Ohrfeige eines Dramaturgen: Die Gieße­ ner sind brillant in der Konzeption, haben aber kein Hand­ werk. „Das hat mich wahnsinnig getroffen, aber er hatte recht.“ Seitdem arbeitet sie daran, „dass meine Werkzeug­ kiste gut gefüllt ist.“ Mit dieser in Händen verfolgt sie ihren „Forschungsansatz“: neue Dinge ausprobieren. „Wenn ich

„Wenn ich irgendwas noch nie gemacht habe, ist das für mich ein Grund, es sofort zu tun.“ irgendwas noch nie gemacht habe, ist das für mich ein Grund, es sofort zu tun.“ Der Tanz der Finsternis zum Beispiel: Butoh aus Japan, womit sie ein darin kundiger Schauspieler infizierte. „Ich war sofort begeistert von den sehr kreatürlichen und unmittelbar wirkungsvollen Körperwesen, die dabei entstehen.“ Dem „Meister und Margarita“-Ensemble bescherte das ein Trai­ ning mit Minako Seki, was in Voigts Version der faustischen Bulgakow-Groteske aus stalinistischer Terrorherrschaft ein nervöses und, nun ja, gespenstisches Volk im Veitstanz zei­ tigte. Voigt übersetzte Inhalt in Form: jene der fortwähren­ den Ruhelosigkeit und Beunruhigung, wozu ein schmaler Steg, den Natascha von Steigers grandiose Bühne als Spielfläche übrigließ, viel beitrug.

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THEATER IM TELUX WEISSWASSER MIT SHAKESPEARE UND KAFKA WILLIAM SHAKESPEARE: »OTHELLO / DIE FREMDEN« Regie: Marcel Kohler

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FRANZ KAFKA: »EIN BERICHT FÜR EINE AKADEMIE« Regie: Claus Peymann

08. / 10. / 11. / 12. September „Der Meister und Margarita“ von Michail Bulgakow. Regie Luise Voigt am Deutschen Nationaltheater Weimar, 2022. Bühne Natascha von Steiger, Kostüm Maria Strauch

LU I S E VO I GT

L E B E N M I T D E N G E S P E N ST E R N

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Fotos Lex Karelly

„Carmilla. Eine steirische Vampir-Satire“ nach Sheridan Le Fanu. Regie Luise Voigt am Schauspielhaus Graz, 2024. Bühne und Kostüme Maria Strauch


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Noch konsequenter setzen Voigt und Seki in Düsseldorf ­Butoh ein, wo sich der „Woyzeck“ Büchners („einer meiner liebsten Stoffe“) auf einer sich ständig hebenden und senkenden ­Bühne als modernes Sozialdrama ereignet, in dem Gewalt und Gefühlskälte über Generationen hinweg weitergetragen wer­ den. In der Mitte ein Wohnkasten (wieder Natascha von Stei­ ger), aus dem via Video die Sphäre der Frauen übertragen wird: Marie nebst herangewachsener Tochter und Großmut­ ter. Lieferte Voigt in Weimar ihre mit Abstand am wenigsten mit Video arbeitende Inszenierung ab, wurde das Medium in Düsseldorf zentral. So, wie sie mit ihrer Hörspielerfahrung im­ mer Mikroports einsetzt, „damit ich leise Töne mitbenutzen kann“, ermögliche ihr das neben parallelen Erzählungen mehr Intimität etwa durch Nahaufnahmen. Zu viel davon entvölkere die Bühne jedoch so merkwürdig, sagt sie und weiß sich darin mit ihrem langjährigen Videopartner Stefan Bischoff einig. „Die Energie eines Körpers im Raum ist immer stärker.“ Voigt tarierte jede „Woyzeck“-Szene so aus, „dass nie je­ mand an irgendwas Schuld hat.“ Mechanismen und Zufälle setzen vielmehr Dynamiken in Gang, die kein Zurück zulas­ sen. Bis es doch eines gibt: Nach dem Femizid, auf den das hin inszeniert ist, spulen sie zurück, auf ein offenes Ende. Um einen Femizid ging es jüngst auch in Graz: den an Carmilla in Sheridan Le Fanus kruder, in der Steiermark siedelnder

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gleichnamiger Vampir-Novelle (1872). Die spielt mit einer ­homoerotischen Begegnung zweier Frauen auf männliche Leser erregende, zugleich aber dämonisierende Weise. „Das liest sich wie ein schlechter Softporno“, befand die Regisseurin, bevor sie daran ging, einen solchen mit ihren Mitteln der Distanzierung und Dekonstruktion umzusetzen, ohne pornografisch zu werden. „Übersetzungen für Sexsze­ nen sind Teil der Forschungsarbeit. Ich bin also mal wieder in einer Situation, in der ich noch nie war.“ Wochen später be­ ginnt der Abend dann lustvoll und quietschlustig zugleich mit Masturbation: Ein Girlie befingert vor der eigenen Mitte eine halbe Orange, zum inneren Alpenglühen spielt die Blasmusik zünftig auf. Und es endet mit einer Katzendomina, die diese Bühne auspeitscht und damit das Theater insgesamt zur ­geilen devoten Sadomaso-Schnecke macht. Das rahmt eine durchtriebene Satire der schrillen und grellen Art, die aller­ dings noch etwas höher pokern müsste mit einem trieb­ gesteuerten Blatt der Männlichkeit; allzu schnell legt das ­Ensemble in Videostatements die Karten seines aufklärerischdiversen Antriebs offen. Für die Körperarbeit stand Voigt nicht zum ersten Mal Tony de Maeyer zur Seite, Trainer in Bio­ mechanik. Im Vergleich zu Butoh bedeute das eine diametral andere Herangehensweise: nämlich äußeren Gesetzmäßig­ keiten zu folgen, die man allerdings verinnerlichen muss.

Foto Thomas Rabsch

„Woyzeck“ von Georg Büchner. Regie Luise Voigt am Düsseldorfer Schauspielhaus, 2024. Bühne Natascha von Steiger, Kostüm Maria Strauch


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„Der Körper“, sagt Voigt mit Wsewolod Meyerhold, „ist die größte Fläche, die einem Schauspieler zur Verfügung steht.“ Im Bewusstsein, „wie heikel das ist“, bereitet sie für Mai 2025 in Weimar „Wir sind das Volk?!“ vor, einen Abend auf ­Basis von Bürger:inneninterviews, um Gemeinsamkeiten in biografischen Brüchen zu definieren, aus denen sich andere Reaktionen ergeben könnten als Abschottung und Konfron­ tation. Aufgrund ihrer Herkunft schreibt sich die Regisseurin zwar eher Ideologie- als Ostbewusstsein zu. Dennoch hätte sie Bulgakow im Westen anders inszeniert. Als sie das beim Publikumsgespräch in München erwähnte, reagierten gleich zwei Zuschauer „extrem wütend“: wie sie nach drei Jahr­ zehnten noch dieses Fass aufmachen könne. „Ich fand das interessant: dass man dieses Thema endlich hinter sich las­ sen will. Aber wenn wir mit einer solchen Abwehr heran­ gehen, anstatt sich das anzugucken, reden wir nochmal vier­ zig Jahre darüber!“ Und wieder einmal ist ein Gespenst aufgetreten, das sich nicht vertreiben lässt.

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Premiere 2. Oktober 20

Die Legende von Paul und Paula

2. Oktober 2024

von Ulrich Plenzdorf | Schauspiel mit Musik | Der DDR-Filmklassiker von 1973 in einer neuen Bearbeitung für die Bühne! Mit den legendären Ost-Hits live!

Das Geheimnis der Fünf

4. Oktober 2024

von Sandra Zabelt | Kriminalkomödie | Uraufführung

Meine tolle Scheidung

25. Oktober 2024

(My Brilliant Divorce) von Geraldine Aron | Deutsch von Daniel Call | Komödie

Die Quadratur des Greises oder Ein Herd und eine Krone

1. November 2024

Friedrich II. – Der Große! – und der Müller von Sanssouci von Andreas Flügge | Kabarett | Uraufführung

Tischlein deck dich! Stoliczku nakryj się!

