Theater unser - Wie die Passionsspiele Oberammergau den Ort verändern und die Welt bewegen

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ANNE FRITSCH

THEATER UNSER Wie die Passionsspiele Oberammergau den Ort verändern und die Welt bewegen


THEATER UNSER


ANNE FRITSCH

THEATER UNSER Wie die Passionsspiele Oberammergau den Ort verändern und die Welt bewegen


Anne Fritsch Theater unser Wie die Passionsspiele Oberammergau den Ort verändern und die Welt bewegen © 2022 by Theater der Zeit Texte und Abbildungen sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung, die nicht ausdrücklich im Urheberrechts-Gesetz zugelassen ist, bedarf der vorherigen Zustimmung des Verlages. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Bearbeitungen, Übersetzungen, Mikroverfilmung und die Einspeisung und Verarbeitung in elektronischen Medien. Verlag: Theater der Zeit Verlagsleiter: Harald Müller Winsstraße 72, 10405 Berlin, Germany www.theaterderzeit.de Lektorat: Nicole Gronemeyer Gestaltung: AMEN Gestaltung, www.soseies.com Druck: Druckhaus Sportflieger, Berlin Fotos: Annelies Buchwieser: S. 65 Arno Declair: S. 45, 48 Anne Fritsch: S. 19, 74, 85 Jenny Greza: S. 15 Christoph Leibold: S. 55, 120 Brigitte Maria Mayer: S. 96 Dieter Mayr: S. 10, 28 Gabriela Neeb: S. 113 Sebastian Schulte: S. 6, 31, 71, 99, 106, 115, 126, 130, 135, 138, 143, 147, 167, 168, 181, 186 Andreas Stückl: S. 36, 153, 158, 160 Printed in Germany Dieses Buch ist umweltfreundlich produziert, indem auf umwelt-, wasser- und gesundheitsgefährdende Chemikalien und auf Einschweißfolien verzichtet sowie ausschließlich FSC-zertifizierte Papiere verwendet wurden. ISBN 978-3-95749-394-1 (Paperback) ISBN 978-3-95749-396-5 (ePDF) ISBN 978-3-95749-395-8 (EPUB)


für Emma & Anton & Robert



INHALT 9

Prolog 14

Oberammergau 29

Theater im Kollektiv 40

Schuld und Sühne 59

Mitspielen = Dazugehören 72

Was lange gärt 87

Vom Ende als Anfang 105

Making-of 140

Jesus Christ Superstar 151

Backstage 166

Die neue Seuche 179

Zeit für Utopien 190

Epilog 192

Dank 194

Quellen/Anmerkungen


Wer am Ende ist, kann von vorn anfangen, denn das Ende ist der Anfang von der anderen Seite. Karl Valentin


PROLOG

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lle zehn Jahre hören die Menschen in einem Dorf in Oberbayern für eineinhalb Jahre auf, sich die Haare zu schneiden. Sie tun das, um die Kreuzigung Christi nachzuspielen. Das machen sie seit beinahe 400 Jahren. Was einigermaßen kauzig klingt, ist ein Ereignis von überregionalem Interesse und seit 2014 sogar „immaterielles Kulturerbe“: die Oberammergauer Passionsspiele. Fast eine halbe Million Menschen pilgern im Passionsjahr aus aller Welt ins Voralpenland, um sich dieses Spektakel anzuschauen. Und diese Spiele sind keineswegs eine in die Jahre gekommene Angelegenheit: Die Besetzung 2022 ist die jüngste in der Geschichte, die Motivation im Ort größer denn je. Als ich das erste Mal hörte, dass es in einem Dorf namens Oberammergau ein Passionsspiel gibt, war ich elf Jahre alt. Es war 1990, das Jahr, in dem Christian Stückl zum ersten Mal Spielleiter war. Das wusste ich damals nicht. Ich saß mit meiner Familie in München im Biergarten. Am Chinesischen Turm im Englischen Garten. Eine Freundin meiner Eltern erzählte, sie werde im Sommer nach Oberammergau fahren, zu den Passionsspielen, die nur alle zehn Jahre stattfinden. Alle außer mir wussten, wovon da die Rede war. Ich habe nicht nachgefragt. Aber etwas ist hängengeblieben. Dieses „nur alle zehn Jahre“ und dieses „das ganze Dorf spielt mit“. Bis ich die Passionsspiele selbst sehen sollte, vergingen noch zwanzig Jahre. Ich studierte. Theaterwissenschaft, Germanistik und Jüdische Geschichte, anschließend Kulturjournalismus. An die Passionsspiele dachte ich nicht mehr, die Spiele 2000 gingen von mir unbemerkt über die Bühne. 2010 dann arbeitete ich als 9


Theaterkritikerin, Christian Stückl war Intendant des Münchner Volkstheaters geworden. Mit ihm war Oberammergau wieder in meinen Dunstkreis gekommen, quasi der Berg zum Propheten, oder: die Spiele zur Kritikerin. Ich bekam eine Einladung zur Premiere. Es war Mai und es war kühl, als der Shuttle-Bus vom ZOB, dem Zentralen Omnibusbahnhof in München, abfuhr. Wir waren nicht eben elegant gekleidet, eher wie für eine Exkursion in die Berge, mit Skiunterwäsche, warmen Jacken und dicken So-

Eine Reise zu den Passionsspielen ist auch eine Exkursion in die Berge.

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cken. Und genau das war es ja auch: eine Exkursion in die Berge. Auf der Garmischer Autobahn begann es zu schneien. Im Theater, das zwar im Zuschauerbereich überdacht, aber zur Bühne hin offen ist, war es bitterkalt. Am Eingang wurden rote Fleecedecken verteilt, die famos zu den Gewändern der Kardinäle passten, die neben uns im Zuschauerraum saßen. Diese Premiere war eine ungemein feierliche Angelegenheit. Man spürte, dass dieses Dorf seit zehn Jahren darauf gewartet hatte, wieder die Geschichte vom Leiden Christi zu spielen. Ich hatte vorher nicht genau gewusst, was mich da erwartete, hatte mit einem Laienspiel im großen Format gerechnet. Womit ich nicht gerechnet hatte, waren (neben der unglaublichen Kälte) der Chor, das Orchester, die Ausstattung. Die Professionalität. Ich war überwältigt. Und ich, die ich zwar in der Grundschule den Religionsunterricht besucht hatte, aber einem eher religionsfernen oder religionsentfernten Haushalt entstamme, lernte eine ganze Menge über die letzten Tage im Leben von Jesus. Als dieser, gespielt von Frederik Mayet, am Ende eine gefühlte Ewigkeit halbnackt am Kreuz hing, während ich trotz des zweiten Paares Socken, das ich mir in der Pause im örtlichen Drogeriemarkt gekauft hatte, auf meinem Sitz zitterte vor Kälte, dachte ich, auch das gliche einem Wunder, wenn der keine Lungenentzündung bekäme. Er war noch nicht vom Kreuz genommen, da war mir klar, dass ich mir dieses Spiel nicht noch einmal entgehen lassen würde, dass ich auch in zehn Jahren dabei sein wollte. Ich wollte herausfinden, was da los ist in Oberammergau. Warum sie alle so viel auf sich nehmen für dieses Theaterspiel. Was sie motiviert. Woher ihre Begeisterung kommt. Ist es die Religion oder das Theater, an das sie glauben und das sie zusammenhält? Woher kommt die Professionalität, mit der sie ihre Passion angehen? Was sind die 11


Geschichten hinter den Spielen? Wie entstehen sie? Wie haben sie sich über die Jahrhunderte verändert? Wie den Ort? Ungefähr ein Jahr vor der geplanten Premiere 2020 habe ich begonnen, die Vorbereitungen für die Spiele zu verfolgen, habe einen Blog für die Passionsspiele geschrieben, Proben besucht, mit vielen Menschen in Oberammergau gesprochen. Und je mehr sie mir erzählt haben, desto faszinierter war ich von all den Geschichten rund um diese jahrhundertealte Tradition. Davon, wie stark das gemeinsame Theaterspiel das Leben im Ort prägt. Wie die Menschen ihr Leben nach der Passion planen. Von der Relevanz, die sie hat. In diesen Tagen würde man sagen: Hier ist das Theater systemrelevant. Als im 17. Jahrhundert die Pest in Oberbayern und Oberammergau wütete, suchten die Dorfbewohner ihre Rettung im Theaterspielen. Sie gelobten, alle zehn Jahre das Leiden Christi aufzuführen, um von der tödlichen Krankheit verschont zu werden. Angeblich starb seitdem im Ort niemand mehr an der Pest. Und etwas von diesem Glauben daran, dass Theater die Welt retten kann, ist den Ammergauern bis heute geblieben. Nun, da ich das schreibe, wurden die Passionsspiele 2020 abgesagt, verschoben auf 2022. Eine neuerliche Seuche hat die Proben zwei Monate vor der Premiere zum Erliegen gebracht: das Coronavirus. Denn Oberammergau, das ist das Gegenteil von Quarantäne, von sozialer Isolation: Oberammergau, das ist Theater, das aus dem Vollen schöpft. Wo es auf der Bühne alles gibt, und von allem jede Menge: Orchester, Chor, Alte, Junge, Kinder, Tiere … Ein Theater ohne Maß – und ohne Mindestabstand. Kurz nach der Absage der Passion 2020 habe ich mit Christian Stückl telefoniert. Es war die Zeit des Lockdowns, als alle von einem Tag auf den anderen auf sich gestellt waren. Als alle möglichen Wörter auf einmal mit der Vorsilbe „Home-“ versehen wurden. Home-Office, Home-Schooling, Home-Entertainment. 12


