Das Festival fĂźr junge Regie
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a k i d a g R jun l a k i 2 d 019 Herausgegeben von Kilian Engels und C. Bernd Sucher
Radikal jung 2019 – Das Festival fßr junge Regie
Radikal jung 2019 Das Festival fĂźr junge Regie Herausgegeben von Kilian Engels und C. Bernd Sucher
Radikal jung 2019 Das Festival für junge Regie Herausgegeben von Kilian Engels und C. Bernd Sucher © 2019 by Theater der Zeit Texte und Abbildungen sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung, die nicht ausdrücklich im Urheberrechts-Gesetz zugelassen ist, bedarf der vorherigen Zustimmung des Verlags. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Bearbeitungen, Übersetzungen, Mikroverfilmung und die Einspeisung und Verarbeitung in elektronischen Medien. Verlag Theater der Zeit | Verlagsleitung Harald Müller Winsstraße 72 | 10405 Berlin | Germany www.theaterderzeit.de Lektorat: Erik Zielke Gestaltung: Agnes Wartner Printed in Germany ISBN 978-3-95749-204-3 (Taschenbuch) ISBN 978-3-95749-225-8 (ePDF) ISBN 978-3-95749-226-5 (EPUB)
Inhalt Kilian Engels Vorwort
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Nora Abdel-Maksoud Café Populaire
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The Agency Medusa Bionic Rise
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Camille Dagen Durée d’Exposition
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Anta Helena Recke Angstpiece
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Lucia Bihler Die Hauptstadt
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Julia Mounsey & Peter Mills Weiss [50/50] Old school animation
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Leonie Böhm Yung Faust
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Elsa-Sophie Jach & Thomas Köck dritte republik
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Sapir Heller Amsterdam
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Christina Tscharyiski Revolt. She said. Revolt again. Mar-a-Lago
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Florian Fischer Operation Kamen
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Blanca Rádóczy Der Mieter
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Ariah Lester WHITE [ARIANE]
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Philipp Moschitz Um die Wette
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Vorwort Das Festival Radikal jung am Münchner Volkstheater ist das größte und renommierteste Festival für den professionellen Regienachwuchs im deutschsprachigen Raum. Es hat sich zur Aufgabe gemacht, die ästhetischen Interessen und Zugriffe (die immer auch politische sind) einer jungen Generation von Theatermachern zu präsentieren. Seit 2005 spiegelt es die Entwicklung der deutschsprachigen Theaterlandschaft und unterstützt und begleitet Karrieren von jungen Künstlern. Seit 2011 kommen internationale Beiträge dazu: aus den Niederlanden, Belgien, Frankreich, Serbien, Ungarn, der Ukraine, Portugal, Großbritannien und Moldawien sowie immer wieder aus Israel. Diese Beiträge bereichern das Festival um weitere Handschriften und untersuchen die Bedingungen, unter denen junge Künstler in anderen Ländern Theater machen. Die diesjährige Ausgabe ist mit 15 gezeigten Produktionen die größte bisher. Neben Arbeiten aus Deutschland, Österreich, der Schweiz, den Niederlanden und Frankreich ist mit Julia Mounseys und Peter Mills Weiss’ New Yorker Produktion „[50/50] Old school animation“ zum ersten Mal ein transatlantischer Beitrag dabei. Mit zwölf Ur- und Erstaufführungen ist es das zeitgenössischste Festival bislang. Den Inszenierungen liegen Stücktexte (auch selbstverfasste), Romane, dokumentarisches und autobiografisches Material zugrunde. Es wird teils konventionell, teils experimentell erzählt. Ästhetisch soll eine möglichst große Bandbreite jungen Theaterschaffens abgebildet werden. Eingeladen sind 14 Frauen und fünf Männer. Auch in Hinblick auf die Macher ist Radikal jung das Festival mit der größten Diversität. Dieser Band enthält ausführliche Porträts der präsentierten Regisseure und der eingeladenen Inszenierungen. Er eignet sich als Festivalbegleiter, aber auch als Quelle für alle Interessierten, die nicht in München dabei sein können. Ich freue mich, dass dieses Buch bei Theater der Zeit erscheinen kann. Herzlich möchte ich den Autoren der Beiträge, meinen MitKuratoren Christine Wahl und C. Bernd Sucher für ihre Arbeit und Christian Stückl, dem Intendanten des Münchner Volkstheaters, für das Vertrauen danken. Kilian Engels Künstlerischer Leiter Radikal jung
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Maximilian Kraus, Eva Bay und Marie Bonnet
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Text und Regie
Nora Abdel-Maksoud
Café Populaire Theater Neumarkt Zürich
Bühne und Kostüme
Uraufführung
Moïra Gilliéron
27. April 2018
Dramaturgie
Inga Schonlau Musik
Enik
Die feinsten Unterschiede Mirja Gabathuler „Das Thema des heutigen Abends ist Klassismus. Wir nennen es auch: den unbekannten Ismus.“ Irritiertes Blickkreuzen im Publikum. Nein, man befindet sich nicht im Bourdieu-Seminar. Sondern im Theater. Genauer gesagt, ist gerade der erste Satz des Stücks „Café Populaire“, geschrieben und inszeniert von Nora AbdelMaksoud, gefallen. Klassenkampf im Bühnenformat? Ja – und in Wohlfühlrosa! Die Bühne, verkleinert auf eine schmale Box, ist in pastelliger Wes-Anderson-Optik gehalten. Die vier Schauspielerinnen und Schauspieler, die dort aufgereiht stehen, könnten direkt dessen „Grand Budapest Hotel“ entlaufen sein. Über das elegante Werk des Filmregisseurs ist man sich, im Stück wie wohl auch im Publikum, gerne einig. Zumindest, wenn man einer bestimmten sozialen Klasse angehört. Wer glaubt, der Klassenbegriff sei überholt, den lässt Nora Abdel-Maksoud im Verlauf ihrer Inszenierung genüsslich auflaufen. Die Münchner Autorin und Regisseurin hat in den letzten Jahren mit beißenden Satiren auf sich aufmerksam gemacht. Auch „Café Populaire“ ist durchtränkt von skurrilem, schwarzem Humor. Er speist sich in diesem Stück aus dem alltäglichen Hickhack zwischen Klassen, die weiter existieren – auch wenn die Figuren auf der Bühne vorerst das Gegenteil behaupten. Drei prototypische Bewohner eines Kleinstadtkaffs namens Blinden stehen dort aufgereiht: Svenja, Bildungsbürgerin mit Kunststudium, „zivilisiert, gebildet und konfliktfähig“, schraubt on- und offline an ihrem Durchbruch als Wortwitzbold. Bis es so weit ist, gibt sie als Hospizclown ihre mit Political Correctness überfrachteten Scherze zum Besten. Witzig finden das einzig acht YouTube-Abonnenten, die Aufgebahrten im Leichenraum und die frotzelnde Heimbewohnerin Püppi. Püppi, Typ: spröde Altlinke, sucht seit dem Tod ihres Mannes nach einem „bolschewistischen Stahlarbeiter mit hoher Streikneigung“. Und dann steht da noch Aram, der als „Dienstleistungsproletariat“ hinhalten muss. Der Mann für alles: Postbote, Putzmann, Kellner, Masseur, Uber-Fahrer, Amazon-Angestellter – sowie bald Papa und daher verzweifelt auf der Suche nach einer neuen Bleibe. Kein Wunder, dass er hellhörig wird, als der Gasthof „Zur Goldenen Möwe“, inklusive Wirtswohnung, einen neuen Besitzer sucht. Aber auch Svenja wittert ihre Chance: Sie will die „Möwe“ zu ihrer
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Bühne machen. Blöd nur, dass eine innere Stimme namens der Don dazwischenfunkt und ihr unkontrolliert das Wort entreißt. Ihr Alter Ego, ein bourgeoiser Snob ohne soziale Scham, der arme Menschen hasst, die „Assi-Prolls“ aus der „Unterschicht“ nicht verstehen will, sondern verachtet, und Blinden „sozial entmischen“ will: Ab in das Getto mit dem Proletariat! Der Don bricht aus Svenja heraus. Die anständige Akademikerin verliert ihr Gesicht und verwandelt sich im Sekundentakt immer mehr in die geifernde Wutbürgerin. Bis irgendwann … Ach, man möchte nicht zu viel verraten! Denn „Café Populaire“ lebt von Überraschungsmomenten. Schon eher Dauer- als Überraschungsgast ist Nora AbdelMaksoud beim Festival Radikal jung. Bereits zum dritten Mal ist sie als Regisseurin eines selbst geschriebenen Stücks zugegen. Mit der Kunstweltsatire „KINGS“ war sie 2015 eingeladen, mit der Filmbusinesssatire „The Making-of“ 2017 und nun, 2019, also mit der Klassengesellschaftssatire „Café Populaire“. Darin finden sich die wichtigsten Ingredienzen der vorherigen Stücke wieder: abgründige Pointen, rasendes Tempo, waghalsige Plot-Twists und – sozusagen als Grundton – ein Thema, das der Regisseurin „wie ein Stachel im Fleisch sitzt“. Das sei für sie das Initiationsmoment für jedes neue Stück, sagt Nora Abdel-Maksoud im Gespräch: „Ein Zustand oder eine gesellschaftliche Entwicklung muss mich empören.“ Das Thema der sozialen Klassen habe sie eher bemerkt als gefunden, erklärt die Regisseurin: „Ich habe bemerkt, dass ich Menschen in meinem Umfeld unbewusst kategorisiere. Dass ich innerhalb von Sekunden feststelle, wer dieselbe Musik hört wie ich, wer einen ähnlichen Ausbildungsgrad hat.“ Woran das liege, habe sie sich gefragt. Denn es lasse sich ja nicht einfach an Schuhen oder Haarstruktur eines Gegenübers ablesen. „Anscheinend gibt es ein unsichtbares System, das einen Menschen einordnen lässt.“ Ein blinder Fleck, den die Theatermacherin auch bei sich selbst entdeckte: „Je mehr ich mich damit beschäftigt habe, desto mehr hat sich gezeigt, dass Klasse, Distinktion und der eigene Habitus bei allem, was man tut, eine Rolle spielt.“ Das führe dazu, dass man unter Seinesgleichen bleibe, im Freundeskreis, in der Nachbarschaft, im Lieblingscafé. Im Theater. Wenn man sich mit sozialen Klassen beschäftige, dränge sich aber auch relativ schnell eine politische Dimension auf, sagt Nora Abdel-Maksoud: „Mir ist zum Beispiel aufgefallen, wie das Fernsehen daraus Kapital schlägt, Sozialhilfeempfänger verächt-
Café Populaire
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lich zu machen.“ Im englischsprachigen Raum werde stets innerhalb des Triptychons „Race, Class, Gender“ über Diskriminierung nachgedacht. Im deutschsprachigen Raum hingegen werde Klasse kaum als Kategorie der Herrschaftskritik mitgedacht. „Dafür gibt es schlicht keine Lobby.“ Wer sich mit der Theatermacherin unterhält, merkt schnell: Sie hat etwas zu sagen – und will damit gehört werden. Bevor sie zu schreiben und zu inszenieren begann, hatte sie dazu nur beschränkt Möglichkeit. Studiert hat Nora Abdel-Maksoud Schauspiel an der Hochschule für Film und Fernsehen Konrad Wolf in Berlin-Babelsberg – stand danach aber öfters auf der Bühne. Etwa in „Verrücktes Blut“ von Nurkan Erpulat und Jens Hillje am Berliner Ballhaus Naunynstraße. Oder im Sibylle-Berg-Stück „Es sagt mir nichts, das sogenannte Draußen“, von Sebastian Nübling am Maxim Gorki Theater Berlin inszeniert. Was sie seit dem Studium frustrierte und ihr schließlich den Anstoß gab, ins Regie- und Textfach zu wechseln: „Die Konflikte der Figuren, die ich spielte, liefen oft nur aufs Frausein hinaus: Bin ich eine gute oder schlechte Mutter? Liebe ich diesen oder jenen? Nie ging es um Geniesein, Verrücktsein oder Bösewichtsein.“ Aus ihrem Ärger entstand eine Diplomarbeit zur Rolle der Frau im Film – und daraus 2012 ihr erstes Stück: „Hunting von Trier“ am Ballhaus Naunynstraße. Zwei Schauspielerinnen, die es satt haben, Hure oder Heilige zu spielen, erschießen den Starregisseur – und werden am Ende selbst durch eine Kugel, die an der gläsernen Decke abprallt, dahingerafft: So funktioniert bei Nora Abdel-Maksoud eine bitterböse Persiflage auf verkrustete Geschlechterrollen. Auch ihre Stücke „KINGS“ am Ballhaus Naunynstraße und „The Making-of“ am Maxim Gorki waren humorvolle Abrechnungen mit dem Dunstkreis der Kreativen und Kunstaffinen. In „KINGS“ verpackte Nora Abdel-Maksoud ihren Appell gegen die gleichgültige Selbstreferenzialität des Kulturbetriebs in einer überdrehten Groteske im Jahrmarktbuden-Setting, in der vier Kreativ-Typen Unmengen an Gin trinken und erfolglos versuchen, aus ihrem Kunstwelt-Habitat die Welt zu verbessern. „KINGS“ öffnete ihr Türen für weitere Inszenierungen in Berlin („Die Geschichte von Buffalo Jim“), am Neuen Theater Halle („Mad Madams“) und am Volkstheater München („Sie nannten ihn Tico“). Für „The Making-of“, 2017 im Studio я des Maxim Gorki Theaters uraufgeführt, wurde Nora Abdel-Maksoud von „Theater heute“ zur besten Nachwuchsregisseurin gekürt und mit dem KurtHübner-Regiepreis ausgezeichnet. Das Stück spielte „behind the
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Niemand wird geschont, in alle Richtungen bissige Pointen abgefeuert: Unterschicht versus Oberschicht, Cola-Proletariat versus Champagner-Sozialismus. Klingt nach vielen Klischees? Ja, richtig. Nora Abdel-Maksouds Theater lebt davon, dass es dem Publikum das Gefühl lässt, alles zu durchschauen, Altbekanntes wiederzuerkennen – um ihm dann doch immer eine Wendung voraus zu sein. Es unterläuft die Erwartungen des Publikums, torpediert mit Twists dessen Sehgewohnheiten und legt die Schlüsse offen, die man als Zuschauerin per Default zog. Der anhaltende Lachreiz geht daher Hand in Hand mit einem diffusen Gefühl des Ertapptwerdens. Man lacht, weil man sich erkannt fühlt, entlarvt und manchmal auch an der Nase herumgeführt. Bis man irgendwann feststellt: Was hier aufgeführt wird, ist nicht nur kurzweilig und sehr lustig, sondern auch klug, klarsichtig und vertrackter, als man zu Beginn denken könnte. Und entwaffnend, weil es sich aus präziser Beobachtung speist. „Es gibt unterschiedliche Stufen kultureller Wertigkeit“, proklamiert der Don in „Café Populaire“ in Richtung des Publikums: „Da sind wir uns wohl einig. Immerhin sitzen Sie in einem Theater!“ Dieser Schnösel, der über diejenigen herzieht, die „das Expedit-Regal von IKEA praktisch und nicht hässlich finden“ und die nichts mehr lieben als „Boulevard, Shakira, Richard David Precht“, behält recht. Lachen kann nur, wer die feinen Unterschiede kennt, die hier durchexerziert werden. Die wahren Schnösel, das sind wir. Nora Abdel-Maksoud kennt die Klasse der Bürgersprosse und Akademikerkinder, die sie hier augenzwinkernd, aber unmissverständlich vorführt, nur zu gut. „Ich bin ja selbst auch eher ein Kleinbürgerkind“, meint sie lachend. Sie kennt die Codes, mit denen subtil auf das eigene Bildungsniveau verwiesen wird: Man spricht gendergerecht, konsumiert kritisch und im Gestus der Zurückhaltung. Die Figuren auf der Bühne erscheinen darin als Komplizen, als Vertraute – und führen im nächsten Moment mit ihrer negativen Katharsis vor, wie klein der Schritt vom Gutgemeinten zur Grenze des guten Geschmacks ist. Nora Abdel-Maksouds dramaturgische Strategie scheint es zu sein, jene in ihrer bequemen Selbstgewissheit zu überrumpeln, die sich in ihrem Wertekatalog allzu sicher geben. Und trotzdem schwingt sich das Theater hier nicht zur moralischen Anstalt auf, sondern meint immer auch sich selbst, wenn es im Medium der Satire zur spitzzüngigen Gesellschaftskritik ausholt.
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Diese Selbstironie erleichtert. Dieses Lachen-Dürfen über QuinoaSalate, recycelbare Kaffeebecher und dänisches Design, über die allzu bekannten Statussymbole, Meinungsfaulheiten und beiläufige Arroganz. Es gibt kein Entkommen aus dem Distinktionsdschungel der Abgrenzungsneurosen, so die Botschaft des Abends. Sich selbst nicht zu ernst zu nehmen, ist eine halbwegs gute Ausflucht. Aber auch nicht mehr. Einige von Svenjas „Punchlines“ sind denn auch wortwörtlich gemeint: Immer wieder trifft dieses Stück, das von Hieben nach allen Seiten strotzt, ins Schwarze. Sodass man sich am Ende des Abends nicht nur gut unterhalten, sondern auch unangenehm getroffen – sogar betroffen – fühlen kann. „Im besten Fall fühlt man sich manchmal ertappt. Obwohl, das ist mir schon zu pädagogisch“, sagt Nora Abdel-Maksoud. „Im besten Fall ist man danach irgendwie schlauer. Hat ein, zwei Sätze oder Gedanken im Kopf, über die man davor nicht nachgedacht hat. Wenn geistig etwas in Bewegung kommt bei einem Thema, mit dem ich mich lange beschäftigt habe und über das ich unbedingt etwas sagen will, dann ist das schon eine ganze Menge.“ Entsprechend habe sie die Premierenfeier von „Café Populaire“ als Erfolg erlebt: „Der Abend brachte offensichtlich inhaltlich etwas zum Schwingen. Es war geradezu absurd. Die Leute sprachen vor allem über das Thema des Stücks. Also nicht: Der Schauspieler war gut oder die Szene doof.“ Dabei hätte man sich durchaus auch bei der schauspielerischen Leistung verweilen können, das Klischierte nicht ins Karnevaleske abdriften zu lassen. „Ich verlange dem Ensemble schon einiges ab, damit es nicht nach starrer Form aussieht, sondern Leichtigkeit und Swing kriegt“, erzählt sie. Dazu hole sie die Schauspielerinnen von Beginn weg ins Boot. Den Plot und die Figuren eines Stücks entwickle sie stets im Kollektiv. Etwa mit den Darstellerinnen Eva Bay oder Stella Hilb, mit denen sie oft zusammenarbeitet. Was danach folge, sei „exzessive Recherche“ über Monate, aus der zum Schluss das Stück entstehe, „im stillen Kämmerlein mit Ohropax“. Zu Gute kommt ihr beim Schreiben, was sie, wie sie sagt, „von der Pike auf gelernt hat“: Sie nutzt die narrativen Qualitäten des Films für die Bühne. Ihr sei einmal gesagt worden, sie mache „Volkstheater“, erinnert sich Nora Abdel-Maksoud. „Ich glaube nicht, dass das ein Kompliment war. Aber es hat einen wahren Kern: Trotz des Referenzgewitters, das bei mir am Ende immer rauskommt, sind meine Stücke nicht reiner Diskurs-Fließtext. Es gibt Figuren und
Café Populaire
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Handlungsbögen, mit denen man mitgeht, auch wenn man nicht jede Referenz aufschnappt. Das ist sicher auch ein Angebot an Leute, die sonst lieber ins Kino als ins Theater gehen, weil es ihnen greifbarer erscheint.“ Sie will „Theater für alle“ machen. Aber sie macht eben auch Theater, das alle irgendwie herausfordert. Etwa durch eine Besetzung, die nebenbei daran erinnert, dass man Figuren aufgrund ihres Geschlechts, ihres Alters, ihres Akzents doch bitte nicht zu viel zuzuschreiben hat. „Unsere Sehgewohnheiten sind nach wie vor nicht da, wo ich sie gerne hätte. Das werfe ich nicht dem Publikum vor, sondern den Kulturschaffenden. Dagegen richtet sich der Protest, den ich und viele andere mit unserer Arbeit vorantreiben“, sagt Nora Abdel-Maksoud. Will sie als Theatermacherin die Sehgewohnheiten also schärfen? „Unbedingt. Ich glaube, man muss sie sogar umnieten.“ Wenn sich in ihren schwarzhumorigen Stücken eine Utopie findet, dann im Beweis, dass das nicht unmöglich ist. Man muss nur bei sich selbst beginnen. „I’m starting with the man in the mirror“, trällert das „Café Populaire“-Ensemble in einer maximal zynisch platzierten Michael-Jackson-Hommage. Nora Abdel-Maksoud meint es ernst mit diesem Witz: Kommt ins Theater. Wir stellen schon mal die Spieglein scharf.
Belle Santos
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Der Lifestyle-Blick der Medusa Christian Rakow Wie in guten Clubs muss man auch hier ein wenig warten, ehe sich die Pforten öffnen. Hinter der Absperrung erblickt man bereits Athleten beim Work-out. Beats wummern. „One, two, three“, pushen sich die Trainierenden. Und steppen! Und hoch die Knie! Und Muskeln spannen! Eine superschlanke Frau nähert sich unserer kleinen Zuschauergruppe, checkt jeden Wartenden mit relaxtem Blick. „Nice package!“, sagt sie freundlich bestimmt. In dieser Fitnesswelt spricht man bevorzugt Englisch. Die Geste ist einladend, niemand wird vor den Kopf gestoßen. Vielmehr impfen sie einen von der ersten Minute an mit Optimismus und „You can do it“-Spirit. Nur ob das eigene „package“ wirklich so gut ist, darf man später noch überprüfen. In einem Separee, wo Rahel Spöhrer im Look einer Tomb-Rider-Amazone zu Kniebeugen bittet, bis der Schweiß rinnt und man jedes einzelne Körpergramm hassen lernt. „Medusa Bionic Rise“ heißt dieses begehbare Studio, welches das Performancekollektiv The Agency 2017 beim Treibstofffestival Basel herausbrachte und seither an verschiedenen Orten (u. a. beim Donaufestival im österreichischen Krems) aufbaute. In der Fiktion stößt man auf eine Untergrundbewegung, die sich durch radikale Selbstoptimierung gängigen gesellschaftlichen Ansprüchen wie „Natürlichkeit“ oder auch Individualität entziehen will. Eine Selbstoptimierung, die austestet, wo der Körper mit der Technik zu verschmelzen beginnt, wo das humane Selbst aufhört und die CyborgExistenz beginnt. Dabei ist immer auch mitgedacht, dass das Unterwandern von technologischen Standards nur um den Preis ihrer Aneignung zu haben ist. Wer Tools, die Konzerne im Highend-Kapitalismus bereitstellen, für sich modifizieren will, der muss sie zuallererst gebrauchen lernen. Das gibt dem Auftritt eine schillernd affirmative Note. „Selbstoptimierung“ klingt als Wort fast ein wenig zu altertümlich. Wer mit den Macherinnen von The Agency redet, der findet sich schnell in einer Wolke aus anglophiler technizistischer Sprache wieder. „Radical enhancement“ heißt es dann und nicht: „extreme Leistungssteigerung“. Oder auch: Wie queer kann es werden?, nicht: Wie subversiv ist es, wie unterwandert es bestehende Normen? Die Gruppe würde auch nicht von „Stil“ oder „Machart“ sprechen, sondern von „Branding“ und „Corporate Identity“. Ganz offensiv werden die Rhetoriken und Strategien der avancierten Konsumindustrie für die eigenen Zwecke adaptiert.