20. November 2024

von Jan Kirsten nach den Gebrüdern Grimm Märchen in deutscher und polnischer Sprache | Uraufführung

Bilder deiner großen Liebe

November 2024

von Wolfgang Herrndorf | Bühnenfassung von Benjamin Zock | Klassenzimmerstück

Der erste letzte Tag

6. Dezember 2024

Kein Thriller | von Sebastian Fitzek | Für die Bühne bearbeitet von Lajos Wenzel

Every heart is built around a memory

19. Februar2025

von Markolf Naujoks | Jugendstück

Bis ans Limit Luise Voigt, geboren 1985 in Nordhausen, studierte Angewandte Thea­ terwissenschaft in Gießen. Seit 2011 arbeitet sie als freischaffende Regis­

Februar/März 2025

von Elisabeth Zöllner und Brigitte Kolloch | Für die Bühne bearbeitet von Rainer Hertwig | Klassenzimmerstück

seurin, zunächst in der freien Theater- und Performanceszene, wo ihre

Club Las Piranjas

Arbeiten auf mehreren Festivals im deutschsprachigen Raum zu sehen

nach dem Film von Hape Kerkeling und Doris Heinze | Für die Bühne bearbeitet von William Danne | Musikalische Komödie | Kooperation mit „Die Oderhähne“ Frankfurt (Oder)

waren, unter anderem in der Kaserne Basel, der Sophiensæle in Berlin und auf Kampnagel in Hamburg. Seit 2015 inszeniert Luise Voigt an verschie­ denen deutschen Stadt-und Staatstheatern, wie dem Oldenburgischen Staatstheater, dem Theater Bonn, dem Theater Heidelberg und dem Nationaltheater Weimar. Neben ihrer Regietätigkeit arbeitet Luise Voigt als Autorin, Medienkünstlerin und als Hörspielmacherin. 2009 erhielt

Das NEINhorn

8. März 2025

21. April 2025

von Marc-Uwe Kling | Bühnenfassung von Tom van Hasselt Familieninszenierung

Luise Voigt ein Stipendium der Akademie der Künste Berlin in der Sektion

Reise um die Erde in 80 Tagen

Medienkunst. 2016 wurde sie mit ihrer Stückentwicklung „Krieg der Wel­

von Jules Verne | Schauspiel mit Musik | Uraufführung

7. Juni 2025

ten“ zum Heidelberger Stückemarkt eingeladen. Ihre Romanbearbeitung „Der Meister und Margarita“ am Deutschen Nationaltheater Weimar 2023 wurde zum Radikal jung Festival eingeladen und war für den Theaterpreis DER FAUST nominiert. Sie arbeitete außerdem u. a. am Schauspielhaus Düsseldorf, dem Staatstheater Oldenburg und dem Schauspielhaus Graz.

LU I S E VO I GT

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ELISABETH MAIER

Die gehackte Sprache der Gaming-Generation Wie Wilke Weermann als Autor und Regisseur Isolation und Realitätsverlust auf die Bühne bringt

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­iguren bewegen sich wie Avatare. Aufwändige digitale F Technik oder Computersimulation sucht man bei ihm ver­ gebens. Weermann arbeitet mit klassischen Mitteln. Seine virtuellen Welten werden in den Schreinereien der Theater nachgebaut. Selbst die Wundermaschine „Dave“ ist in der Box des Deutschen Theaters ein schwarzer Retro-Kasten. Mit solchen Brüchen spielt Weermann, der künstlerisch in der digitalen Welt zuhause ist. Dass er diese Entwicklung jedoch kritisch betrachtet, macht seine Arbeiten so ­ überzeugend. Den Schauspieler:innen fordert der Regisseur „eine extreme Virtuo­sität“ ab, wie er sagt. Timing und stren­ ges, kontrolliertes Körpertheater sind ihm wichtig, „weil alles extrem durch­getaktet ist“. Dieses stark stilisierte Spiel ver­ blüfft. Die Sprache klingt manchmal wie gehackt, hallt so schrill nach wie aus der Konserve. Wie sich die virtuelle Welt im Theater repräsentieren lässt, das erforscht der Autor und Regisseur auf vielen Ebenen. Als einer der Schauspieler in „Dave“ wegen Krankheit ausfiel, übernahm er in der Box des Deutschen Theaters an zwei Abenden selbst mit. Souverän und ohne Textbuch bewegt sich der Regisseur da auf der Bühne. Er habe so viel mit der Textfassung gearbeitet, „dass ich die leicht lernen kann“. Bei starkem schwarzem Kaffee hat er Textzeilen gepaukt. Dafür hat er seine Proben am Theater Münster zu Sibylle Bergs „RCE – #Remote Code Execution“ unterbrochen, reiste für

„Dave“ nach dem Roman von Raphaela Edelbauer. Regie Wilke Weermann am Deutschen Theater Berlin, 2024. Bühne und Kostüm Alexander Naumann

Foto Thomas Aurin

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er Supercomputer „Dave“ bringt die Welt des Pro­ grammierers Syz ins Wanken. Lässt sich Künstliche Intelligenz mit menschlichem Bewusstsein füttern? Die Frage reizt den Berliner Regisseur Wilke Weermann. In der Box des Deutschen Theaters Berlin hat er im­ Februar 2024 den Roman der österreichischen Erfolgs­ autorin Raphaela Edelbauer auf die Bühne gebracht. Der 32-jährige Regisseur und Autor versetzt das Publikum in ein Setting, das einer Schaltzentrale gleicht. In dieser digitalen Welt essen und schlafen die Menschen nur, um möglichst schnell wieder in die virtuelle Welt fliehen zu dürfen. Einge­ sperrt in einen klaustrophobischen Raum, den Alexander Naumann geschaffen hat, versinken die Akteur:innen im ­Nebel. Sie sollen die Zukunft neu denken. Doch in ihren grauen Uniformen wirken sie wie Relikte aus einer vergangenen Zeit. Als sie merken, dass sich für die KI keine eigene Persönlichkeit generieren lässt, wird Syz als menschliches Modell auserkoren. Nach seinem Abbild soll „Dave“ zur Menschen-Kopie werden. Aber lässt sich die ­Maschine eine Persönlichkeit aufzwingen? Im Spannungs­ feld zwischen Mensch und Maschine bewegt sich die ­Romanadaption des Regisseurs. Die Stücke, die er selbst schreibt, bewegen sich in der ­Lebenswirklichkeit der Gamer. Beim Zocken entspannt sich der reflektierte Künstler, daraus macht er keinen Hehl. „Mich ­haben Horror- und SciFi-Literatur geprägt, Weird Fiction, Mangas und Videospiele“, sagt der 32-Jährige. „Meine Thea­ terarbeit kreist um Themen von Isolation, Vereinsamung und Realitätsverlust in einer Welt, die von Digitalität bestimmt wird.“ Dafür findet er neue Formen auf der Bühne. Seine



Konsequent formt Weermann seinen Regiestil, der ihn vom Mainstream abhebt.

ein Wochenende zurück in seine Wahlheimat Berlin. Da lebt er mit seinem Partner, dem Regisseur Ersan Mondtag, in einem ruhigen Viertel nahe dem Treptower Park. Bei Spazier­ gängen an der Spree bekommt er den Kopf frei. Dass sich immer mehr Bühnen für seine zukunftsweisenden Arbeiten begeistern, freut den jungen Regisseur und Autor. Zupackend war der Absolvent der Akademie für Darstel­ lende Kunst Baden-Württemberg in Ludwigsburg schon im Studium. Als er auf dem Campus in der schwäbischen Klein­ stadt Regie studierte, richtete er mit anderen Studierenden das Furore-Festival aus. Da trafen sich internationale Gäste von Schauspielschulen und Theaterakademien aus Europa, tauschten sich über ihre Arbeiten aus. Da war der dynami­ sche Künstler einer der Köpfe des Organisationsteams. Mit seiner pragmatischen Art hat er da jede logistische Heraus­ forderung gemeistert. Doch die Stärke des besonnenen Norddeutschen ist die Kommunikation. Auf der Wiese des Campus saß er mit den Studierenden aus ganz Europa, tauschte sich über Perspektiven eines zeitgemäßen Thea­ ters aus. An der Theaterakademie begann Wilke Weermann, der 1992 in Emden geboren wurde, mit dem Schreiben. Seine eigenen Texte auf die Bühne zu bringen, die in digitaler Kälte erfrierende Sprache in Theaterbilder der Millennials zu über­ setzen, das ist seine Stärke. 2014, als er sein Studium in Lud­ wigsburg begann, wurde sein erstes Drama „Abraum“ für den Retzhofer Dramapreis 2015 nominiert – in der düsteren Zukunftsvision zeigt er Menschen, die am Rand der Gesell­ schaft leben. In einem Steinbruch verstricken sie sich in ein Geflecht von Einsamkeit und Gewalt. 2016 gewann Weer­ mann mit dem Text den Hauptpreis des Münchner Förder­ preises für deutschsprachige Dramatik. Die Uraufführung an den Kammerspielen der bayerischen Hauptstadt wurde zum Körber Studio Junge Regie nach Hamburg eingeladen. Im Rahmen dieses wichtigen Wettbewerbs für den Regie-

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Fotos links Thomas Aurin, rechts Felix Grünschloß

„Dave“ nach dem Roman von Raphaela Edelbauer

Nachwuchs war auch Weermanns frische, politisch durch­ dachte Lesart von Ernst Tollers „Der entfesselte Wotan“ (1923) zu sehen. „Kehren Sie Europa den vernarbten Rü­ cken!“ Dieser Satz steht leitmotivisch für die Regiearbeit, in der Weermann Brücken zu seiner eigenen Gegenwart schlägt. In Tollers zeitkritischem Porträt eines bankrotten Fri­ seurs spürte er Parallelen zu den zerfallenden Gesellschaf­ ten des Kontinents auf, wie er es heute erlebt. Da bleibt der gebeutelten „Letzten Generation“ oft nur die Weltflucht, auch ins Digitale. Diese Gefahr, in die gerade westliche Staa­ ten driften, legt der Regisseur in seinen Arbeiten offen. Konsequent formt Weermann seinen Regiestil, der ihn vom Mainstream abhebt. Als er 2018 am Schauspiel des Staats­ theaters Stuttgart Ray Brandburys „Fahrenheit 451“ als Ba­ chelorinszenierung realisierte, verortete er den Stoff aus den 1950er Jahren in einem zeitlosen Raum. Da wird die Feuerwehr nicht mehr zum Löschen von Bränden einge­ setzt, sondern zum Verbrennen von Büchern. Bei der düs­ teren Dystopie arbeitete er mit der jungen Bühnenbildne­ rin Johanna Stenzel zusammen, die an der Akademie der