Als alles, was eigentlich draußen passiert, auf einmal zuhause stattfinden musste. Nur Home-Theater, das funktioniert eben nur bedingt (das wurde nach einer Weile Streaming-Euphorie deutlich spürbar). Und Home-Passionsspiele erst recht nicht. Der sonst nimmermüde und immer enthusiastische Regisseur klang bedrückt, traurig. Doch schon am Ende unseres Telefonats blickte er wieder nach vorn: Die Passion 2022 wird kein Nachholen der Passion 2020 sein. Wieder werden er und sein Team neu auf die Welt schauen, die sich gerade so stark verändert. Wohin wissen wir noch nicht. Die Gewissheit, dass es die Passionsspiele seit fast 400 Jahren gibt, dass sie die Reformation, die Spanische Grippe und zwei Weltkriege überlebt, allerlei Legitimationskrisen und noch mehr heftige Streitereien im Dorf durchgestanden haben, relativiert in diesen Tagen einiges. Es geht immer irgendwie weiter. Auch das ist eine Botschaft dieser Spiele, die aus einer heftigen Krise heraus entstanden sind und denen verschiedenste Krisen immer ein Motor für ihre Weiterentwicklung waren. Und so bedeutet das Schreiben dieses Buches in einer Zeit, in der die Welt stillsteht, auch Mut zu schöpfen. (Ostern 2020)

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OBERAMMERGAU. EIN GANZ NORMALES DORF?

O

ktober 2019. Ich sitze mit einem Croissant und einer Thermoskanne voll Tee im Zug nach Oberammergau, auf einem meiner ersten Rechercheausflüge ins Oberland, bin verabredet zu allerlei Gesprächen. Es ist ein sonniger Herbstmorgen. Covid-19 gibt es noch nicht, die Premiere der 42. Passionsspiele ist für den Mai 2020 geplant, die Einladungen sind verschickt, die meisten Tickets verkauft. Oberammergau befindet sich im Vorbereitungsmodus. Der Bühnenbildner Stefan Hageneier wird mich durchs Passionstheater und die Werkstätten führen, mir seine Entwürfe und die Bühne zeigen. Markus Zwink, der Musikalische Leiter, wird mir erklären, wie er mit dem jahrhundertealten musikalischen Erbe umgeht und wieso die Kinder in Oberammergau gratis Musikunterricht bekommen. Ich werde Monika Lang kennenlernen, die mir in ihrem Wohnzimmer erzählt, wie sie mit ihren Mitstreiterinnen jahre- oder eher jahrzehntelang für die Gleichberechtigung der Frauen in der Passion gekämpft hat.

Über Unterammergau nach Oberammergau

Von München geht es mit dem Regionalzug nach Murnau, am Ufer des Starnberger Sees entlang Richtung Süden. Was Arbeit ist, fühlt sich an wie ein Ausflug. Raus aus der Stadt, hinein ins Oberland. Die Sonne glitzert auf dem See, außer mir sitzen Wanderer und Bergsteigerinnen im Zug. In Murnau steige ich um in den kleinen, eigentlich winzigen Pendelzug, der mich ans Ziel 14


bringen wird. Zwischen Staffelsee und Murnauer Moos geht es nach Bad Kohlgrub, dann entlang der Ammer über Unterammergau nach Oberammergau. 37 Minuten fährt der Zug durch eine Landschaft, die aussieht, als wäre sie auf eine Modelleisenbahnplatte geschraubt. Wiesen, Bäume und Hügel. Im Hintergrund bauen sich allmählich die Alpen auf. Draußen ist es Herbst, alles leuchtet grün, gelb und orange. Eine Fahrt den Berg hinauf und irgendwie dem Himmel näher. Viel Natur, grasende Kühe und Schafe, vereinzelt Rehe und Greifvögel. Durch die Hänge fräsen sich Skipisten ins Tal. Wenig sonst. Bis der Zug und mit ihm die Romantik im Kopfbahnhof Oberammergau erst mal neben dem Discounterparkpatz zum Halten kommt. Das Passionstheater ist nicht weit entfernt. Ein Stück die Straße hinunter, über die Ammer, links ins Zentrum. „Passionsspiele 2020“ steht in großen Buchstaben auf der Fassade der Geschäftsstelle geschrieben. Es ist ruhig an diesem Montag, alle gehen ihren Geschäften nach, kaum ein Tourist ist zu sehen. Dass während der Passionsspiel-Saison Tag um Tag 5000 Menschen

Das Passionstheater steht im Zentrum von Oberammergau. Es ist Alleinstellungsmerkmal und Versammlungsort.

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hierherkommen, genauso viele wie im Ort wohnen, scheint kaum vorstellbar. Eine halbe Million sind es in der Spielzeit. Das sind beinahe doppelt so viele Besucher und Besucherinnen, wie die Salzburger Festspiele verzeichnen, achtmal so viele wie die Bayreuther Festspiele und annähernd so viele wie die Bayerische Staatsoper in einem ganzen Jahr. Nach München kamen 2019 (im Jahr vor Corona) 8,8 Millionen Touristen, also rund 24 000 pro Tag. Knapp fünfmal so viele wie Oberammergau an einem Passionsspieltag besuchen. Nur hat München 280-mal so viele Einwohner, eine zehnmal so große Fläche. Umgerechnet auf die Einwohnerzahl des Orts müssten an einem einzigen Tag 1,4 Millionen Gäste nach München kommen, um Oberammergauer Dimensionen zu erreichen. Wo in München pro Tag 77 Touristen auf einen Quadratkilometer kommen, sind es in Oberammergau 167. Kein Wunder also, dass die Vorbereitungen hier bereits im Vorjahr der Passion auf Hochtouren laufen. Hotels, Pensionen und Privatzimmer werden renoviert und herausgeputzt, Straßen gerichtet und Parkplätze für Autos und Busse geplant. Am Tag der Premiere wird aus dem abgelegenen Dorf für rund fünf Monate ein trubeliges, internationales. Im 19. Jahrhundert wurden die Passionsspiele zum beliebten Ziel internationaler Touristen. Vor allem im angelsächsischen und nordamerikanischen Raum entwickelte sich eine große Nachfrage nach dem „Oberammergau Passion Play“. Leopold Höhl beschreibt das in seinem „Führer zum Ammergauer Passionsspiel im Jahre 1880“ wie folgt: „Oberammergau. Jahrelang rauscht der Strom der Reisenden an dir vorüber, […] nur wenige, die echten Freunde der Natur, suchen dich heim. Und doch – mit einem Male erfüllt dein Name die halbe Welt, mit einem Male verlässt der Strom sein gewohntes Bett und richtet seinen Lauf zu deinen stillen Hütten, 16


als ob eine geheimnisvolle unsichtbare Macht ihn dorthin geleitet hätte. Ja es ist auch eine solche Macht, die all die Tausende, gebildet und ungebildet, Stadt- und Landvolk, in ihren Zauberkreis lockt […] Das Passionsspiel ist für Tausende das Ziel ihrer Reise und Pilgerfahrt.“1 Was war geschehen? Die bayerischen Alpen und mit ihnen Oberammergau wurden ab circa 1840 bei britischen Touristen immer beliebter. Pferde-Omnibusse, neue Bahnlinien und der Bau der Straße von Ettal hinauf machten das Dorf besser erreichbar. Vor allem aber entdeckte der englische Reiseunternehmer Thomas Cook die Passionsspiele als Ziel und bewarb sie in großem Stil, „offerierte Pauschalreisen und Pilgerpakete, die sich derart starker Nachfrage erfreuten, dass es in den zeitgenössischen Berichten von amerikanischen und britischen Besuchern nur so wimmelt“.2 1970 fokussierte wohl sogar die Lufthansa ihre transatlantische Werbung auf Oberammergau. Bis heute stellen zahlreiche amerikanische Reiseanbieter Pauschalreisen rund um das Passionsspiel zusammen. Da kann man wählen zwischen „Munich, Salzburg & Vienna with Oberammergau“ in acht, „Bavarian Highlights with Oberammergau“ in neun, „Catholic Central Europe with Oberammergau“ in neun oder „Grand Catholic Italy with Oberammergau“ in dreizehn Tagen. Dazu kommen jede Menge Individualreisende, die die vom Theater angebotenen Packages mit Übernachtung buchen, sowie Tagesbesucher aus der näheren Umgebung. Die Veranstalter schätzen, dass sechzig bis siebzig Prozent der Gäste 2010 aus dem Ausland kamen. Diesem Trubel kann sich auch der größte Theatermuffel im Ort nicht entziehen. Und die wenigsten wollen das. Für die Hotels, Souvenirläden und Gaststätten beginnt mit der Premiere im Mai eine Hochphase, die erst mit der letzten Vorstellung im Oktober endet. 17