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Schon der Name der Gruppe – The Agency – entspringt einem solchen Aneignungsverfahren. Gegründet hat sich das vierköpfige Frauenkollektiv 2015 mit einer Arbeit fürs Berliner Freie-SzeneNewcomerfestival 100 Grad. Yana Thönnes und Rahel Spöhrer haben sich im Studiengang Philosophie und Kulturreflexion an der Universität Witten-Herdecke kennengelernt, Belle Santos und Magdalena Emmerig stießen aus der bildenden Kunst von der Berliner Kunsthochschule Weißensee dazu. Gemeinsam realisierten sie für 100 Grad einen interaktiven Abend über das YouTubePhänomen ASMR, also Filme, in denen der Zuschauer von zumeist weiblichen YouTuberinnen mit Wohlfühlgeräuschen und Flüstern sinnlich stimuliert bzw. – wieder so ein Anglizismus – „getriggert“ werden. „ASMR Yourself“, wie der Abend am HAU in Berlin hieß, entwarf eine Lifestyle-Agentur, die für Zuschauer in One-on-One-Sessions persönliche Präferenzen scannte und dann entsprechende „Live-ASMR-Treatments“ anbot. Die Arbeit gewann einen der Preise des Festivals. Mit der Idee der Agentur hatte die Gruppe ihr Format – oder sollte man sagen: ihren Markenkern, ihren „unique selling point“ – gefunden und nannte sich fortan The Agency. Wobei das englische „Agency“ schön doppeldeutig ist. Denn es meint nicht nur die Agentur als Dienstleistungsanbieter, sondern auch das, was der Zuschauer in dieser Form von Theater erleben kann: „agency“, also Handlungsfreiheit, Einflussnahme auf das Geschehen eines Abends. Wer in eine Lifestyle-Welt wie „Medusa Bionic Rise“ eintritt, der wird einbezogen, der kann sich seine Blickwinkel frei wählen, führt Gespräche, lässt sich an der Bar einen Fitnessdrink mixen oder schlendert in separierte Bereiche wie den Konferenzraum, in dem Video-Tutorials zum Beispiel darüber informieren, wie man mit geschickter Kosmetik Technologien zur Gesichtserkennung austricksen kann. Schminktipps für die Hightech-Guerilla. Nicht jeden dieser Räume lernt man in den rund eineinhalb Stunden der Performance notwendig kennen. In einen der reizvollsten und geheimnisvollsten Bereiche gelangt man nur per Einladung durch eine der Performerinnen: Dort künden zwei Spielerinnen von der Figur des Basilisken, eines Mischwesens aus Vogel und Schlange, dessen Atem giftig ist und dessen Blick versteinert. Ähnlich dem Blick der für die Produktion titelgebenden Medusa. In verschlungene Erzählungen wird das Fabelwesen und seine Erscheinung in Basel mit neueren Gedankenexperimenten um die Allmacht der künstlichen Intelligenz verknüpft, die, sobald sie an
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die Macht gelangt, einen jeden tötet, der sich ihrer Entwicklung entgegenstellt. An diesem Ort verdichtet sich die Mythologie von „Medusa Bionic Rise“, spiegelt sich der körperkultische Abend im Blick auf uneindeutige Identitätsformen (Mischwesen) und entgrenzende Technologie (künstliche Intelligenz). Das interaktive Theater, das den Zuschauer aus dem Theatersaal herauslöst und ihn in begehbare Welten schickt, hat in den letzten Jahren einen starken Aufschwung genommen, ausgelöst vom Siegeszug des dänisch-österreichischen Installationstheaterkollektivs Signa, das mit der 2008 zum Berliner Theatertreffen eingeladenen mystischen Dorfwelterzählung „Die Erscheinungen der Martha Rubin“ seinen Durchbruch feierte. Gruppen wie Prinzip Gonzo oder machina eX mit tendenziell spielerischen, an Computer-Games orientierten Abenden, Thomas Bo Nilsson mit seinen düsteren Halbweltfantasien oder eben The Agency mit ihren Lifestyle-Erlebnisräumen arbeiten dieses Feld in je eigener Weise aus. Interaktives Theater muss dabei einen schwierigen Spagat zwischen Handlungsfreiheit für den Zuschauer und erzählerischer Kohärenz leisten. Gesucht ist die ideale Mitte, der „sweet spot“, wie es der Game-Theoretiker Michael Mateas nennt, der goldene Schnittpunkt zwischen freier Wirkungsmacht des aktivierten Besuchers (agency) und übergreifender Sinnstruktur bzw. Geschichte des Abends (narrative). In Arbeiten von Signa fühlt man sich am stärksten aktiviert, erlebt man die maximale „agency“. Jedes Hinzutreten, jedes Mitmachen des Besuchers verschiebt hier die Gestalt der Aufführung (was nicht heißt, dass es nicht übergreifende Abläufe und dramaturgische Bögen in ihren Abenden gäbe). Der Zuschauer wird im eigentlichen Sinne des Wortes zum Mitspieler, der durch sein Zutun die Ereignisse fundamental beeinflusst. Demgegenüber bauen die vom Adventure-Gaming inspirierten Arbeiten von machina eX auf fixe Skripte und Sinnstrukturen. Die Besucher sind hier vor allem als Knobler und Tüftler mit klar definierten Rätseln konfrontiert. Wenn sie diese gelöst haben, wird die Geschichte weitergespielt, in mitunter mehreren möglichen Handlungsverläufen und mit alternativen Enden, aber im Kern doch klar geskriptet. Diese Form des Interaktionstheaters maximiert also das „narrative“. „Medusa Bionic Rise“ von The Agency wiederum rückt dem Zuschauer nicht mit linearem Handlungsaufbau auf den Pelz. Man stromert hierhin und dorthin, nimmt eine kurze Identitätserzählung auf, folgt anderswo einem Tutorial. Und baut sich die Fragmente
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Videos und alle weiteren Fundstücke auf der Seite sind offizielle, von den Künstlerinnen erstellte Materialien der Produktion. Das Eigenwillige von The Agency steckt denn auch nicht so sehr in der interaktiven Methode, sondern im raffinierten Design, im offensiven Flirt mit den Zeichensprachen des neoliberalen Konsumismus. Die Gruppe selbst bezeichnet ihre Projekte nicht als „interaktiv“ oder „partizipativ“, sondern als „immersiv“. Der Terminus „partizipativ“ wurde lange Zeit für die demokratische Öffnung des Theaters verwandt, für die Durchbrechung der „vierten Wand“, für die künstlerische Einbeziehung des Zuschauers, in dezidiert politischen Projekten vom Experimentaltheater eines Richard Schechner bis zur Teilhabekunst einer Gruppe wie She She Pop. Das Schlagwort „immersiv“, das aktuell einen der großen Theatertrends bezeichnet (und unter dem Dach der Berliner Festspiele bereits einen theatralen Festivalschwerpunkt erhalten hat), hebt stärker auf die Erfahrungsqualität der Teilhabe ab. Es geht um die Erfahrung künstlicher Welten und ihrer eigentümlichen Regeln. Immersiv ist ein Projekt, in das man „eintauchen“ kann, in dem man gleichsam umfangen ist von einer künstlerisch generierten Realität, die man aktiv und eben nicht nur betrachtend durchlebt. Immersiv sind natürlich viele Produktpräsentationen im Spätkapitalismus, angefangen beim IKEA-Einkaufshaus mit seinen Wohnwelt-Entwürfen bis hin zu Theme Parks à la Disneyland. Im Fahrwasser von Horkheimer/Adorno und ihrer Kulturindustriekritik hatte sich die Kunst lange Zeit als das radikale Gegenteil dieser Welten definiert, als Unterbrechung der soften Schönheit der Markenarrangements. Mit The Agency oder auch mit der Theatersprache einer Susanne Kennedy lässt sich eine offensive Hinwendung zu solchen Arrangements beobachten. Welten, wie The Agency sie in „Medusa Bionic Rise“ oder in der Nachfolgearbeit „Perfect Romance“ (an den Münchner Kammerspielen 2018 herausgebracht) bauen, zeigen sich als radikale Verdichtung und Überzeichnung von marktförmigen Produktkonzepten und Dienstleistungen. Damit wandelt sich auch die Rolle der Kritik in diesen Arbeiten: Während viele Kunstwerke immer noch ihre eigene kritische Haltung in der Repräsentation selbst ausagieren bzw. sie geradezu direkt herausschreien, zielen die künstlichen Welten von The Agency auf maximale Geschlossenheit und Selbstverständlichkeit. Wenn es hier eine kritische Dimension gibt, dann zeigt sie sich nicht in einer Unterbrechung oder internen Selbstreflexion. Sie liegt außerhalb
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des Kunstwerks. Sie ist dem Rezipienten in seiner Auseinandersetzung mit der totalen, ja totalitären Ganzheit des Arrangements aufgegeben. Es nimmt nicht Wunder, dass The Agency in „Perfect Romance“ mit dem Post-Popliteraten Leif Randt („Schimmernder Dunst über Coby County“, „Planet Magnon“) zusammenarbeiteten, dessen „postpragmatische“ Literatur in ähnlicher Weise wie versiegelt wirkt. Diese Kunst hat die Brechung und Ironie der 1990er und 2000er Jahre hinter sich gelassen und entwickelt alle Kraft aus ihren kühl designten, rhetorisch und visuell durchgestylten hyperkapitalistischen Settings heraus. Die Website von The Agency heißt sinnfälligerweise www.postpragmaticsolutions.com. The Agency experimentiert mit „Erscheinungsformen des Neoliberalismus“, übersteigert sie, bürstet sie gegen den Strich. Es sind künstlerische Experimente aus „queer-feministischer Perspektive“, wie es in der Selbstbeschreibung der Gruppe heißt. „Medusa Bionic Rise“ ist ein Paradeabend für dieses Unternehmen. Fitness, Tracking der eigenen Leistungen, Schönheitschirurgie, Body Building und künstliche Intelligenz bzw. – in der Terminologie des Werkes – „mind-hacking“: Das sind die Darstellungsfelder, die der Abend aufmacht. Überall im Raum begegnen uns Figuren, die diese Felder in unterschiedlicher Weise besetzen: der Muskelprotz, die aufgepumpte Diva, die Athletinnen, die Prothesenträger. Es sind „queere“ Figuren, die ihr Gender schillern lassen. An ihnen manifestieren sich die Identitätsfragen dieses Abends, die aus feministischen Körper- und Cyborg-Philosophie entwickelt sind. Welche Normalität erwarten wir von Körper- und Selbstbildern? Wann ist der Eingriff in den Körper eine Selbstermächtigung? Wann empfinden wir ihn als fremdbestimmt? Wann gilt eine Programmierung überhaupt als künstlich und als „Eingriff“? Wieso akzeptieren wir etwa Kontaktlinsen, aber sperren uns gegen einen Chip unter der Haut? Man sagt ja neuerdings gern, das Theater müsse mehr wie Netflix werden, also mehr in die digitale Moderne senden, mit komplexen, theoretisch informierten Fiktionen. So wie CyberSerien à la „Westworld“ oder KI-Fantasien wie „Person of Interest“. Die Bühnen sollten an den großen Themen unserer Zeit miterzählen, Geschichten vom Glanz und Elend der Technologie, sollten den Zauber der Unterhaltungsformate versprühen, uns auf die Transformation unserer Lebenswelten und unseres Selbstverständnisses stoßen. The Agency zeigen, in welche Richtung dieser Weg der Erneuerung des Theaters verlaufen könnte.
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Text und Regie
Camille Dagen
Durée d’Exposition Animal Architecte
Bühne und Kostüme
Uraufführung
Emma Depoid
Oktober 2016
Sound Design
Kaspar Tainturier-Fink
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Der Verlust der Liebe Anna Vollmer Interessieren Sie sich für Analogfotografie? Oder erinnern Sie sich noch, wie man damals, als es noch keine Digital- und Handyfotografie gab, wartete – tage- oder wochenlang, bis man das Bild sehen konnte, das man vor längerer Zeit geschossen hatte? Und als man längst vergessen hatte, warum und wovon man ein Foto gemacht hatte? Als es zu unerwarteten Begegnungen kam mit Menschen und Gesichtern, die es im Leben nicht mehr gab, weil man sie im Urlaub getroffen oder sich von ihnen getrennt hatte? Das Theaterstück „Durée d’exposition“ der Regisseurin Camille Dagen und ihrer Gruppe Animal Architecte erzählt von der Analogfotografie, genauer: vom sogenannten latenten Bild, von dem Zeitpunkt, zu dem der Auslöser bereits gedrückt wurde, der Film aber noch nicht entwickelt ist. Das Bild ist da und auch wieder nicht. Unveränderbar, ohne sichtbar zu sein. Eine Leerstelle. Die Mitglieder von Animal Architecte lernten sich während ihres Studiums am Théâtre National de Strasbourg, kurz TNS, kennen, wo Studierende mit unterschiedlichen Schwerpunkten – Schauspiel, Regie, Ausstattung und Dramaturgie – gemeinsam ausgebildet werden. Camille Dagen, die 26 Jahre alt ist, hatte Literatur und Philosophie an der renommierten École normale supérieure in Paris studiert, bevor sie nach Strasburg kam und dort 2017 ihren Abschluss als Schauspielerin machte. An der TNS traf sie die Szenografin Emma Depois, mit der sie sehr bald eine enge Freundschaft und Zusammenarbeit verband. Sie schrieben eine Art Manifest, in dem sie ihre künstlerischen Ideen festhielten, und sie gründeten Animal Architecte. Mit der Zeit kamen andere dazu, etwa Kaspar Tainturier-Fink, der Dramaturgie, und Hugo Hamman, der Regie studierte. „Wir arbeiten zusammen, aber wir sind trotzdem kein Kollektiv“, erzählt Dagen. „Wir teilen unseren künstlerischen Ansatz und wir treffen Entscheidungen zusammen, aber wenn ich die Regisseurin eines Stückes bin, dann wird darin mein persönlicher, sehr subjektiver Standpunkt sichtbar.“ Die Idee zu „Durée d’exposition“ kam dementsprechend auch von Dagen: Ganz am Anfang habe da der Gedanke gestanden, ein Stück über Analogfotografie und Verlust zu machen. Den Verlust einer Liebe. Während man sich unter Liebeskummer ja durchaus etwas vorstellen kann, lässt sich das Konzept des latenten Bildes deutlich weniger greifen. Weshalb es nicht gerade einfach ist zu beschreiben, was in „Durée d’exposition“ eigentlich passiert.
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Ein Stück über Fotografie, das klingt abstrakt, technisch, was der Inszenierung jedoch in keiner Weise gerecht wird. Denn das, was am Ende der Vorstellung in Erinnerung bleibt, ist neben dem durchaus ungewöhnlichen Konzept vor allem die Spielfreude der Darsteller, deren Präsenz, die sich unmittelbar auf das Publikum überträgt. Das Stück erläutert zunächst die Bedingungen, die es braucht, um zu fotografieren: die möglichen Einstellungen festlegen, ein Motiv wählen. So kommen die Fragen auf, um die „Durée d’exposition“ kreist. Die Wahl eines Motivs sagt etwas darüber aus, was wir bewahren möchten. Denn ein Foto zu schießen, das bedeutet: einen Moment festhalten zu wollen, der nie mehr wiederkehren wird. In der Hoffnung, zumindest einen Funken dessen, was man erlebt hat, irgendwie retten zu können. Doch es bedeutet auch: Grenzen zu ziehen, auszuwählen. Was geschah außerhalb der Ränder des Bildes, fragt man sich manchmal, wenn man alte Fotos anschaut. Wem gehört der Arm dort in der Ecke? Ein Foto setzt einen Fokus, es hat Tiefenschärfe und hebt gewisse Dinge hervor, während es andere verbirgt. Vielleicht ist es gerade deshalb Ausdruck unserer subjektiven Wahrnehmung der Welt und erzählt viel über die Frage, was uns wichtig erscheint. So ist es nicht abwegig, anhand der Fotografie vom Verlust zu erzählen. „Analogfotografie hat etwas sehr Nostalgisches an sich“, so Dagen, „aber ich denke, das ist nicht der Hauptaspekt des Stücks. Zum einen ist es etwas, das mir einfach gefällt, das ich gerne mache. Zum anderen sind wir eine Art Zwischengeneration: die letzte der alten, die erste der neuen Welt. Das ist ein Gedanke, der mich sehr berührt. Wir wissen alle, was Analogfotografie ist, sie ist Teil unserer Vergangenheit, aber in dieser neuen Welt, in der wir heute leben, spielt sie keine Rolle mehr.“ So geht nicht nur eine Liebe verloren oder ein Moment, sondern auch eine Art und Weise zu leben. Die Idee des latenten Bildes vermittelt etwas, das es in der heutigen Welt immer weniger gibt: Nicht nur in der digitalen Fotografie bleibt uns das Warten erspart, sondern überall. Die Möglichkeit, alles zu wissen oder zumindest herausfinden zu können, gehört inzwischen zu unserem Alltag. Man mag sich also fragen, wo es heute noch Leerstellen wie die des latenten Bildes gibt. Und wo möglicherweise neue entstanden sind. „Die Welt heute ist so komplex. Was an ihrem anderen Ende passiert, ist uns nah, aber natürlich auch, was um uns herum ist“, so Dagen. „Durée d’exposition“ erzählt also nicht nur vom Verlust einer Liebe, sondern auch von Veränderung und vergangener Zeit. Vom Verlust einer Welt und dem, was wir von ihr bewahren möchten.
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nur Dinge zu tun, die sich nicht aufschieben lassen, die unvermeidlich in der Gegenwart verhaftet sind: ein Eis essen zum Beispiel. Am Anfang der Aufführung stehen die beiden Schauspieler Thomas Mardell und Hélène Morelli vor ihrem Publikum und definieren die Umstände, unter denen alle heute zusammengekommen sind. Ort und Datum, aber auch: „Die letzte Zeitungsschlagzeile, die ihr heute gelesen haben könntet, lautet: …“ Hier sitzt man also, eine bestimmte Gruppe, in einem bestimmten Raum, in einer Konstellation, die es so nie mehr wieder geben wird. Wie ein Foto hat jede Situation, jeder Raum, jede Person ihre Grenzen, die Animal Architecte versuchen, auf der Bühne zu definieren. Hélène Morelli kann nicht auf Knopfdruck weinen und will sich nicht ausziehen; Thomas Mardell kann nicht singen, hat aber durch einen Motorradunfall gelernt, sich mit einer Hand die Schuhe zu binden. Die Zuschauer werden sich unweigerlich des Raums gewahr, in dem sie sich befinden, dieses geschlossenen Theaterraums, in dem ihnen nun, trotz all seiner Grenzen, eine geradezu universelle Geschichte erzählt wird: die Geschichte einer Trennung. „Durée d’exposion“ nimmt sich viel Zeit für die Festsetzung dieses Rahmens, der für das Stück auch jenseits seiner technischen Seite von Bedeutung ist. „Einen Rahmen festzulegen, ist für mich durchaus eine politische Geste“, erklärt Dagen. „Nicht im strengen Sinne, denn wir beziehen keine Positionen. Es ist eher eine Haltung, eine Art, die Dinge zu betrachten. Hinter den Rahmen zu schauen, den jemand anders dir vorgibt.“ Wenn am Anfang der Inszenierung angekündigt wird, heute werde es weder um Macron noch um Trump gehen, so stehen beide unwillkürlich im Raum, ohne je wieder erwähnt zu werden. Auch an dieser Stelle ist es den Zuschauern überlassen, was sie darüber denken. Was ist also präsenter: das, was sich außerhalb, oder das, was sich innerhalb des Rahmens befindet? All diese Fragen stellen sich beim Zuschauen. Was sind etwa meine eigenen Grenzen und natürlich auch: Was sind die Grenzen des Theaters? Und gibt es sie überhaupt? Schaut man sich „Durée d’exposition“ an, so hat man den Impuls, die letzte Frage mit Nein zu beantworten. „Ich teile mit Emma die Ansicht, dass Theater keine eigene Form ist, sondern vielmehr eine Möglichkeit, alle anderen Formen, die uns heutzutage zur Verfügung stehen, zu kombinieren“, sagt Dagen. Jeder könne seine eigene Richtung einbringen, ob es nun moderne Kunst, Grafikdesign oder das Schreiben sei. Eine kleine factory sei das Ziel, in der nicht nur Theaterstücke, sondern auch Dokumentarfilme, Bücher oder
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Performances entstehen könnten. Immer wieder habe sich gehört, dass sie Fotografie und Theater nicht kombinieren ließen, das habe in ihr den Impuls geweckt, das Gegenteil zu beweisen. Es ist ihr gelungen. So präzise die Umstände des Abends, sein Rahmen, auch definiert werden, so klar ist auch, wie viel nicht erzählt wird. Um sich all das zu denken, die Fotografie zu sehen, die an diesem Abend entstehen wird, muss man sich seiner Fantasie bedienen. „Ich wollte mit dem Stück bewirken, dass die Leute in sich hineingehen, dass sie sich vorstellen, was nicht gezeigt wird. Man sieht es beim Publikum, das sich an einem bestimmten Moment mehr in sich zurückzieht“, erzählt Dagen. Tatsächlich wird es im Verlauf der Aufführung merklich ruhiger: Als die Einstellungen, der Rahmen, festgelegt sind und das Motiv, Trennung, gewählt ist, weicht das laute Lachen vom Anfang einer stillen Intimität. Trennung und Verlust, das Ende einer Liebesbeziehung, sind Themen, die wir zu kennen glauben. Weil wir sie selbst erlebt haben und weil Filme, Bücher, Lieder immerzu von ihnen erzählen. Und doch erleben wir sie jedes Mal neu, weil immer etwas ungesagt bleibt. „Durée d’exposition“ macht auch das zum Thema, indem es sich unter anderem einiger Herzschmerzklassiker bedient, die im Kontext des Stücks trotzdem nicht abgedroschen wirken. Wenn Hélène Morelli mit einer Zuschauerin zu „My heart will go on“ tanzt, besteht natürlich die Gefahr, die Szene ins Kitschige oder Ironische abgleiten zu lassen. Erstaunlicherweise geschieht keines von beidem. „Welche Bilder, welche Gegenstände brauchen wir noch?“, fragt sich Dagen. „Ich mag minimalistisches Theater, mein Kopf hat dabei seinen Spaß, aber trotzdem habe ich dabei das Gefühl, dass etwas fehlt.“ Ihr gefalle Theater, bei dem sich komplexe Themen und Konzepte mit echter Bühnen- und Spielfreude verbinden ließen. Und geht man nicht gerade deshalb ins Theater? Auch „Durée d’exposition“ gelingt diese Verbindung: Der Kopf ist beschäftigt mit Texten, Ideen und Assoziationen. Aber an keinem Punkt wird es so abstrakt oder konzeptuell, dass dabei die Freude und auch die momentane Gedankenlosigkeit beim Zuschauen gänzlich verloren ginge. Es fehlt nie an Humor, Leichtigkeit und Gefühl. Mit Sicherheit liegt das auch an den beiden wunderbaren Schauspielern, denen man anmerkt, wie sehr sie sich selbst einbringen. „Ich bin auch Schauspielerin“, sagt Dagen „natürlich habe auch ich bestimmte Limits. Ich bin zum Beispiel sehr groß. Wie oft haben mir Regisseure gesagt: ‚Nein, das geht nicht, das passt nicht
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zu dir.‘ So wollte ich nie mit meinen Schauspielern sprechen. Sie sollen keinen Teil ihrer Persönlichkeit auslöschen müssen, um in meinem Stück auf der Bühne zu stehen.“ Obwohl Gruppe und Mitglieder noch jung sind, sind sie bereits sehr erfolgreich. Im vergangenen Jahr war Animal Architecte zum Festival Fast Forward, dem europäischen Festival für junge Regie in Dresden, eingeladen und gewann dort nicht nur den Preis des Publikums, sondern auch den der Jury, der Dagen eine Inszenierung am Schauspiel Dresden ermöglichte. Dieser Erfolg ist sicher auch der Tatsache zu verdanken, dass die Dynamik der ganzen Gruppe im Publikum spürbar wird. „Durée d’exposition“ ist das Ergebnis eines Dialogs zwischen allen Mitwirkenden, kein Stück, in dem ein mächtiger Regisseur seine Idee auf Kosten seines Ensembles durchdrücken möchte. Diese hierarchischen Strukturen am Theater seien schließlich immer noch sehr verbreitet, meint Dagen, auch wenn einiges im Wandel sei. Animal Architecte ist es wichtig, genau diese Art des Umgangs zu vermeiden: „Es sollte eher so laufen, dass der- oder diejenige, die Regie führt, sagt: ‚Ich habe da eine Idee, aber alleine klappt das nicht. Ich brauche eure Hilfe.‘“ Passenderweise wird sich das nächste Projekt von Animal Architecte mit genau diesem Thema beschäftigen. „Bandes“, so der Titel, wird die Geschichte der Dadaisten, der Situationistischen Internationale und der Punk-Bewegung miteinander in Verbindung bringen. Es soll um enge Freundschaft, kontroversen Austausch und Zusammenarbeit gehen. Man kann sich gut vorstellen, dass Animal Architecte dafür die passende Sprache finden wird.
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Regie
Anta Helena Recke
Angstpiece von
Bühne
Anta Helena Recke und Julia*n Meding
Marta Dyachenko, Wendelin Kammermeier Kostüme
Uraufführung
Mascha Mihoa Bischoff
13. November 2018
Dramaturgie
Joy Kristin Kalu, Annett Hardegen Eine Produktion von Meding/Recke
Musik
in Koproduktion mit den
Julia*n Meding
Münchner Kammerspielen, Gessnerallee Zürich und Sophiensæle.