Bildenden Künste in Stuttgart studierte. Barock ausstaf­ fierte Bühnenfiguren verleihen dem Theaterabend etwas von einem nostalgischen Horrorfilm. Mit dieser Bilderspra­ che, die Sehgewohnheiten der Comic-Leser:innen be­ dient, rocken Weermann und Stenzel die Bühne. Neu und originell ist ihr Ansatz, sich der Bildersprache dieser popu­ lären Medien zu bedienen. Damit erreichen die zwei auch eine Generation, die Halt in Gaming und in digitalen Wel­ ten sucht. Einen kongenialen Spielraum hat Stenzel für das Auf­ tragswerk „Unheim“ geschaffen, das Weermann 2022 am Schauspiel Frankfurt produzierte. Mit opulent überzogener Pixel-Art reißt die visuelle Künstlerin das Publikum in einen Strudel der Schwarzen Romantik. Neonstreifen flimmern über Münder und Augenbrauen. Fremd und faszinierend wirkt die barocke Kulissenbühne. Bilder und Sprache ergän­ zen sich da wunderbar. Wie sehr Weermann die Doppelrolle als Regisseur und Autor liegt, zeigt diese Produktion. „Ich behandle digitale Inhalte mit analogen Mitteln, um sie sicht­ bar zu machen“, beschreibt der Regisseur sein Verfahren. In „Unheim“ von Wilke Weermann in eigener Regie am Schauspiel Frankfurt, 2022 (UA). Bühne und Kostüm Johanna Stenzel

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einer Gated Community suchen Untote ihr Heil, indem sie sich Implantate einpflanzen lassen, die ihre Wirklichkeit mit virtuell erzeugten Wahrnehmungen überspielt. In dieser Welt bewegt sich Ira, die als Ermittlerin für anormale Phänomene tätig ist. In dem dystopischen Universum offenbart der 32-Jährige seine politische Tiefenschärfe: „Was die Men­ schen am meisten bedroht, sind die anderen Menschen. Und nicht mit ihren radikalen Überzeugungen oder mit Atomwaf­ fen, sondern mit ihrer schieren Anwesenheit.“ Für diese Pro­

Das digitale Theater weiterzudenken, fordert den innovativen Regisseur heraus. 116

duktion wurde Weermann 2023 mit dem Kurt-Hübner-Re­ giepreis ausgezeichnet, den die Deutsche Akademie der Darstellenden Künste verleiht. Für den Literaturpreis Text und Sprache 2024, der vom Kulturkreis der deutschen Wirt­ schaft vergeben wird, ist er ebenfalls nominiert. Das digitale Theater weiterzudenken, fordert den innova­ tiven Regisseur heraus. Aber da seien den Künstler:innen enge Grenzen gesetzt. Denn nicht alle Theater hätten die Möglichkeit, digitale Projekte zu realisieren. Oft fehlen da die finanziellen Mittel ebenso wie Expert:innen, die mit der neu­ en Technologie adäquate Formate auf der Bühne schaffen. Über diese strukturellen Probleme setzt sich Weermann hin­ weg. In seiner Zeit am Mannheimer Institut für Digitaldrama­ tik, das es inzwischen nicht mehr gibt, habe er gelernt, „wie schwierig es ist, dafür zu sorgen, dass alle Beteiligten die­ selbe Vorstellung haben, was ein Format ‚digital‘ macht.“ Für die einen beginnt das schon damit, dass eine Vorstellung aufgezeichnet und dann im Internet gestreamt wird. Die an­ deren setzen Virtual-Reality-Brillen ein. Auch dass Shakes­

Foto Felix Grünschloß

„Unheim“ von Wilke Weermann in eigener Regie am Schauspiel Frankfurt, 2022 (UA). Bühne und Kostüm Johanna Stenzel


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peares klassisches Liebespaar „Romeo und Julia“ eines Ta­ ges von Robotern gespielt wird, wäre für den 32-Jährigen denkbar. Fest steht für ihn, dass bei aller Offenheit und Lei­ denschaft für die digitalen Möglichkeiten Künstliche Intelli­ genz niemals die Schauspielkunst ersetzen kann. Dass die Grenzen der neuen Technologie eng sind, ist für ihn klar. Denn die KI könne zwar künstlerische Formate imitieren, zu erzählen habe sie nichts. Seine eigenen Stücke auf die Bühne zu bringen, das ge­ fällt Wilke Weermann. Ebenso liebt er es, neue Autor:innen für das Theater zu entdecken. Am E.T.A Hoffmann-Theater in Bamberg hat er die deutsche Erstaufführung von Kim de L’Horizons Stück „Hänsel und Greta & The Big Bad Witch“ inszeniert. Im Fokus auf der Gegenwart will Weermann aber nicht stecken bleiben. Da erweitert er seinen eigenen ästhe­ tischen Horizont. „Die klassischen Stoffe in unsere Zeit zu übertragen, finde ich herausfordernd.“ Im Mai 2025 bringt er Heinrich von Kleists „Der zerbroch’ne Krug“ aus dem 19. Jahrhundert auf die Bühne. Dass dieses Stück von so vielen Regisseur:innen in die Komödienschublade verfrachtet wird, versteht er nicht. Mit seiner Neugier auf innovative Formate will er da einen anderen Ansatz finden.

Der große Gatsby

Schauspiel nach F. Scott Fitzgerald Premiere 24.08.2024

Die Blechtrommel

Schauspiel nach Günter Grass Premiere 12.10.2024

Kohlhaas (Glück der Erde, Rücken der Pferde) UA

Schauspiel nach Nolting / Boiten nach Kleist Premiere 19.10.2024

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Schauspiel von Enis Maci Premiere 01.02.2025

Sonne / Luft / Asche

Schauspiel von Elfriede Jelinek Premiere 08.02.2025

Drei Winter

Schauspiel von Tena Štivičić Premiere 05.04.2025

Prima Facie Wilke Weermann, geboren 1992 in Emden, studierte nach einem Studium der Komparatistik und Philosophie an der Freien Universität Berlin ab

Schauspiel von Suzie Miller Premiere 12.04.2025

2014 Regie an der Akademie für Darstellende Kunst Baden-Württemberg in Ludwigsburg. Sein Drama „Abraum“ wurde 2015 für den Retzhofer Dramapreis nominiert und gewann den Münchner Förderpreis für deutschsprachige Dramatik 2016. Sein Theaterstück „Angstbeißer“ wurde 2019 mit dem Hans-Gratzer-Stipendium ausgezeichnet. Seine Bearbei­ tung und Inszenierung von „Fahrenheit 451“ wurde 2018 zum Festival Radikal jung am Münchner Volkstheater eingeladen. Beim Heidelberger Stückemarkt 2021 wurde er im Autor:innen-Wettbewerb mit seinem Stück „Hypnos“ nominiert. 2022 war er Stipendiat am Institut für Digitaldrama­ tik am Nationaltheater Mannheim. Er inszeniert u. a. am Schauspiel Frank­

SPIEL TRIEBE Festival 30.05. + 31.05.2025 & 07.06. + 08.06.2025

furt, am Staatstheater Kassel, am E.T.A. Hoffmann Theater Bamberg und am Deutschen Theater Berlin.

Alle Premieren unter:

theater-osnabrueck.de WILKE WEERMANN

DIE GEHACKTE SPRACHE DER GAMING-GENERATION


YAËL KOUTOUAN

Den Zerfall gestalten

Fotos Birgit Hupfeld

Julia Wissert über Peinlichkeitstoleranz, reality hacking und die Poetik des Untergangs

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„Der Ring des Nibelungen. Die Afterhour der Geschichte“ von Necati Öziri. Regie Julia Wissert am Theater Dortmund, 2024. Bühne Jana Wassong, Kostüm Nicola Gördes

Yaël Koutouan: Woran denkst du? Julia Wissert: Den Untergang der Menschheit. Lachen Yaël Koutouan: Gut, lassen wir das mal so stehen.