Kein Dorf von Bauern

Doch auch außerhalb der Spielzeit ist die Passion – oder wie man im Ort sagt: „der“ Passion – in Oberammergau allgegenwärtig. Der erste Jesus, dem ich an diesem Tag begegne, ist auf eine Hauswand gemalt. Über einer kargen Landschaft hängt er am Kreuz, unter ihm die trauernde Maria, ihre Schwester und Maria Magdalena. Im Hintergrund ahnt man die Stadt Jerusalem. Auf einem anderen Haus sieht man die Oberammergauer 1633 mit gen Himmel gestreckten Fingern ihren Schwur leisten, während neben ihnen schon das erste Kreuz samt Jesus aufgestellt wird. „Lüftlmalerei“ nennt man diese Fassadenmalerei, die auf den noch feuchten Kalkputz aufgebracht wird und wohl hier erfunden wurde. Ihren Namen hat sie vermutlich vom Haus des Oberammergauer Fassadenmalers Franz Seraph Zwinck: „Zum Lüftl“. Auf die Häuser gemalt wurde alles Mögliche: architektonische Zierelemente wie Säulen, aber auch ländliche und christliche Motive. Die Sehnsucht, sich ein Bild zu machen von heiligen Begebenheiten, ist in Oberammergau omnipräsent. Überall finden sich Kruzifixe und Kreuzigungsdarstellungen aus vielen Jahrhunderten, gemalt auf Fassaden, geschnitzt in den vielen Holzschnitzereien als Souvenirs für daheim, in der Kirche und in mannigfaltigen Formen von naturalistisch bis abstrakt auf dem Friedhof. Die Jesus-Dichte ist hoch in Oberammergau. Überhaupt ist es die Affinität zur Kunst im weiteren Sinne, die Oberammergau besonders macht. Die Landwirtschaft spielt eine untergeordnete Rolle: Das Klima ist rau, die Böden sind karg. Oberammergau ist kein Dorf von Bauern. Einen Traktor habe ich bei keinem meiner Besuche gesehen. Das Ortsbild wird vielmehr geprägt von den drei Hauptgeschäftszweigen: der Holzschnitzerei, dem Passionsspiel und dem Tourismus. Und diese 18


Die Schnitzerei ist die Wurzel von allem. Lange bevor sie Theater spielten, waren die Oberammergauer Holzbildhauer.

drei sind untrennbar miteinander verwoben. Die Holzschnitzerei war gewissermaßen eine Voraussetzung dafür, dass sich im Ort immer genug Kreative fanden, die die Spiele stemmten, Bühnenbilder und Requisiten entwarfen. Die Spiele wiederum kurbelten den internationalen Tourismus an. Und die Reisenden nehmen gerne ein geschnitztes Kruzifix mit nach Hause. Die Schnitzerei ist dabei noch älter als die Passion, sie ist die Wurzel von allem. Die Oberammergauer Männer, die das Passionsspiel initiierten, waren Holzschnitzer. Sie kamen nicht über die Passion zur Kunst, sondern vielmehr über die Kunst zur Passion. Das Bild von den theaterspielenden Bauern ist ein reizvolles, aber völlig falsches. Das stellt auch schon der britische Entdeckungsreisende Sir Richard F. Burton klar, der die Passionsspiele 1880 besuchte und sich in seinem Bericht von oben herab, aber durchaus unterhaltsam durch seine Erlebnisse im Ober19


bayerischen nörgelt: „Englische Schriftsteller tragen durch ihre Interpretation, es handele sich um das Werk ungebildeter Bauern in einem entlegenen Bergdorf, zum Mysterium des Passionsspiels bei. Die Darsteller sind keineswegs Bauern, sondern Handwerker, intelligent und, auf ihre Art, gebildet. Ich könnte sie ebenso gut Künstler nennen. Sie sind seit Generationen Holzschnitzer; ihre Arbeiten reisen von Europa bis Nordamerika, und das Dorf besitzt eine eigene Kunstschule.“3 Damals war die „Staatliche Berufsfachschule für Holzbildhauer Oberammergau“, wie sie heute heißt, gerade gegründet worden. Sie bewahrt die Tradition der Holzbildhauerei bis in die Gegenwart, auch wenn inzwischen die meisten Studierenden anderswoher kommen. Schon im 16. Jahrhundert zogen die Oberammergauer Holzschnitzer mit ihren Kraxen Richtung Italien, um ihre Schnitzereien zu verkaufen. Der Ort lag günstig an der Handelsstraße von Augsburg nach Venedig, man war international verknüpft. Bald entwickelten sich Vertriebswege über die Grenzen hinweg, Handelshäuser wurden gegründet. Skulpturen und Spielzeuge aus Holz ernährten viele Familien. Generationen von Oberammergauern schnitzten Kruzifixe und Heilige, verbrachten ihre Lebenszeit mit biblischen Gestalten, interpretierten sie immer wieder neu und gaben ihnen ein dreidimensionales Gesicht. Wenn es darum ging, ihre Zunft nach außen zu vertreten, zeigten sie großes Selbstbewusstsein: 1923 reiste eine vierzehnköpfige Delegation aus Oberammergau unter der Leitung von Jesus-Darsteller Anton Lang in die USA, um Werbung für Passion, Schnitz- und Töpferarbeiten zu machen. Aufgrund der Inflation war damals „weder Geld noch Arbeit im Dorfe“.4 Um einen neuen Absatzmarkt zu erschließen, wollte man die eigenen Produkte durch eine Ausstellung in Amerika bekannt machen und so Kunden gewinnen. 20


Sechs Monate waren sie unterwegs, wurden am 15. März 1924 sogar vom Präsidenten Calvin Coolidge im Weißen Haus empfangen, stellten sich für ein Gruppenfoto auf der Westseite des Gebäudes auf. „Der Präsident reichte jedem die Hand, sprach einige Worte, er hätte über Oberammergau schon von einem Freunde gehört, freue sich, uns in seinem Lande begrüßen zu dürfen und wünschte uns guten Erfolg für unsere Ausstellung“, schreibt Lang in seinen Erinnerungen.5 Dennoch sprachen „einige Zeitungen von einem ungnädigen Empfang der Oberammergauer durch den Präsidenten“.6 Bereits am Folgetag schrieb Präsident Coolidge einen Entschuldigungsbrief an Anton Lang. Die Vorschriften des Weißen Hauses erlaubten öffentliche Reden nur vor diplomatischen Delegationen aus dem Ausland. „Das war der einzige Grund […], warum ich keine weiteren Ansprachen halten konnte“, so Coolidge.7 Es ist schon bemerkenswert. Da kommt eine Gruppe Männer aus einem kleinen Bergdorf in Oberbayern bis in die USA, wird vom Präsidenten empfangen. Und als es eine kleine Missstimmung gibt, entschuldigt dieser sich förmlich für das Missverständnis. Die Chuzpe, die die Delegation bis ins Weiße Haus brachte, kommt nicht von ungefähr, meint Ulrike Bubenzer, die im Oberammergauer Museum arbeitet: „Dieses Selbstbewusstsein hat sich hier über die Jahrhunderte entwickelt, wohl auch wegen dem Passionsspiel, dem Zuspruch und den prominenten Gästen.“ Die Oberammergauer sind kreativ, geschäftstüchtig und stur. Und ja: Sie bilden sich auch ein bisschen was darauf ein, was sie geschafft haben. Was ihnen im Umland Neid und die wenig freundliche Bezeichnung „Oberammergauner“ einbrachte. Und im Dorf für teils heftige Streitereien rund um die Passion sorgte. Hier vertritt man selbstbewusst seine Meinung – und gibt ungern nach, wenn andere anderer Meinung sind. 21


Profanes und Heiliges

Ansonsten ist Oberammergau ein gar nicht so kleines Dorf, das auf den ersten Blick vielen anderen in Bayern ähnelt. Eine Mischung aus Profanem und Heiligem, aus Hässlichem und Schönem, Kitsch und Kirche, Beton und Natur. Eingerahmt von durchaus schroffen Bergen wie dem Kofel, der wie ein einzelner Zahn hinter dem Ort aufragt und so wirkt, als wäre er nur aus Versehen hier. Lion Feuchtwanger, der 1910 nach Oberammergau kam, nannte ihn boshaft einen „rechten Reklameberg“. „Der Hochgebirgscharakter dieses Bergs erweist sich als Täuschung: nur die dem Dorf zugekehrte Seite ist schroff und wuchtig, der ganze Berg hat fünfhundert Meter Bodenhöhe und verschwindet sogleich, wenn man sich von Oberammergau entfernt.“8 Erwandert hat Feuchtwanger den Kofel wohl nicht, sonst wüsste er, dass die Reklame hier durchaus hält, was sie verspricht: Trotz seiner nur 1342 Meter hat der Kofel auf dem letzten Stück bis zum Gipfel durchaus kraxelige und gebirgige Passagen vorzuweisen. Im letzten Jahrhundert hat sich einiges getan im Ort: Längst sind nicht mehr alle, die hier wohnen, oberbayerische und katholische Ureinwohnerinnen und Ureinwohner. Über die Jahrzehnte kamen eine Menge Menschen aus verschiedenen Teilen Europas und der Welt nach Oberammergau. Und seitdem die Mitgliedschaft in der katholischen Kirche nicht mehr Bedingung für die Teilnahme an den Passionsspielen ist (dazu später mehr), hat die Zahl der Kirchenaustritte auch hier zugenommen. Dass die Öffnung für Anders- und Nichtgläubige bei einem Teil der Bevölkerung zunächst nicht gerade für Begeisterung sorgte, ist ebenfalls kein Alleinstellungsmerkmal des Ortes. Als 1990 Carsten Lück als erster Protestant eine Hauptrolle spielte, sahen nicht wenige darin den Anfang vom Ende. 22