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Theatertherapie Eva Behrendt Julia*n Meding hat Auftrittsangst. Sechs Versuche sind nötig, bis sie es tatsächlich schafft, die Tür vom Flur in den Hochzeitssaal, einen der Spielräume der Berliner Sophiensæle, nicht nur zu öffnen, sondern auch durch sie hindurch auf die Bühne zu treten: Das Publikum, das ihre Anläufe per Live-Video-Projektion auf der Rückwand verfolgt, hört ihr geräuschverstärktes Herzklopfen, sobald sie die Hand auf die Türklinke legt, sieht, wie sie sich beim Husten gegen die Atemnot krümmt. Alles nur gespielt? Mit geradezu aggressiver Schüchternheit erzählt die zierliche, sensible Performer*in von ihrer Agoraphobie und dem Vorsatz, sie hier – vor Publikum, im Theater – zu therapieren. „Jetzt fragt Ihr Euch vielleicht, warum zur Hölle ist sie Theatermacherin geworden, wenn sie Angst vor öffentlichen Situationen hat?“ Fragen stellen sich viele in Julia*n Medings und Anta Helena Reckes „Angstpiece“, einer Koproduktion der Sophiensæle mit den Münchner Kammerspielen und des Theaterhauses Gessnerallee in Zürich. Das fängt schon an bei der queeren Identität von Julia*n Meding, die sich mit Sternchen schreibt, aber Julian nennt und über sich im Femininum spricht. Auch im Verlauf der Performance ist es nicht leicht, sich in der dichten, aber nie hektischen Abfolge von Situationen, Objekten und Texten, denen sich das „therapeutische Subjekt“ Julia*n stellt, zurechtzufinden: Was hat es zum Beispiel mit den unterschiedlich großen Kugeln aus NATO-Draht auf sich, die sich Seite an Seite mit Kuschelponys und aufblasbarem Kunststoffspielzeug, darunter eine ziemlich große Hüpfburg, auf der Bühne befinden? Was sind das für Texte, die offenbar aus ganz unterschiedlichen Quellen collagiert sind, von der YouTube-Gedankenreise „an einen sicheren, inneren Ort“ bis zu den Invektiven Robert Pfallers, die hier Julia*ns Therapeut in den Mund gelegt sind, der behauptet, Erwachsene bräuchten keine politisch korrekte Sprache, das sei anti-aufklärerisch? Und was, bitte, ist überhaupt die Moral von der Geschicht’? Anta Helena Recke und Julia*n Meding, die sich in Hildesheim beim Studium der Theaterwissenschaft kennengelernt haben, sind überzeugt davon, dass Fragen im Theater interessanter sind als Aussagen und didaktische Botschaften. In mehreren gemeinsamen Projekten haben sie schon versucht, „für das Publikum Erfahrungsräume zu konstruieren, die es sonst nicht betreten würde“. Diese Räume zeichnen sich durch die Perspektiven ihrer
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Architekten aus: Die Regisseurin Anta Helena Recke ist schwarz, Performer*in Meding neurodivers und queer – Qualitäten, die von der Norm der Mehrheitsgesellschaft abweichen. In „Lovepiece“, das 2015 bei den Treibstoff Theatertagen an der Kaserne Basel herauskam, klopften Recke und Meding die Dating-Praxis als zeitgenössische Anbahnungsform romantischer Liebe auf normative Vorstellungen ab. Dabei versuchten Julia*n und die schwedische Performerin Francine Agbodjalou, in einem Metallgerüst (mit zwei Hängematten) des bildenden Künstlers Johannes Buss ganz konkret und körperlich zusammenzukommen. „Elegie I“, das 2017 im Rahmen des theatralen Forschungsprojekts „Pharmakon“ von Stefanie Wenner und Thorsten Eibeler entstand, ist geradezu eine Vorstudie zu „Angstpiece“: Auch hier geht es um eine Panikattacke Julia*ns und den Versuch, den mit ihr verbundenen psychischen Prozess („Man nennt es Teufelskreis“) auf der Bühne mit Schaumstoffklötzen zu verräumlichen – und zu durchbrechen. Den intensivsten Text der Performance haben Meding/Recke sogar an den Schluss von „Angstpiece“ kopiert. Darin schildert Julia*n, wie sie vor der Phobie kapituliert und ihre Symptome genießt, als wären sie immersives Theater: „Das ist mein ganz persönlicher Horrorfilm.“ „Wir als Duo kommen nicht aus der Lust am Geschichten erzählen, sondern sind von diskursiven Gedanken getrieben“, erklärt Anta Helena Recke, die 2017 mit einem Konzeptkunstwerk weit über die freie Szene hinaus Furore machte: Ihre sogenannte Schwarz-Kopie von Anna-Sophie Mahlers Münchner-KammerspieleInszenierung des Bierbichler-Romans „Mittelreich“ war im Jahr darauf sowohl zum Berliner Theatertreffen als auch zu Radikal jung eingeladen. Recke hatte tatsächlich versucht, die Inszenierung möglichst genau zu kopieren (sofern das überhaupt möglich ist), aber einen entscheidenden Aspekt zu verändern: Sie ersetzte den Cast aus weißen Ensemble-Spielern durch schwarze Schauspieler. Mit dieser Strategie der Appropriation Art rüttelte sie die verbreitete Überzeugung, das deutschsprachige Theater sei weltoffen, tolerant und stünde jedermann und jederfrau sperrangelweit offen, kräftig durch. Denn wenn es stimmt, was viele weiße Zuschauer behaupteten – „Die Hautfarbe hat für mich gar keine Rolle gespielt“ –, stellt sich die Frage, warum man die fest engagierten schwarzen Spieler sämtlicher deutscher Theaterensembles immer noch an zwei Händen abzählen kann. An den sich als diversityfreundlich verstehenden Kammerspielen etwa gab es im Probenzeitraum keinen schwarzen Spieler.
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Der Diskurs, auf den „Angstpiece“ Bezug nimmt, ist ähnlich widersprüchlich wie die Farbenblindheit einer Gesellschaft, die Rassismus weit von sich weist. Bei der Beschäftigung mit Agoraphobie und öffentlich geäußerten Ängsten haben Recke und Meding im Internet Material gesammelt, aber auch Fachbücher gewälzt: „Im Laufe der Recherchen haben wir eine ambivalente Haltung zu diesen Pathologisierungen eingenommen. Um überhaupt als Subjekt in der psychologischen Forschung vorzukommen, musste man lange ein weißer Mann sein. Pathologisierung passiert einerseits aus einer Privilegiertheit heraus, stellt andererseits aber auch einen Unterdrückungsmechanismus dar, indem sie eine Norm definiert und menschliches Verhalten, das davon abweicht, mit dem Krankheitsstigma sanktioniert.“ Gerade in Hinblick darauf, ob Gefühle und Verletzlichkeit legitim sind, werde häufig mit „zweierlei Maß“ gemessen: „Als wir probten, fanden in den USA gerade die Anhörungen des Richters Brett Kavanaugh und der Psychologieprofessorin Christine Blasey Ford statt, die ihn der versuchten Vergewaltigung beschuldigt hatte. Anders als Blasey Ford agierte Kavanaugh bei seiner Anhörung an vielen Punkten unsachlich, wütend, beleidigt. Unglaublich, wie viel Platz er mit seiner Emotionalität einnehmen konnte, ohne dass das an sich in Frage gestellt wurde. Ganz ähnlich wie hier die „besorgten Bürger“, deren Ängste sogar Sahra Wagenknecht ernst nehmen will. Was die Legitimität von Emotion als Teil des politischen Diskurses angeht, so sind anscheinend die angeblichen Sorgen einiger Menschen legitimer als die von anderen. Denn in Argumentationen gegen die Political Correctness findet man fast immer den Einwand, dass man ja nicht alle Befindlichkeiten von diskriminierten Gruppen ernstnehmen könne, weil das dann doch einfach zu weit führen würde und man in einer Demokratie vieles auch einfach aushalten müsse. Weder Kavanaugh noch die besorgten Bürger haben es direkt in das „Angstpiece“ geschafft. Vielleicht wäre das zu konkret, zu direkt gewesen. Was nicht heißt, dass auf der Bühne nicht sehr konkrete Dinge geschehen. Das liegt auch an Julia*n und ihrer offen geäußerten Absicht, sich auf der Bühne selbst zu therapieren. „Als ‚therapeutisches Subjekt‘ signalisiere ich die Bereitschaft, Hilfe anzunehmen und mich zu verändern“, erklärt Meding, die schon öfter solistisch als ihre eigene, selbstgeschöpfte Kunstfigur aufgetreten ist, etwa in Boris Nikitins „Hamlet“. Schon damals war von einer Angststörung die Rede, aber auch von Erlebnissen wie dem Tod des Vaters, die sich als Parallelen oder Kommentar zu Shakespeares Hamlet lesen ließen. Auch in „Angstpiece“ steht Medings
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schwer zu greifende, eigentümlich unvergleichliche Persönlichkeit im Zentrum. In einer Videosequenz berichtet Julia*n von Tennis in ihrer Jugend, ein Sport, der Ende des letzten Jahrhunderts klar eine privilegierte Klassenzugehörigkeit anzeigte. In einer anderen Filmsequenz befragt Julia*n einen Tennistrainer, wie sie es schaffen kann, 24 Stunden lang Tennis gegen die Wand zu spielen – „eher eine psychische Herausforderung“, vermutet der Trainer. Auch wenn das 24-Stunden-Projekt in „Angstpiece“ dann nicht sichtbar wird, ist doch Julia*ns „Class-Hintergrund“, wie sie es nennt, sichtbar eingeflossen. An anderer Stelle zieht sie die grauen Klebebänder, die den Bühnenboden in gleichmäßige Quadrate teilen, so ab, dass sie sich in den NATO-Drahtkugeln verhaken, dann legt sie ein Paar weiße Handschuhe an, an denen in Ellenbogenhöhe lange, weiße Haare angenäht sind. Mit diesen Haaren „fegt“ sie die NATODrahtkugeln an den Bühnenrand: Das Weiche, Fließende verdrängt hier das lebensgefährlich Scharfe. Abstrakte und überaus komplexe Diskurse in konkrete Situationen auf dem Theater zu übersetzen – das ist der Kern von Reckes und Medings Zusammenarbeit. Dazu braucht es keinen Plot, keine dramatische Handlung, keine Katharsis und keine „Moral“ – das Framing „Ich therapiere mich vor euch im Theater“ genügt. Gleichwohl ist es ungewohnt, sich auf die Aneinanderreihung von Situationen und Handlungen einzulassen, ohne dabei zu einer eindeutigen Auflösung oder gar Heilung zu gelangen. „Es ist wichtig, dass keine komische Exklusivität entsteht unter Leuten, die die Diskurse kennen“, meint Julia*n Meding. Tatsächlich stimmt es auch umgekehrt: Selbst wer die angespielten Diskurse um psychische Krankheiten, Privilegien, Sexismus und Rassismus bestens zu kennen glaubt, wird sie in „Angstpiece“ nicht sofort entschlüsseln können, sondern ihnen neu begegnen. „In meinem nächsten Projekt arbeite ich mit der Hypothese, dass sich die vierte Kränkung der Menschheit bereits vollzogen hat“, erzählt Anta Helena Recke. Nach den ersten drei „Erschütterungen der menschlichen Eigenliebe“, wie Freud es nannte – nämlich durch Kopernikus (die Sonne kreist nicht um die Erde, sondern umgekehrt), Darwin (der Mensch ist auch nur ein Tier) und Freud (weil es das Unbewusste gibt, ist der Mensch nicht Herr im eigenen Haus) – bestehe nun die vierte darin, dass der weiße, heterosexuelle christliche Mann nicht der Universalmensch schlechthin ist. Der „postkolonial-antipatriarchale Turn“, wie Recke es nennt, löse allerdings weltweit ähnlich heftige Abwehrmechanismen aus wie
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die Erkenntnisse von Darwin, Freud und Kopernikus. Als Seismograf dafür kann man das globale Erstarken der rechtspopulistischen Bewegungen oder Phänomene wie „Men’s Rights Activism“ ausmachen, aber auch Aggressionen, die die Forderung nach Political Correctness, nach angemessener Repräsentation angeblicher Minderheiten wie Frauen, LGTBQ-Personen und People of Color regelmäßig hervorruft, ein Beispiel dafür sind die Kritiken zu „Mittelreich“. „Wenn ich von einer intersektionalen Position aus, das heißt, auf alle Diskriminierungen gleichermaßen bezogen argumentiere, höre ich häufig: ‚Wir sind doch nicht im Kindergarten!‘“, sagt Julia*n Meding. Das Nicht-ernstnehmen-Wollen von durch Diskriminierung sensibilisierten Menschen spiegelt sich auf Meding/Reckes „Angstpiece“-Bühne vielfach wider. Eine der stärksten Szenen des Stücks ist deshalb der Auftritt eines Kindes, das betont angstfrei auf die Bühne stürmt, die Spielzeugponys umschmeißt, ein Plastiktier über die Bühne kickt und auf die Hüpfburg will. Nicht nur, dass die kindliche Energie in maximalem Kontrast zu Julia*ns Kunstfigur steht. Hier macht „Angstpiece“ tatsächlich so etwas wie einen Rettungsvorschlag: Julia*n erklärt dem tobenden Kind, dass es besser dem lebensgefährlichen NATO-Draht fernbleibt. Selbst ein „therapeutisches Subjekt“ kann nämlich Verantwortung für andere übernehmen.
Jesse Inman, Bardo Böhlefeld und Sophia Löffler
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Schweine in Brüssel Theresa Luise Gindlstrasser Martin Susman schwitzt. „Er schwitzte wie ein Schwein.“ Während sein Bruder Florian in Österreich die elterliche Schweinezucht zu expandieren versucht, arbeitet er als Beamter der Generaldirektion Kultur für die Europäische Kommission. Und während ein freilaufendes Schwein durch die Gassen von Brüssel hetzt, bereitet er sich auf eine Dienstreise nach Auschwitz vor. Es ist Winter. Es ist kalt. Aber: „Was für eine Schnapsidee, die warme Unterwäsche gleich anzuziehen.“ Dieser schwitzende Susman – Schauspieler Simon Bauer schüttet einen Becher Milch in sich hinein – führt in Lucia Bihlers Inszenierung von Robert Menasses Roman „Die Hauptstadt“ seinen inneren Monolog per Audio-Einspielung. Bauer windet sich beiläufig aus dem schwarz-glänzenden Anzug heraus, steht in langer „deutscher Unterwäsche“ da. Der Ärger über seine Unfähigkeit, sich adäquat zu kleiden, hindert Susman daran, seinem Kollegen Bohumil Smekal, dargestellt von Jesse Inman, adäquat zuzuhören. Dessen Ausführungen über die Absurdität und Abscheulichkeit einer Welt, in der politische Gräben (wieder) mitten durch Familien gehen, bringt Inman von seinem unruhigen Gesprächspartner unbeirrt vor. An der Rampe stehend, nippt er bedächtig an einem Becher Milch. Bihler verschneidet den gesellschaftspolitischen Dialog zwischen Susman und Smekal mit dem privatistischen Monolog – „die Dienstreise nach Polen möglichst unbeschadet an Leib und Seele hinter sich bringen“ – durch Ineinander-Verschiebung der Live- und der Audio-Ebene. Dieser Kontrast birgt nicht nur Komik, ist ein ausgezeichnetes Beispiel für Bihlers Feinfühligkeit in der Kreation von Spielsituationen. Immerhin handelt es sich bei „Die Hauptstadt“ um die Bühnenadaption einer Romanvorlage. Um eine Aufgabe also, die schnell mal im mühsamen Abstottern von erzählten Ereignissen verläuft. Bihler aber, gemeinsam mit Dramaturg Tobias Schuster verantwortlich für die straffe Textfassung, theatralisiert den Stoff. Für das sechsköpfige Ensemble gibt’s beständig was zu tun. 1988 in München geboren, studierte Bihler an der Hochschule für Schauspielkunst „Ernst Busch“ in Berlin. Zuerst Regie, dann auch Choreografie. 2011 gründete sie die freie Kompanie gold& hiebe, mit der Arbeiten am Ballhaus Ost und Maxim Gorki Theater realisiert wurden. Sie inszeniert am Deutschen Theater Göttingen, Schauspiel Leipzig, Staatstheater Oldenburg, Theater Lübeck, Schauspiel Hannover und anderen Bühnen. Bihler über ihre Ar-
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beitsweise: „Das Wichtigste an meinen Arbeiten ist mein künstlerisches Team, in dem alle im jeweils eigenen Bereich radikal und konsequent Künstler sind. Aber auch der Austausch untereinander inspiriert mich. Ich habe einen ziemlich großen Kreis an Schauspielern, Dramaturgen, Künstlern, Musikern und Regisseuren, mit denen ich mich beständig treffe und die mich bei meinen Proben besuchen. Kritik von Menschen, die ich schätze, ist ein wichtiger Teil meines Arbeitsprozesses. Und: Gute Schauspieler inspirieren mich natürlich immer. Mit „gut“ meine ich Schauspieler, die ein ausgeprägtes Wirkungsbewusstsein, eine sehr körperliche Spielweise haben, extrem formal arbeiten und gleichzeitig die Form füllen können. Mega-wichtig ist dabei ein uneitles, angstfreies, prozessorientiertes Arbeiten.“ Und: „Bei Figuren interessieren mich meistens die Außenseiter, die Unterdrückten und Zurückgelassenen, die Ausgestoßenen, die im kapitalistischen System nicht funktionieren. Oft auch die allerkleinste Rolle im ganzen Stück. Mich interessieren Charaktere, die einen eigenständigen Blick auf die Welt haben. Das Fantastische im Alltäglichen, die Verschiebung, die Lücke.“ Am Schauspielhaus Wien eröffnete Bihler mit ihrer österreichischen Erstaufführung von „Die Hauptstadt“ die Spielzeit 2018/19. Bereits im ersten Jahr der Intendanz Tomas Schweigens war eine Arbeit von ihr zu sehen: „Der grüne Kakadu“ nach Arthur Schnitzler, in einer Version mit Texten von Bernhard Studlar. Auch den Schriftsteller Menasse verbindet eine vorangegangene Produktion mit dem Schauspielhaus Wien. Schweigens erste Premiere, „Punk & Politik“, sinnierte 2015 ausgehend von dem Essay „Der Europäische Landbote“ schon einmal über das Potenzial einer „nachnationalen Demokratie“. Für seinen EU-Wimmelbild-Roman „Die Hauptstadt“ erhielt Menasse 2017 den Deutschen Buchpreis. Eingebettet in Bürokratie-Scharmützel und brüsselsche Alltagsbeobachtungen, spannt der in Wien geborene Autor einen Bogen von Zypern bis Schwein, von Holocaust bis Senf, von Flucht bis Handel und lanciert seine Überlegungen zur Überwindung von Nationalstaaten. Die Uraufführung des Stoffs erfolgte 2018 durch Tom Kühnel am Theater Neumarkt in Zürich. Lucia Bihlers Inszenierungen zeichnen sich durch konsequente ästhetische und körperliche Setzungen aus. Die Ästhetik ist den Arbeiten nicht äußerlich, sondern Voraussetzung für das Verstehen der inhaltlichen Anliegen. In der wiederholten Zusammenarbeit mit dem Bühnen- und Kostümbildner Josa Marx entstehen formstrenge Arbeiten aus einem Guss. Aus einem – richtig weirdem – Zuckerguss. Wobei dieser Zuckerguss nicht über einen
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stimmten, eigenen Welt auf der Bühne, die ein sinnlicher Ausdruck für mein jeweiliges inhaltliches Anliegen ist.“ Bei „Die Hauptstadt“ verschieben Make-up und Körperhaltungen die Figuren ins Zombiehafte. Videos mit Vanitas-Stillleben. Schimmlige Zitronen und eine in Milch ertrunkene Motte. Im Brüssel-Kabinett vereinsamen überarbeitete, ehrgeizige Untote und blutleere Geisterbahnfiguren selbst dann noch, wenn sie gemeinsam an der grün-marmorierten Hotelkellerbarkulisse lehnen. Sowieso stellen die Zombies den Verfall der EU-Gemeinschaft dar, das Bild motiviert sich jedoch nochmal tiefsinniger aus dem Text. Susman, zufällig zuständig für die Ausarbeitung des „Big Jubilee Project“, imaginiert für den fünfzigsten Geburtstag der Europäischen Kommission einen Auftritt von Auschwitz-Überlebenden, unterbricht sich selbst, „die Toten müssten auftreten“, ob es nicht vielleicht Schauspieler gebe, etwas mit Symbolkraft, schließlich ist die EU-Gemeinschaft in der Krise, jedenfalls: „die Toten müssten auftreten“. Susman sei bei seiner Dienstreise „Guest of Honour“ in Auschwitz gewesen. Das erzählt Bauer neben Inman in einer im linken Bühnen-Hinten gelegenen Saunakabine stehend. Schon wieder wird geschwitzt. Schilder gäbe es in Auschwitz: „No Smoking in Auschwitz – Es war grotesk!“ Dass das sonst Alltägliche – die Beschriftung von Gästepässen, die Beschriftung von Schildern – in Auschwitz grotesk und zynisch ist, verhilft Susman zu einer Idee, die er seiner Chefin unterbreitet. Sophia Löffler stakst in der Rolle der Fenia Xenopoulou, Kultur-Direktionsleiterin mit Wunsch nach Aufstieg ins prestigeträchtigere Handelsressort, und stemmt die Arme in die Hüften. Der Wille zur „Visibilité“ steht ihr in die vor lauter Pragmatismus stets arbeitenden Gesichtszüge geschrieben. Das zuckerlrosafarbene Kostüm inklusive Haarschleife glänzt hoffnungsfroh, ein erfolgreich ausgearbeitetes „Big Jubilee Project“ soll sie aus der Kultur in den Handel „retten“. Die Europäische Union gründe im Adornoschen, „dass Auschwitz nicht noch einmal sei“, erklärt Susman. Und das Normale sei nach Auschwitz überall grotesk, erklärt Susman. Also sollen für die Feierlichkeiten zum fünfzigsten Geburtstag der Europäischen Kommission Auschwitz-Überlebende gesucht und gefunden werden, auf dass ein Bewusstsein für den Grund der EU (wieder) etabliert werden kann. Menasses theoretisch mindestens schwindligen, moralisch fragwürdigen Vergleich der Undarstellbarkeit von Auschwitz mit der Undarstellbarkeit von (europäischer) Gemeinschaft umgeht Bihler mit einer Video-Ebene. Die Darstellungen der beiden unparallelisierbaren Undarstellbarkeiten unterscheiden sich scharf:
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David de Vriend, Auschwitz-Überlebender, der in einem Brüsseler Altersheim ins Vergessen dämmert, tritt in Bihlers Inszenierung nicht auf, sondern wird durch einen rauschenden, zuckenden, Bilder von Augenpaaren zeigenden Monitor angedeutet. Eine Repräsentation, die auf eine Abwesenheit verweist. Erzählt wird de Vriend von Bardo Böhlefeld, der in der Rolle des Barmanns als Geisterbahndirektor, als Spielleiter fungiert. Er stellt die Figuren vor, übernimmt längere Erzählpassagen, dirigiert die Lichtverhältnisse von neonröhrig zu schummrig-lila, knarzt durch sein Mikroport, ist Mensch, Maschine, in seinen Bewegungen so präzise wie kaputt. In seiner Bar laufen sie auf, die Zombies, zum Beispiel: Romolo Strozzi, Kabinettschef mit Lizenz zum Abwürgen des aus dem Ruder laufenden „Big Jubilee Project“, den Steffen Link intrigant kühl, auf hohen Schuhen positioniert. Und Kai-Uwe Frigge, Liebhaber und Gönner von Xenopoulou, dem die übergroße lilafarbene Anzughose rutscht und der von Link schleichend, mit hochgezogenen Schultern vorgestellt wird. Die Hotelkeller-Barkulisse ermöglicht Spielsituationen, die an das betrunkene Belabern von Barkeepern durch einsame Gäste erinnert. Zudem versinnbildlicht die Bar die Zufälligkeit von Gemeinschaft, dass das etwas ist, das einfach so ist. Und wenn dann aber der Finger draufgelegt werden soll, so!, das ist diese (europäische) Gemeinschaft, dann stimmt es nicht. Um es mit Franz Kafkas Parabel zu sagen: „Wir sind fünf Freunde, wir sind einmal hintereinander aus einem Haus gekommen, zuerst kam der eine und stellte sich neben das Tor, dann kam oder vielmehr glitt so leicht, wie ein Quecksilberkügelchen gleitet, der zweite aus dem Tor und stellte sich unweit vom ersten auf, dann der dritte, dann der vierte, dann der fünfte. Schließlich standen wir alle in einer Reihe. Die Leute wurden auf uns aufmerksam, zeigten auf uns und sagten: ‚Die fünf sind jetzt aus diesem Haus gekommen.‘ Seitdem leben wir zusammen.“ Es ist ein wehmütiges Bild, das Bihler für Gemeinschaft erfindet: zufällige Begegnungen in einer traurig grünen Billo-Marmor-Bar. Und dann wäre da noch: Professor Alois Erhart, österreichischer Wirtschaftstheoretiker und schon auch ein bissi MenasseAlter-Ego, der bei Sebastian Schindegger zum liebenswürdigen Schussel wird, Sprachduktus und alles schon sehr lost in translation. Er versucht und scheitert daran, den anderen in der Bar von seiner Arbeit im Think tank zu erzählen. Schließlich – am Ende der Inszenierung kommt es zur direkten Ansprache und der Untote konfrontiert die Gemeinschaft – wendet er sich ans Publikum und propagiert das Ende der Nationalstaaten: Nation führt zu Natio-
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nalismus führt zu Rassismus führt zu Auschwitz. Und umgekehrt: „Europa“ sagen, heißt „Nie wieder Auschwitz!“ sagen, heißt, die Europäische Union nimmt ihren Ausgang in Auschwitz. Bihler zu Menasses Textvorlage: „Vor allem finde ich an Menasses Roman interessant, dass er die Vision einer nachnationalen Demokratie als Sehnsucht entstehen lässt. Trotzdem verschweigt er das Menschliche der Beamten, ihre Fehler und die Entfremdung innerhalb des Systems nicht. Der Alltag der Kommission besteht vor allem darin, dass sie ständig gegen die Mauern der nationalen Interessen anlaufen. Dadurch fühlen sie sich entfremdet und haben teilweise vergessen, was für sie der eigentliche Grund war, dort zu arbeiten, ähnlich, wie wir oft vergessen, was die Werte waren, die hinter der Gründung der Europäischen Union stehen. Sie werden pragmatisch, depressiv, enttäuscht oder konzentrieren sich nur auf ihre Karriere. Allen wohnt eine Leere, eine Melancholie inne. Die morbide Ästhetik, die ich für ‚Die Hauptstadt‘ gewählt habe, soll diesen Zustand versinnbildlichen. Gleichzeitig kann man als Zuschauer den Figuren dabei zuschauen, wie sie lebendiger werden, sobald sie auf den Kern dieser verschütteten Werte stoßen und die Vision einer nachnationalen Demokratie erspüren.“ Und: „Das wünsche ich mir auch für uns.“
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Gleichberechtigt in die Folterkammer Christian Fahrenbach Im Dokumentarfilm „The Act of Killing“ dauert es gerade einmal zehn Minuten, bis sie sich zeigt, die Gleichgültigkeit eines Massenmörders. Als Zuschauer haben wir bis dahin einen indonesischen Massenmörder und seinen Handlanger begleitet. Anwar Congo heißt dieser Warlord, der, vom Filmteam aufgefordert, seine Taten nachstellt. Ruhig steht er auf einer Dachterrasse, bittet einen weiteren Helfer, sich auf den Boden zu setzen, und erzählt dann präzise, wie schwierig es gewesen sei, auf diesem Dach Mitte der 1960er Jahre die vermeintlichen kommunistischen Verräter zu töten, die hinter einem gescheiterten Militärputsch steckten. Eine halbe Million Menschen starben bei diesem Massenmord – und Congo beschäftigt in seiner Erzählung, warum er zunächst so schlecht im Töten war. Schließlich hält er im Erzählen inne und erklärt, dass ihm dann doch eine Idee gekommen sei. Er habe genug festen Draht besessen und da sei dieser Metallpfosten gewesen. Congo blickt in der Jetztzeit der Dokumentation seinen Helfer an, wickelt einen dicken Draht um den fußballtorhohen Pfosten, dann von dort um den Hals des Mannes. „Wir müssen das ja vernünftig nachstellen hier“, sagt Congo. Dann zwirbelt er das lose Ende des Drahts um ein lineallanges Stöckchen. Er zieht am Draht, als ob er seinen Helfer töten wolle. Beide lachen scheppernd. Dann blickt Congo in die Kamera. Mit Stolz. Und ohne, dass in seinem Gesicht etwas von den grausamen Morden zu sehen wäre. Gut sechs Jahre nach dem Erscheinen der Dokumentation von 2012 beschreibt Autorin und Schauspielerin Julia Mounsey ihre Faszination für das Thema: Wie kann jemand so pragmatisch sein, wenn es um das Zufügen von Schmerz geht? Wie so kalt? Wie kann er es so verdammt alltäglich nachstellen? Mounsey hat eine Vermutung: „Ich glaube einfach nicht, dass irgendjemand von uns besonders weit weg von Grausamkeiten ist. Es ist eine Entscheidung. Und es sind die Umstände.“ Ihr fallen weitere Beispiele aus der jüngeren Popkultur ein: Die Serie „Girls“, die sich detailreich einigen Endzwanzigerinnen im New Yorker Hipster-Headquarter Brooklyn widmet. Auch diese Reihe – wenn auch fiktional – spiele immer wieder mit der Frage, wieso sich Menschen psychischen und physischen Schmerz bereiten. Noch so ein Beispiel sei „Funny Games“, sagt sie, der gleich zwei Mal vom Österreicher Michael Haneke verfilmte Thriller, in
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dem zwei junge Männer eine Familie in ihrem Wochenendhaus über Tage sadistisch quälen und brutal töten, nachdem sie genau das zu Beginn kühl ankündigen. Mounseys Theaterarbeit streift ähnliche Fragen, doch nachzuerzählen, wovon „[50/50] old school animation“ konkret handelt, würde zu viel von der Wirkung der beiden Monologe preisgeben. Die „New York Times“ erläutert das Nötigste: „Ein Stück, das das Größtmögliche aus scheinbar wenig macht. Es dauert weniger als eine Stunde, hat eine minimalistische Bühne und besteht aus zwei Monologen.“ Nach der Aufführung beim Festival Under the Radar auf der hochangesehenen Off-Broadway-Bühne Joe’s Pub im vergangenen Winter traute sich selbst die renommierteste Tageszeitung der Welt kaum, mehr preiszugeben. Vielleicht noch so viel: Im Zentrum geht es um Gewalt – Gewalt durch Frauen, Gewalt gegen Frauen, banale Gewalt im Alltagsgewand und Gewalt, die entsteht, wenn sich Menschen schlicht nicht an zivilisatorische Grundregeln halten. Fast drei schillernd-erdrückende Stunden dauert die Reflexion dieser Fragen im Director’s Cut von „The Act of Killing“. Auf je rund 110 Minuten kommen die beiden Filmvarianten von „Funny Games“. Julia Mounsey und ihr gleichberechtigter Co-Autor Peter Mills Weiss setzen in „[50/50] old school animation“ ihre Stiche deutlich knapper –, nicht ohne manche Kritiker in ähnlichem Maß zu verstören wie die Leinwandvorbilder. „Ein Zwei-Frauen-Stück über weiblichen Betrug, schnell wie eine Klapperschlange“, bilanziert „Time Out New York“. „Gib ihnen fünfzig Minuten und sie werden sich ein Jahr deines Lebens nehmen.“ Mounsey selbst ist die erste dieser zwei Protagonistinnen, wie sie selbst, Julia genannt. Sie bricht zu Beginn die Schauspielillusion, kommt auf die Bühne und fragt unschuldig: „Can everyone hear me OK?“ Schließlich: „Ich werde jetzt etwa zwanzig Minuten sprechen, dann gibt es eine Performance.“ Während ihres folgenden Monologs schaut sie ins ständig hell beleuchtete Publikum – und kaum spürbar an vielen von ihnen vorbei. „Mir gefällt das sehr. Auf diese Art ist das Publikum am aufnahmefähigsten“, erläutert Mounsey, die auch als Performancekünstlerin und Lyrikerin arbeitet. Auch die zweite Frau auf der Bühne hat ihre Wurzeln außerhalb des Theaters: Mo Fry Pasic ist eigentlich Comedian. Auch ihre Figur ist nach ihr selbst benannt: Mo. Kommt uns ihre Figur durch diese fast fachfremde Besetzung näher? Oder ist sie gerade deshalb besonders unerträglich?