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ch erinnere mich noch gut an den Moment, als ich von ­Julia Wisserts Ernennung zur Intendantin des Dortmunder Schauspiels gehört habe. Ich dachte: Das bedeutet etwas. Zwar war ich mir nicht sicher, was es bedeuten könnte, aber ich hatte so ein diffuses Gefühl, dass jetzt irgendwie mehr Platz ist. Als ich Julia Wissert für ein Gespräch über ihre Arbeit als Intendantin, ihre künstlerischen, persönlichen und politischen Visionen für das Schauspiel treffe, ist sie bereits in ihrem vierten Jahr auf dieser Position. Seitdem ist viel passiert: Eine Pandemie gleich zu Beginn ihrer Amtszeit, in der das Haus für zwei Spielzeiten geschlossen bleiben musste, die Black Lives Matter-Proteste, der Angriffskrieg Russlands auf die Ukraine, der Krieg in Gaza, die Zunahme rechter Stimmen in Europa …

JULIA WISSERT

D E N Z E R FA L L G E STA LT E N

Ich finde es extrem schwer, morgens aufzustehen und zu sagen: Komm, wir ziehen uns Kostüme an und spielen gemeinsam Prinzessin Verständlich finde ich: 2024 ist kein einfaches Jahr, um Schauspiel zu machen, und vielleicht ist es gerade deshalb so wichtig. Kürzlich hat der Dortmunder Stadtrat einer Ver­ längerung Wisserts Vertrag bis 2030 zugestimmt. Julia Wissert, die die Intendanz von Kay Voges übernahm, habe es geschafft, das Publikum nach der pandemiebedingten Schließung zurückzugewinnen und setze wichtige Impulse für die (Stadt-)gesellschaft, heißt es in der Pressemitteilung. Mit Julia Wissert als Intendantin geht es um das Gestalten eines Stadttheaters, das für die heterogene Dortmunder Stadtgesellschaft zu einem Ort werden kann, an dem Men­ schen unabhängig von Vorerfahrungen Lust haben, demo­ kratische Prozesse mitzugestalten und gemeinsam Kunst zu machen. So arbeiten und wirken im Schauspiel Dortmund beispielsweise auch Jugendgruppen, Spielclubs und Selbst­ organisationen an ihren Projekten. In der vergangenen Spiel­ zeit jedoch hagelte es noch Kritik der Lokalpresse: Wissert besetze nur gesellschaftliche Nischen, sie mache Theater für Minderheiten und scheitere an den Auslastungszahlen. Als jüngste und erste Schwarze Intendantin an einem deutschen

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„Peinlichkeitstoleranz“: aushalten, auch mal etwas nicht lesen zu können, nicht mitlachen zu können. Theaterhaus war die Kritik oft eine Aushandlung kulturpoliti­ scher Kämpfe an ihrem Körper. Es sei wie „eine Welle un­ erfüllbarer Erwartungen“ gewesen, die auf sie zugerollt sei. Überdimensionierte Projektionen, die Wissert in ihrer Posi­ tion als Schwarze weibliche Intendantin einen „fast messia­ nischen Status“ zugesprochen haben – „für eine künstleri­ sche Verwaltungsstelle“, wie sie lachend hinzufügt. Ihre Arbeit sei durch eine Lupe betrachtet worden, als müsse sie beweisen, dass die 500 Jahre Theatergeschichte in zwei Jahren aufgelöst werden können. Dabei habe sie Verständ­ nis für die Kritik an ihrem Vorhaben der Transformation etab­ lierter Strukturen. Mit der Pandemie wurden Wisserts Vor­ haben, das Schauspiel mit seinen Räumen zu öffnen und das Haus mehr mit der Stadt zu verbinden, erschwert und die vorgesehenen Arbeitsprozesse massiv verzögert. Auch Wisserts Begegnung mit dem Haus und seinen Mitarbeiten­ den sei aufgrund der Pandemie herausfordernd gewesen, unmittelbar ging es um Neuerarbeitungen und Umplanun­ gen, zum Kennenlernen blieb keine Zeit: Alles, was gedacht war, musste anders werden. Dennoch suchten Wissert und ihr Team bewusst Lücken und Zwischenräume, in denen kur­ ze Begegnungen möglich wurden. Neben Fragen der Digitalisierung, die bereits Wisserts Vorgänger Voges vorangetrieben hat, sehen sich (Stadt) theater mit teils ambivalenten Erwartungen konfrontiert: Sie sind Repräsentationsstätten, sollen eine diverse Gesell­ schaft sowohl auf als auch hinter der Bühne abbilden, auf den demografischen Wandel reagieren und auch junge Menschen ansprechen, aber das Abo-Publikum nicht durch inhaltliche oder ästhetische Setzungen vergraulen. Theater sollen neue Formate und partizipative Projekte entwickeln, Zugänge schaffen, aber am Ende müssen die Zahlen stim­ men. Für Julia Wissert bedeutet ein Entwerfen zukunftssi­ chernder Strategien für das Schauspiel Dortmund eine Aus­ einandersetzung mit seinen potenziellen Publika.

Sich für eine Intendanz zu entscheiden, bedeutet, sich für eine Stadt zu entscheiden Mit Wisserts Ernennung zur Intendantin wurde deshalb die Stelle der Stadtdramaturgie am Schauspiel Dortmund ge­ schaffen. Aktuell ist es Negar Foroughanfar, die sich mit den unterschiedlichen Communitys, den Menschen der Stadt Dortmund und ihren Perspektiven auf eine sich verändernde Stadt auseinandersetzt, ihnen zuhört und versucht, ungehör­

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te Stimmen auch im Programm hörbar zu machen. Diese Perspektiven sind vielfältig und oft stehen sie sich diametral gegenüber. In einer Zeit, in der Menschen eigentlich nicht mehr miteinander sprechen wollen, möchte Wissert es er­ möglichen, sich gegenseitig ausschließende Perspektiven im selben Raum stattfinden zu lassen. Für sie bedeutet die Veränderung etablierter Strukturen auf inhaltlicher Ebene nicht unbedingt eine Abkehr von Kanon und Repertoire, son­ dern vielmehr ein Zusammenführen von dem, was schon längst zusammengehört. Ihre Inszenierung von Necati Öziris „Der Ring des Nibelungen. Die Afterhour der Geschich­ te“ beispielsweise thematisiert den Widerstand der Nach­ kommen der Götter Walhallas gegen den Mythos, der ihnen erzählt wird. Diese Zusammenführung setze allerdings auch etwas voraus, das Wissert mit Verweis auf Prof. Dr. Carmen Mörsch „Peinlichkeitstoleranz“ nennt: Auszuhalten, auch mal etwas nicht lesen zu können, nicht mitlachen zu können. Als Beispiel führt sie die Produktion „The Return of Karl May“ von Qendra Multimedia an, die in der Spielzeit 2021/22 am Schauspiel Dortmund gastierte. In der Inszenierung wurde aus einer kosovarisch-muslimischen Perspektive satirisch über Deutschland gesprochen, was bei einigen Menschen zu Unmut führte, da sie dies als Kritik an Deutschen empfun­ den haben. Diese Begegnung war allerdings der Anfang eines internen Gesprächs darüber, was es eigentlich bedeu­ te, wenn aus einer anderen, ästhetischen Perspektive Kunst über die eigene Gesellschaft geschaffen werde und wie schnell implizite Vorurteile als objektive Kritik legitimiert würden. „Am Schauspiel Dortmund arbeiten in einer Spielzeit fünf Schwarze Regisseur:innen“, sagt Julia Wissert und er­ klärt, dass mit fünf Schwarzen Regisseur:innen an einem Haus diese zu individuellen Regisseur:innen würden und nicht ausschließlich zu Repräsentant:innen ihrer vermeintli­ chen Gruppe. Sie wisse natürlich, dass das Ensemble sehr jung sei, dass am Schauspiel Dortmund viele Personen of Colour arbeiten würden und ja, sie achte auch darauf, wie viele weiblich gelesene Personen im Haus angestellt seien, ob sie auf der großen Bühne stünden und ob die Rollen fair verteilt würden. Sie bespreche, welche Texte und Themen ausgewählt würden und wie sie möglichst allen sechshun­ dertzweitausend Menschen in Dortmund ein Angebot bie­ ten könne. Diese zusätzlichen Reflexionsschlaufen bedeuten auch einen gemeinsamen Lernprozess innerhalb des Teams. Manche Entscheidungen kommuniziert Julia Wissert aller­ dings nicht, sondern lässt sie als eine Art unsichtbares Pro­ gramm mitlaufen. So schaffe sie in den künstlerischen Arbei­ ten neue Normalitäten. Julia Wissert nennt das reality hacking, das in seiner Konsequenz ein Irritieren von Sehge­ wohnheiten meint: „Vielleicht ist es dann einfach nur, dass man rausgeht und sich denkt, wow, so habe ich nie auf Wag­

„Der Ring des Nibelungen. Die Afterhour der Geschichte“ von Necati Öziri. Regie Julia Wissert. Bühne Jana Wassong, Kostüm Nicola Gördes


Foto Birgit Hupfeld


Fotos Adriano Vannini

„Maladaptive Daydreaming“, Performance von Akasha Daley mit Belendjwa Peter, Marouf Alhassan und Thor Galileo-Axè im Rahmen vom Dortmund Goes Black Festival am Theater Dortmund, 2023. Kuratiert von Julia Wissert

ner geguckt oder so habe ich noch nie über den ‚Sturm‘ von Shakespeare nachgedacht.“

Das Theater steht nie außerhalb einer Gesellschaft Julia Wisserts Vision für das Schauspiel Dortmund ist so simpel wie voraussetzungsreich: Ein Theater, in das sie ihre Kolleg:innen und Freund:innen einladen kann, ohne Sorge zu haben, dass sie allein an ihren Platz kommen. Was zunächst einfach erscheint, ist in der Tat eine anspruchsvolle Aufgabe, die nicht selten zu strukturellen Grenzerfahrungen führt. Das Team am Schauspiel Dortmund erarbeitete beispielsweise

ein Konzept für Barrierearmut, das unter anderem Tastein­ führungen, Audiodeskriptionen und das Übersetzen von Tex­ ten in Leichte Sprache beinhaltet. Es sei immer wieder ein In-Kontakt-treten miteinander, ein Fragen nach den Bedürf­ nissen der Personen, die an das Schauspiel Dortmund kom­ men. Das bedeute 798 Prozent mehr Arbeit für alle und 3699 Prozent mehr Kommunikation. Im Gespräch wird deutlich, wie wichtig die Begegnungen mit verschiedenen Orten und Menschen für Wisserts Arbeit als Intendantin sind. Da ist ein Verständnis für unterschiedliche Körpererfahrungen und eine Akzeptanz dafür, dass auch der Theaterraum durch die­ se strukturiert wird.