Tatsächlich war das Gegenteil der Fall; das vermeintliche Ende bedeutete vielmehr einen Neuanfang: Dass nun alle, die lange genug im Ort leben, mitmachen dürfen und niemand wegen seines Glaubens (oder Nichtglaubens) ausgeschlossen wird, ist die Voraussetzung dafür, dass die jahrhundertealte Tradition auch im 21. Jahrhundert ein von der gesamten Dorfgemeinschaft getragenes Projekt bleiben kann. Eine sich verändernde Gesellschaft braucht sich verändernde Regeln. Und eine Theaterinszenierung dieses Ausmaßes braucht eine Mehrheit, die es trägt. Blieben alle Nicht-Katholiken außen vor, wäre der Zuspruch heute wohl kaum noch so groß. Das Passionstheater, das apricotfarben und im Vergleich zu den anderen Gebäuden überdimensioniert im Zentrum steht, prägt das Dorf auch optisch. Zusammen mit all den Kruzifixen ist es eine alltägliche Erinnerung an die Spiele. Zusätzlich verweisen die Namen von Häusern und Straßen auf die Passion, ihre Orte, Figuren und vergangenen Größen: Am Kreuzweg, Dedlerstraße, Judasgasse, Pater-Rosner-Straße … Sogar eine Kaspar-SchislerGasse gibt es. Benannt nach dem Mann, der vermeintlich die Pest nach Oberammergau brachte und schließlich das Passionsspiel initiiert haben soll. Das Kunsthandwerkerzentrum ist im Pilatushaus untergebracht, das Schwimmbad findet man im „Himmelreich“ … Eine Runde über den Friedhof ist wie eine Reise durch vergangene Passionen. Hier sind sie alle versammelt, die Daisenbergers, die Zwinks, die Langs, die Stückls, die Rutzens, die Preisingers und viele mehr. All die Namen, die die Spiele über die Jahrhunderte prägten: Spielleiter, Darsteller, Musiker. Es fühlt sich an, als würde man alte Bekannte besuchen, auch wenn man ihnen zu Lebzeiten nie begegnet ist. In der Pfarrkirche St. Peter und Paul mitten auf dem Friedhof hängt bis heute im rechten Seitenaltar das Kreuz, vor dem die Dorfbewohner 1633 23


ihr Gelübde gesprochen und sich verpflichtet haben, fortan alle zehn Jahre das Leiden Christi aufzuführen. Die Jahrhunderte sieht man ihm nicht an. Hier gibt man acht auf seine Historie.

Keine Kompromisse

An diesem ersten Recherchetag im Oktober 2019 war ich zum ersten Mal hinter den Kulissen des Passionstheaters, auf der Hinterbühne und in den Garderoben. Das Gewurle, das hier an Vorstellungstagen herrschen muss, ist schwer vorstellbar, wenn alles noch leer und verwaist ist. Alles scheint irgendwie zu klein zu sein für so viele Menschen, die Abläufe müssen definitiv gut organisiert sein, damit alle zum Auftritt fertig umgezogen sind und es keine Karambolagen oder Staus in den Gängen gibt. Der Bühnen- und Kostümbildner Stefan Hageneier hat mir seine Modelle für die Lebenden Bilder gezeigt, die gigantischen Stoffbahnen, die er alle zehn Jahre beim Händler seines Vertrauens in Indien bestellt, die auf langen Kleiderstangen aufgereihten Kostüme, die Rüstungen. Und die beiden riesigen Holzkreuze, die in einem Gang auf ihren Einsatz warteten. In der „Flügelei“, der Flügel-Werkstatt, wurden gerade die Engelsflügel hergestellt. Nicht etwa mit Kunstfedern, sondern mit echten Federn. Die waren zuvor schwarz gefärbt und – weil sie einzeln zu kurz sind – mehrere kurze zu je einer langen zusammengesetzt worden. Diese wurden nun Stück für Stück auf die Flügel geklebt. Hageneier ist Perfektionist. Er bestehe auf „echten“ Materialien, wolle keine Fakes, erklärte er, während er mich herumführte. Drum kommen ihm auch keine künstlichen Federn auf die Flügel, selbst wenn das natürlich sehr viel einfacher wäre. Aber er würde das als Pfusch empfinden. Die Spann24


weite der Flügel, deren Form selbstverständlich von echten Vögeln inspiriert ist, misst zweieinhalb Meter. Da braucht es eine Menge zusammengesetzter Federn. Eine Menge Handarbeit. Auch die Rüstungen für die Römer sind „natürlich“ aus Metall und nicht etwa aus günstigerem (und leichterem) Kunststoff. Man soll sie schließlich nicht nur sehen, man soll sie scheppern hören. „Das ist Tradition, dass wir da keine Kompromisse eingehen“, so Hageneier. Und auch wenn die Zuschauerinnen und Zuschauer viel zu weit weg sitzen, um Kunstfedern von echten unterscheiden zu können: Irgendwie spürt man sie schon im Zuschauerraum, diese unglaubliche Ernsthaftigkeit, mit der die Spiele betrieben werden. Die Feder-Frage jedenfalls ist mir im Gedächtnis geblieben. In diesem Moment habe ich eine Ahnung davon bekommen, warum die Passion so eine große Faszination ausübt. Die drei Köpfe dahinter – Spielleiter Christian Stückl, Bühnenbildner Stefan Hageneier und der Musikalische Leiter Markus Zwink – lassen sich selbst keine Schludereien durchgehen, sind gewillt, das Beste aus sich und allen anderen herauszuholen. Die Spiele sind ihnen heilig. Sie machen keine halben Sachen, sind Besessene irgendwie, vom Theater Besessene. Ihre Haltung überträgt sich auf alle Beteiligte. Und schließlich auch auf das Publikum. Und ja: Jede Feder macht da einen Unterschied. In der Haltung zum großen Ganzen.

Die Spielwütigen

Wo ihre Vorfahren im 17. Jahrhundert an einen Gott glaubten, der sie vor Unheil beschützen kann, ist über die Jahrhunderte das Theater selbst zu etwas geworden, an das hier (fast) alle glau25


ben. Egal welcher Religion sie angehören oder an was sie sonst so glauben. Für die einen steht nach wie vor die religiöse Pflicht im Vordergrund, für andere das Gemeinschaftserlebnis und die Tradition, für wieder andere die Kunst – und für nicht wenige eine Mischung aus all diesen Aspekten. Für alle hier aber ist das Theater einfach ein Teil ihres Lebens, über den zwar mitunter heftig gestritten wird, der aber in seiner Notwendigkeit nie in Frage gestellt wird. Darin unterscheidet sich Oberammergau grundlegend von anderen Dörfern und auch Städten: Hier prägt das Theater die Menschen. Nicht nur eine Elite, sondern alle. Man kommt einfach nicht drum herum. Jeder Spielberechtigte, jedes Kind im Ort bekommt eine Einladung, an den Spielen teilzunehmen. Die Aufforderung, Theater zu spielen, ist selbstverständlicher Teil des Aufwachsens in Oberammergau. Man muss sich eher aktiv dagegen entscheiden als dafür. Das Passionsspiel ist Bestandteil des Dorflebens und des Dorftratsches. Es zwingt alle, die hier wohnen, sich mit künstlerischen Fragen – und mit einander – auseinanderzusetzen. Oder, wie Rochus Rückel, einer der JesusDarsteller 2022, sagt: „Generell ist die Passion immer Thema, es vergeht garantiert kein Tag in Oberammergau, wo nicht irgendwie irgendwo zehnmal über die Passion gesprochen wird.“ Wenn in einer Schulklasse oder einer Clique fast alle mitmachen, hat das eine Sogwirkung auf die Übrigen. Im Wirtshaus wird über dramaturgische Fragen diskutiert wie anderswo über Politik. Dieses Theater verlangt ihnen einiges ab, hat dem Ort aber gleichzeitig zu internationaler Bekanntheit und Wohlstand verholfen. Egal wie erbittert da auch mal gestritten wird: Hier würde niemand in Frage stellen, dass Theater relevant ist. Und das, obwohl die Grundkonstanten erst mal so gar nicht brisant klingen: nur alle zehn Jahre, uralte Rituale, immer diesel26


be jahrtausendealte Geschichte, religiöse Thematik, keine internationalen Stars, sondern Laien. Trotzdem oder gerade deswegen ist das Interesse der Bevölkerung (und der Besucher aus aller Welt) ungebrochen, es nimmt eher zu als ab. Josef Georg Ziegler schrieb in seinem Bericht über die Spiele 1990: „Die Faszination des Oberammergauer Passionsspieles rührt daher, dass es ihm gelang, ein Spiel vom Volk für das Volk zu bleiben. Das ganze Dorf betrachtet es als seine Angelegenheit und ist stolz darauf.“9