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„Ich bin überhaupt nicht daran interessiert, einen fantastischen Körper meine Argumente vortragen zu sehen“, sagt Peter Mills Weiss. „Und die Gründe dafür, dass Mo unsympathisch ist, sind Gründe, die wir nur Frauen entgegenbringen“, glaubt er. „Sie trägt Kleidung, die nicht passt. Ihre Stimme geht am Ende des Satzes hoch. Sie redet viel. Diese Dinge triggern die Leute, weil wir alle auf diese Art frauenfeindlich sind, glaube ich. Wir schauen sie auf der Bühne an und denken uns: ‚Shut up!‘” Klingt zeitgeistig und doch zögern beide Autoren, darauf angesprochen, ob ihre Ideen gerade besonders gut zur #MeToo-Debatte passen. „Unser Stück lässt einen zumindest darüber nachdenken, was man mit Schwäche verbindet“, sagt Weiss. „Meistens ist Schwäche mit Frauen verbunden – und das ist eine abgefuckte Erkenntnis. Das ist eine der universalen Ebenen, die unser Stück hinterfragt.“ Die Theatermacher liegen mit ihrem Authentizitätsspiel groß im Trend. Auf vielen Bühnen gelingt derzeit diese Doppelbödigkeit, immer häufiger vorgebracht von Leuten, die eben keine gelernten Theaterschauspieler sind. Das Folk-Musiker-Ehepaar The Bengsons hat in New York das hochgelobte „100 Days“ auf die Bühne gebracht. Ursprünglich Musikerin, dann Songwriterin, und für den Zuschauer erst in dritter Linie Schauspielerin, begrüßt Abigail Bengson zu Beginn das Publikum im Party-Plauderton und erzählt, wie sie ihren Mann kennengelernt und wenige Wochen später geheiratet hat. Die Abgründe, von denen sie später in alptraumhaften Sequenzen spricht, werden durch diese Vertrautheit umso eindrücklicher. Auch Peter Mills Weiss spielt seit Jahren mit dieser Methode. „Ich habe viele Monologe gemacht, bei denen die Zuschauer nicht wussten, ob ich lüge oder nicht“, erzählt er. „In normalen Theaterstücken denke ich die meiste Zeit: ‚Ich kaufe es ihnen nicht ab.‘ Ich arbeite dann innerlich dauernd daran, diesen Unglauben abzubauen.“ In der eigenen Arbeit gehe es ihm darum, durch diesen Erzählkniff Alltag herzustellen. Zurück geht „[50/50] old school animation“ auf eine Spokenword-Performance von Mounsey vor einigen Jahren, die Weiss gesehen hat. „Ein früher Entwurf war das, beinahe wie ein Gedicht“, sagt er heute. Neben eigenen Projekten begannen sie über Jahre die gemeinsame Arbeit an den beiden Monologen. Mo Fry Pasic kam an Bord, immer wieder wurden Teile weiterentwickelt, ein organischer Prozess, der über mehrere Aufführungen seit 2016 zur aktuellen Version führte.
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Nötig waren dabei auch andere Schwerpunkte. „Die Leute haben Mo am Anfang geliebt“, erinnert er sich. „Aber ein Trauma macht dich nicht automatisch schön“, ergänzt Mounsey. „Jetzt ist sie eine nervige Person mit Schmerz, diese Dualität war irgendwann einfach da.“ Anders ihre Julia. „Sie ist als Frau aufgewachsen. Sie hat vielfach vermittelt bekommen, wie sie und wie ihr Körper zu sein haben“, sagt die Autoren-Schauspielerin. „Andere haben sich über ihren Körper unterhalten und das hat bei ihr zu dem Gefühl geführt, dass sie nicht das Sagen über ihren eigenen Körper hat, dass sie und ihr Körper getrennt voneinander sind.“ Bei der Entwicklung dieser Backstorys ist es mittlerweile auch zur Methode geworden, den Schauspielern viel Raum zu geben. „Wenn du wirklich willst, dass jemand etwas auf eine Art annimmt, die sich für den Zuschauer anfühlt, als ob diese Person es lebt – dann musst du ihr die Führung darüber anvertrauen, was passiert. Die Person muss sich selbst ins Stück schreiben“, sagt Weiss. „Als Schauspieler bin ich selbst so oft wie ein dummes Kleinkind behandelt worden, aber ich glaube, dieser Shit ist tot – oder zumindest würde ich ihn gerne sterben sehen.“ Es ist nicht das Einzige, was das Theatermacher-Duo beim Entwickeln ihrer Stoffe anders macht. „Dieser ‚Auteur‘-Mythos, das alleinige Genie, das hat ohnehin nie existiert“, glaubt Mounsey. „Es sind immer so wahnsinnig viele Menschen daran beteiligt, damit alles am Ende einen Sinn ergibt.“ Und was ist mit all den polternden Kulturhelden aus den Feuilletons? „Daran glaube ich nicht.“ Wie zum Beweis beenden beide im Gespräch abwechselnd solche Gedanken der anderen Person. Sie betonen, wie selten sie bisher so entspannte Kollaborationen geschaffen haben. Auch für Weiss entsteht die Kunst in der Zusammenarbeit statt im alles bestimmenden Individuum. „Diese Vorstellung basiert ja vor allem auf dem Denken in Superlativen, das letztlich vor allem viel mit Machtkampf zu tun hat. Meine besten Arbeiten sind definitiv dann entstanden, wenn ich mit anderen kollaboriert habe“, sagt Weiss. „Theater insgesamt sollte sich in diese Richtung bewegen, weg von den Fake-Kollektiven der Vergangenheit, die in Wirklichkeit sehr hierarchisch und patriarchalisch waren. Wir sehen jetzt, dass sich Menschen in der Zusammenarbeit zunehmend als gleichberechtigt wahrnehmen. Ich bin auf jeden Fall mehr an dieser engen Zusammenarbeit als an einer behaupteten Zusammenarbeit interessiert. Das ist auch der Grund, aus dem wir uns als ‚Production Company‘ keinen Namen gegeben haben“, erklärt er. Bei ihrer aktuellen Arbeit hat dieser partizipative Geist dazu geführt, dass
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neben Mounsey, Weiss und Pasic noch Sophie Weisskoff als vierte Co-Autorin genannt wird. „Julia und ich, wir sind in diesem Fall beinahe so etwas wie Produzenten“, sagt er, „lediglich der Kern, aus dem das Projekt entstanden ist“, ergänzt Mounsey. Nicht nur hinter den Kulissen, auch auf der Bühne sind beide nicht an Schock als Selbstzweck interessiert. „Wir suchen uns nicht irgendein sensibles Thema aus, nur um zu sagen: ‚Ha! Da haben wir dich!‘“, erklärt Weiss. „Das wäre viel zu sehr auch nur ein Machtspiel. Wir wollen einfach Erwartungen brechen“, sagt Mounsey, bevor ihr Partner es auf den Punkt bringt: „Schock ist nicht wichtig. Aber Überraschung ist wichtig. Überraschung ist wie ein Geschenk.“ Überraschung, die hier definitiv zur Verstörung wird. Eine Verstörung, die im Stück auch dann gilt, wenn es eigentlich für die Figuren keinen geläuterten Weg mehr zurück in die Gesellschaft gibt – genauso wenig wie für Warlord Anwar Congo oder die beiden halbstarken „Funny Games“-Mörder. Mounsey und Weiss sehen trotzdem einen Ausweg für all diese Figuren. „Zuhören“, sagt Weiss. „Wenn es bei dem Stück eine gute Sache gibt, dann die, dass Menschen wie die Bühnen-Julia nirgendwo sonst so präzise über sich sprechen. Wir müssen ihnen zuhören.“ „Und bei jemandem wie Mo gilt das Gleiche. Wir tun Menschen wie Mo schnell ab, weil sie viel Quatsch reden. Wir haben oft den Impuls, jemanden zu verletzen oder eine Person fertigzumachen – aber wir müssen uns selbst fragen, warum wir so empfinden und ob wir das nicht einfach in einem Gespräch lösen können. Einem Gespräch, in dem wir viel zuhören.“
Julia Riedler, Annette Paulmann und Benjamin Radjaipour
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This is no ordinary Faust Christine Wahl Goethes „Faust“, das hehre Bildungsbürgerdrama mit einer durch uneheliche Schwängerung zerstörten Minderjährigen im unrühmlichen Schlepptau, hat ja schon zig Deutungen erfahren. Frank Castorf zeigte es unlängst an der Berliner Volksbühne wohltuend up to date: Er entdeckte in dem Klassiker, der bis dato – besagter Gretchen-Tragödie und ein paar weiteren dramatischen Kollateralschäden zum Trotz – recht ungebrochen als schöpferische Intellektuelleninitiation gefeiert wurde, die europäische Kolonialismustragödie, die eben (auch) ein großes Männlichkeitstrauerspiel ist, und ließ einen wirklich grandios in die Jahre gekommenen Herrn gleichermaßen sabbernd an Welteroberungsentwürfen wie Frauenbeinen herumfingern. Das war’s dann aber leider auch erst mal mit „Faust“ als unserem Zeitgenossen – dachte man. Schließlich bleiben die meisten Inszenierungen bis heute weit hinter solch luzide-aktuellen Lesarten zurück. Und dann kommt die Regisseurin Leonie Böhm und verknüpft Doktor Faust, mithin – um es noch einmal unmissverständlich zu sagen – den Inbegriff des weißen, heterosexuellen Oldschool-Mittelschichtsmannes, an den Münchner Kammerspielen allen Ernstes mit der Vokabel „young“! Beziehungsweise – sogar noch hipper – „yung“, ohne „o“. So, wie die angesagten Cloudrapper von Yung Hurn bis Yung Lean sich labeln, um über die biologische Jugend hinaus auch ihren unverbrauchten Zugriff auf die Welt zu signalisieren. „Yung Faust“ also: Auf diese verwegene Idee muss man wirklich erst mal kommen! Dabei steckt, bei näherer Betrachtung, die Anti-AgingMaßnahme eigentlich schon im Gegenstand. Schließlich gibt es bei Goethe nicht umsonst eine schwer bedeutungstragende Szene, die in der Hexenküche spielt: Doktor Faust führt sich – um die Vergnügungen und Herausforderungen des klassischen (männlichen) Erobererlebens in vollen Zügen und auf dem Peak seiner Leistungsfähigkeit genießen zu können – auf Vermittlung seines zwielichtigen Kumpels Mephisto eine Zauberdroge zu, die ihn im Zeitraffer verjüngt. So gesehen ließe sich sogar argumentieren, dass Leonie Böhm einen zentralen Gedanken des Germanistenlieblings „Faust“ lediglich aufgreift und derart konsequent beim Wort nimmt, dass sie ihn wirklich vollumfänglich performativ durchspielt. Tatsächlich unterzieht die Regisseurin nämlich nicht nur den Doktor,
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sondern den kompletten, rund zwei Jahrhunderte alten Text einer Verjüngungskur – und zwar wiederum auf ziemlich außergewöhnliche Weise. Zurzeit ist es ja eher die Regel als die Ausnahme, kanonische Texte auf der Bühne upzudaten: Die sogenannten Überschreibungen, die Klassiker unter Beibehaltung der ursprünglichen Figurenbzw. Konfliktkonstellation mit gegenwärtigen Erlebnishorizonten und Vokabeln liften, haben Konjunktur. Das ist allerdings nicht die Methode, die Leonie Böhm praktiziert. Sie unterzieht sich, im Gegenteil, der vergleichsweise schwierigen Übung, den Originaltext, wiewohl radikal dezimiert, gerade beizubehalten und trotzdem so klingen zu lassen, dass man ihn Leuten in T-Shirts und Sneakers glaubt. Und das muss man bei Sätzen wie „Und fragst du noch, warum dein Herz / Sich bang’ in deinem Busen klemmt? / Warum ein unerklärter Schmerz / Dir alle Lebensregung hemmt?“ erst mal schaffen! In Böhms „Yung Faust“ in der Münchner Kammer 2 gibt es keinen Faust, keinen Mephisto, kein Gretchen – zumindest nicht als klar identifizier- und voneinander abgrenzbare Figuren. Vielmehr stehen die Schauspielerinnen Annette Paulmann und Julia Riedler, der Schauspieler Benjamin Radjaipour und der Musiker Johannes Rieder auf der Bühne wie in einem großen Textforschungslabor und untersuchen figurenübergreifend und höchst infektiös, was der Goethe-Klassiker uns eigentlich abseits der gängigen literaturwissenschaftlichen Deutungen (und jenseits der darin festgeklopften Geschlechter- und Milieuzuschreibungen) heute zu sagen hat. Jeder spricht gleichermaßen Faust-, Mephisto- und Gretchen-Text und jeder tut es auf höchst individuelle Weise. Der Bühnenbildner Sören Gerhardt hat für diese Texterforschung einen Zimmerspringbrunnen aufs Szenario gebaut, den man möglicherweise als buchstäblichen Jungbrunnen lesen kann, wobei vermeintlich korrekte Decodierungsleistungen von Seiten des Publikums keine Kategorie darstellen dürften, in denen Leonie Böhm den Erfolg ihrer Arbeit bemisst. Dazu arbeitet die Regisseurin viel zu freigeistig; Dogmatismus scheint wirklich das Letzte zu sein, was sie interessiert. Entscheidend am Springbrunnen ist deshalb vielmehr, dass er maßvoll überlaufen und so wunderbar kindlich-unschuldige Spiele ermöglichen kann wie das Stagediving in Wasserpfützen: Mit Hingabe, Grandezza und unter dem selbst gewählten Imperativ „Bahn frei, Kartoffelbrei!“ rutschen Paulmann und Riedler wiederholt bäuchlings durch eine Wasserlache, die der Springbrunnen auf der Bühne fabriziert hat.
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„Gefühl ist alles“: Dieser Goethe-Spruch groovt die Zuschauer, groß auf dem Programmzettel abgedruckt, angemessen auf den Abend ein: Es geht hier eben gerade nicht darum, die zigste literaturwissenschaftliche „Faust“-Exegese im Bühnenformat abzuliefern. Sondern der große, gewagte, lohnende Versuch besteht darin, den Worten dieses fast zu Tode zitierten Klassikers buchstäblich nachzuspüren; sie unter all den Rezeptionsschichten gewissermaßen wieder auszugraben und freizugeben für Unmittelbarkeit. Zum Beispiel, indem man sie probeweise mit ganz anderen als den gewohnten (hoch-)kulturellen Codes konfrontiert. Wenn es jedenfalls noch eines Beweises bedurft hatte, dass Goethes „Osterspaziergang“ tatsächlich klingen kann wie der last hot shit aus der Singer/Songwriter-Factory, liefert ihn an diesem Abend Benjamin Radjaipour: Mit nacktem Oberkörper steht er hinterm Mikro, schmettert – live akkompagniert von Böhms Stamm-Musiker Johannes Rieder, der sowieso für jede ihrer Inszenierungen den idealen Soundtrack findet – mit wohldosiertem Pathos die Lyrics „Hier bin ich Mensch, hier darf ich’s sein“ hinein und lässt versbegleitend derart stilecht die Hüften kreisen, dass die U-30-Fraktion im Publikum das Theater mit ihren Reaktionen kurzzeitig tatsächlich wie eine Konzert-Arena wirken lässt. Sades Song „This is no ordinary love“, mit dem sich Radjaipour – die Bühne vom Zuschauerraum aus enternd und seine Kollegin Riedler fest im Blick – an diesem Abend bereits spektakulär eingeführt hatte, könnte, mit anderen Worten, über der kompletten Produktion stehen: This is no ordinary Faust. Nein, wahrhaftig nicht. Im Grunde wirkt Leonie Böhms Ansatz wie die Einlösung vieler Forderungen, die im Zuge einer nicht nur Gender-spezifischen, sondern um Macht- und Hierarchiehinterfragung generell erweiterten #MeToo-Debatte zurzeit (auch) am Theater geführt wird: keine Rampensäuischkeit Einzelner auf Kosten der Kollegen und Schauspieler, die nach allem anderen wirken als nach bloßen Erfüllungsgehilfen eines vermeintlichen Regie-Genius, eine in jeder Hinsicht wohltuend diverse Truppe auf der Bühne, keine geschlechtsspezifischen Textzuordnungen etc. pp. Nur, dass Böhm mit ihrer Arbeitsweise auf die aktuelle Debatte eben mitnichten reagiert, sondern – genau umgekehrt – der (Theater-)Diskurs endlich auf ihrer Augenhöhe angekommen ist. Leonie Böhm hat nämlich schon immer so gearbeitet. Wenn sie sagt, sie glaube an den „durch das spielende Handeln sich emanzipierenden Menschen“, klingt das nicht nur gut, sondern wird tatsächlich bei jeder einzelnen Produktion und Probe konkrete
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Bühnenpraxis – und zwar auf vollkommen selbstverständliche Art und Weise. Ganz gleich, ob sie sich Goethes „Faust“ zur Vorlage nimmt, Peter Handkes „Kaspar“ wie unlängst am Hamburger Thalia Theater (mit einem buchstäblich den Saal rockenden Jörg Pohl in der Titel- sowie allen anderen Rollen) oder Lessings „Nathan“, mit dem sie 2017 bei Radikal jung reüssierte: Leonie Böhm geht es immer um individuelle Aneignung, darum, die je „persönliche Perspektive herauszuschälen“ – auf kanonische Texte, ihre Figuren, ihre Weltentwürfe. Sowohl für sich selbst als auch für jede einzelne Spielerin und jeden einzelnen Spieler. Nicht nur beim Goethe-Klassiker, mit dem sie jetzt – sehr zu Recht – das zweite Mal zum Festival Radikal jung kommt, ist es also genau diese Reibung, die sie im Theater sucht: sich selbst nicht gleichsam über die Texte drüber-, sondern vielmehr mit den eigenen Bedürfnissen, Haltungen, Ideen in sie hineinzuschreiben. „Wir sind ja immer schon gesellschaftliche Produkte und unsere Gedanken in diesem Sinne nicht frisch, sondern auch vor 200 Jahren schon von Menschen formuliert worden“, erklärt die Regisseurin. Was daraus entsteht bzw. Im Fall des Gelingens regelrecht entfesselt – sprich: emanzipiert – wird, ist ein Weltzugang, den man vielleicht am treffendsten als kindlich bezeichnen könnte. Und zwar im besten – mithin nicht naiven, sondern unverstellten, unmittelbaren – Sinne des Wortes. Und zwar nicht nur phänotypisch, an der Inszenierungsoberfläche, sondern auch genotypisch – im Proben- und Entstehungsprozess des jeweiligen Abends. „Idealerweise entsteht eine Haltung, die gleichermaßen verletzlich ist und wollend“, sagt Böhm; die sich also offen mit den Kollegen auseinandersetzt, dabei aber reflektiert genug ist zu wissen, wonach sie sucht. Ihre Arbeit speise sich aus der Sehnsucht, „dass man im Theater gelingende Kommunikation zeigen kann“, formuliert Böhm eine echte künstlerische Utopie. „Grenzziehungen, Abgrenzung, Stigmatisierung interessieren mich nicht“, sagt sie. „Ich glaube an den mündigen, verspielten Menschen.“ Dass die 1982 in Stuttgart geborene und in Heilbronn aufgewachsene Regisseurin dabei selbst so reflektiert, mithin erfahren, und gleichzeitig erfahrungsoffen klingt, wie sie sich das von ihren Arbeiten wünscht, liegt vielleicht auch daran, dass sie schon vieles andere kennengelernt hat, bevor sie zur Bühnenkunst kam. Böhm begann ihre Regieausbildung an der Hochschule für Musik und Theater in Hamburg nicht nur mit einem abgeschlossenen Lehramtsstudium der Kunst und Germanistik in der Tasche, sondern
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hatte darauf auch noch ein Studium der Bildenden Kunst in Kassel aufgesattelt – inklusive Meisterschülerinnen-Jahr bei ihrem hoch geschätzten Professor Urs Lüthi. Ab der kommenden Saison – zum dortigen Intendanzstart von Nicolas Stemann und Benjamin von Blomberg – wird sich Leonie Böhm fest ans Schauspielhaus Zürich binden: Eine völlig neue Erfahrung für die Regisseurin, die gleich mit ihrer ersten Stadttheaterinszenierung – „Nathan die Weise“ am Hamburger Thalia vor drei Jahren – ihren (wohl verdienten) Durchbruch erlebte und seither „unentwegt an ganz verschiedenen Häusern“ arbeitet. Stemanns und von Blombergs Zürcher Modell, das der berühmtberüchtigten EasyJet-Kunst wieder die Kontinuität und Bindungskraft der ursprünglichen Stadttheateridee entgegensetzen will, sei für ihr Theaterverständnis „sehr verlockend“, erklärt Böhm: „Nur Hausregisseure, eine intime und enge Arbeitsatmosphäre“ – da finde sich vieles von ihrem Arbeits-„Traum“ wieder. Ganz davon abgesehen, sei der bisherige nomadische „Lebensentwurf“ für sie zwar schön und interessant, aber auch „megaanstrengend“ gewesen, erzählt die Regisseurin, weil sie zwei Kinder (und ihr Freund zusätzlich gerade auch noch eine Firma gegründet) hat. Da gewinne „die Vorstellung, dass man an dem Ort, an dem man arbeitet, auch lebt“, durchaus etwas Beruhigendes. Eine echte Win-Win-Situation also, denn die Nomaden unter den Theatergängern dürfen sich dafür freuen, dass es künftig noch einen Grund mehr gibt, nach Zürich zu reisen!