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FORUM Text

Das DRAMA FORUM von uniT in Graz startet erneut den viersemestrigen Lehrgang für szenisches Schreiben.

23. SEPT

DR FO A M RU A M

2024

EndE dER bEwERbUngsFRisT

www.dramaforum.at/forum-text


Hier ist es total wichtig, irgendwie Verbindungen zu haben und dass du einander siehst, auch an der Kasse Auf meine Frage nach partizipativen Formaten und Möglich­ keiten der Beteiligung der Dortmunder Stadtgesellschaft er­ widert sie lachend: „Also ich habe das Gefühl, hier hat nie­ mand ein Problem damit, der Intendantin am Samstag bei REWE zu sagen, wie sie das Programm der Woche fan­ den.“ Während ihres Regiestudiums am Mozarteum in Salz­ burg habe sie den Situationismus kennengelernt und da­ durch habe sich ihr Raumverständnis erweitert. Wenn es jetzt um Beteiligung gehe, denke sie den Raum als Akteurin mit und frage auch nach den Bedingungen der Teilhabe: „Wie können wir gemeinsam den Raum gestalten, den wir betreten, und ist das in einer Institution überhaupt möglich, mit der Hierarchie, die es gibt, und dem Wissensvorsprung, den Kolleg:innen haben?“ Chinua Achebes Romantitel „Alles zerfällt“ meint das, was die Igbo (Nigeria) zusammenhielt, bevor europäische Kolo­ nialmächte und mit ihnen das Christentum den Zerfall von Werten, Normen und kulturellen Praktiken zu ihrer politi­ schen Agenda machten. Julia Wissert sagt mit Bezug auf Achebes Roman: Sie habe das Gefühl, dass alles zerfalle und sie würde gerne den Zerfall gestalten und schauen, was das Theater am Ende sei und was es dann bedeute. Das bedeu­ tet in Bezug auf deutsche Kunst- und Kulturinstitutionen ver­ mutlich auch den Zerfall einer Gewissheit, das Bröckeln einer Deutungshoheit. Wenn Geld keine Rolle spielen würde, wäre das Theater für Wissert eine Institution, die wirklich im Sinne des Spielens mit einer Stadt agieren könnte: ein gemeinsa­ mes Dekonstruieren und Neugestalten von dem, was als Wirklichkeit angenommen wird.

Mitkurator des Festivals Moh Kanim habe einmal gesagt, Dortmund Goes Black sei für ihn wie Nachhausekommen. Eine Aussage, die Wissert als Kompliment für das gesamte Team versteht und als eines der „Highlights der Spielzeit“ benennt. Einen kleinen Ausblick gibt Julia Wissert am Ende des Gesprächs: Im nächsten Jahr werde sich das Schauspiel Dortmund thematisch mit der Aufklärung und der Afrikakon­ ferenz beschäftigen. Womit sonst?

Julia Wissert, geboren 1984 in Freiburg am Breisgau, studierte zunächst Media Arts and Drama an der University of Surrey in London. Nach Assis­

Mit Sicherheit brauchen wir Poesie, um uns unserer Menschlichkeit gegenwärtig zu bleiben

tenzen am Theater Freiburg, Theater Oldenburg und Theater Basel stu­

Eine „Protopie“ ist für Julia Wissert dahingehend das Dort­ mund Goes Black Festival, das 2024 zum dritten Mal statt­ findet und Theater, Performances, Filme und Musik aus Schwarzer, afrikanischer und afrodiasporischer Perspektive versammelt. Im Zentrum steht in diesem Jahr die Frage der komplexen Sichtbarkeit Schwarzer Körper. Ein Künstler und

Körber Studio Junge Regie. 2014 wurde sie mit dem Kurt-Hübner-Regie­

dierte sie ab 2011 Regie am Mozarteum Salzburg; sie inszenierte in dieser Zeit „Nora“ von Henrik Ibsen und gewann dafür den Publikums Preis des preis für „Der Junge vor der Tür“ (Hessisches Staatstheater Wiesbaden) ausgezeichnet. Als freie Regisseurin arbeitete Wissert u. a. am Maxim Gorki Theater, am Nationaltheater Brno, am Staatstheater Oldenburg und am Schauspielhaus Bochum. Julia Wissert arbeitet mit einem machtkriti­ schen, intersektionalen Ansatz. Seit der Spielzeit 2021/22 ist Julia Wissert Intendantin des Schauspiel Dortmund.

Christos Papadopoulos & Ballet de l’Opéra de Lyon Mycelium 23. & 24.08.2024

HELLER Sommer

Cloud Gate Dance Theater Sounding Light 30. & 31.08.2024

Amala Dianor DUB 06. & 07.09.2024


THOMAS IRMER

Kriegstraumatisches Theater Stas Zhyrkov ist der bekannteste ukrainische Regisseur im deutschsprachigen Theater

E

in Mütterchen, das in der strahlenverseuchten Zone von Tschernobyl einen Kräuterjoint raucht – allein in Motiv und Setting seiner ersten Inszenierung in Deutschland, 2016 in Magdeburg, steckt schon viel, was den Regisseur Stas Zhyrkov in der Bearbeitung ukrainischer Traumata ausmacht: der Holodomor der 1930er Jahre, die deutsche Besatzung, die Nuklearkatastrophe und das Chaos der jüngeren Vergangenheit – mit klaglosen Worten von der Großmutter in Erinnerung gebracht, die beinahe allegorisch zu einer Art „Mutter Ukraine“ aufleuchtet. Mit dem Angriffs­ krieg Russlands kam ein neues Trauma dazu. Der 1986 im baschkirischen Ufa (UdSSR) geborene und im ukrainischen Odessa aufgewachsene Stas Zhyrkov hat an der Schaubühne Berlin, am Schauspielhaus Zürich, am Na­ tionaltheater Mannheim und am Düsseldorfer Schauspiel­ haus inszeniert. Zhyrkov ist mit diesen Arbeiten der derzeit bekannteste ukrainische Regisseur im deutschsprachigen Theater. Zhyrkov studierte von 2003 bis 2008 Schauspiel und Re­ gie an der Staatlichen Universität für Kultur und Kunst in Kyjiw. Die Ausbildung erfolgte an klassischem Repertoire, einen Kontakt zur Gegenwartsdramatik und neuen Theater­ formen gab es praktisch nicht, aber seine Lehrer Petro Il­ chenko und Katerina Pivovarov gewährten viel Freiheit. Zhyr­ kov beschloss nach Abschluss des Studiums, statt an eines der vielen staatlichen Theater zu gehen, zusammen mit sei­ ner Frau Ksenia Romashenko ein freies Theater namens Open View Theatre in Kyjiw zu gründen, die sich vor allem mit neuer Dramatik beschäftigte. Die im Format kleinen Pro­

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duktionen wurden vor allem in der aufblühenden ukraini­ schen Festivalszene jener Jahre gezeigt, und die riskante Existenz einer freien Gruppe mit kaum öffentlicher Förde­ rung brachte Zhyrkov zu dem Entschluss, 2014 als Künstleri­ scher Leiter an das Golden Gate Theatre zu gehen, einem Kammertheater, das damals vor allem jungen Regisseur:in­ nen eine Chance bot und bis heute den Slogan „Theater, und kein Museum“ in seinem Logo zeigt. Zur gleichen Zeit be­ gann Zhyrkov, an der Universität für Kultur und Kunst als Do­ zent zu unterrichten. 2019 wurde er Intendant des Left Bank Theatre, einem mittelgroßen Theater, das Ende der 1970er gegründet, in einem zuvor als Kino genutzten Gebäude untergebracht ist und mit festem Ensemble ein breites Re­ pertoire bot. Zhyrkov war damit der jüngste Intendant der Ukraine. Als Regisseur hat er alle seine dortigen Arbeiten in ukrainischer Sprache inszeniert und vertritt zu dem Interesse an einer Erneuerung der Dramatik wie andere Künstler:innen seiner Generation die Auffassung, dass an Traditionen einer eigenständigen ukrainischen Moderne, die bereits in der frü­ hen Sowjetunion unterdrückt und zerstört wurde, wieder an­ geknüpft werden sollte. Im Theater ist dafür als zentrale Figur der 1937 im Großen Terror hingerichtete Avantgardist Les Kurbas auch für Stas Zhyrkov von großer Bedeutung. Die Lehrer seiner Lehrer an der Universität waren noch direkt von Kurbas beeinflusst, so dass sich diese für das ukrainische Theater so wichtige Linie aus der Moderne ungeachtet der jahrzehntelangen Unterdrückung fortsetzen kann. 2016 veranstaltete das Theater Magdeburg auf Initiative seiner Schauspieldirektorin Cornelia Crombholz das Mini-