Für den Spielleiter liegt die Herausforderung nicht darin, die Menschen zum Mitmachen zu motivieren, sondern darin, die vielen Spielwütigen auf der Bühne unterzubringen. Denn eigentlich sind es viel zu viele, das sagt Christian Stückl immer wieder. Oder zumindest: deutlich mehr als nötig. Das Volk tritt in Schichten an, für alle gleichzeitig ist schlicht kein Platz auf der Bühne. Hier und da muss auch eine zusätzliche Volksszene erfunden werden, damit alle zu ihrem Recht kommen. Nein: Nachwuchsprobleme gibt es definitiv nicht, die Hälfte der Einwohnerinnen und Einwohner macht auf oder hinter der Bühne mit. Während Theater fast überall eine Veranstaltung von wenigen für wenige ist, eine Nischenveranstaltung, ist es hier etwas, an dem (fast) alle teilhaben können – und wollen. Das Spiel hat in diesem Ort eine gesellschaftliche Relevanz, von der Stadt- und Staatstheater nur träumen können. Diese kämpfen landauf, landab um Aufmerksamkeit und versuchen, die Menschen durch Beteiligung zur Begeisterung zu verführen. In Oberammergau dagegen ist das Theater seit dem 17. Jahrhundert positiv besetzt. Das gemeinsame Spielen wurde für die Vorfahren zum Lebensretter, für die Nachkommenden zum Gemeinschaftsprojekt und Wirtschaftsfaktor. Am Nachmittag mache ich noch einen Spaziergang zur Kreuzigungsgruppe, die König Ludwig II. stiftete, nachdem er 1871 eine Sonderaufführung der Passionsspiele besucht hatte. Ich 27


folge der König-Ludwig-Straße über die Ammer und eine Anhöhe hinauf, bis irgendwann die Besiedelung dünner wird und schließlich endet. Ein Waldweg führt das letzte Stück auf einen Hügel, und da steht sie: ein weißer Fremdkörper inmitten herbstlich gefärbter Bäume. Über tausend Zentner Kelheimer Marmor. Ein Trumm von einer Skulptur, das unweigerlich ins Auge sticht. Von hier oben blickt man hinab aufs Zentrum, aufs Passionstheater. Wenn man weiß, wohin man schauen muss, sieht man die Kreuzigungsgruppe vermutlich auch von unten. Dieses Kruzifix ist ohne Frage das größte in Oberammergau. Es thront über dem Ort, in dem man am toten Christus ebenso wenig vorbeikommt wie an den ihm gewidmeten Spielen. Nein: Oberammergau ist kein ganz normaler Ort im bayerischen Voralpenland. Oberammergau ist Theaterort durch und durch.

Für die Engelsflügel werden tausende Federn gefärbt und geklebt. Alles muss echt und perfekt sein, so die Devise.

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THEATER IM KOLLEKTIV. DIE SPIELE ALS VOLKSVERSAMMLUNG

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n Oberammergau wächst man von klein auf hinein in die Passion. Die Kinder im Ort spielen nicht nur bei den Erwachsenen mit, sie erarbeiten darüber hinaus selbständig ihre eigenen kleinen Passionsspiele, die sie im Sommer des Passionsjahres aufführen. Theaterspielen ist im Ort ein strukturgebendes Ereignis. „Die Passion bestimmt den Rhythmus des Lebens des Einzelnen wie der Gemeinschaft. Die Lebensabschnitte werden durch die Spieltermine markiert“, schrieb Josef Georg Ziegler 2000. „Wer als Kind beim Einzug in Jerusalem auf dem Arm seiner großen Schwester den Palmwedel geschwungen hat, darf das nächste Mal vielleicht schon als Statist in den Lebenden Bildern dabei sein, bis der Greis als ‚Brustklopfer unter dem Kreuz‘ Abschied nimmt.“10

Leben im Rhythmus der Passion

Das Mitspielen ist beinahe Ehrensache. Die Oberammergauer und Oberammergauerinnen machen in ihrem Leben von Anfang an und bis zum Ende Platz für die Passion, passen die eigene Biografie an den Rhythmus der Spiele an. Da lassen sich Studenten ein halbes Jahr lang mehrmals in der Woche ans Kreuz schlagen, da nehmen Flugbegleiterinnen unbezahlten Urlaub, um als Maria ihren toten Sohn zu beweinen. Für wen ein Herunterfahren im Job nicht möglich ist, der lebt ein Jahr mit der Doppelbelastung Beruf und Spiel. Zur Volksprobe kommen die einen mit Gips, weil der Arm beim Snowboarden zu Bruch gegangen ist, die an29


deren mit Rollator, weil das Gehen schon schwerfällt. Das Engagement ist riesengroß. „Seit ich 17 Jahre alt bin, mache ich in Oberammergau Theater“, schrieb Stückl zur Passion 2000. „Nie, in all den Jahren, hatte ich Schwierigkeiten, eine Rolle zu besetzen […] Ich habe meine Spieler so manchen Abend während der Probe geschunden, doch am nächsten Tag standen sie wieder da, um auf unser gemeinsames Ziel, die Aufführung, die Premiere, hinzuarbeiten.“11 Man erzählt sich, dass im Passionsjahr weniger Menschen sterben als sonst, weil alle das Großereignis noch miterleben wollen. Und wer weiß, ob nicht manche auch ihre Kinderplanung dem Passionszyklus unterwerfen? Eindeutig belegen lässt sich das natürlich nicht, aber ein Blick in die Geburtenstatistik zeigt zumindest, dass seit 1979 tendenziell im Passionsjahr weniger Kinder geboren werden als in den Jahren davor und danach … Bis das Mitspielen 1990 auch verheirateten Frauen erlaubt wurde, gab es laut Monika Lang verlässlich nach der Passion einen „Heirats- und Kinderboom, weil die Frauen halt noch die Passion mitmachen wollten. Und das ging ja nur unverheiratet.“ Und auch Anton Burkhart, Jesus-Darsteller im Jahr 2000, bestätigte die Vermutung, dass man in Oberammergau bei der Familienplanung Rücksicht auf den Passionsrhythmus nimmt, in einem Interview: „‚In der Passionszeit kriegt man kein Kind, heißt es hier.‘ Und so albern es klinge, ‚wann man geboren wird, ist für ein Oberammergauer Leben prägend.‘“12 Wird man kurz vor der Passion geboren, fehlt einem das Erlebnis als Grundschulkind. Kommt man kurz nach der Passion auf die Welt, ist man bei seiner zweiten Passion schon erwachsen. Alle, mit denen ich in Oberammergau spreche, zählen früher oder später alle Passionen auf, an denen sie beteiligt waren. Diese Geschichten sind immer auch die Geschichten ihres Le30


Die Passion gehört in Oberammergau zum Leben dazu. In der Grundschule stehen oft ganze Klassen zusammen auf der Bühne.

bens, gegliedert durch den Zehn-Jahres-Rhythmus der Passion. Es gibt im Ort eben die Passionsjahre – und die dazwischen. „Da war ich als Kind im Volk dabei.“ „Bei dieser Passion hatte ich gerade meine Frau kennengelernt.“ „In dem Spieljahr waren meine beiden Kinder schon geboren.“ „Damals hat meine Enkeltochter zum ersten Mal mitgespielt.“ Solche Sätze fallen häufig. Alle zehn Jahre befragen sie nicht nur die Geschichte von Jesus aufs Neue, sondern auch ihre eigene: Wo stand ich beim letzten Mal in meinem Leben? Wo stehe ich jetzt? Was wird beim nächsten Mal sein? Werde ich in zehn Jahren noch mal dabei sein können? Wen werde ich spielen? Was kann ich beitragen? Aufgaben auf und hinter der Bühne gibt es viele. Hauptdarsteller, Apostel, Frauen bei Maria, Abendmahlsdiener, weinende Frauen, Zeugen, jede Menge verschiedene Diener, Ehebrecherin, Rotte, Händler, Schächer, Priester, Geißler, Henker, Römer, arme Männer und Frauen, Garderobenfrauen, Feuerwehrmänner, Sanitäter, Einlassdienst, Chor, Solisten, Orchester, Volk – die Lis31


te der Mitwirkenden an der Passion ist lang. Über 1500 sind es 2022. Dazu kommen noch 500 bis 600 Kinder. Und sie alle stammen aus Oberammergau. Die Passionsspiele sind komplett hausbeziehungsweise ortsgemacht. Heißt: Der gesamte künstlerische und organisatorische Prozess liegt in den Händen der Einheimischen. (Nur für die Vorarbeiten im Büro, in der Schneiderei oder den Werkstätten dürfen auch Externe engagiert werden.) Manche arbeiten aus praktischen Gründen lieber hinter der Bühne als darauf. Wer als Kulissenschieber den ganzen Tag im Einsatz ist, wird voll bezahlt, erklärt mir der technische Leiter Carsten Lück bei einem Rundgang durch das Theater im Oktober 2020. Wer dagegen in einer Volksszene mitspielt, muss nebenher seiner normalen Arbeit nachgehen. Viele wollen auch einfach nicht im Rampenlicht stehen, bleiben lieber im Hintergrund oder haben als Einlasspersonal Kontakt mit dem Publikum. Nicht wenige haben sich seit vielen Jahr(zehnt)en auf ihre ganz persönliche Rolle bei den Spielen spezialisiert.