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Im Sturm der Geschichte Georg Kasch Am Anfang ist der Sturm. Barbara Nüsse kommt, raucht, schaut. Dann schmeißt sie die Windmaschine an. Die seufzt langsam, jault auf – und macht den Nebel tanzen, der vorne aus zwei Maschinchen dampft. Wie das wild aufstiebt, wirbelt, schäumt! Sind wir im Himmel? Auf der Erde? In der Hölle? Irgendwo dazwischen. „Ich hasse die Provinz“ ist Nüsses erster Satz. Genau dorthin wird ihre Landvermesserin geschickt, an die Ränder des Landes Österreich mit dem Auftrag, die Grenzen neu zu bestimmen, „durch die ein definitiver frieden hergestellt werden soll“. Die Zeit? 1918, das alte Reich ist untergegangen, Österreich kein kakanisches Imperium mehr, sondern ein Rumpf mit Wiener Wasserkopf. Und doch ist nichts klar in Thomas Köcks Stück „dritte republik“. Denn so wie Franz Kafkas Landarzt in der gleichnamigen Erzählung, der deutlich Pate gestanden hat, entgleitet auch der Landvermesserin schnell die Kontrolle. Merkwürdige Szenen ereignen sich: Der Kutscher, ein Provinzler, der die Landvermesserin an die Grenze bringen soll, spricht wie eine Horváth-Figur, ist aber Kind des postfaktischen Zeitalters, ein pessimistischer Zweifler, dem „ganz philosophisch“ wird: „am ende schafft der mensch sich selber ab“. Männer rotten sich zusammen, die nichts haben als ihren Nationalstolz. Eine blinde Fallschirmspringerin folgert aus ihrer Vogelperspektive: „nationen sind die irrwitzigsten fiktionen“, weiß aber auch, dass die Kriege niemals enden werden. Ein Patient kommt von seinem Zauberberg herunter, wo er mit dem eigenen Körper ums Normgewicht kämpft und die Diktatur anbetet. Ein Chor der Gehilfinnen will von der Landvermesserin Ergebnisse und erweist sich als passiv schlafwandelnde Gemeinschaft von heute, die, auf ihre Handydisplays starrend, in den nächsten Nationalismus rasselt. Ein Reeder jagt sich eine Kugel nach der nächsten durch den Kopf und erzählt die Parabel von der expandierten Gesellschaft: „wir waren einfach so irgendwann / zu weit hinausgefahren“. Orientierungslos taumeln die Landvermesserin und ihr Kutscher durch den Sturm der Geschichte, werden hin und her geschleudert von den großen Themen und Diskursen eines Jahrhunderts, von Grenzen, Nation, toxischer Männlichkeit. Am Ende kommt der Landvermesserin der Auftrag abhanden, halb aus Einsicht – weil Grenzen fließend, überflüssig sind –, halb, weil die Zeit über sie hinweggegangen ist. Also schickt Köck sie auf eine letzte
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Reise, auf ein Wasser hinaus, das vielleicht das Grab des Mittelmeers ist, auf jeden Fall aber Styx, die mythologische Grenze zum Totenreich. In Elsa-Sophie Jachs und Thomas Köcks Uraufführung am Hamburger Thalia Theater besteigt Barbara Nüsse kein Boot, wie es im Text heißt. Sondern eine Kehrmaschine. In immer neuen Kreisen steuert sie das Gefährt über die Bühne, grinst dabei fröhlich, befreit. Ein Aufbruch? Ein Endpunkt? Sicher jedenfalls ein Großreinemachen, ein Beseitigen all jener Geschichts- und Ideologietrümmer, die hier knappe eineinhalb Stunden lang durcheinandergewirbelt wurden. Zwischen Nebelsturm, den Nüsse und Björn Meyers Kutscher noch mehrfach gemeinsam lostreten, sich auch mal um die Herrschaft über die Windmaschine prügeln, und dröhnender Kehrmaschine setzen Jach und Köck im Thalia Theater in der Gaußstraße auf eine merkwürdig verlorene, surreale Stimmung, in der man sich beim Zuschauen zuweilen verliert wie die Landvermesserin. Zwischen sechs Säulen im Halbkreis, unter deren rostig-brauner Oberfläche (die Demokratie hat Patina angesetzt) es am Ende golden schimmert, hängen helle Vorhänge. Einer wird zum Fallschirm, enthüllt die zerborstene Fensterfront einer Hotellobby. Hier treten all die zombiehaften Figuren auf, als wollte das Jahrhundert Bilanz ziehen: Der Patient hat ein offenbar weltkriegsbedingtes posttraumatisches Stresssyndrom, zuckt und spuckt bei Bekim Latifi glutäugig, zeigt zugleich seinen durchtrainierten Körper her im halbtransparenten Sportdress. Hier versucht Tilo Werners Reeder vergeblich, seinen Tee zu trinken, scheint ihm die Suppe doch aus allen Löchern zu rinnen, die er sich mit der Pistole zufügt. Victoria Trauttmansdorffs Steward sieht längst aus wie ihr Chef – Herr und Knecht haben sich über all die Jahre optisch angeglichen. In die Lobby fällt auch der Chor der Gehilfinnen ein, acht Mädchen, die plötzlich ordentlich Leben in die sterbende Bude pumpen. Sie tragen dicke Verbände an Köpfen und Händen, sind aber durchaus in der Lage, Liegestütze und rhythmische Sportgymnastik vorzuturnen, während sie die Wiederkunft des Nationalen ankündigen und sich selbst in den Unschuldsmodus zurückziehen: „ich / bin hier nur der grenzbote und / singe mein grenzbotenlied“. Das oszilliert schön zwischen selbstverliebten Instagram-Übungen und Leni-Riefenstahl-Optik. Ihr Grenzbotenlied wiederum besteht aus Kafka-Worten, die hier klingen wie die Akademiker-Verachtung der neuen Rechten: „entkleidet ihn / dann wird er heilen / und heilt er nicht / so tötet ihn / ’sist nur ein arzt / ’sist nur ein arzt“. Ein Arzt,
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der nicht heilen kann, ein Vermesser, der nie zum Vermessungsgegenstand gelangt (oder ihn nicht als solchen erkennt) – bei Jach und Köck werden sie zu Metaphern eines ohnmächtigen Bürgertums, dem die Kontrolle über die Verhältnisse entgleitet, gerade weil sich Arzt wie Landvermesserin nur darauf konzentrieren, ihren Auftrag zu erfüllen, dabei die Barbarei um sie herum ignorieren. Viele Themen kommen in „dritte republik“ zusammen, die Jach und Köck auch unabhängig voneinander bearbeiten, inhaltlich wie formal: politische und feministische Fragen, rhythmische und musikalische Zugriffe, die Faszination für eine starke, widerständige Sprache. Eine Besonderheit an dieser gemeinsamen Regiearbeit ist, dass sie von zwei Theaterleuten stammt, die zumeist ihre eigenen Projekte verfolgen, Jach als Regisseurin, Köck als Dramatiker. Gemeinsam studierten sie 2012 bis 2016 Szenisches Schreiben an der Universität der Künste in Berlin. Jach hatte da schon einen Bachelor in Theaterwissenschaft, Philosophie und Allgemeiner und Vergleichender Literaturwissenschaft absolviert, außerdem zahlreiche Hospitanzen und Assistenzen hinter sich, Köck ein Studium der Philosophie und Literaturwissenschaft. Anschließend ging Jach zum Regiestudium an die Theaterakademie nach Hamburg, Köck schrieb Stücke. Während des gemeinsamen Studiums führten sie oft dramaturgische Diskussionen, arbeiteten gemeinsam an Texten. Eine erste kleine gemeinsame Arbeit verwirklichten sie 2013 beim Berliner 100-Grad-Festival in den Sophiensælen. Später entstand die Idee, gemeinsam Köcks „die zukunft reicht uns nicht (klagt, kinder, klagt!)“ zu inszenieren. „In Wien war man verrückt genug, uns zu lassen“, sagt Köck. Wie sieht die gemeinsame Arbeit aus? „Die Konzeption machen wir zusammen“, sagt Jach. „Dann schaue ich sehr früh immer wieder auf die Fassungen, mache Anmerkungen.“ Die Distanz zum eigenen Text entsteht bei Köck durch Gespräche. „Wenn ich einen Text schreibe, muss er grundsätzlich für sich stehen können, sich aus sich selbst heraus erklären. Aber ich überprüfe meine Texte noch strenger, wenn ich als Co-Regisseur dabei bin, weil viel mehr skeptische Blicke aus dem ganzen Team auf einem ruhen. Wenn bei einer Stelle, die du ganz toll findest, niemand reagiert, was heißt das dann?“ Viele Dinge, die textdramaturgisch hervorragend funktionieren, ergeben auf der Probe mitunter keinen Sinn mehr. Auch Bühnen- und Kostümbild geben noch einmal ganz andere Impulse. „Thomas’ Texte sind ein Angebot“, sagt Jach. „Er ist jemand, der schnell produktiv werden kann. Wenn wir eine gute Probe hat-
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allem in den Chorpassagen, deren treibender Duktus einem in die Glieder fährt. Ein unerbittlicher Tanz der Versehrten, die politisch nichts aus dem Kriegsdesaster gelernt haben. Dass der Mädchenchor klingt, als wären Berufsspielerinnen am Start, könnte daran liegen, dass Köck bei der Schleef-Schülerin Claudia Bosse gearbeitet hat; Jach wiederum studierte bei Bernd Freytag und Marc Aisenbrey und arbeitete als Regisseurin mehrfach mit rhythmisch-chorischem Sprechen insbesondere mit Kindern und Jugendlichen. 2015 entwickelte und inszenierte sie auf Kampnagel das Hip-Hop-Stück „Großstadtdschungel“ mit Rapper Samy Deluxe und Kindern aus dem von ihm gegründeten Verein DeluxeKidz, die rappten, tanzten, sangen und von einer Jugend im urban-digitalen Wahnsinn erzählten. Auch in ihrer Theaterakademie-Inszenierung „ANATOMIE TITUS FALL OF ROME“ Anfang 2017 arbeitete sie mit einem Jugendchor. Und in ihrer ersten gemeinsamen großen Regiearbeit mit Köck, „die zukunft reicht uns nicht (klagt, kinder, klagt!)“ am Schauspielhaus Wien Ende 2017, jagten die beiden energiesatt eine Schauspielerin (als Kassandra) und einen jugendlichen Chor aufeinander. Was als Streit ums Erbe beginnt, das materielle wie das immaterielle (Klimawandel, die krasse soziale Schere, die Durchökonomisierung aller Lebensbereiche), entwickelt sich zum äußerst packenden, höchst körperlichen Spiel mit Argumenten und überraschenden Volten. Eine antike Tragödie mit rabenschwarzem Witz und derart hervorragend geführten Choristen, dass sich Kritik und Publikum erstaunt die Augen rieben. Die Inszenierung wurde zum virtuellen Theatertreffen auf nachtkritik.de und zu den Autorentheatertagen 2018 am Deutschen Theater Berlin eingeladen. Außerdem war sie in der Kategorie „Beste Regie“ für den NestroyPreis nominiert. „Mich interessieren Setzungen, die Sprache und Körper in den Mittelpunkt stellen, aber bewusst formale Grenzüberschreitungen suchen“, sagt Jach. Häufig arbeitet sie mit Klängen und Geräuschen wie in ihrer aktuellen Inszenierung „Sommer“ von Sean Keller am Schauspielhaus Wien, in der die Schritt- und Schabgeräusche einer Tänzerin die Grundlage für den Soundtrack des Abends liefern. Oder mit Live-Musik, die performativ Teil der Inszenierung wird, wie in ihrem Kleist-Abend „Das Erdbeben in Chili“ 2017 im Malersaal des Hamburger Schauspielhauses: Zwei Perkussionisten sitzen auf einer schrägen Betonscheibe, die wirkt wie ein Trümmerteil der titelgebenden Katastrophe, provozieren Klanggewitter, so eruptiv wie das Erdbeben. Mit ihrem unerbitt-
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lichen Schritttakt treiben sie die Handlung voran, wie auch Heinrich von Kleists kühle Sprache etwas Unausweichliches besitzt. In der Idylle aber zaubern Xylofon und Sopranvokalisen eine Stimmung, zu schön, um wahr zu sein. Darum herum und mittendrin sprechen vier Schauspieler Kleists Sätze, nähern sich dem Text mal chorisch, mal schlüpfen sie tastend in die Rollen, ohne wörtliche Rede hinzuzuerfinden. Spielerisch spürt die Arbeit psychologische Untiefen des Texts auf, findet mit wenigen Mitteln packende Bilder für Liebe, Chaos, Tod. Musik und Rhythmus sind eines der vielen Felder, auf denen sich Jach und Köck begegnen. Köck hat als Musiker gearbeitet, nennt unter den vielen Quellen für „dritte republik“ Aram Chatschaturjans „Maskerade“, Dmitri Schostakovitschs „Siebte Symphonie“ und Sergei Rachmaninows „Toteninsel“, schreibt in seine Stücke immer wieder Chorpassagen hinein. Beide sind fasziniert von eigenständigen technologischen Objekten auf der Bühne wie die Drohne in „klagt, kinder, klagt!“, die Hologramme der Nippesfiguren in der „Glasmenagerie“ auf Kampnagel 2018 (Jachs Abschlussinszenierung an der Theaterakademie) wie die Windmaschinen in „dritte republik“. Und beide schätzen eine kraftvolle Sprache. „Mich ziehen Texte an, die sich erst einmal nicht sofort sprechen lassen, widerständige Sätze, die quer im Mund stehen“, sagt Jach – und nennt Elfriede Jelinek, Heinrich von Kleist, Sylvia Plath, David Foster Wallace, Heiner Müller und Thomas Köck. Dessen Stücke, die vielschichtig wie vielstimmig Themen verhandeln, die ins finstere Herz der Gegenwart treffen, werden übersetzt, nachgespielt, sind preisgekrönt. 2014 gewann Köck den Osnabrücker Dramatikerpreis, 2015 den Else-Lasker-Schüler-Nachwuchsförderpreis, 2016 den Kleist-Förderpreis, 2018 den Mülheimer Dramatikerpreis, außerdem wurde er in der Kritikerumfrage von „Theater heute“ (gemeinsam mit Enis Maci) zum Nachwuchsautor des Jahres gewählt. Jach wiederum hat bereits Verabredungen mit Theatern für die nächsten zwei Spielzeiten. „Ich habe Glück, weil ich an tollen Häusern arbeiten kann, die mir vertrauen, weil wir dieselbe Sprache sprechen“, sagt sie. „Weil da Teams entstehen, kontinuierliche Arbeitszusammenhänge, Leute dabei sind, deren Kritik einem wirklich wichtig ist, die einen immer wieder auf die eigene Fragestellung zurückwerfen.“ Gerade inszeniert sie in Wien und Bamberg, wurde in der Kritikerumfrage von „Theater heute“ 2018 gleich für zwei Arbeiten als Nachwuchsregisseurin des Jahres genannt. Große Beachtung fand auch ihre Diplominszenierung der „Glasmenagerie“
dritte republik
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auf Kampnagel: Tennessee Williams’ dysfunktionale Kleinfamilie steckte sie in ein Labyrinth aus Jalousien, die sich öffnen und schließen wie Blenden im Film. Laura ist in diesem Verwirrspiel aus Außen und Innen, plakativer Selbstvermarktungsöffentlichkeit und Rückzug in private Fantasiewelten kein Mauerblümchen mit steifem Bein, sondern eine selbstbewusste junge Frau, die mit Depressionen kämpft. Da sind die hysterische Nerv-Mutter mit Divenfimmel und der Mansplainer-Verehrer, die beide den American Dream anbeten, um ihre eigenen Existenzen ertragen zu können, ziemlich kontraproduktiv. Wie oft bei Jach sind die Figuren genau gearbeitet. Was auch für „dritte republik“ gilt, dort besonders für Nüsses Landvermesserin. Sie stiert in die Luft wie in einen Schneesturm, dessen weißes Rauschen Antwort verheißt auf ihre vielen Fragen, wendet und kaut die Worte und wird doch nur immer ratloser. Am Ende aber schenkt sie uns ihr befreit-befreiendes Lachen.
Philipp Lind, Nina Steils und Jonathan Hutter
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Zirkus aus dem Schmerz Michael Stadler Um zwei entfernte Pole sichtbar miteinander zu verbinden, die Vergangenheit mit der Gegenwart, die Schauspieler mit dem Publikum, eignet sich eine Brücke natürlich ganz hervorragend. Als Symbol lässt sie sich effektiv einsetzen, insbesondere für ein Stück, das nicht unbedingt nach einem ausufernden Bühnenbild verlangt, sondern Wert auf die Worte legt, vom Wert der Worte, ihrer Kraft, aber auch Flüchtigkeit erzählt. Gesagtes lässt sich ja leicht revidieren. Die Bühne ist die kleine im Volkstheater – dort hat Sapir Heller „Amsterdam“ von Maya Arad Yasur für die europäische Erstaufführung in Szene gesetzt. Gemeinsam mit ihrer Bühnen- und Kostümbildnerin Anna van Leen kam Heller während der Konzeptionsphase auf diese Idee, eben die von einer Brücke. Was bei ihr noch weitere passende Assoziationen weckte: Klar, Amsterdam ist die Stadt der Grachten und Brücken, pars pro toto wäre der Ort damit präsent, „und es gibt diese Showbrücken bei Popkonzerten, von Beyoncé oder Helene Fischer, was zum Charakter der gesamten Inszenierung passt“. Ja, eine Show schwebte Sapir Heller nach dem Lesen des Stücks vor, ein eifriger Kampf um die Aufmerksamkeit der Zuhörer/Zuschauer, die wie potenzielle Produzenten vor der Bühne mit dem Stahlbogen sitzen. Von gleich drei Spielern bekommen sie einen Stoff gepitcht, eine Geschichte, die noch im Werden ist, als ob das Trio während des Präsentierens gleichzeitig im Writer’s Room steckt und in Teamarbeit wild die Erzählfäden spinnt. Damit hat die Regisseurin Heller die Gedanken der Autorin Arad Yasur entschlossen weiter gedacht. „Das Stück sollte wie eine Babuschka aus Versuchen betrachtet werden, eine Geschichte von Neuem zusammenzusetzen (Rekonstruktion)“, lautet eine von Yasurs vorangestellten Regieanweisungen. Und: „Das Stück ist für mindestens drei Performer*innen geschrieben“. Heller hat zum Erzählertrio noch eine Musikerin hinzufügt und lässt sie spontan eine Geschichte zusammenbauen, weshalb sie auch nach narrativen Lösungen für Probleme suchen müssen, in die sie sich selbst hineinmanövrieren. Die grundlegende Story spielt zwar im heutigen Amsterdam, reicht aber in die Zeit des Zweiten Weltkriegs zurück, biegt sich immer weiter hinein in Identitäts- und Schuldfragen, die unter anderem mit dem Holocaust zu tun haben. Die Prämisse hat es dabei ziemlich in sich: Eine israelische Violinistin, wohnhaft in
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Amsterdam, schwanger, hat eines Tages eine Gasrechnung vor ihrer Haustür liegen. 1700 Euro ist der horrende Betrag, der noch zu zahlen ist. Die Rechnung stammt, so übersetzt es ihr ein Barmann, aus dem Jahr 1944. Seither haben sich die Mahngebühren angesammelt. Völlig absurd. Aber möglich: Sapir Heller lässt die Erzähler, Nina Steils, Jonathan Hutter und Philipp Lind, den Plot in rasantem Tempo zusammenbasteln. Sie erfinden, verwerfen, korrigieren sich gegenseitig, suchen nach einem gemeinsamen Flow. Bei den Proben hat Heller diesen Fluss mit ihrem Team offensichtlich sehr gut erzeugen können: Ihre Inszenierung ist elegant und trotz des schweren Themas leichtfüßig, ihr Erzählertrio nimmt energetisch das Publikum für sich ein. Beeindruckend, wie Heller es geschafft hat, dass die drei gleichberechtigt die Geschichte erzählen. Keiner sticht heraus, die Show gehört allen. Es ist ein Team, das da erzählt, und gemeinsam mit ihrem Team hat Heller die Inszenierung entwickelt. Ein Bild, eine Setzung für jede Szene als Ausgangspunkt der Improvisationen und Ideen ihrer Darsteller hatte sie stets im Kopf, bevor sie auf die Probe ging, erzählt Sapir Heller, „aber falls sich dieses Bild als falsch erwies, haben wir es verworfen und gemeinsam etwas Neues ausprobiert“. Dass ihre Darsteller trotz aller Worte ständig in Bewegung sind, war Heller wichtig. So lässt sie die drei immer wieder einfache, hübsche Pirouetten vollführen: Sie erzählen ein bisschen, drehen sich dann, machen ein paar Schritte nach rechts oder im Kreis, erzählen weiter, sodass sie das auf drei Seiten verteilte Publikum im Wechsel bespielen. „Mir war es wichtig, dass sie jeder Zuschauer immer wieder aus einer anderen Perspektive sieht, so, wie sich die Geschichte ständig verschiebt und verändert“, so Heller. Die Pirouette entspricht dem Wirbel des Erzählens, dem Taumel, in den die Violinistin gerät. Als eine Art Detektivin fahndet diese nach den Ursprüngen der unbezahlten Gasrechnung, wodurch sie auf die Geschichte ihrer Wohnung stößt: Eine Widerstandskämpferin wohnte dort mit ihrem Mann, einem Anwalt. Der engagierte sich für enteignete Juden. Und war in eine Jüdin verliebt, die in Auschwitz interniert wurde und – „zu viel spoilern wäre schade“, findet Sapir Heller. Bei allen flugs erdachten Wendungen und Spannungsmomenten möchte sie „Amsterdam“ nicht als Krimi bezeichnen, das möge auch die Autorin nicht. Was womöglich erklärt, weshalb Maya Arad Yasur, die für „Amsterdam“ 2018 den Werkauftrag des Stückemarkts des Berliner Theatertreffens gewann, ihre Violinistin
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einige Umwege nehmen lässt. Anstatt direkt die Stadtverwaltung aufzusuchen, wo sie mehr über die Gasrechnung erfahren könnte, geht sie in den Supermarkt, dann zum Frauenarzt, trifft eine Freundin und ihre Musikagentin – Stationen, die ein Bild von ihrem Alltag in Amsterdam geben. Dabei fühlt die Violinistin sich auf ihrem Weg diversen Blicken ausgesetzt. Mustert sie der junge Mann hinter ihr in der Supermarktschlange nicht kritisch? Denkt der nicht, dass sie bestimmt eine Migrantin sei? Und ist der Gynäkologe, der sie untersucht, nicht insgeheim ein Antisemit? Die Unschärfe zwischen tatsächlichen und vielleicht eingebildeten Ressentiments kennt Sapir Heller allzu gut. „Es kommt auch bei mir hin und wieder der Verdacht auf, dass mir mein Gegenüber nicht ganz unvoreingenommen begegnet, wegen meines Äußeren oder weil ich Deutsch mit Akzent spreche.“ Geboren 1989 und aufgewachsen ist Sapir Heller in Israel. Ihre Familie mütterlicherseits kam aus Syrien, der Opa väterlicherseits aus Wien, ihre Oma, die als Kind den Holocaust überlebte, aus dem heutigen Moldawien: „Gemeinsam mit ihren Eltern konnte meine Oma abhauen. Sie lebten dann jahrelang in den Wäldern als Partisanen.“ Künstlerbiografien gibt es in Sapirs Familie keine. Sie selbst fing schon mit acht Jahren Feuer fürs Theater: „Ich habe wahrscheinlich Fernsehen geguckt und fand die Schauspieler toll“, vermutet Heller. „Dann hatte ich lange den Traum, Schauspielerin zu werden, und nahm auf dem Gymnasium Theater als Leistungsfach. Am Ende der zwölften Klasse mussten wir gemeinsam eine Produktion auf die Beine stellen. Jeder sollte eine Rolle spielen und eine Aufgabe hinter der Bühne übernehmen. Nur eine Person sollte einzig und allein die Regie übernehmen. Meine Lehrerin meinte, dass ausgerechnet ich diese Position übernehmen sollte. Ich war todunglücklich. Ich wollte spielen! Sie bestand darauf: Das kann keine andere machen als du.“ Ihre erste Regieerfahrung bezeichnet Heller heute als „Erleuchtung. Mir hat das einfach unglaublichen Spaß gemacht.“ Vor zehn Jahren zog sie nach München zu ihrem damaligen Freund und wollte irgendwas mit Regie machen. In Berlin bewarb sie sich an der Hochschule für Schauspielkunst „Ernst Busch“ und kam dort in die letzte Runde. Angenommen wurde sie nicht. „Ich war am Boden zerstört. Mein Freund meinte, ich könnte mich noch an der Theaterakademie August Everding bewerben, die sowieso in München ist. Mich hat das nicht interessiert, weil dort Musiktheaterregie gelehrt wurde. Was habe ich mit Musiktheater zu tun? Es