Fotos Sandra Then

„Die Orestie. Nach dem Krieg“ frei nach Aischylos, in einer Bearbeitung von Tamara Trunova und Stas Zhyrkov. Regie Stas Zhyrkov am Düsseldorfer Schauspielhaus, 2024. Bühne Paulina Barreiro, Kostüm Justine Loddenkemper

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Fotos links Orpheas Emirzas

„Antigone in Butscha“ von Pavlo Arie. Regie Stas Zhyrkov am Schauspielhaus Zürich, 2023. Bühne Lisa Chiara Kohler, Kostüm Paulina Barreiro

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Festival Wilder Osten. Ereignis Ukraine. Zhyrkov inszenierte dafür mit Schauspieler:innen aus dem Magdeburger Ensem­ ble das Stück „Am Anfang und am Ende aller Zeiten“ von Pavlo Arie, der bis heute sein wichtigster Autoren-Partner geblieben ist und am Left Bank Theatre als Hausautor und Dramaturg wirkte. Das Stück, entstanden 30 Jahre nach der Kernkraft-Katastrophe von Tschernobyl, spielt in der verbo­ tenen Zone, wo die Großmutter Prisja mit Tochter Slawa und Enkel Wowka lebt – in einer grotesken Idylle nach den Katas­ trophen des 20. Jahrhunderts. Prisja hat den Holomodor der 1930er überlebt, als Partisanin gegen die Nazis gekämpft und nach Tschernobyl auch noch den Untergang der Sowjet­ union durchgemacht. Es sind die Traumata der Ukraine, die hier in einem langen Leben zusammenkommen – von Zhyr­ kov mit scheinbar leichter Hand als fast surreale Situation auf die Bühne gebracht. Das war als deutsches Debüt eine für diese Themen überraschende Tonlage und brachte einige im Publikum vielleicht dazu, diese Katastrophen der Ukraine in einem größeren Zusammenhang zu erkennen. 2019 kehrte Zhyrkov als Gastregisseur nach Magdeburg zurück, um auf der kleinen Bühne „Warten auf Godot“ zu in­ szenieren. Sophie Lenglachners Bühnenbild zeigte ein Feld aus Totenköpfen, das in unterschiedlicher Lichtstimmung in der Wirkung ganz verschieden erscheinen konnte. (siehe TdZ 1/19) Auch hier lagen das Groteske und das Grausame, aber auch der Humor nahe beieinander. Die deutschen Schau­ spieler:innen beschrieben den Regisseur als „prallvoll mit Ideen und übersprudelndem Temperament“. Mit dem frühen Tod von Cornelia Crombolz und der im Folgejahr das Thea­ terleben stark einschränkenden Pandemie war die verhei­ ßungsvolle Zusammenarbeit mit dem Theater Magdeburg beendet. Am Left Bank Theatre kam indes im selben Jahr eine der wichtigsten ukrainischen Produktionen jener Jahre heraus, „Bad Roads“ von Natalia Vorozhbyt in der Regie von Tamara Trunova, die mit dem Antritt von Zhyrkov leitende Regisseu­ rin des Hauses geworden war. „Bad Roads“ erzählt in Episo­ den eine Reise in die östlichen Kriegsgebiete, die Inszenie­ rung wurde mehrfach ins Ausland eingeladen, auch in Deutschland gezeigt und bescherte Zhyrkovs Theater viel Aufmerksamkeit mit dieser Arbeit, die den bereits 2014 aus­ gebrochenen Krieg im Donbass zum Thema machte. Nach dem totalen Angriff Russlands auf die Ukraine ver­ ließ Zhyrkov zusammen mit seiner Familie im Frühjahr 2022 das Land. Sie gingen zunächst nach Litauen, wo er in Alytus und Vilnius am Theater arbeitete und eigene Inszenierungen realisierte. Im September 2022 brachte er mit „Sich waffnend gegen eine See von Plagen“ seine erste Inszenierung an der Berli­ ner Schaubühne heraus – die sich mit dem Trauma des Kriegs befasst. Der mit Pavlo Arie zusammen geschriebene Text – der Titel ist ein Zitat aus „Hamlet“ – stellt eine Collage verschiedener Texte vor, vom abgehörten Telefonat eines russischen Soldaten über seine Mordtaten (als Audiodoku­ ment eingespielt), aus Pavlo Aries Kyjiwer Tagebüchern der

STAS Z H Y R KOV

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Saisoneröffnung 2024/25

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THEATER — DISKURS — PERFORMANCE 24. MAI bis 28. AUGUST 2024

W W W . FO N D S - D A KU. DE

Foto Gianmarco Bresadola

Rechts „Sich waffnend gegen eine See von Plagen (ОЗБРОЮЮЧИСЬ ПРОТИ МОРЯ ЛИХ)“ von Stas Zhyrkov und Pavlo Arie. Regie von Stas Zhyrkov an der Schaubühne am Lehniner Platz, Berlin, 2022. Bühne Jan Pappelbaum, Kostüm Dagmar Fabisch

ersten Wochen nach dem Angriff bis zu langen Reflexionen der zwei ukrainischen Schauspieler Dmytro Oliinyk und Oleh Stefan, denen die des deutschen Schauspielers Holger Bü­ low gegenüberstehen. Jan Pappelbaum hat für sie einen lan­ gen Tisch mit orangen Filmdosen darauf gebaut – eine Art Archiv der Vergangenheit mit der Signalfarbe der Orangen Revolution von 2004. Das nach und nach sich deutlich her­ ausschälende Thema ist, was man angesichts der eigenen Biografie als Künstler oder Schauspieler als Aufgabe erken­ nen kann oder sollte, während Freunde und Kollegen im Krieg kämpfen und dort ihr Leben verlieren. Der deutsche Schauspieler befindet sich dagegen zwangsläufig in einer anderen Situation der Selbstbefragung. Eine nicht nur mora­ lische Frage des Einzelnen, sondern auch die existenzielle des Theaters in diesem Moment. Das Problem des Theaters in der Auseinandersetzung mit dem Krieg wird alle folgen­ den deutschsprachigen Inszenierungen Zhyrkovs auf unter­ schiedliche Weise prägen und dabei zunehmend auch die vermutete Haltung des Publikums zu diesem Krieg mit ein­ beziehen. Zhyrkov ist wiederholt Ko-Autor der eigenen In­ szenierungen, was deren Intention schon auf der Ebene der Textentwicklung – aus verschiedenen Quellen – erkennen lässt. In dem wiederum zusammen mit Pavlo Arie zusammen entwickelten Stück „Antigone in Butscha“ (Schauspielhaus Zürich, Mai 2023) fährt eine Schweizer Kriegsfotografin nach Butscha kurz nach dem Massaker. Dort trifft sie in einem Keller eine traumatisierte Frau, deren Mann nicht be­ graben werden soll, weil er ihrer Ansicht nach vielleicht nur schlafe. Das Antigone-Motiv wird hier gleichsam umgedreht, es geht damit um die Verarbeitung von Zeugenschaft in die­ sem Krieg als Frage von Distanz und Anteilnahme. Der Mann der in die Schweiz zurückkehrenden Fotografin sagt, dass ihn dieser Krieg in der fernen Ukraine nichts angehe – in der Aussage der Inszenierung eine Konfrontation mit dem, wie es heißt, „schlafenden Europa“. Hier wird, ein reichliches Jahr nach der Invasion, die Haltung des Westens zu diesem Krieg von Zhyrkov und Arie schon sehr markant kritischer ge­ sehen. Ein Antike-Modell wird noch einmal ein Jahr später bei „Die Orestie. Nach dem Krieg“, zusammen mit Tamara Trunova


geschrieben, eingesetzt (Schauspielhaus Düsseldorf, März 2024), um in der Zukunft des Jahres 2033 einen Gerichtshof für Aufarbeitung und Verurteilung der Verbrechen zu zeigen. Orests Taten als gerechtfertigte Rache für hier nicht mehr seine Familie, sondern sein Volk zu begründen, führt schon in die Debatten, wie mögliche internationale Gerichtshöfe sich nach dem Krieg verstricken könnten, weil sie von der nationalen Selbstverteidigung auf allgemeinere Werte abs­ trahieren. Dementsprechend kommt den Erinnyen – ukraini­ sche Schauspielerinnen, eine Besetzungsentscheidung mit großer künstlerischer Wirkung – auch die Aufgabe zu, das Publikum mit unangenehmen Fragen zu konfrontieren. Die von der Kritik teilweise zurückgewiesen wurden, da Deutsch­ land zu den Ländern gehöre, die den Kampf der Ukraine unterstützen. Einen etwas anderen Weg schlug Zhyrkov mit seiner zweiten Inszenierung an der Berliner Schaubühne (Januar 2024) ein. Der Text von „Postkarten aus dem Osten“ entstand in der Zusammenarbeit von Pavlo Arie, dem Dramaturgen Martin Valdés-Stauber und dem Ensemble und greift statt Antike-Modellen die Dramaturgie des bürgerlichen Konver­ sationsstücks auf. Zu einem Abendessen hat der Filmregis­ seur Lukas Freunde geladen: Es erscheint Orest (!), ein Schauspieler, der damit hadert, in einer karrierewichtigen Produktion mit russischen Schauspielern mitzumachen, sei­ ne Freundin Maria, eine deutsche Lehrerin für Geschichte, und schließlich Anastasia, die Beweise zu russischen Kriegs­ verbrechen sammelt und dann den historischen Diskurs zur Ukraine über ihre jüdische Mutter so ausweitet, dass alle letztlich überfordert sind. Das Konfrontative zum Publikum ist hier in die Figurenkonstellation zurückgenommen, das un­ auflösbare Sprechen über den Krieg in diesem Berliner Wohnzimmer – vom Regisseur durch groteske Zeitlupenriss­ bilder durchbrochen – findet seinen Grund in den allmählich sich entblätternden Figurengeschichten, die noch einmal zeigen, wie Zhyrkov dieses Thema unserer Zeit in der deutsch-ukrainisch multiplen Verwobenheit immer wieder angeht.