Theater der Generationen

Das gemeinsame Spiel schafft Verbindungen über Altersgrenzen hinweg. „Seit 1990, seit die Frauen auch über 35 Jahre mitspielen dürfen, kommen wirklich die Generationen zusammen“, erzählt mir Peter Stückl, der Vater des Spielleiters. „Vorher gab es alte Männer, aber nur junge Frauen. Zum Volk gehören aber alle: Kinder, Junge und Alte, Frauen und Männer.“ Es ist Januar 2020, ich sitze nach einer der ersten Volksproben mit Peter Stückl und David Bender, einem der ältesten und dem jüngsten Hauptdarsteller, im Theatercafé, wärme mich mit einer heißen Zitrone auf und unterhalte mich mit beiden über ihre Motivation mitzuspielen. 32


Stückl war 1950 zum ersten Mal dabei, als siebenjähriger Bub. In Zweierreihen hat die Lehrerin die Schulklasse damals zum Einzug des Volkes ins Theater geführt, erinnert er sich. An Spieltagen wurden die Kinder für ihren Auftritt vom Unterricht befreit. Und da eigentlich alle mitmachten, war die Schule in dieser Zeit leer. Auch das war sicher ein Beweggrund mitzumachen. (Seit der Spielbeginn 2010 in den Nachmittag verlegt wurde, fällt dieser Vorteil für die Schulkinder allerdings weg.) „Auf dem Rückweg in die Schule waren dann meist nur noch die Mädchen dabei“, erzählt Stückl lachend: „Die Buben waren in dem großen Theater nicht mehr aufzufinden.“ Von seinem ebenfalls mitspielenden Opa hat er zur Vorstellung immer ein Paar Wiener mit Senf bekommen. Das erinnert er bis heute. Jetzt ist er selbst Opa, 2022 wird er unglaublicherweise zum zehnten Mal mitspielen. 1960 war er der jüngste Bass im Chor. In dem Jahr lernte er seine Frau kennen und lieben: „Wir sind seit dem ersten Tag beinander, bis heute“, sagt er und lächelt. Danach spielte er fast immer große Sprechrollen, mehrmals den Judas und den Kaiphas. Sieben reguläre Spiele, die Rosner-Probe 1977 (dazu später mehr) und das Spiel zum 350. Jubiläum 1984 – so kommt die magische Zahl zehn zusammen. Auch für ihn sind die Passionsjahre Zäsuren im Leben, Momente der Selbstvergewisserung. 1970 hatte er schon seine drei Kinder, 1990 übernahm der Älteste, Christian, die Spielleitung. „2010 war ich dann der Annas, so schnell ist man der Alte“, sagt Stückl und lacht. Neben ihm sitzt David Bender, der jüngste Hauptdarsteller 2022. Hätten die Spiele wie geplant 2020 stattgefunden, wäre die Premiere drei Tage nach seiner letzten Abiprüfung gewesen. Tagsüber lernen, abends proben, das war sein Plan. Um 2022 dabei sein zu können, hat er nun sein Studium verschoben, ein Jahr im Bundesfreiwilligendienst gearbeitet. Für ihn ist es das aller33


erste Mal, dass er Theater spielt. Seine Mutter ist alteingesessene Oberammergauerin. Da er mit seinen Eltern aber einige Jahre in Ulm gewohnt hat, war er 2010 nicht aktiv dabei. Einmal hat seine Oma ihn damals mit auf die Bühne genommen: „Ich bin an ihrer Hand im Volk mitgegangen“, erinnert er sich. „Ich war fasziniert, habe aber von der Aufführung nicht viel mitbekommen.“ Dieses Mal ist er zum Vorsprechen gegangen, zu dem Christian Stückl und der zweite Spielleiter Abdullah Kenan Karaca die Jugendlichen im Dorf eingeladen haben. Erfolgreich: Bender spielt den Engel, eine Rolle, die 1970 sein Opa hatte. Die Kinder sind von klein auf Teil der Tradition. Viele spielen mit, seit sie laufen können – und wenn sie das noch nicht können, werden sie schon mal auf dem Arm der Eltern oder Großeltern mit auf die Bühne getragen. Sophie Schuster, Darstellerin der Maria Magdalena, war 2010 als Kind im Volk dabei. „Da kommen alle zusammen“, erzählt sie. „Omas und Opas, Eltern und wir Kinder. Wenn die Mama nicht da war, habe ich meine kleine Schwester mitgenommen, die ist dann bei mir mitgelaufen. Die war vier oder fünf, hatte ihr eigenes Kostüm, war aber noch nicht offiziell angemeldet. Meine Mama war als Sanitäterin beim Roten Kreuz, mein einer Bruder war der Apostel Judas Thaddäus, mein anderer beim Einlass. Die jüngeren Geschwister waren alle beim Volk.“ Auf der Bühne stehen nicht selten mehrere Generationen zusammen, in vielen Wohnzimmern hängen Familienfotos, auf denen vom Enkel bis zur Oma alle in Passionskostümen stecken. Das „Heil dir“, das beim Einzug in Jerusalem ertönt, ist so etwas wie die inoffizielle Hymne des Orts: Jedes Kind kann sie mitsingen. Die Passion hat eine immense familiäre und emotionale Bedeutung, sorgt für Zusammenhalt. Das Ergebnis ist auch ein kollektives Bewusstsein für die künstlerische Entwicklung: Wie die 34


Kostüme in diesem oder jenem Jahr aussahen; wer wann welche Rolle gespielt hat; wann die Spiele in die Abendstunden verlegt wurden oder seit wann das Gebet „Schma Jisrael“ Teil des Spiels ist – in Oberammergau kennen die allermeisten die inszenatorischen Meilensteine der Passion.

Kunst als Beruf

Das Passionstheater steht mitten im Ort. Wenn die großen Volksproben beginnen, sind seine Türen geöffnet. Auch für die, die nicht mitspielen. Sie können aus dem Zuschauerraum miterleben, wie etwas Großes entsteht. Hier wird nicht im Geheimen und hinter verschlossenen Türen etwas erarbeitet, das dann am Tag der Premiere wie ein Zaubertrick präsentiert wird. Dieses Theater ist nichts Abgehobenes, nichts Elitäres, sondern ein öffentlicher Prozess. Über die Jahrhunderte ist Oberammergau zu einem Dorf der Theaterbegeisterten geworden. Hier aufwachsen heißt: mit Theater aufwachsen. Anders als anderswo hat die Kunst hier einen hohen Stellenwert. Sie ist nichts, das als „brotlos“ oder Spinnerei abgetan wird. Im Gegenteil: Talente werden aktiv gefördert. Der Musikunterricht in der Schule hat sich nicht den Haupt- und Vorrückungsfächern unterzuordnen. Wenn hier ein Schüler singen kann oder eine Schülerin gut Geige spielt, ist das keine Nebensache. Das Bewusstsein, dass Kunst durchaus ein Brotberuf sein kann, ist tief in der Geschichte des Ortes verankert: Wer die Musik oder das Theater zu seinem Beruf machen möchte, wird nicht belächelt. Bis heute ist die Quote derer, die ihr Geld mit Kunst und Kultur verdienen, hier deutlich höher als anderswo. Allein in der deutschsprachigen Theaterszene tummeln sich so 35


Am Rande der Spiele 2010. Die meisten Oberammergauer erinnern sich genau an ihre erste Passion in der Kindergruppe.