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sollte angeblich geprüft werden, ob ich Klavier spielen kann, was ich überhaupt nicht konnte. Ich war mir sicher, das wird nichts. Klavier spielen musste ich aber erst später. Und wurde genommen, vielleicht gerade, weil ich mir sicher war, dass ich durchfallen werde.“ Letztlich erwies sich die Ausbildung als genau richtig, ausgerechnet Musiktheaterdramaturgie sollte ein Lieblingsfach von Sapir Heller werden. Und, noch überraschender für sie selbst, Modern Dance: „Wir hatten zweimal Tanzunterricht in der Woche, einmal mit den Schauspielern, einmal nur wir Regisseure. Ich habe unglaublich viel aus diesem Unterricht mitgenommen. Im Tanz denkt man anders, manchmal auch an gar nichts. Einfach mal machen, sich bewegen. Der Körper erzählt so viel, dass man gar nicht mehr viel erklären muss.“ Bewegung und Musik spielen bei ihr heute stets eine große Rolle. So betrachtete sie „Amsterdam“ von Anfang an wie ein Musikstück: „Als ich Maya Arad Yasur davon erzählte, meinte sie ganz erfreut, dass sie das Stück ursprünglich als ,Eine textliche Partitur‘ bezeichnen wollte.“ Wie Instrumente spielen die drei Erzähler nun ihr Sprachkonzert, drehen ihre Pirouetten, brechen in Tanzeinlagen aus, testen Worte und Bewegungen, spielen mit Leitmotiven. Die Violinistin, heißt es einmal, liebt den Widerhall ihrer Absätze auf dem Pflaster der Keizersgracht, an der ihre Wohnung liegt. Heller lässt ihr Trio mit High Heels auf dem Boden rhythmisch klackern, was zunächst heiter, dann zunehmend militärisch-bedrohlich klingt, wie ein dunkles Echo aus der Kriegszeit. Den Soundtrack des Abends besorgt jedoch vor allem Musikerin und DJane Kim Ramona Ranalter. Vom Bühnenrand aus spielt sie elektronische Musik ein, Soundkulissen, die an das Laden von Waffen, das Fallen von Bomben erinnern. Zu einem elaborierten Clubtrack tanzen die drei Erzähler, teils von Heller choreografiert, teils ungebunden improvisierend. Zwischendurch fügt Ranalter in den Erzählstrom einige der im Stück vermerkten Fußnoten ein, erklärt das Wappen von Amsterdam oder übersetzt holländische Satzsprengsel. „Für mich sind das kleine Stimmen im Kopf“, meint Sapir Heller. „Gerade, wenn man in einem fremden Land ist, versucht man, im inneren Gespräch mit sich selbst zu verstehen, was dieses oder jenes bedeuten soll.“ Alle Figuren, auch die der Geigerin, wollte Heller auf ihr Team als Diskursmaterial gleichmäßig verteilen, anders als bei der Uraufführung des Stücks in Haifa im Juli 2018. Dort wurden die Charaktere jeweils mit einzelnen Schauspielern besetzt. „Diesen Realismus wollte ich vermeiden,
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weil es gerade um die Kluft von Wahrnehmung und Wahrheit geht.“ Nicht nur die Selbstwahrnehmung der Violinistin erscheint ambivalent, sondern auch der Außenblick auf sie ist davon geprägt, dass andere etwas auf sie projizieren. Eigentlich hat sie ein Concerto mit dem Titel „Das Paradox der Stare“ komponiert, ein auf den ersten Blick unpolitisches Stück, in dem jedoch auf den zweiten Blick der Gedanke an Massenbewegungen mitschwingt. Die Violinistin ist ausgewandert, „weil sie in Amsterdam der Star sein kann, der sie ist, ohne sich der Richtung und dem Timing des Schwarms anzupassen“, zitiert Heller aus dem Text. Der Satz gefällt ihr besonders gut. Die Agentin der Violinistin versucht jedoch, ihre Klientin wieder in einen, ganz anderen, Mainstream hineinzuziehen, wenn sie fragt, ob diese nicht ein Requiem für die 551 Kinder schreiben will, die im letzten Gaza-Krieg gestorben sind. Sapir Heller hat mit diesem stereotypen Denken selbst einige Erfahrungen gemacht. „Nathan der Weise“ wurde ihr x-mal angeboten, Stücke über den Holocaust, den Zweiten Weltkrieg. „Nach meiner Ankunft in München habe ich nicht diese Themen gesucht, aber sie haben mich gesucht. Jetzt beschäftige ich mich häufig mit der Vergangenheit, mit Krieg und Militär, mit Rechtsradikalismus und Fremdsein, was mich aber auch selbst stark interessiert. Ich gebe den Leuten, die mir diese Stoffe anbieten, dann oft nicht das, was sie erwarten, sondern gehe mit den Dingen so um, wie ich das privat auch tue. Dazu gehört viel Humor. Ein Freund hat mal zu mir gesagt: ‚Du machst immer Zirkus aus dem Schmerz.‘ Das empfinde ich als ein großes Kompliment. Ich muss dann an den Narr bei Shakespeare denken, der als Einziger direkt die Wahrheit sagen darf – mit Humor.“ Musik, Tanz, Komik – ein paar feste Bestandteile gibt es in den Arbeiten von Sapir Heller, sie machen ihre Regiehandschrift aus. „Aber ich möchte mich nicht auf einen Stil festlegen, dagegen weigere ich mich ein bisschen. Es gibt Regisseure, bei denen die Häuser genau wissen, was sie einkaufen. Manche machen ihre Arbeit auch tatsächlich sehr gut, aber mich interessiert das oft nicht weiter. Ich schätze vor allem Regisseure, die immer wieder vom Stoff selbst ausgehen und passend dazu alles Mögliche ausprobieren, auch, was die Ästhetik angeht. So eine Regisseurin möchte ich selbst auch sein.“ Nach Abschluss ihres Studiums im Jahr 2014 arbeitete Heller frei an diversen Häusern, am Maxim Gorki Theater in Berlin, am Theater Augsburg oder am Staatschauspiel Dresden. Viele Stückentwicklungen, viel neue Dramatik hat sie auf die Bühne
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gebracht. Zum Beispiel besorgte sie die Uraufführung von Lisa Danulats „Ralf“ in Dresden 2016: ein Stück über einen Außerirdischen, der ähnlich wie der Serien-Zottel Alf abstürzt und bei einer Familie aufgenommen wird, sich aber als Flüchtling der extraterrestrischen Art mit den Vorurteilen seiner Umwelt konfrontiert sieht. Zuvor im selben Jahr inszenierte Heller in Tübingen Tuğsal Moğuls NSU-Rechercheprojekt ,,Auch Deutsche unter den Opfern“. Für einen Tag besuchte sie mit ihrem Team den Prozess in München, just, als Beate Zschäpe aussagte, und fand es dabei erstaunlich, wie unterschiedlich die Medien später von diesem Tag berichteten. Auch hier also: lauter Erzählungen, Wahrheiten, sich widersprechende Varianten. Für das Theater Hof hat Sapir Heller in den letzten Jahren mehrfach gearbeitet, injiziert gerade in altgediente Stücke über das Dritte Reich eine hohe Dosis Musik: Carl Zuckmayers ,,Des Teufels General‘‘ brachte sie 2016 als „Techno-Pop-Musical“ auf die Bühne, George Taboris „Mein Kampf“ als Hitler-Farce zwischen Klezmer, Tango und Rock, in der musikalischen Bearbeitung von Michael Falk. Wie der Mensch durch den Krieg verändert wird, in welche moralischen Dilemmata er gerade in solchen Zeiten geraten kann, beschäftigt Heller immer wieder. Sie selbst konnte den Militärdienst, den Frauen wie Männer in Israel 21 bzw. 36 Monate lang abzuleisten haben, nur mit sehr viel Mühe verweigern. Nach „Amsterdam“ hat sie am Theater Konstanz Jaroslav Hašeks Schelmenroman „Der brave Soldat Schwejk“ adaptiert. Den Schwejk spielt eine Frau, ein Akkordeonspieler macht Musik. Zur Militärdienstverweigerin Heller ist der brave Soldat das ideologische Gegenmodell: „Der Schwejk, oder bei uns: die Schwejkin, möchte unbedingt in den Krieg; er fände es wunderbar, wenn er für den Kaiser sterben könnte.“ Als kindlicher Narr windet Schwejk sich aus allen möglichen misslichen Situationen, meistert jede krumme Erzählkurve mit einer Geschicklichkeit, die vergleichbar ist mit jener der drei Erzähler in „Amsterdam“. Mit Witz und Verve schlagen diese sich ihren Weg zur finalen Pointe. Wer wird die Schuld aus der Nazizeit begleichen? Die Violinistin jedenfalls nicht. Und hat man nicht selbst noch offene Rechnungen bei sich zu Hause herumliegen? Sapir Heller fände es schön, wenn man sich das am Ende fragen würde. Schließlich will sie eine Brücke schlagen: von „Amsterdam“ zu uns.
Patrick Güldenberg, Lorna Ishema und Sascha Nathan
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Die Scheußlichkeit des Lebens zeigen Georg Kasch Ist das noch eine Theatergarderobe? Oder schon das Totenreich? Fünf Schauspielerinnen liegen rücklings auf der Bühne in ihren Kostümen, die Uterus und Eierstöcke zeigen sowie einen Stinkefinger darauf. Während die Kamera ihr Spiegelbild verzerrt und zersplittert auf die Bühnenrückwand überträgt, leuchtet über allem das Wort „Flatrate“. Die Frauen plärren weinerlich vor sich hin. Eigentlich sind sie gekommen, um Maos Witwe zu spielen. Aber wie in einer Kafka-Erzählung dringen sie nie zum Ziel vor, weder zum Regisseur noch zur Rolle. Da steht Anita Vulesicas Helena auf und spricht von der Erfahrung, eine Schauspielerin zu sein, leise, eindringlich, als seien das Vulesicas eigene Worte: „Am Ende habe ich mein Geld als Söldnerin verdient. Verdingt bin ich gewesen und werde keine Pension bekommen.“ Um dann zu fragen: „Und wenn alle so leben müssen. Warum ist es dann nicht freundlicher geworden. Fürsorglicher. Kameradschaftlicher. Wenn doch alle in diese Verhältnisse gepresst sind. Es könnte doch eine große Gemeinschaftlichkeit entstehen. Eine Freundschaftlichkeit, die das alles unterläuft und das Leben schön macht. Gemeinsamer.“ Kurz scheint diese Utopie auf, herausgehoben aus dem Geplapper über Make-up, Haarewaschen, Handcreme. Dann endet der kurze Monolog mit dem Wort „irgendwie“. Kein Wunder, dass nichts daraus folgt. Wie auch – mit dieser Truppe? Die fünf Frauen gehen auf das Konto von Autorin Marlene Streeruwitz. Im Auftragswerk „Mar-a-Lago“ für das Berliner Ensemble hetzt sie in fünf Stationen hysterische, egoistische Schauspielerinnen aufeinander, die alle mal was mit dem (ungenannt bleibenden) Regiegenie gehabt haben, nun aber trotz der emotionalen Verletzungen zusammenkommen, um je einen Aspekt von Maos Witwe zu spielen – ausgerechnet jener chinesischen First Lady, die selbst Schauspielerin war, bis sie an der Seite ihres Mannes zu Macht kam, die Kultur im Land bestimmte, für zahlreiche Todesurteile verantwortlich wurde. Und bald nach dem Tod ihres Mannes abgeräumt wurde. Streeruwitz’ Stück ist eine böse, rabenschwarze Abrechnung mit einem Feminismus light. Die Autorin führt Schauspielerinnen als eitle, quasselnde Weibchen vor, die nicht in der Lage sind, sich zu organisieren und dem Patriarchat konsequent den Stinkefinger hinzuhalten, die sich stattdessen in der Hoffnung auf
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eine Rolle oder eine Umarmung zu Dienerinnen erniedrigen lassen, die dem Werk des großen Mannes den Weg freischrubben. Die sich dabei in Zickenkriegen verheddern, wortwörtlich an die Kehle gehen, sich in ihre eigene Welt zurückziehen, statt zu kämpfen. Böse ist das, man könnte fast sagen: denunziatorisch einem ganzen Geschlecht gegenüber. Man quält sich beim Lesen: Ist die Lage so arg? Kann sein, dass Streeruwitz hoffte, mit ihrer Dystopie die Zuschauerinnen aufzurütteln frei nach Rosa von Praunheim: Nicht die Frau ist pervers, sondern die Situation, in der sie lebt. Aber hält man diesen Provo-Pessimismus neunzig Minuten lang aus? Christina Tscharyiski hat in ihrer Uraufführungs-Inszenierung im Kleinen Haus des Berliner Ensembles eine ganz andere Idee: Witz. Ihre fünf Schauspieler warten geschlechtsunabhängig als weiße Prinzessinnen-Bräute auf ihren Regisseur – vor riesigen, kaum erklimmbaren Marmorstufen, auf denen sich ein roter Teppich als Stolperfalle windet. Später stecken sie ihre Köpfe und Protestbanner aus einem überdimensionierten rosafarbenen StrickPussyhat, dem feministischen Protest-Symbol gegen den PussyGrabscher Trump, während hinten das Weiße Haus in einer PopKitsch-Version leuchtet. Sie zwitschern und seufzen ihren Text wie verwöhnte Hollywood-Diven, halten ihn immer wieder mit spitzen Fingern und gespitzten Schnütchen von sich, werden zu Bauchrednerpuppen ihrer selbst – hochnotkomisch. „Ich finde, dass Marlene Streeruwitz eine sehr beeindruckende Frau ist, eine extrem kluge, kraftvolle Kämpferin“, sagt Tscharyiski. „Aber ich hatte das Gefühl, dass ich die Bitterkeit des Stücks so nicht vertreten kann.“ Stattdessen glaubt Tscharyiski daran, dass sich etwas ändert. „Mir ist schon klar, dass es zäh läuft, es oft Rückschläge gibt. Aber gerade jetzt habe ich das Gefühl, dass etwas brodelt, gewisse patriarchale Strukturen nicht mehr aufrechterhalten werden können.“ Zusammen mit Clara Topic-Matutin, als künstlerische Beraterin, Kuratorin und Mitglied der Theaterleitung des Berliner Ensembles „die brennende Kämpferin für unser Projekt“, überlegte Tscharyiski, wie sie mit Streeruwitz’ Text, der ja als Auftragswerk feststand, umgehen könne, „ohne dass man sagt: Das Problem der Frauen sind die Frauen. Vielleicht ist das zum Teil wahr, aber man muss auf der Bühne auch etwas anderes erzählen.“ So kam Topic-Matutin auf die britische Dramatikerin Alice Birch, die in „Revolt. She said. Revolt again“ das Thema Gender und Geschlecht skrupellos anpackt, direkt, wütend, witzig, abgründig.
Revolt. She said. Revolt again. | Mar-a-Lago
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Wir-Form, erwähnt die Leistungen der anderen. „Ich halte nichts vom Universalgenie, finde Synergien interessanter“, sagt sie. „Viele Sachen haben wir gemeinsam entwickelt, also überlegt: Was ist die Situation? Wie kann man das erzählen? Wie löst man das ästhetisch? Wie verknüpft man die einzelnen Szenen, sodass es einen Zusammenhang gibt?“ So ist etwa die Prinzessinnenfährte entstanden, die sich auf Streeruwitz’ vollständigen Stücktitel „Mar-a-Lago. oder. Neuschwanstein“ bezieht, der gleich zwei Märchenschlösser zitiert. Das des deutschen Vorbilds für Walt Disneys „Cinderella“-Palast, Traum aller Nachwuchsprinzessinnen. Und das des amtierenden US-Präsidenten, ein vulgär luxuriöses Anwesen in Florida, Traum aller Frauen, die glauben, ihr Glück an der Seite eines reichen Mannes zu finden. Für die Schauspielerinnen in „Mar-a-Lago“ sind sie so unerreichbar wie das Theater am Schiffbauerdamm, in dem das Berliner Ensemble residiert und das einmal oben auf den Marmorstufen erscheint. Später prangt dort ein Streeruwitz-Porträt, unter dem „Großes Haus“ steht, also die Bühne nebenan, wo die männlichen Autoren und Regisseure regieren. Immer wieder aber verweist Tscharyiski in Einblendungen darauf, dass wir uns hier im Kleinen Haus befinden. Ob Intendant Oliver Reese den Hinweis verstanden hat? „Man muss wissen, wozu man geladen ist“, sagt Tscharyiski. „Uns ist klar gewesen, dass wir eingekauft wurden als das feministische Projekt, als Antwort auf #MeToo. Zugleich waren wir nur eine Produktion von vielen.“ Heißt: Parallel probte ein männlicher Regisseur für seine Inszenierung im Großen Haus, die alle Ressourcen band. „Das ist das Bittere“, sagt Tscharyiski: „Einem brennt etwas derart unter den Nägeln, man investiert alles, was man hat, um das zu erzählen, darauf aufmerksam zu machen. Und dann ist man doch nur eine von vielen Produktionen, hinterher geht’s nahtlos weiter und das Theater hat noch immer dieselben Strukturen wie vorher.“ Heißt: Oben steht der große weiße Mann. „Das ist überall so, auch am Berliner Ensemble, deshalb muss man das auch in die Diskussion bringen.“ Tscharyiski, Jahrgang 1988, kennt den Theaterbetrieb und seine Macken seit vielen Jahren. Noch vor ihrem Studium – Theater-, Film- und Medienwissenschaft und Soziologie in Wien – machte sie erste Hospitanzen, sammelte dann als Regieassistentin bei zahlreichen Theater- und Opernproduktionen Erfahrung, in kleineren Häusern wie dem Wiener Rabenhoftheater, an konservativeren wie dem Theater in der Josefstadt und dem Grand Théâtre de Genève, aber auch an Tankern wie den Salzburger Festspielen
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und dem Wiener Burgtheater. Obwohl sie 2013 schon mehrere eigene Inszenierungen verwirklicht hatte, ging sie für zwei Jahre an das größte deutschsprachige Theater, arbeitete unter anderen mit Dimiter Gotscheff und Frank Castorf. Zum Abschluss ihres Engagements inszenierte sie Heiner Müllers „Hamletmaschine“ im Burg-Vestibül. Seitdem arbeitet sie in Wien, Graz, St. Pölten. Und seit dieser Spielzeit auch in Deutschland. Das hat viel mit der Inszenierung zu tun, mit der sie 2018 das Radikal-jung-Festival gewann, die zum Heidelberger Stückemarkt eingeladen und für den Nestroy-Preis als beste freie Produktion nominiert wurde: „Ja, eh! Beisl, Bier und Bachmannpreis“. Der Abend entstand 2017 am Rabenhof, einer Kellerbühne, die alternatives Volkstheater zwischen Singspiel, Kabarett und satirischem Puppenspiel zeigt und wo Tscharyiski als 19-jährige Hospitantin erste Regieerfahrungen sammelte. Stefanie Sargnagels Wettbewerbstext für den IngeborgBachmann-Preis 2016, „Penne vom Kika“, handelt von einer, die in Jogginghose auszog, das Leistungsprinzip zu verweigern, hin und wieder einen Text zu schreiben gegen Geld, um davon billige Lebensmittel (der Titel spielt auf Nudeln im Möbeldiscounter an) und billiges Bier in nicht minder billigen Kneipen zu bezahlen. Ob ihre so bissige wie lässige Suada dabei die Leser umarmt oder ihnen den Stinkefinger zeigt, liegt im Auge des Betrachters. Witzig ist er in jedem Fall – und brachte ihr in Klagenfurt den Publikumspreis in Höhe von 7000 Euro ein. Am Rabenhof zimmerten Tscharyiski und Fabian Pfleger aus Sargnagels Klagenfurt-Text eine Bühnenfassung, auf der steht, was drin ist. Sie verteilten den hier gekürzten, da erweiterten Tagesbericht – Dusche, Eislaufen, Beisl – auf drei Schauspielerinnen. Schon hier bewies Tscharyiski ihr genaues Gespür für Komik: Unter pumucklhaften Perücken schlurften die Schauspielerinnen in Schlabberhosen und zerlöcherten Wollpullis über die Bühne, versteckten sich hinter den vielen Türen im dunkel gebeizten Schrankwand-Ungeheuer. In der Tram verknoteten sich ihre Arme zum Haltegriff, auf dem Eis wurden sie zur synchronen Zeitlupenmaschine, in der Beisl lungerten sie um den Tresen herum und warfen einander die Textpassagen der Erzählerin und der frisch verlassenen Freundin Mercedes zu. Tscharyiskis lässige Inszenierung vertraute auf Sargnagels Ironie, auf ihre großartigen Pointen. Für den Grind, das Chaotische, Dreckige sorgten Voodoo Jürgens und seine Band mit ihren makaber-entspannten Alltagsgeschichten von Strizzis, Trinkern und Verlierern.
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Im Berliner Doppelabend finden sie ihre Entsprechung in der Rapperin Ebow, die mit ihrem vorwärtsdrängenden Hiphop voller angriffslustiger Texte eine weitere, am wenigsten gebrochene feministische Stimme einbringt, eine Anti-Prinzessin, die sich nimmt, was sie braucht. So abgeklärt und selbstbewusst endet die Inszenierung nicht, im Gegenteil. Statt mit der totalen Erstarrung und gegenseitigen Blockade zu schließen, die Streeruwitz ihren fünf Schauspielerinnen zugedacht hat, setzt Tscharyiski Birchs 4. Akt als Finale. Eine kurze Szene: Vier Frauen planen die Revolution, es ist die logische Folge von allem, was zuvor verhandelt wurde. Sie wollen das Währungssystem auflösen, die Regierung stürzen, alle Jobs vernichten, alle Männer ausrotten. Was als Utopie beginnt, klingt mit jeder Replik vernichtender. Das Stück endet so: „- Du klingst traurig - Ich bin traurig - Es wird nicht funktionieren, wenn du traurig bist - Es wird nicht funktionieren, wenn du es nicht bist. Wie seltsam von dir, nicht traurig zu sein.“ Und dann folgt ein letzter Satz, wie die übrigen leise und berührend gesprochen von den wunderbaren Schauspielern: „Wer konnte wissen, dass das Leben derart scheußlich sein kann.“ Da ist er, der Schlag in die Magengrube.