Das Problem des Theaters in der Auseinandersetzung mit dem Krieg wird alle folgenden deutschsprachigen Inszenierungen Zhyrkovs prägen.

Stas Zhyrkov, geboren 1986 in der UdSSR, studierte Schauspiel und Regie an der Nationalen Universität für Kultur und Kunst in Kyjiw. Von 2014 bis 2017 lehrte er Regie und Schauspiel an derselben Universität. Im Jahr 2008 gründete er gemeinsam mit Ksenia Romashenko das unabhän­ gige Open View Theater. Zwischen 2014 wurde er Künstlerischer Leiter des Golden Gate Theatre, 2019 des Left Bank Theatre (Kyjiw) und 2021 zudem Leiter der Theaterabteilung der Stadtakademie für Estrada und Zirkuskunst Kyjiw. 2016 war das erste Mal eine Arbeit von ihm in Deutschland zu sehen: Im Rahmen des deutsch-ukrainischen Festival Wilder Osten – Ereignis Ukrai­ ne inszenierte er am Theater Magdeburg „Am Anfang und am Ende aller Zeiten“ von Pavlo Arie, der bis heute sein wichtigster Autoren-Partner geblieben ist und am Left Bank als Hausautor/Dramaturg wirkte. Inszenie­ rungen an den Münchner Kammerspielen, dem Düsseldorfer Schauspiel­ haus und dem Schauspielhaus Zürich. Ausgezeichnet mit dem Kyjiw Pectoral Theatre Award 2011 in der Kategorie Bestes Regiedebüt für „Natasha’s Dream“ von Yaroslava Pulinovych, 2017 Verleihung des Ehren­ titels „Verdienter Künstler der Ukraine“ und 2021 mit den Viva! Awards „Durchbruch des Jahres“ in der Kategorie Kunst.

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Neuerscheinungen aus dem Verlag

Spielen was ist Angefangen wird mittendrin! Das vorliegende Erinnerungsbuch erzählt nicht nur von vielen Neuanfängen in der Intendanz Katja Ott, sondern auch vom kreativen Umgang mit Vorhandenem, Immer-Dagewesenem.

Theater der Zeit

Spielen, was ist 15 Jahre Intendanz Katja Ott am Theater Erlangen Linda Best und Susanne Ziegler (Hg.) 408 Seiten, 28 € (Paperback oder E-Book)

Herausgegeben von Linda Best und Susanne Ziegler

Mit der Öffnung in die Stadtgesellschaft und dem Ausprobieren neuer Formate etablierte sie das Theater als Ort künstlerischer Utopien, aber auch als Forum für sozialpolitische Debatten. Wiederholt im Fokus stand dabei die Diskussion um ein Stadttheater der Zukunft und die Weiterentwicklung des Hauses. Neben dem klassischen Repertoire verankerte Ott vor allem die Gegenwartsdramatik fest im Spielplan.

Angefangen wird mittendrin! Das vorliegende Erinnerungsbuch erzählt nicht nur von vielen Neuanfängen in der Intendanz Katja Ott, son­ dern auch vom kreativen Umgang mit Vor­ handenem, Immer-Dagewesenem. Mit der Öffnung in die Stadtgesellschaft und dem Ausprobieren neuer Formate etablierte sie das Theater als Ort künstlerischer Utopien, aber auch als Forum für sozialpolitische De­ batten. Wiederholt im Fokus stand dabei die Diskussion um ein Stadttheater der Zukunft und die Weiterentwicklung des Hauses. Ne­ ben dem klassischen Repertoire verankerte Ott vor allem die Gegenwartsdramatik fest im Spielplan. Inszenierungsfotos aus 15 Jahren Intendanz-Zeit und anregende Texte zeigen die inneren und äußeren Prozesse des Thea­ terbetriebs sowie wesentliche Impulse, die die Theatermacher*innen bei der Gestaltung des Theaters Erlangen antrieben.

Eröffnungsinszenierung Oktober 2009, „Faust. Der Tragödie erster Teil“ (Regie Mario Portmann)

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Thomas Irmer (links) und Olaf Nicolai (mitte) im Gespräch mit René Pollesch

Arbeit. Brecht. Cinema. Interviews und Gespräche mit René Pollesch aus 20 Jahren Am 12. Juni 2019 hat der Berliner Kultursenator Klaus Lederer im Roten Salon der Volksbühne Sie als neuen Intendanten dieses Theaters ab 2021 vorgestellt. Diese Entscheidung war nach dem Scheitern Chris Dercons mit allergrößter Aufmerksamkeit erwartet worden – und es gab zuvor alle möglichen Vorschläge für die Zukunft der Volksbühne nach diesem absoluten Schlamassel. Wie verlief Ihre Bewerbung in dieser Situation? René Pollesch: Unsere Bewerbung lief über einen Zeitraum von zehn Monaten und war sehr ausführlich und musste mehrfach nachgebessert werden. Von Anfang an sollte auch überprüfbar sein, ob das finanziell trag­ fähig ist, was wir vorhaben. Das war also alles sehr sorgfältig, wahrscheinlich auch aus der Erfahrung der vorherigen Berufung von Chris Dercon, wo bestimmte finanzielle Aspekte trotz eingängiger Warnungen schon im Vor­ feld vernachlässigt wurden – wie später aus der Recherche über seine ­Planungen zu er­ kennen war. Bei uns ist der Großteil der Pro­ duktionen aufgeführt mit konkreten Angaben, ob das bezahlbar ist, ausgearbeitet von einer erfahrenen Betriebsdirektorin.

Ein Anknüpfen an die alte Volksbühne, in der Sie bis 2017 neben Frank Castorf und Christoph Marthaler zu den wichtigsten künstlerischen Positionen gehörten? RP: Ein Anknüpfen mit neuen Inhalten. Und mit neuen Künstlern natürlich. Jetzt könnte man natürlich sofort einwenden, ich bin nicht so neu und Vegard Vinge und Ida ­Müller sind auch nicht neu an der Volksbühne. Aber die Konstellation, in der wir hier zusam­ menfinden, ist durchaus neu. Was mich be­ sonders gefreut hat, und das mag für dieses Neuzusammenfinden stehen, ist die Begeg­ nung von Martin Wuttke und Ida und Vegard. Ich kannte die beiden vorher kaum – vor allem nur durch Bert Neumann, der sie ja bis zu sei­ nem frühen Tod sehr unterstützte – und habe nun das Gespräch mit ihnen gesucht. Das war sehr toll, sehr ergiebig und sehr konkret.

Thomas Irmer René Pollesch – Arbeit. Brecht. Cinema. Interviews und Gespräche 92 Seiten, 15 € (Paperback oder E-Book)

Fotos unten links Jean-Marc Thurmes, oben mitte Uwe Walter, rechts unten Julian Baumann

Spielen, was ist. 15 Jahre Intendanz Katja Ott am Theater Erlangen.

Inszenierungsfotos aus 15 Jahren IntendanzZeit und anregende Texte zeigen die inneren und äußeren Prozesse des Theaterbetriebs sowie wesentliche Impulse, die die Theatermacher*innen bei der Gestaltung des Theaters Erlangen antrieben.


Inklusion am Stadttheater

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Theater der Zeit Spezial All Abled Arts Notizen zu Inklusion an einem Stadttheater 72 Seiten, 9,50 € (Heft oder ePaper)

Nachdem die Freie und die inklusive Szene den Weg bereitet haben, sind in den letzten Jahren auch einige Stadttheater in Deutsch­ land inklusiver geworden. Eines davon sind die Münchner Kammerspiele. Unter der In­ tendanz von Barbara Mundel sind erstmals nicht nur Schauspieler:innen mit körperlicher Behinderung, sondern auch Schauspieler:in­ nen mit kognitiver Beeinträchtigung fest in einem Stadttheater-Ensemble angestellt. Auch im Bereich Text, Regie und Choreo­ grafie arbeiten die Münchner Kammerspiele inklusiv. Das Theater der Zeit Spezial geht von diesen konkreten Erfahrungen der ver­ gangenen Spielzeiten seit 2020/21 aus. Einen kurzen Abriss zur Geschichte des inklusiven Theaters in Deutschland gibt Georg Kasch. Der Schauspieler Dennis FellHernandez interviewt die Intendantin Bar­ bara Mundel und das Team der Münchner Kammerspiele um Nele Jahnke reflektiert über die strukturellen Entwicklungen und Er­ fahrungen und weitere beteiligte Künstler:in­ nen teilen ihre Perspektiven. Das Spezial erscheint in Alltagssprache und in Leichter Sprache.