einige Oberammergauer. Alle künstlerischen Bereiche des Passionsspiels werden inzwischen von Profis abgedeckt. Profis aus Oberammergau. (Tatsächlich vor allem Männer, hier gibt es noch ein wenig Nachholbedarf.) Christian Stückl ist auch außerhalb von Oberammergau als Regisseur erfolgreich und seit 2002 Intendant des Münchner Volkstheaters. Die marode, von der Schließung bedrohte Bühne hat er in ein junges und experimentierfreudiges Theater verwandelt, das 2021 sogar ein neues Haus bekam: einen der modernsten Theaterbauten Europas. Der musikalische Leiter Markus Zwink studierte am Mozarteum in Salzburg und an der Musikhochschule München, unter anderem bei Nikolaus Harnoncourt, Bühnenbildner Stefan Hageneier arbeitet im gesamten deutschsprachigen Raum, mit Stückl am Münchner Volkstheater, aber auch am Thalia Theater Hamburg, der Schaubühne Berlin, dem Burgtheater in Wien und an diversen anderen Theatern. Keiner 36


von ihnen würde es sich aber nehmen lassen, im Zehnerjahr seine Energie auf die Passion zu konzentrieren. Ihre erste Begegnung mit dem Theater war hier, das haben sie nicht vergessen. Dieser kleine Ort ist künstlerisch keine Provinz, oder, wie Gerd Holzheimer es leicht pathetisch formuliert: „Die Genannten könnten auch unabhängig von Oberammergau ihren künstlerischen Weg gehen, aber auch das gehört zu Oberammergau, dass seine Besten wieder in das Dorf zurückkommen. Sie gehen hinaus, lernen bei den großen Meistern und kommen heim, um es den eigenen zugute kommen zu lassen.“13

Die Spiele als Politikum

Wo fast alle mitmachen, viel Zeit und Energie investieren, fühlen sich natürlich auch alle aufgerufen, über künstlerische Entscheidungen zu diskutieren – und zu urteilen. Alle machen mit, alle reden mit. Und: Alle streiten mit. Auf der Straße, im Gemeinderat und am Stammtisch. Da kochen die Emotionen schon mal hoch. Die einen sind begeistert von den Neuerungen, die anderen sehnen sich nach einer vermeintlich guten alten Zeit zurück, als Jahrzehnt für Jahrzehnt dieselbe Inszenierung in denselben Kostümen aufgeführt wurde und niemand „gspinnerte“ Reformideen hatte. Bekommt der eine die begehrte Rolle, ist der andere enttäuscht (oder beleidigt). Will der Spielleiter Christian Stückl die Spiele öffnen und Andersgläubige integrieren, sieht manch ein Alteingesessener seine Felle davonschwimmen. Entwirft Stefan Hageneier jedes Mal neue Kostüme, halten einige das für übertrieben. „Natürlich haben da viele gesagt: Sind die größenwahnsinnig geworden? Kann man nicht mal mehr die alten Kostüme nehmen?“, erzählt Peter Stückl, stellt aber gleich klar: „Aber nur 37


so geht es. Wenn man nicht immer dran arbeitet, ist es gleich ein alter Hut.“ Mehr als einmal gab es zwei feindliche Lager im Dorf. Die Spiele sind ein Politikum, Oberammergau vielleicht die Gemeinde mit den meisten Bürgerentscheiden überhaupt – von denen ein Großteil ums Theater kreist. Die Bürgerentscheid-Quote hat schlagartig zugenommen, seit Christian Stückl 1990 die Spielleitung übernommen hat. Davor war es sehr lange sehr ruhig gewesen, was Änderungen angeht. Die letzten gravierenden Eingriffe in Inszenierung und Bühnenbild hatten 1930 stattgefunden. Über Generationen hatte sich also der Eindruck verfestigt: „Das ist die Passion. Dieser Text, diese Musik, diese Bühne, diese Kostüme, diese Inszenierungsweise. So gehört sie und nicht anders.“ Die meisten, die 1990 dabei waren, hatten ihr Leben lang die Erfahrung einer immer gleichbleibenden Passion gemacht. Wenn die Traditionalisten, die Monika Lang mir gegenüber zitiert, also raunten, „das ist nicht mehr unser Spiel“, dann hatten sie natürlich recht. Die Passion war über Jahrzehnte etwas Starres und Unantastbares gewesen, nicht vergleichbar mit einem Theater, das einen Stoff oder einen Text immer neu auf seine Relevanz befragt. Dass nun einer wie Stückl daherkam und die Sache grundsätzlich anders anging, war für nicht wenige ein Sakrileg. Seit er das erste Mal zum Spielleiter gewählt wurde, gab es zahlreiche Bürgerentscheide rund um die Passion: zu Konzept und Spielleitung, zur Textfassung, zum Bühnenbild. 2010 wollte Christian Stückl beispielsweise den Spielbeginn in den Nachmittag verlegen, damit die Kreuzigung in der Dämmerung stattfinden kann statt am helllichten Tag. Traditionell begannen die Vorstellungen vormittags und endeten am frühen Abend, anschließend bummelten die Gäste durch den Ort und kehrten in den Wirtshäusern ein. Kurz, sie konsumierten. Ge38


nau das war auch der Grund, warum Stückls Vorschlag zu einem Aufschrei in der Gemeinde führte. Die Wirte und Geschäftsleute fürchteten um ihre Einnahmen, um ausbleibende Abendessen und Souvenirkäufe. Man sorgte sich um frierende oder gar einschlafende Gäste. Merkte an, dass die Leute sich auf dem Heimweg zum Hotel verlaufen könnten. Stückl aber dachte von der Inszenierung her. Er stellte sich die Kreuzigung bei einbrechender Dunkelheit vor, die der Szene zusätzliche Dramatik verleihen würde, den Engel vor einer Feuerschale in der Nacht. Der Gemeinderat segnete Stückls Wunsch ab, ein paar hundert Einwohner aber erzwangen einen Bürgerentscheid, um das Nachtspiel zu verhindern. 64 Prozent aber stimmten für die Verlegung des Spiels. Die Erfahrung hat übrigens gezeigt, dass die kommerziellen Sorgen unbegründet waren. Nun bummeln die Gäste eben vor der Vorstellung und kehren in der Pause ein. „Das Nachtspiel macht für unser Geschäft keinen Unterschied“, sagt Buchhändler Alexander Schwarz. „Jetzt haben die Leute vor dem Stück und in der Pause Zeit. Vorher sind sie abends nach dem Spiel zum Essen gegangen, aber auch nicht mehr viel im Ort rumgedackelt. Aus unserer Sicht hat sich da nichts geändert.“ Dass derartige Fragen aber die Gemüter so erregen, zeigt, wie viel das Theater in diesem Ort zählt. Dieses Spiel ist kein subventioniertes, sondern ganz im Gegenteil ein wesentlicher Wirtschaftsfaktor, es sichert den Wohlstand. Nicht nur deswegen sind Fragen der Kunst hier immer auch politisch relevant. Diese Passionsspiele sind im Grunde dort, wo alle anderen Theater hinwollen: in der Mitte der Gesellschaft. Alle interessieren sich dafür, die meisten belassen es nicht beim Zuschauen und machen aktiv mit. Dass dieses Interesse auf der anderen Seite bedeutet, alle wollen mitreden, macht die Sache nicht einfacher.

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SCHULD UND SÜHNE. WARUM DAS GANZE?

e intensiver ich mich mit den Passionsspielen beschäftige, desto klarer wird: Die Faszination Oberammergau ist nicht nur die Faszination für einen Ort voller Theaterbegeisterter, es ist auch die für die lange Geschichte der Spiele, für die Beharrlichkeit, mit der die Dorfbewohner (und das waren nun mal vor allem die Männer) über die Jahrhunderte an dieser Tradition festgehalten haben. Denn es war keineswegs immer so, dass die Spiele von der Kritik gelobt und international anerkannt waren. Bis ins 19. Jahrhundert spielte das Tourismus-Argument kaum eine Rolle, das Feuilleton nahm das Laienspiel die längste Zeit nicht als ernstzunehmendes Theater wahr. Es gab Durststrecken, Kriege, Seuchen, aber auch harsche Kritik und Schmähungen. Im Nationalsozialismus wurden die Spiele zur antijüdischen Propaganda genutzt, nach 1945 wurde die internationale Kritik am textimmanenten Antijudaismus immer lauter. Schließlich war in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts auch das Dorf zunehmend gespalten zwischen denen, die alles beim Alten belassen, und denen, die die Spiele grundlegend reformieren wollten. Die Jungen interessierten sich immer weniger für diese angestaubte und rückständige Veranstaltung, die Spiele standen vor einer Zerreißprobe. Kurz: Es gab über die Jahrhunderte viele Gelegenheiten, einfach aufzuhören. Übel genommen hätte es den Oberammergauern wohl kaum einer. Getan haben sie das aber nie. Die Spiele konnten nicht durchgehend wie geplant stattfinden, aber das hatte gravierende Gründe: 1770 ließ Kurfürst Maximilian III. Joseph alle Passionsspiele verbieten, da „das größte Geheimnis unserer heiligen Religion nun einmal nicht auf die Schaubühne gehört“.14 Zwar 40


entdeckte Christian Stückl 2021 in der Dorfchronik des Oberammergauer Pfarrers Joseph Alois Daisenberger eine Stelle, in der es heißt, dass 49 Gulden aufgewendet wurden, um eine Delegation nach München zu entsenden und eine Ausnahmegenehmigung einzuholen. Wirklich nachweisen ließ sich aber nicht, dass die Spiele 1770 doch stattgefunden hätten, und so bleibt es vorerst bei der offiziellen Lesart, nach der die Spiele 1770 ersatzlos ausgefallen sind. 1810 wurden die Spiele im Zuge der Säkularisierung erneut untersagt, dieses Verbot blieb allerdings nur ein Jahr gültig und war das letzte seiner Art. Die Spiele wurden 1811 nachgeholt. Danach waren es die Kriege, die den Spielen Probleme machten: 1870 wurde bei der dritten Vorstellung vom Prologsprecher der Ausbruch des Krieges zwischen Preußen und Frankreich verkündet. Da einige Darsteller in den Krieg ziehen mussten, wurden die Spiele erst 1871 wieder aufgenommen. Die Passion 1920 wurde aufgrund der Spanischen Grippe sowie der vielen Toten und Verwundeten im Ersten Weltkrieg um zwei Jahre verschoben. 1940 dann machte der Zweite Weltkrieg die Spiele tatsächlich unmöglich, sie fielen komplett aus. 2020 führte nun die Corona-Pandemie zu einer Verschiebung. Nur zweimal also wurden die Spiele in all der Zeit abgesagt, dreimal mussten sie vertagt werden. Und jedes Mal wurde die Tradition baldmöglichst wieder aufgenommen.