Lukas Rüppel
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Act as if there was no centre! Christine Wahl Es klingt wie ein arg konstruierter Spionage-Blockbuster, wie eine am Hollywood-Reißbrett entworfene Agentenklamotte aus den Jahren des Kalten Kriegs: Wir schreiben die Nachkriegszeit zwischen 1948 und 1951; ein realsozialistischer Geheimdienst – sagen wir, der tschechoslowakische – verfällt auf eine besonders originelle Variante, unliebsame Subjekte auszuschalten. Er spielt seinen politischen Gegnern – Oppositionellen, suspekten Regierungsbeamten, katholischen Aktivisten, Intellektuellen oder in Ungnade gefallenen Geschäftsmännern – inkognito düstere Informationen bezüglich ihrer Zukunft zu. Von akuter Bedrohung, Repressalien, Amtsenthebung und unmittelbar bevorstehender Verhaftung ist die Rede. Kaum äußern die Betroffenen (Landes-)Fluchtgedanken, lernen sie – oh Wunder – eine „Kontaktperson“ kennen, die ihnen einen sicheren Weg über die Grenze, nach Bayern, verspricht und praktischerweise gleich den zugehörigen Schleuser vermittelt. Der führt sie dann tatsächlich stundenlang durch den Wald – bis zu einem rettenden deutschen bzw. amerikanischen Grenzhäuschen, wo freundliche US-Beamte ihnen Lucky Strike und Bourbon anbieten, während sie sie zu den Fluchtgründen, ihren Erwartungen ans „neue“ Leben und ihren daheimgebliebenen Freunden befragen. Der Anreiz, sich vollumfänglich zu offenbaren, ist groß. Abgesehen davon, dass die Redebereitschaft durch die psychische Entlastung, endlich außer Gefahr und in Freiheit zu sein, schon per se überdurchschnittlich getriggert wird, winkt auch konkrete Unterstützung: Den namentlich genannten und säuberlich in den Unterlagen vermerkten Freunden etwa kann ja unter Umständen ebenfalls geholfen werden, die Tschechoslowakei zu verlassen. Kaum ist das Aussageprotokoll unterschrieben und der Befragte freundlich entlassen, wartet vor der Tür – nein, leider natürlich nicht das bayrische Wirtschaftswunder, sondern: die tschechoslowakische Polizei; mit Handschellen und Verhaftungsbefehl. Das Grenzhäuschen ist ein Fake, eine notdürftig hingezimmerte Baracke handmade in Czechoslovakia, der Grenzbeamte ein Schauspieler mit antrainiertem amerikanischen Akzent und seine Uniform eine Leihgabe aus dem Kostümfundus des örtlichen Theaters. Wie gesagt: ein hyperkonstruierter Spionage-Blockbuster, das Ganze. Allerdings tatsächlich ein dokumentarischer: Die Story-
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line zu dieser perfiden Inszenierung, die als „Operation Kamen“ in den Aktenschränken dokumentiert ist, schrieb wirklich und wahrhaftig der tschechoslowakische Geheimdienst. Der Regisseur Florian Fischer erfuhr durch einen befreundeten Archivar von ihr – mit immensem Interesse, aber ohne unmittelbaren Verwertungsdruck: Dieser „neoliberale Effektivitätsgedanke, dass man alles, was man erlebt oder erfährt, verarbeiten“ müsse, ist seine Sache nicht; Fischer gehört eher zur Reflexions- denn zur Effizienzgarde seiner Branche. Jetzt, Jahre später, hat er schließlich eine adäquate Form gefunden, die „Operation Kamen“ auf die Bühne zu bringen, im Kleinen Haus des Staatsschauspiels Dresden. Der Stoff ist tatsächlich prädestiniert für ihn; geradezu maßgeschneidert. Nicht nur, weil Fischer, der dieses Jahr bereits zum dritten Mal bei Radikal jung gastiert, vor seiner Regieausbildung an der Münchner Otto-Falckenberg-Schule an der benachbarten Ludwig-Maximilians-Universität Geschichte studierte und also schon von (Erst-) Berufs wegen entsprechende Kompetenzen in puncto Akteninterpretation mitbringt, sondern auch, weil er in dieser komplexen Dialektik von Realität und Inszenierung, die viele Theatermacher ja eher allgemeinplatzverdächtig beschwören als künstlerisch tatsächlich herausarbeiten und die hier eben wirklich konkretes dramatisches und philosophisches Potenzial entfaltet, den Dreh- und Angelpunkt des Abends gefunden hat. „Wir können nicht erzählen, als ob es die eine Wahrheit gäbe“, denkt Florian Fischer bei einer nachmittäglichen Melange in der Loos-Bar in Wien laut nach. Er kommt gerade vom Schauspielhaus, wo er eine neue Produktion vorbereitet – über die allerdings, so viel Konspiration muss sein, noch nicht öffentlich gesprochen werden darf. Dafür lässt sich bereits mit ziemlicher Sicherheit sagen, was wir alles nicht auf der Bühne sehen werden. Nämlich Stanislawski’sches Einfühlungstheater, lineare Geschichten und geschniegelte Hugo-Boss-Träger. Florian Fischer ist ein Regisseur mit hoher Diskurs- und Metaebenen-Fitness; Gespräche über Theatertheorie und Repräsentationsfragen bis hin zu gegenwärtigen Branchenstrukturen sind ein großes Vergnügen mit ihm. „Ich will keinen Anzug mehr auf der Bühne sehen“, ruft er zum Beispiel über den Bartisch. „Der Anzug findet in meinem Leben nicht statt!“ Oder Frauen in roten Kleidern und Schuhen: „Da könnte ich sofort aufstehen und gehen!“ Das Kostüm als theatrales Zeichen, so Fischer, interessiere ihn nicht; es zementiere in der gängigen Bühnenpraxis meist nur
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hanebüchene Milieu- respektive Genderklischees. Und Zementierung ist das genaue Gegenteil dessen, was der Regisseur von seinem Medium erwartet. Fischers Theater ist eines, das den psychologischen Naturalismus genauso ablehnt wie die „postmoderne Zersplitterung“. Das also nicht der Narration an und für sich abschwört, wohl aber der Vorstellung von diesem „einen autonomen Subjekt“, das sie vermeintlich gepachtet hat. „Die Kraft des Geschichtenerzählens“ liege eben gerade nicht in der Festschreibung, sondern „in der Verschiebung von Narrationen“, glaubt Fischer – und rekurriert auf Gertrude Stein, die sinngemäß vorschlug: Act as if there was no center. „Mit den Erzählungen aus den Peripherien“ das Zentrum zu „erweitern, zu verunsichern, in Schwingungen zu bringen“ – darin besteht Fischers Berufsanliegen. Logisch, dass es dabei von zentraler Bedeutung ist, auch das Publikum nicht zu gängeln, es nicht auf eine vorgestanzte Interpretationsspur zu schieben: Er stelle sich, erzählt Fischer, immer wieder die Frage: „Wie schafft man es, dass alle dasselbe sehen, aber jeder etwas anderes denkt?“ Es geht dem Regisseur, mit anderen Worten, um „Ermächtigung“, um eine „Bewusstmachung dessen, was die Leute gerade fühlen – statt sie einfach fühlen zu lassen“. All das schlägt sich selbstredend auch in der „Operation Kamen“ nieder. „Nicht die historische Anekdote“ habe ihn an dem Stoff interessiert, erklärt er, „sondern die Mechanik der Operation“. Fischers Inszenierung ist mithin keine Geschichtsaufarbeitung, sondern eine Versuchsanordnung „über die Verwebung von Fiktionalität und Realität“. Beziehungsweise, ganz konkret, darüber, „wie die Fiktion Realität wird“. Schließlich haben die inszenierten Verhöre durch einen Beamten-Darsteller in einem gefakten Grenzhäuschen zu realen Haftbefehlen und Todesurteilen geführt. Lukas Rüppel, der einzige live (und großartig) agierende Schauspieler des Abends, spannt geschickt den Bogen von der historischen Folie zur unmittelbaren Gegenwart der Zuschauer, die abendfüllend mit Kopfhörern im Theater sitzen. Fischers „Operation Kamen“ wendet die Realitäts-Fiktions-Dialektik konsequent ins Performative und Immersive; sie spielt direkt mit der Steuerbarkeit des Publikums: „Die Schallwelle von jedem meiner Worte … gleitet in deine Ohrmuschel, bis der Schall langsam in den Gehörgang kriecht“, schmeichelt sich Rüppel zu Beginn via Kopfhörer in die Sinne jedes einzelnen Theatergängers ein. „Die Wahrnehmung passiert so tief in dir drin, dass sie direkt zu deiner Realität wird. Geht gar nicht anders.“
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Logisch, dass die viel beschworene Autonomie, auf die sich das hiesige und heutige Subjekt ja bekanntermaßen viel zugute hält, bald als Illusion entlarvt wird: „Wussten Sie, dass gerade in Ihrem Körper zwei Kilogramm Bakterien leben, ohne die Sie gar nicht existieren könnten?“, fragt Rüppel, der vermeintliche Strippenzieher, der am Ende selbst als Marionette vom Schnürboden hängt, kurz vor Schluss. „Wenn Sie gerade zum Beispiel Lust auf Schokolade haben, dann sind das auch nicht Sie, sondern eine ganz bestimmte Spezies von Mikroben in Ihrem Darm. Den einen, der allein eine Entscheidung trifft, gibt es nicht.“ Darüber hinaus ist Fischers Abend aber auch eine beständige Reflexion über die Vorläufigkeit und Perspektivität von Geschichtsschreibung; über die Bedingungen der Repräsentation historischer Fakten in den Köpfen der Nachgeborenen. „Das passiert doch nicht zufällig, dass Sie an der Stelle genau das denken, was wir uns vorher überlegt haben“, säuselt Rüppel einmal in unsere Gehörgänge. „Geschichte ist ja nicht in Stein gemeißelt; die verändert sich!“ „Und Akten“, ergänzt Fischer in der Loos-Bar, „haben kein Alltagswissen und keine Gefühle. Die muss man interpretieren, das weiß ich als Historiker.“ Weil ihm selbst natürlich bewusst gewesen sei, lacht er, als waschechtes, im bayerischen Altötting aufgewachsenes Kind des Westens ohne Autokratieerfahrung eine „sehr hollywoodverseuchte Fantasie“ zum östlichen Geheimdienst-Sujet zu haben, entschied er sich für eine Zusammenarbeit mit der Dresdner Bürgerbühne: schauspielerischen Non-Profis, die sich mit ihrer ganzen biografischen Expertise die Schicksale der Fluchtwilligen anverwandeln, die Fischer für den Abend aus den Akten extrahiert hat – und die dann in der Aufführung selbst über Video eingespielt werden. Die Bürgerbühnen-Spielerin Vivian Richter etwa erzählt in der Rolle einer Oppositionellen, wie sie – aus dem Grenzgebiet stammend – permanent „als Eindringling betrachtet“ werde: „Jetzt war ich beim Buchhändler, einem Menschen, von dem ich denke, dass der so halbwegs intelligent ist. Und der sagt tatsächlich zu mir, er hätte nichts gegen mich persönlich, aber man sieht ja, dass ich nicht von hier sei und dass es deshalb besser wäre, wenn ich nie mehr in seinen Laden käme.“ Es ist eine reale eigene Erfahrung, von der Richter hier berichtet: Florian Fischer hat den Bürgerbühnlern die Akten überreicht mit der Bitte, unter Beibehaltung sämtlicher verbriefter Fakten eigene Figurendetails zu ergänzen; gewissermaßen biografische Lücken zu füllen, die in den Dokumenten nicht überliefert sind.
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Abgesehen davon, dass sich auf diese Weise in den Schicksalen der damaligen osteuropäischen Fluchtwilligen, dargestellt wiederum von realen heutigen Dresdnerinnen und Dresdnern, die gegenwärtige Situation Flüchtender auf denkbar vielschichtige und zudem synapsenanregend undidaktische Weise spiegelt, transportierten die Gesichter und Körper der nichtprofessionellen Akteure, so Fischer, auch darstellerisch völlig andere Erfahrungen als die von hauptberuflichen Bühnenkollegen. „Das fängt ja schon in der Schauspielschule an“, erklärt er. „Es werden immer nur wieder bestimmte Typen aufgenommen, und von da ab hast du eine Palette von Gesichtern, die immer wiederkehren.“ Mit den Non-Profis breche mithin ein völlig „anderes Leben ein als der gestählte, trainierte Schauspielerkörper, der perfekt spricht, sich nie verspricht, keinen Akzent mehr hat.“ Da ist sie wieder, die Gertrude-Stein-Inspiration: Act as if there was no centre. Eine Maxime, der der Regisseur übrigens auch privat folgt: Im vergangenen Jahr, erzählt er, habe er „kein einziges Buch von einem heterosexuellen weißen Mann gelesen“ – und stattdessen zum Beispiel die vor zwölf Jahren verstorbene schwarze US-amerikanische Sci-Fi-Autorin Octavia E. Butler für sich entdeckt. Zurzeit überlegt sich Fischer, in Brüssel, wo er lebt, einen „Performance-Space“ zu eröffnen. Einen Ort, in den, auch institutionell betrachtet, das Beste einfließt, was die Bühnenbranche zu bieten hat – und das Hinderliche draußen bleibt. Institutionen – wie eben das (Stadt-)Theater – „sind natürlich toxisch“, erklärt der Regisseur. „Aber jedes gute Gift kann ja auch Medizin sein, nur zu viel davon ist giftig.“ Großartig – und absolut einmalig – am Theater fände er zum Beispiel das Potenzial, völlig unterschiedliche Menschen aus verschiedenen Berufsgruppen zu „gemeinsamer unentfremdeter Arbeit“ zusammenbringen zu können: „Das schafft kein anderer Betrieb!“ Und der Schreiner, der seit dreißig Jahren an einer städtischen Bühne arbeite, wisse eben „tausendmal mehr über Theater“ als er selbst, sagt Fischer. „Das Problem ist nur: Warum treffe ich den nie beim Arbeiten?“ Gut möglich also, dass man Florian Fischer bald in seiner eigenen Spielstätte besuchen kann. Bis dahin allerdings stehen erst einmal Arbeiten in Bochum bei Johan Simons oder am NT Gent an, das seit dieser Spielzeit von Milo Rau geleitet wird und sich ähnliche Diskurse auf die Fahnen geschrieben hat, wie sie auch Fischer umtreiben: „Wie steht es um die Machtverhältnisse im Theater? Wer wird gesehen, wer nicht? Wer schöpft kulturelles und monetäres Kapital aus den Geschichten, die zum Beispiel über
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Kolonialismus, Diskriminierung, Rassismus erzählt werden?“ Ganz konkret denke er zurzeit darüber nach, was die Kategorie Klasse eigentlich bedeutet, sagt der Regisseur, der in einem „unrenovierten Brüsseler Jugendstil-Haus für 120 Euro im Monat zur Miete“ wohnt, weil ihm das Kleinhalten von Ausgaben unschätzbar große Freiheiten eröffne. Aber, wie gesagt: Florian Fischer unterliegt sympathischerweise keinerlei künstlerischen Verwertungszwängen. Vielleicht sehen wir seine Klassismus-Auseinandersetzung also erst überübermorgen. Oder in fünf Jahren. Dafür dann aber auch entsprechend gründlich und klug durchdacht.
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Regie
Blanka Rádóczy
Der Mieter von
Bühne
Roland Topor
Blanka Rádóczy Kostüme
Residenztheater München
Andrea Simeon
Premiere
Dramaturgie
24. November 2018
Angela Obst Musik
Benedikt Brachtel
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Ein gefährliches Rätselspiel C. Bernd Sucher „Meine szenische Fantasie ist ausschließlich ans Bühnenbild gekoppelt; ich habe ziemlich genaue Vorstellungen davon, was eine Bühne für mich können muss und nach welchen Regeln sie funktioniert. Meistens muss ich mich dann als Regisseurin dazu zwingen, diese Regeln einzuhalten. Manchmal ist das schwer, manchmal verliere ich den Überblick, aber wir alle arbeiten als Team, es gibt meistens jemanden, dem das rechtzeitig auffällt. Es gibt also eine Grundidee für den Raum. Beim ‚Mieter‘ waren das die Gänge im Treppenhaus. Dazu kommen dann die Details. Während ich den Grundriss entwerfe, denke ich gleichzeitig über Einrichtung und Requisiten nach. Diese werden dann oft zu inhaltlichen Leitmotiven. Und diese sind entscheidend für die Inszenierung. Dasselbe gilt für Musik und Kostüme.“ Für ihre Inszenierung von Roland Topors „Der Mieter“ im Marstall des Bayerischen Staatsschauspiels hat sich Blanka Rádóczy eine leere, rechteckige Spielfläche bauen lassen, begrenzt in der Tiefe durch eine Wand mit nur einer Tür – dahinter, die Zuschauer entdecken sie sehr bald: eine Toilette. Links, neben der Eingangstür für das Publikum, zwei große vollgestopfte Müllcon tainer, die wohl nie geleert werden; rechts die Mauerwand des Marstalls. Vorn, vor der Zuschauertribüne, liegen ein Paar Matratzenkissen, daneben ein Kleiderständer, wie wir ihn aus Warenhäusern kennen, behängt mit billigen, bunten Frauenfummeln, sehr florale Muster. Es sind die Kleider der Selbstmörderin, in deren Wohnung Trelkovsky einziehen wird, nachdem der Vermieter ihn nach langen, demütigenden Gesprächen als Mitbewohner akzeptiert hat: keine Damenbesuche, keine laute Musik, keine Feten, keine Beschwerden. Roland Topors Roman „Der Mieter“ – im französischen Original trägt er den Titel „Le Locataire chimérique“ – ist ein surrealer Horrortrip. Roman Polanski, der 1976 daraus einen zweistündigen Film machte, interessierte der Thriller; die junge Blanka Rádóczy versucht einen anderen Weg der Vergegenwärtigung. Sie strebt nicht so sehr eine Krimi-Spannung an als vielmehr eine Verunsicherung der Wahrnehmung – auf den Spuren von Franz Kafkas „Verwandlung“. Sie inszeniert einen Alptraum, in dem Figuren hereinhuschen – wie zum Beispiel eine Putzfrau, die mit einem Wischmopp zu Gange ist, mal im Klo sich zu schaffen macht, mal um die große unbespielte Mittelfläche schlurft, die, abgedeckt mit
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einer Plane, am Ende des Mieters Grab wird – ist es ein Innenhof? Oder der Nachbar, ein skurriler Typ, absonderlich gekleidet; geheimnisvoll und androgyn, sich dem neuen Mieter anbiedernd und ihn zugleich mephistophelisch ins Verderben lockend. Man wird aus allen fünf Figuren nicht klug. Sicher ist nur eines: Wer auch immer in dem Haus wohnt, der Neue gilt ihnen allen als ein Störenfried, der so wenig wie die anderen begreift, was Topors These ist: Leben heißt stören! Akzeptierten der Vermieter, der Nachbar, die Nachbarin und Stella, die Trelkovskys Nähe sucht, so wie er die ihre, diese Grundvoraussetzung, sie würden den Mieter nicht als einen Eindringling brandmarken, ihn aus der Gemeinschaft drängen und schließlich in den Selbstmord treiben. Wundersam, mit welch diskreten Mitteln Blanka Rádóczy diese hilflos-schüchternen Versuche, Zärtlichkeit zu fordern und zu geben, beschreibt. Ihr Kopf auf seiner Schulter; ein Nesteln an seiner Jacke. Angst bestimmt die Liebessehnsüchte der beiden. In dieser Welt ist jeder Gang, jede Geste Gefährdung. Das Fremde fasziniert Blanka Rádóczy. „Als ich ‚Teorema‘ inszeniert habe, haben wir uns damit beschäftigt, was passiert, wenn ein Fremder auftaucht und das bestehende System, da war es eine Familie, dadurch zerfällt. Im ‚Mieter‘ taucht Trelkovsky als Fremder auf und wird von der Gruppe, vom System aufgesaugt, im Prinzip passiert also das Gleiche, nur ist im ‚Mieter‘ die Gruppe stärker als die Einzelperson.“ Aber wie kommt es so weit? Ist es ihr Plan oder sein verzweifelter Versuch, zur Gruppe zu gehören? „Im Buch verfolgen wir Trelkovskys Leben durch seine Erzählung. Und in dieser Erzählung gibt es immer seltsamere Träume und Bilder. Es passiert im Fluss. Es findet eine Realitätsverschiebung in Schritten statt. Und irgendwann landen wir in seiner inneren Welt, in seiner Fantasie. Dort, wo es nur noch Bilder, Geräusche gibt. Das äußere Ich tritt in den Hintergrund und das Innere zeigt sich. Diese Wendung hat mich interessiert.“ Was Wunder, dass Blanka Rádóczy in ihrem kafkaesken Rätselspiel mit Geräuschen arbeitet. Betritt Aurel Manthei, der den verdrucksten, zunehmend verunsicherten Mieter spielt, sein Zimmer – es ist jener türenlose Ort, wo die Matratzen liegen –, dann knarzen die Dielen. Überlaut aus Lautsprechern. Manchmal erklingen Musiken, Fetzen von Melodien nur. Unwirklich auch sie. Realitätsfern. Hat Blanka Rádóczy während der Arbeit an die Stilmittel des absurden Theaters gedacht? – „Ich kann mich erinnern, dass
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ich das Kapitel über das absurde Theater in Theatergeschichte toll fand. Wenn ich über diese Frage nachdenke, erkenne ich natürlich gewisse Parallelen zu meinen Arbeiten. Der Moment des Wartens, die Ausdehnung von Zeit, die Wiederholung und die Darstellung des Unsichtbaren sind durchaus Themen, die mich sehr interessieren. Die Reduzierung der Sprache, die Aufwertung anderer Theatermittel wie Bühnenbild, Musik und Kostüm und Figuren, die sich wie Marionetten in einem schleifenartigen System bewegen, entsprechen sowohl meinem Theatergeschmack als auch meinem Bild von der Welt. Außerdem habe ich als Assistentin von Anna Viebrock auf unzähligen Proben von Christoph Marthaler gesessen, das war sehr prägend.“ Blanka Rádóczy mag Langsamkeit und sie lehrt die Zuschauer, wie Christoph Marthaler, eine andere Zeiterfahrung als die alltägliche. Sie wurde in Pécs in Ungarn geboren und wuchs in Ungarn und der Schweiz auf. Nach dem Abitur in Basel besuchte sie den einjährigen Vorkurs der Schule für Gestaltung, darauf folgte eine Jahreshospitanz im Bereich Bühnenbild am Theater Basel, hier traf sie Anna Viebrock und Christoph Marthaler. Anschließend studierte sie an der Universität für angewandte Kunst Wien in der Klasse für Bühnen- und Filmgestaltung. Während und nach dem Studium arbeitete sie in zahlreichen Produktionen als freischaffende Bühnenbildassistentin von Anna Viebrock: am Theater Basel, bei den Wiener Festwochen, an der Volksbühne Berlin, am Schauspielhaus Hamburg und am Schauspiel Köln. Als Diplomarbeit drehte sie ihren ersten Animationsfilm. Obwohl sie danach erfolgreich drei Jahre lang als Bühnen- und Kostümbildnerin reüssierte, entschloss sie sich zu einem weiteren Studium und begann im Sommersemester 2014 das Studium Regie für Schauspiel und Musiktheater an der Theaterakademie August Everding in München. Hier entstand, neben anderen, ihre Inszenierung von „Dekalog VI“ nach dem gleichnamigen Film von Krzysztof Kieślowski. „Teorema“ nach Motiven von Pier Paolo Pasolini war ihre BachelorInszenierung, die beim Körber Studio Junge Regie in Hamburg gastierte und dort den Publikumspreis gewann. Sowohl in den Projektarbeiten als auch in „Der Mieter“ kann man bemerken, dass diese Regisseurin eine große Lust hat, Geschichten zu erzählen und dafür Menschen zu gewinnen, denn sie glaubt an die Kraft und die Nachhaltigkeit von Theater: „Solange Menschen im Theater zusammenkommen, um gemeinsam eine Erfahrung zu machen, die keinen ökonomischen Mehrwert hat, ist es politisch. Ich glaube, es ist eine große Leistung. Und darüber hinaus muss
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Ein gefährliches Unterfangen, denn damit beginnen die Zweifel an der Realität. Zuweilen wünschte ich mir von Blanka Rádóczy mehr Furor noch, mehr Wahnwitz, mehr Mut zu düsterer Melancholie. Denn Topor zeigt eine hoffnungslose Welt. In manchen Momenten dieser durchaus beeindruckend entschiedenen Inszenierung wäre es gut gewesen, wenn die Regisseurin unsere Seelen noch mehr in Besitz genommen und uns in noch düstere Finsternisse geführt hätte. Allein, dass sie mit Marthalerscher Zeitdehnung und extremer Verwendung von akustischen Zeichen uns das Fürchten und Zweifeln lehrt, ist keine kleine Leistung!
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Die Ordnung der Familie Fransien van der Putt Brexit, Grenzmauer und „ein selbsternannter Interimspräsident“ in Venezuela machen es manchmal schwierig zu unterscheiden, was die dominante Mainstream-Ordnung und was deren Alternative ist. Es gibt Tage, an denen Punk die neue Weltordnung zu sein scheint, an denen das Fuck you aus den Regierungsgebäuden und Präsidentenpalästen herausschallt, ohne dass sich jemand um die potenziell desaströsen Folgen all dieses fehlgeleiteten, weißmähnigen Glamours zu sorgen scheint. Schamlosigkeit und Improvisation scheinen sich von der linken Avantgarde, dem Punk und dem politischen Rand bis zum Machtzentrum der Politik und der Medien manövriert zu haben. Die sich langsam verändernde, emanzipatorische, breite bürgerliche Mitte lässt kaum etwas von sich hören. Es sind vor allem junge Menschen, die mit Anti-Waffenbesitz- und Pro-Klima-Gesetz-Märschen das zynische Medienspiel in etwas umzuwandeln verstehen, das Hoffnung bietet. Lester Arias kommt 2012 aus Caracas zum Studieren an die School for New Dance Development (SNDO) in Amsterdam. Eine rechte Regierung hat dort gerade das Budget für darstellende Kunst enorm gekürzt. Im experimentellen Bereich führt dies zu Einsparungen von rund fünfzig Prozent. Darüber hinaus stellt sich die Frage, ob Arias nach seinem Abschluss wirklich auf ein Subventionssystem für Theaterkunst zurückgreifen kann, das nach alten Werten (des 19. und 20. Jahrhunderts) funktioniert: hohe und niedere Kunst, Pop und Kommerz versus unabhängig und institutionell, jung und experimentell versus etabliert, links und rechts, homo und hetero, Tanz und Theater – das sind schlaffördernde Schemata, die eine immer größere Kluft zwischen Theater und Gesellschaft verursachen. Unter der neoliberalen Regierung in den Niederlanden wurde der Kunstbetrieb marginalisiert und Subventionen gekürzt, während internationale Akteure wie Trump, Le Pen, Wilders, Johnson und Farage die Weltbühne betraten, um die Show zu stehlen. Jetzt konkurrieren sie in den Schlagzeilen mit Björk und Lady Gaga, Beyoncé und Anohni (früher bekannt als Antony Hegarty), die eine ganz andere Bewegung in Gang setzen. Gender wird zu einem offenen und beliebten Spielfeld, #MeToo zu einem Stock in der Hand schutzbedürftiger Arbeitnehmer. Das Patriarchat scheint tatsächlich bis zu einem gewissen Grad erschüttert worden zu sein.