Dennis Fell-Hernandez und Ensemble von „In Ordnung“ an den Münchner Kammerspielen

NEWSLETTER-UPDATES Mit unserem Newsletter informieren wir un­ mittelbar über unsere Neuerscheinungen. Lesen Sie Bücher und Magazine noch be­ vor sie gedruckt sind, und finden Sie weiter­ führende Texte auf tdz.de.

Schauspielhaus Zürich 2019 – 2024 Überbordend sinnlich, international gefei­ ert, diversitätsoffen und jenseits von dis­ ziplinären Grenzen, zugleich angefeindet, verbrämt, umkämpft: Die Intendanz von Benjamin von Blomberg und Nicolas Ste­ mann am Schauspielhaus Zürich war eine richtungsweisende Zeit. Als alphabetisches Glossar verpackt, evoziert der vorliegende Reader die Hoffnungen und Versprechen, die mit der Intendanz verbunden waren, repräsentiert die vielfältigen Handschriften der beteiligten Künstler:innen und ruft öf­ fentliche Debatten um die Neuausrichtung des Schauspielhauses auf. Was also bleibt, von diesem Versuch das Stadttheater für das 21. Jahrhundert neu zu denken? Theater Is Dead. Long Live Theater. Schauspielhaus Zürich 2019 – 2024 gibt darauf keine finalen Antworten, sondern versammelt Material, das für zukünftige Er­ neuerungsversuche relevant sein könnte. Dabei entsteht ein künstlerischer Text- und Bildband, der einen erweiterten Theaterbe­ griff feiert und die in Zürich entstandenen Arbeiten zwischen Theater, Tanz, Film und den performativen Künsten abbildet und kontextualisiert. Theater Is Dead. Long Live Theater Schauspielhaus Zürich 2019 – 2024 312 Seiten, 30 € (Leinen­ gebundenes Hardcover oder E-Book)

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Bücher in Vorbereitung Judith Malina: Notizen zu Piscator Annette Menting: Schauspielhaus Chemnitz För Künkel, Mirjam Hildbrand: Zirkuskunst in Berlin um 1900 Recherchen 170 Matthias Rothe: Tropen des Kollektiven Recherchen 172 Teresa Kovacs: Theater der Leere Birgit Wiens: Bühne. Perspektiven der Szenografie und Performance Design Studies

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IMPRESSUM Stück-Werk II Die neue Regie-Generation Arbeitsbuch 2024 Herausgegeben von Nathalie Eckstein © 2024 Theater der Zeit Redaktionsanschrift Theater der Zeit GmbH Winsstraße 72, 10405 Berlin T +49 (0) 30.4435285-18 / F +49 (0) 30.4435285-44 Redaktion Nathalie Eckstein, Stefanie Schaefer Rodes Korrektur Sophie-Margarete Schuster Hospitanz Dimi Theodoraki, Graciela Peralta Gestaltung und Cover Gudrun Hommers Bildbearbeitung Holger Herschel Geschäftsführender Gesellschafter Paul Tischler, Berlin Programm und Geschäftsführung Harald Müller Tel +49 (0)30 4435285-20, h.mueller@tdz.de Paul Tischler Tel +49 (0)30 4435285-21, p.tischler@tdz.de Druck Druckhaus Sportflieger, Berlin 79. Jahrgang. Heft Nr. 7/8 2024 ISBN 978-3-95749-520-4 (Paperback) ISBN 978-3-95749-533-4 (E-PDF) Anzeigenberatung Paul Tischler Tel +49 (0)30 4435285-21 tdz.de/media Abonnements Stefan Schulz Tel +49 (0)30 4435285-12 per Fax +49 (0)30 4435285-44 abo-vertrieb@tdz.de Einzelpreis EUR 24,50 (print) / EUR 19,99 (digital) Jahresabonnement EUR 105,– (Print) / EUR 84,– (Digital) / EUR 115,– (Digital & Print) / 10 Ausgaben & 1 Arbeitsbuch, Preise gültig innerhalb Deutschlands inkl. Versand. Für Lieferungen außerhalb Deutschlands wird zzgl. ein Versand­ kostenanteil von EUR 35,– berechnet. 20 % Reduzierung des ­Jahresabonnements für Studierende, Rentner:innen, Arbeitslose bei Vorlage eines gültigen Nachweises. Folgen Sie Theater der Zeit auf Facebook, Instagram und X facebook.com/theaterderzeit instagram.com/theaterderzeit x.com/theaterderzeit tdz.de © an der Textsammlung in dieser Ausgabe: Theater der Zeit © am Einzeltext: Autorinnen und Autoren und Theater der Zeit Nachdruck nur mit schriftlicher Genehmigung des Verlags © Fotos: Fotografinnen und Fotografen Für unaufgefordert eingesandte Bücher, Fotos und Manuskripte übernimmt die Redaktion keine Haftung. Bei Nichtlieferung infolge höherer Gewalt oder infolge von Störungen des Arbeits­ friedens bestehen keine Ansprüche gegen die Herausgeber. Der Verlag hat sich intensiv darum bemüht, alle Rechteinhaber zu ermitteln. Sollten Rechteinhaber unberücksichtigt geblieben sein, bitten wir diese, sich mit dem Verlag in Verbindung zu setzen.

AUTOR:INNEN Anne Fritsch, Autorin und Kulturjournalistin, München Hermann Götz, Text- und Kulturarbeiter, Graz Michael Helbing, Journalist und Theaterkritiker, Weimar Sarah Heppekausen, freie Autorin und Theater- und Tanz­ kritikerin, Ruhrgebiet Thomas Irmer, Verantwortlicher Redakteur von Theater der Zeit, Berlin Yaël Koutouan, Theaterwissenschaftlerin und Kritikerin, Mainz Martin Krumbholz, Literatur- und Theaterwissenschaftler, Autor und Kritiker, Düsseldorf Christoph Leibold, Kulturjournalist und Theaterkritiker, München Sabine Leucht, Journalistin und Theaterkritikerin, München Elisabeth Maier, Kulturjournalistin und Theaterkritikerin, Esslingen Julie Paucker, Dramaturgin, Autorin und Künstlerische Leiterin des Schweizer Theatertreffens, Zürich Hannah Schünemann, Dramaturgin, Literatur- und Theaterwissen­schaftlerin, Berlin Theresa Schütz, Theaterwissenschaftlerin und Kulturjourna­ listin, Berlin Eberhard Spreng, Kulturjournalist, Kritiker, Übersetzer, Berlin Lina Wölfel, Online-Redakteurin von Theater der Zeit, Leipzig


SpielZeit 2024–25 im SchauSpielHaus Herr Puntila und sein Knecht Matti von Bertolt Brecht Regie: Karin Beier Premiere: 22/9/2024

Kabale und Liebe – allerdings mit anderem Text und auch anderer Melodie von Barbara Bürk und Clemens Sienknecht frei nach Friedrich Schiller Premiere: 1/2/2025

Eine Inszenierung von Karin Henkel Premiere: 1/3/2025

Ein Sommer in Niendorf von Heinz Strunk Regie: Studio Braun Uraufführung: 28/3/2025

Die Maschine oder: Über allen Gipfeln ist Ruh

A Perfect Sky (Arbeitstitel) Eine choreografische Inszenierung von Falk Richter und Anouk van Dijk Uraufführung: 26/4/2025

Bernarda Albas Haus

Es geht weiter!

von Georges Perec und Johann Wolfgang von Goethe Regie: Anita Vulesica Uraufführung: 12/10/2024

von Alice Birch nach Federico García Lorca Regie: Katie Mitchell Deutschsprachige Erstaufführung: 2/11/2024

Fabian oder Der Gang vor die Hunde von Erich Kästner Regie: Dušan David Pařízek Premiere: 6/12/2024

Zum Spielplan

ANTHROPOLIS

Ungeheuer. Stadt. Theben Eine Serie in fünf Folgen von Roland Schimmelpfennig Regie: Karin Beier


Spielzeit

24|25

Der Dämon in dir muss Heimat finden

Eine Stückentwicklung (AT)

Komödie von Lola Fuchs R: Lola Fuchs UA: 13.09.2024

von Tanju Girişken R: Tanju Girişken UA: 17.01.2025

Dantons Tod und Kants Beitrag

Antigone

von Kieran Joel R: Kieran Joel Premiere: 14.09.2024

Schwindel nach dem Roman von Hengameh Yaghoobifarah R: Shari Asha Crosson UA: 08.11.2024

frei nach Sophokles R: Ariane Kareev Premiere: 25.01.2025

Alle spielen Stückentwicklung von Magda Korsinsky R: Magda Korsinsky UA: 21.03.2025

Ein Abriss! i can be your translator und Schauspiel Dortmund Konzept und Regie: I can be your translator und Julia Wissert UA: 10.05.2025

Feministischer Thementag Festival 08.03.2025

Dortmund Goes Black Festival 10. – 12.04.2025

Queer Festival Jeeps Komödie von Nora Abdel-Maksoud R: Babett Grube Premiere: 09.11.2024

www.theaterdo.de

Vatermal nach dem Roman von Necati Öziri R: Julia Wissert UA: 22.03.2025

Festival 19.06.– 21.06.2025


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