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Kulturelle Rahmenbedingungen werden manchmal durch einen einzigen Popsong verändert. Die alt-englische Vorstellung von Girl Power wird durch das Selbstverständnis von Popstars überholt, die Erfolg haben beim Verarschen der heteronormativen Nostalgie. Dennoch sind immer noch viele Schritte zu tun, vom Bruch mit alten Rollenbildern über das Entlehnen und Verspielen von Werten bis zu persönlichem Frieden und Grounding. Lester Arias fällt in Amsterdam durch seine gewandten Auftritte auf. Er kombiniert Improvisation und DIY, Drag und Vaudeville mit Ernsthaftigkeit und Schärfe. Seine Texte sind persönlich. Aber was ist seine Persönlichkeit? Sie tanzt zwischen den gegensätzlichen Registern, von radikaler Performance bis hin zur vorgefertigten Magie der App-Filter. Zusammen mit Niklas Blomberg bildet er das Musik- und Performance-Duo Lester&Niki, das Konzerte gibt, bei denen alte Genre-Kategorien nicht mehr zählen. Entertainment wird Hardcore, wenn das Persönliche in eine poetische Mystik aus virtuellen Körpern, magischen Räumen, himmlischen Klängen und sexy-synthetischen Beats versetzt wird. In „House“, aber auch in seiner neuen Inszenierung „WHITE [ARIANE]“ nimmt Arias seine Zuschauer mit auf eine Reise, lässt sie aber auch verloren gehen, nicht nur durch sexuell herausfordernde Anspielungen, sondern auch durch Verweise auf globale wirtschaftliche und politische Ungleichheiten. Der Reichtum von Amsterdam, der schwulen Hauptstadt, steht nicht zur Verfügung für diejenigen, die dort als Nicht-EU-Bürger überleben müssen. Arias’ „WHITE [ARIANE]“ ist eine Transitzone, permanent zwischen den Welten. Er verflicht mühelos, manchmal auch gehörig dramaturgielos abstrakte Vorstellungen von mystischem Glück und Wiedergeburt mit den konkreten Geschichten seiner Familie in Caracas und seines Künstlerdaseins in Amsterdam. Auch im künstlerischen Sinn macht er Quantensprünge. Die visuelle Logik des Videoclips, die konventionelle Ordnung des Konzerts, die Spontaneität und Interaktion von Stand-up und Live-Show, die verkörperte Materialität von Tanz und Performance, das Konzept der Lecture Performance und die eigene Ordnung des Künstlerateliers oder Kostümbildners werden durcheinandergewürfelt und scheinbar lässig inszeniert. Der Magier und der Clown, der Angry Young Artist und der sterbende Schwan, der Superstar und der einfache Junge treten gegeneinander an. Durch die Kamera, live oder mit aufgenommenen Bildern, schafft er ein Spiegelkabinett, das den Zuschauern ein Gefühl der Ausmaße seiner Sensibilität vermittelt. Ariane, das Mädchen, auf
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das seine Mutter hoffte und für das sie während ihrer Schwangerschaft ein Tagebuch führte, wird genauso real wie der kleine Junge, der seine Jugend zeichnend verbrachte. Ariah, der Famous Star und das Alter ego von Arias, erweist sich als genauso greifbar wie der Schauspieler, der sie verkörpert. Fantasie und Wirklichkeit sind einfach, wie in einem altmodischen Märchentheater, miteinander verbunden, als wäre es das Normalste der Welt. Wie ein DJ sampelt Arias die verschiedenen Modi zu einem Fest des Wiedererkennens, das hier und da grausam gestört wird durch eine Kluft zwischen Einsamkeit und unmöglicher Existenz. Bei Drag geht es darum, kulturelle Referenzen auszuleihen oder zu hacken, eine Person zu konstruieren, sich selbst neu zu erfinden. Der Stolz und die Würde, die man aufbaut, wenn man sich traut, abzuweichen und sich auszuleben, müssen Ungleichheit und Verurteilung mit Glamour und Mut vom Tisch fegen – am besten durch ein elegant artikuliertes I don’t give a fuck. Und natürlich ist es noch cooler, dabei nicht allzu dick aufzutragen. Ein fauler Transgender, wie der in den Niederlanden arbeitende, flämische Programmierer Selm Wenselaers sich selbst nennt, ist vielleicht der Gipfel des Freiheitsgefühls. Arias ist alles andere als faul bei seinen Trans-Aktivitäten, aber er bewahrt sich sicherlich eine gewisse Lässigkeit. Während Video mit Schnitt, Filtern und Animation die verrücktesten Transformationen ermöglicht, ist das Theater ziemlich unerbittlich. Alles ist zu sehen. Das Spiel mit dem Blick hinter die Kulissen, wie es aufgebaut ist, wie die Arbeit zum Werk beiträgt und mit dem zusammenhängt, was man zu sehen bekommt, wie die Bemühungen zu einer gewissen Demut zwingen und wie der Triumph glücklich macht – oft gewährt Ariah ihren Zuschauern einen unbeholfenen Blick auf die Innenseite ihrer Jacke oder auf die Rückseite des Dekors. Das sind Momente, die zu der Rolle passen, die Lester Arias als Anker, Zeremonienmeister oder Zirkusdirektor übernimmt. Er will ein großes Publikum erreichen und den Menschen etwas geben, so wie Lady Gaga und Björk ihm etwas gegeben haben. Im Kampf um seine Freiheit identifiziert er sich mit dem kulturellen Kampf vieler Menschen, die, weil sie nicht zu den Happy few gehören, zusehen müssen, wie andere den Reichtum unter sich aufteilen. Eine gewisse Zurschaustellung von Macht, ein Wettbewerb darum, wer denn nun eigentlich den Ton angibt, was en vogue ist und was nicht, gehört dazu. Zugleich ist da die Einsamkeit des Online-Nutzers, der sich selbst in seiner Bubble aus Musik, Messenger-Diensten und Selfies
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auf dem Gipfel sieht, während draußen die wirtschaftliche oder politische Krise weiterwütet. Man kann darüber lachen, man kann verzweifeln, man kann eine Petition unterschreiben, eine HassMail schicken, Konzerte geben und Theater machen – aber ändert das auch etwas? Was wäre, wenn DIY, Recycling, flamboyantes Faken und schamlose Rückwärtsgewandtheit zur Weltordnung werden, wie die Trumps und Kardashians mit jedem Tweet oder jeder Sendung beweisen? Eine allumfassende Liebe scheint für Lester Arias die Antwort zu sein. Etwas, das der erhabenen Moral der Weltreligionen zuwiderläuft, aber damit beginnt, sich selbst zu akzeptieren, an sich zu glauben und sich ernstzunehmen. In diesem Sinn macht Arias das Coming-of-Age zu etwas Generationenübergreifendes und nichts nur für Jugendliche. Sich selbst zu finden und sich selbst zu akzeptieren, bedeutet aber auch, sich einen Kampf mit den alten Werten der Elterngeneration zu liefern, sich eigenständig zwischen den verschiedenen Szenen zu bewegen, ohne sich beanspruchen oder entern zu lassen. Lester Arias ist mit seinem Werk Teil der Theatermacher, die als Erben von Kimberlé Crenshaw und Judith Butler auftreten. Für sie ist Queerness nicht nur Untergrabung, sondern sie leiten daraus weitere positive Werte ab. Wenn Arias die Stimme seiner Mutter einspielt, mit ihrem aufrichtigen Staunen, ihrer Bewunderung und Sehnsucht in Bezug auf Amsterdam, das dann langsam in ein sanftes Weinen übergeht, zerschmettert er mit einer einzigen Geste die Selbstverständlichkeit des Lebens in dieser Stadt. Die Unzugänglichkeit einer Welt voll prall gefülltem Wohlstand und unmöglichen Einwanderungsregelungen (von Tourismus abgesehen) ist plötzlich spürbar. In „WHITE [ARIANE]“ macht Arias aus den Träumen seiner Mutter eine universelle, menschliche Kraft zur Wiedergeburt. Wie ein Paradiesvogel, manchmal in Rätseln sprechend, dann wieder äußerst konkret und realistisch, erzählt er die Geschichte seiner Jugend, Familie und der Traditionen, mit denen er aufgewachsen ist. Er enthüllt unmissverständlich die manchmal grausame Dynamik, die kulturelle Disposition, die heteronormative Wirklichkeit, die ihn zwang, verrückte Sprünge zu machen, Auswege zu finden, um ein eigenes Leben zu führen. Vorstellungskraft, Fantasie und Empathie, für sich selbst, aber auch für andere, werden zu dringend notwendigen Tools zum Überleben. Während Arias sich in seine Mutter hineinversetzt und seine Mutter sich in die Tochter hineinversetzt, die sie erwartet, und diese Ariane sich in Ariah über-
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trägt, das Alter Ego von Lester, entsteht eine düstere Parabel über die Ordnung der Familie, die aus dem Sohn eine Karikatur und ein Monster machte, trotz der Liebe, die er von seiner Mutter erhielt. „To better the race.“ Es ist ein stürmischer Zwischenruf, der aus dem Mund seines Vaters kommt. Blaue Augen als Ideal, die blonden Haare der Soap-Stars und als einzige Alternative Pocahontas und Aladdin. Das Spiegelkabinett der Identität, in dem das Gefühl der Zugehörigkeit mit der Erfüllung von Erwartungen verbunden ist, und folglich das Brechen mit religiösen, patriarchalen, kolonialen und bourgeoisen Bildern, Rangordnungen und Äußerlichkeiten fordern ihren Tribut. Die Herausforderungen des Kampfs, innerlich und äußerlich, führen nicht nur zu Triumph und scharfen Statements, sondern sind auch anstrengend. Wie viele Metamorphosen, Hürdenläufe, Überfälle und Witze muss ein Mensch über sich ergehen lassen, bevor sie oder er sich hinhauen kann und sich mal wohlverdient ausschlafen darf? Lässt die Welt das zu, dass Menschen auf ihre eigene Weise Ruhe finden, ohne dass sie sich erst einmal verbiegen müssen, um gesehen, ernstgenommen, um als die Person anerkannt zu werden, die sie sein wollen? Die theatralischen Transformationen, die Lester Arias seinem Publikum vorsetzt, im Gefecht mit Dingen und Menschen, Bildern und Klängen, seinen eigenen Texten und Zitaten, zwingen das traditionelle, bürgerliche Theater von der schicklichen Repräsentation zu dessen Gegenteil. Es ist manchmal unbequem, besonders für Menschen, die in diesem alten Haus heimisch sind. Aber Arias leugnet das Theater nicht, im Gegenteil: Er eignet es sich an, ändert die Spielregeln, mischt alte Rezepte und erfindet neue. Er experimentiert, lässt aus, vergisst und schreibt weiter. „WHITE [ARIANE]“ ist nicht nur Theater, Konzert und Video-Show. Es ist auch ein selbst organisiertes Ritual, bei dem mit zeitgenössischem Aktionismus ein Teufel ausgetrieben wird. Urbane Legenden und Popkultur vermischen sich mit persönlicher Geschichte und künstlerischer Tradition. „I am the carrier. I am carrying the good, the bad, the intentions, the protections, the curse and the gift, I am carrying this body, this skin, the pipi and the cuckoo.“
Cathrine Dumont, Anton Widauer und Tilman Rose
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Hauptsache: spielen! C. Bernd Sucher Philipp Moschitz ist ein Tausendsassa: Sänger, Schauspieler, Musiker, Choreograf, Regisseur, Spaßmacher. Un homme du théâtre! Und kein Intellektueller – was durchaus nicht bedeutet, dass er nicht gebildet ist. Im Gegenteil! Nur gibt er damit nicht an. Obwohl er auf die Frage, ob er womöglich in der Branche als unintellektuell wahrgenommen werden könnte, durchaus eitel kontert: „Unintellektuell?! Weil ich mich mit Literatur beschäftige? Weil ich mich mit gut geschriebenen Figuren auseinandersetze und vielschichtige Charaktere zu lesen versuche? Weil ich mir Stücke aussuche, in denen poetische Bilder kraftvoll sein könnten? Weil ich ein Geschichtenerzähler bin? Weil mir die Figuren eines Stücks und deren Konflikte am wichtigsten sind? Weil ich musikalisch bin? Weil ich ein gutes Rhythmusgefühl habe? Weil ich choreografieren kann? Weil ich mit einer Komödie das schwerste theatrale Genre bediene? Weil ich auch Musicals inszeniere? Weil ich Timing-Gefühl habe? Weil ich Partituren lesen kann? Weil ich mich in der Oper gut auskenne und sie inszenieren möchte? – Ja, vielleicht.“ Selbstironie ist seine Sache. Und Frohsinn. Philipp Moschitz zeigt sich, zumindest in der Öffentlichkeit, immer gut gelaunt: ein Frohgemut, der sich ein Leben ohne Theater nicht vorstellen kann – und mag. „Seit meinem sechsten Lebensjahr stehe ich auf diesen Brettern, die meine Welt bedeuten. Das ging los mit der HenzeOper ‚Pollicino‘ und weiter mit ‚Die Zauberflöte‘, ‚Carmen‘. Ich erhielt Klavier-, Gitarren-, Geigenunterricht, ich spielte in der Theater-AG. Später erste Rollen am Stadttheater Osnabrück. 2004, im Jahr, in dem ich Abitur machte, war ich in sieben Produktionen in einer Spielzeit. Ich habe am Theater gesungen, gespielt, gewohnt, bevor es mich zum Schauspielstudium nach München zog. Immer stand fest: Ich muss ans Theater!“ Ich begegnete Philipp Moschitz während seines Studiums an der Münchner Theaterakademie August Everding – als Schauspieler und als Regisseur. Ich war dabei, als er seinen ersten großen Erfolg feiern konnte mit seiner Inszenierung von „Tschick!“ im Akademietheater der Hochschule. In der Spielzeit 2015/16 war diese Inszenierung monatelang auf dem Spielplan. „Die Rechte für München waren frei – ich wollt’s inszenieren und hab’s gemacht.“ Philipp Moschitz, 1985 in Osnabrück geboren, beendete sein Studium 2008. Schon zwei Jahre zuvor wurde er Ensemblemitglied des Metropoltheaters in München, gastierte (nebenbei!)
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am Residenztheater München, am Stadttheater Pforzheim, an der Bayerischen Staatsoper München, am Staatstheater am Gärtnerplatz und am Thalia Theater Hamburg. Und er führte Regie. Immer davon überzeugt, ein „Einfach-Macher“ zu sein, wie er ohne Koketterie sagt. Er arbeite „aus dem Instinkt heraus“ und fügt, diesmal durchaus kokett und sehr selbstbewusst, hinzu: „Einen TheaterInstinkt hat man oder man hat ihn nicht!“ Philipp Moschitz hat ihn und will nie vor die Entscheidung gestellt werden: entweder Regisseur oder Schauspieler. Ihm ist es eine Lust zu spielen, allein und mit anderen. Er mag es, andere zum Spielen anzustiften. Alles kann er leiden, nur nicht Spielpausen. „Ich bin glücklich, mich auf unterschiedliche Weise künstlerisch ausdrücken zu dürfen – ob mit einem Konzept für einen Stoff, ob mit einem Statement zu einem Thema oder aber mit einer Figur, die im besten Falle die Kanäle aller Emotionen öffnet und ihnen freien Lauf lässt. Ich liebe es zu proben und mich mit Situationen, Themen und scheinbar unlösbaren Konflikten und Problemen auseinanderzusetzen und dann unterschiedliche Wege zu nehmen, um sie womöglich zu knacken – im besten Fall in einem Team mit Kollegen, in dem alle die gleiche Sprache sprechen.“ Just deshalb legt er sich weder auf Texte und Projekte fest noch auf Spielweisen. Philipp Moschitz hat als Regisseur keinen Stil. Er geht mit Neugierde und einer nicht zu stoppenden Spielleidenschaft an jeden Stoff. Deshalb hat er auch überhaupt keine Probleme – intellektuelle Vorbehalte – mit Stücken, die ihm vorgeschlagen werden, die er sich also nicht ausgesucht hat. Ob Tom Waits’ „Alice“ oder Hugo von Hofmannsthals „Jedermann“ – egal. Hauptsache: spielen! Und warum nun Eugène Labiche? – Ganz einfach: „Ich wurde vom Landestheater Niederösterreich, also von der Intendantin Marie Rötzer, verpflichtet, eine Komödie zu inszenieren. Gemeinsam suchten wir ein Stück, mit dem Ziel: kein Mainstream, besondere Aussage, nicht so oft gespielt, lustig, vielleicht gesellschaftskritisch, eine Farce? Wir haben viele Autoren durchforstet, waren schnell bei Goldoni, Feydeau, Delaporte/de La Patellière und kamen schließlich auf Labiche und ‚La poudre aux yeux‘. Da es in St. Pölten viele Jelinek-Fans gibt natürlich in ihrer Übersetzung von 1988. Der erste Eindruck war – hui, verstaubt, altbacken, in die Jahre gekommen, sehr bemüht witzig.“ Danach jedoch haben er und das Ensemble in dem Text Fragen entdeckt, die zu beantworten sich vielleicht lohnen könnte. Zum Beispiel sei es seltsam, dass die meisten Menschen unzufrieden seien mit dem Erreichten, mit ihrer gesellschaftlichen Stellung.
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Rasch habe man sich geeinigt, dass das Thema virulent sei. „Sich mit dem Durchschnitt zufrieden zu geben, ist out! Immer besser, toller, neuer, spannender heißt das Credo!“ Genau darum geht es in Labiches Komödie „Um die Wette“, am 19. Oktober 1861 im Pariser Théâtre du Gymnase uraufgeführt. Der französische Titel des Zweiakters „La Poudre aux yeux“ heißt so viel wie Sand in die Augen streuen. Die Handlung ist schlicht; die Moral von der Geschicht’ bös. Zwei Ehepaare, die ihre Tochter bzw. ihren Sohn verheiraten wollen – und zwar zu den besten Konditionen –, betrügen und belügen einander, was ihre gesellschaftliche Stellung und ihr Vermögen angeht. Die Damen sind gewitzter noch als ihre Männer, um sich mit Lügen zu stilisieren als reiche Bourgeois. Die beiden, um die es geht, die Verliebten, Emmeline Malingear und Frédéric Ratinois, kriegen von der ganzen Aufschneiderei – nach den Motti: „Alles, was du kannst, kann ich viel besser!“ oder „Von allem, was du besitzt, habe ich noch mehr!“ – nichts mit. Sie lieben einander und üben das Klavierspiel. Natürlich fliegt der Schwindel auf. Am Ende stehen die vier sehr blamiert da: Ratinois besitzt keine Zuckerfabrik – er war Zuckerbäcker; Malingear ist nicht der erfolgreiche Arzt, in dessen Wartezimmer die Herzoginnen auf die Konsultationen warten, sondern ein armer Schlucker, der nur einen Patienten hat, den er auch noch gratis behandelt, einen Kutscher. Der wird übrigens von Madame und Monsieur Malingear besonders begrüßt – es trifft irgendeinen Herrn in der dritten Reihe, Parkett rechts. Wir sind während dieser Begrüßung in der sechsten Minute der Aufführung, die rasant beginnt. Wie in einem Warm-up präsentieren sich alle beteiligten Personen, strömen herbei durch die Parketttüren und die Logen. Endlich auf der Bühne angekommen, sprechen sie Französisch. Madame Blanche Malingear, eine resolute Matrone mit viel Charme, fulminant gespielt von Gisa Flake, diktiert ihrer Hausangestellten, einem Transgenderwesen von besonderer Duftigkeit und Eleganz, so etwas wie einen Einkaufszettel. „Avez-vous compris?“, fragt Gisa Flake ins Publikum. Das antwortet laut lachend: „Nein.“ Das Ganze noch einmal, langsamer, deutlicher artikuliert. Dieselbe Frage in die Runde; dieselbe Antwort aus dem Parkett und vom Balkon. Reaktion auf der Bühne. „Also: deutsch.“ Wer auch immer danach auftritt mit einem „Bonjour“, wird sofort zurechtgewiesen: „Deutsch!“ Rasant geht dieser kurze Abend auch weiter. Philipp Moschitz und seine Bühnen- und Kostümbildnerin haben ein wunderbares Zeichen für die Hochstapelei der beiden Familien gefun-
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den. In dem Einheitsraum – nur die Farbe der Tapeten und das eine Bild an der Wand erklären, wo die Szene spielt – steht ein großer, klobiger gelber Sessel. Aus dem Schnürboden werden nacheinander vier andere heruntergelassen, einer größer als der andere. Sie passen, gestülpt wie gestapelt, übereinander: eben Hochstapelei! Und um auf dem letzten Platz nehmen zu können, müssen die Herren Anlauf nehmen; und die Damen hangeln sich hoch, was nicht geht ohne die irrwitzigsten Verrenkungen. Um einander auszustechen, unterlassen die Malingears und die Ratinois nichts: Sie brüllen sich nieder, wenn sie singen – Edith Piafs „Non, je ne regrette rien“ oder Verdis „La donna è mobile“ oder Abbas „Money, Money, Money“. Sie schmeißen sich in die absonderlichsten Klamotten. Sie inszenieren sich um die Wette. Ein kleines Wunder: Nie wird die kunterbunte und knallige Farce zur Klamotte. Denn Moschitz will in dem Text den Zuschauern durchaus eine Lektion erteilen: „Durch Erfahrungen und Ängste denkt der gute, kluge Mensch stetig ans Ablaufdatum. Der Jetzt-Moment oder das mögliche Zufriedensein, eine Beziehung zu führen, den perfekten Job zu haben, werden oft nicht wertgeschätzt. Es ist gut, dass wir nach mehr streben, dass wir uns nicht gleich mit etwas zufriedengeben, nur weil es der Weg des geringsten Risikos und Widerstandes ist. Aber wir werden mit dieser Einstellung vielleicht nie ankommen – oder doch?! Es ist nicht nur toll, Helden beim Gewinnen zuzusehen, ebenso macht es Spaß, Figuren zu beobachten, die schlimmer sind als man selbst – untalentierter, peinlicher, depperter, unmännlicher!? Schadenfreude ist die größte Freude. Sie bietet Entlastung vom alltäglichen Druck, macht vielleicht Mut und kompensiert Frust. Labiche lässt seine Figuren mit dieser Freude geschlechterspezifisch um die Wette laufen – das ist ja wie zu Hause – und wenn man genau hinschaut, ist dieser Text die Komödie zum Trumpismus des Jahres 2018!“ Im Gegensatz zu seinen jungen Kollegen lässt sich Philipp Moschitz auf Stücke ein, erfindet keine Projekte. Warum sind die anderen so vernarrt auf die eigenen Erfindungen? Er hat eine Antwort: „Because it’s modern directing performances.“ Und die Provinz schreckt ihn überhaupt nicht: „Als Regisseur kommst du immer mit deinen eigenen Ideen für Stoffe, deiner Lesart von Stücken, deinen wilden Gedanken, deiner persönlichen Energie – egal wo – an ein Haus und arbeitest mit vollem Engagement an der Umsetzung. Ebenso hast du deine eigenen theatralen Mittel und Kniffe im Gepäck. Du hast also viel in der Hand. Ich bin auf der Suche nach Reduktion auf das Wesentliche, um die Fantasie des Publi-
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kums anzuregen. Was brauche ich wirklich, um eine Geschichte zu erzählen? Gute Schauspieler gibt es überall – man muss nur deren Stärken erkennen. Umsetzungsproblemchen und Diskussionen wegen finanzieller Sparmaßnahmen gibt es auch überall. Abende, die polarisieren und polemisch sein könnten, gibt es auch überall. Mein Credo: Wenn mir ein Angebot gemacht wird, das ich nicht ausschlagen kann, bin ich dabei.“ Und seine Pläne? „Ich möchte genauso weitermachen wie bisher, mit großartigen Kollegen, die mir vertrauen und immer machen, was mir vorschwebt. Ich möchte Geschichten erzählen. Und noch etwas: Ich wünsche mir, nachts schneller einschlafen zu können!“
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Bildnachweis Café Populaire S. 9, S. 13: © Barbara Braun Medusa Bionic Rise S. 17, S. 21: © Nico Schmied Durée d’Exposition S. 24, S. 28: © Marie Charbonnier Angstpiece S. 32: © Diethild Meier Hauptstadt S. 39, S. 42: © Matthias Heschl [50/50] Old school animation S. 47: © Bjorn Bolinder Yung Faust S. 53, S. 56: © Julian Baumann dritte republik S. 60, S. 65: © Kraft Angerer Amsterdam S. 69, S. 74: © Gabriela Neeb Revolt. She said. Revolt again. | Mar-a-Lago S. 77, S. 80: © Julian Röder Operation Kamen S. 85: © Sebastian Hoppe Der Mieter S. 92, S. 97: © Armin Smailovic White [Ariane] S. 99: © Derk Stenvers Um die Wette S. 105: © Alexi Pelekanos
Das renommierteste Festival für den professionellen Regienachwuchs Radikal jung präsentiert jährlich in München die größtmögliche Bandbreite von Interessen, Herangehensweisen und Zugriffen einer jungen Generation von Theatermacherinnen und Theatermachern. Inszenierungen aus dem ganzen deutschen Sprachraum bilden die stetige Veränderung der Stadt- und Staatstheaterlandschaft ab, internationale Beiträge erweitern die Perspektive. In ausführlichen Werkporträts werden in diesem Buch die 2019 eingeladenen 15 Produktionen und die Künstlerinnen und Künstler dahinter vorgestellt, die schon jetzt die Theaterlandschaft von morgen prägen.
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Nora Abdel-Maksoud The Agency Lucia Bihler Leonie Böhm Camille Dagen Florian Fischer Sapir Heller Elsa-Sophie Jach & Thomas Köck Ariah Lester Philipp Moschitz Julia Mounsey & Peter Mills Weiss Blanca Rádóczy Anta Helena Recke Christina Tscharyiski
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