Geboren aus der Not

Was also ist es, das diesen Ort bis heute an ein Gelübde bindet, das die Vorfahren – beziehungsweise die Menschen, die hier vor 400 Jahren lebten – ablegten? Viele der heutigen Dorfbewohne41


rinnen und Dorfbewohner blicken ja gar nicht auf eine jahrhundertelange Ahnengalerie vor Ort zurück, sie oder ihre Familien sind erst viel später hierhergezogen. Auch sind es sicherlich keine wirtschaftlichen Interessen, die zum Mitmachen animieren. Die Honorare für die meisten Mitwirkenden sind überschaubar, das Event Passionsspiele könnte auch mit deutlich weniger Teilnehmenden über die Bühne gehen. Es gibt also eine irgendwie geartete emotionale oder gar spirituelle Bindung an das Spiel, die über die eigene Familie hinausgeht. Ein übergreifendes, umfassendes Verantwortungsgefühl für das Gelingen und das Weitergeben dieser Tradition. Einer Tradition, die in der ersten Hälfte des 17. Jahrhunderts einsetzte. 1633 war Oberammergau ein kleines Dorf in großer Not. Mitten im Dreißigjährigen Krieg war die Pest im Oberland ausgebrochen. In der Dorfchronik eines unbekannten Verfassers heißt es: „Anno 1633 hat die Pest aller Ort eingerissen, daß man Vermeint hat, die Leute gehen alle darauf.“15 In Oberammergau postierte man Wachen am Ortseingang und zündete zur Abschreckung Pestfeuer an. Diese sollten eigentlich Ankommende vor einem Ausbruch warnen, in diesem Falle aber potenzielle Überträger fernhalten. Was nicht funktionierte. Die Seuche brach auch in Oberammergau aus. Damals gab es keine Intensivmedizin, die Pestmasken hatten gruselige, mit duftenden Aromen gefüllte Schnäbel und waren den Ärzten vorbehalten. Mit den heutigen Corona-Schutzmasken hatten sie nichts gemein. Auch die Hoffnung auf einen Impfstoff gab es nicht. Wer sich infizierte, konnte sich höchstens noch isolieren, um nicht weitere anzustecken. Im Sterbebuch der Pfarrei sind von September 1632 bis Oktober 1633 über achtzig an der Pest verstorbene Erwachsene aufgelistet. Wie verlässlich diese Angaben sind, ist allerdings fraglich: Vier oder fünf Seiten vom Sterbebuch wur42


den wohl erst später nachgetragen, erzählt mir Christian Stückl. Darunter waren weder Frauen noch Kinder. Drei Pfarrer in Folge starben selbst an der Pest, vermutlich ist diese Auflistung also nicht vollständig. Allein die dokumentierten Toten allerdings entsprechen in etwa zehn Prozent der damaligen Bevölkerung. Ein Ende war nicht in Sicht, die Menschen standen der hoch ansteckenden Krankheit schutzlos gegenüber. Sie hatten nur ihren Glauben – und so machten sie, was man in diesen Zeiten tat, um Not abzuwenden: Sie legten ein Gelübde ab. (Eine Niederschrift desselben wurde übrigens bisher nicht gefunden, der exakte Wortlaut ist daher unbekannt.)

Vertrag mit einer höheren Macht

Ein Gelübde ist zunächst einfach ein Versprechen. Oder auch: eine Art Vertrag. Das Besondere: Die andere Seite sitzt nicht mit am Tisch bei der Vertragsunterzeichnung, sie ist eine höhere Macht, die nicht greifbar ist. Ein Gelübde setzt also immer den Glauben an diese Macht voraus: „Ich gelobe, etwas zu tun, und hoffe, dafür belohnt beziehungsweise von Unheil verschont zu werden.“ Wer ein Gelübde ablegt, hält seine Erfüllung für möglich, vertraut auf das unsichtbare Gegenüber. „Auf den ersten Blick wirkt das wie ein billiger Handel nach dem altrömischen Prinzip ‚do ut des – ich gebe etwas, wenn bzw. damit auch mir gegeben wird‘“, heißt es in einer Schrift des Oberammergauer Pfarrverbands. Doch natürlich ist es immer auch Ausdruck eines tiefen Glaubens: Nur der, der an einen allmächtigen Gott glaubt, verspricht ihm etwas. „Wenn die Oberammergauer Bürger damals gelobt haben, für den Fall, dass die Pest aufhören sollte, das Passionsspiel aufzuführen, dann drückt sich darin ihre Glaubensüberzeugung aus: Der feste 43


Glaube daran, dass Gott selbst da, wo scheinbar nichts und niemand mehr zu helfen vermag, noch retten kann.“16 Gelübde zur Abkehr von Unglück oder Leid waren in dieser Zeit (und noch lange danach) im katholischen Raum weit verbreitet. Kaum eine Wallfahrtskirche, die nicht voller Votivtafeln hängt, die von Unfällen, Krankheiten oder Schicksalsschlägen erzählen, von gebrochenen Beinen und Herzen, von verbrannten Häusern oder verhagelten Ernten. Der Mensch, der ein Opfer auf sich nimmt, kann auf die Hilfe Gottes hoffen. So der Glaube. Hinter all dem steht ein alttestamentarisches Verständnis von einem strafenden Gott, der sich durch demütiges Verhalten, Opfer und Gaben besänftigen lässt. (Und eine Kirche, die sich ihren Segen auch mal von den Gläubigen abkaufen ließ.) Der Einzelne gelobte zum Beispiel, eine Wallfahrt zu machen oder eine Messe zu stiften. Betraf das Unglück – wie eben die Pest – einen ganzen Ort, war die Aufführung eines Passionsspiels im Alpenraum nicht selten das Mittel der Wahl. Was die Oberammergauer da machten, war nicht so außergewöhnlich. Für die erste Hälfte des 17. Jahrhunderts sind an die vierzig Passionsspielorte bekannt, zwischen 1650 und 1800 gab es in Bayern und Österreich sogar an die 250. Vermutlich hatten auch die Oberammergauer schon früher das Leiden Christi auf die Bühne gebracht, nur eben nicht in der nun einsetzenden Regelmäßigkeit. Passionsspiele sind Leidensspiele: Erwachsen aus einer übergroßen Not sollte die Darstellung des Leidens Christi die Spielenden selbst zu der Erlösung führen, die am Ende dieses Dramas steht und die damals ganz konkret die Erlösung von einer tödlichen Seuche war. Einer, wie sie glaubten, menschengemachten Katastrophe. Denn die Pest wurde als Strafe Gottes für die Sünden der Menschen, ihr gottloses Leben interpretiert. Das Theaterspiel sollte die Pandemie besiegen. Und das funktionierte. 44


In der bereits zitierten Dorfchronik heißt es: „In diesen Leydweßen sind die Gemeinds-Leuthe […] zusammen gekommen und haben die Pasions-Tragedie alle 10 Jahre zu halten Verlobet, und von dieser Zeit an ist kein einziger Mensch mehr gestorben. Obwohlen noch Etliche die Pestzeichen von dieser Krankheit an Ihnen hatten.“17 Ob sich all das wirklich so zugetragen hat, ob

tatsächlich nach dem Gelübde niemand mehr an der Pest starb, ist nicht gesichert. (Und tatsächlich auch eher unwahrscheinlich.)

Szene aus dem „Pest“-Spiel 2019: In ihrer Not geloben die Dorfbewohner, alle zehn Jahre das Leiden Christi aufzuführen.

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Das Original der Chronik ist verschollen, der Inhalt lediglich als Abschrift des Oberammergauer Pfarrers Joseph Alois Daisenberger aus den Jahren 1858/59 erhalten. Mehr als 200 Jahre liegen zwischen den Geschehnissen und dem erhaltenen Dokument. Die Gründungslegende jedenfalls sagt: Das Theaterspielen wurde zur Rettung in einer ausweglosen Situation, das gemeinsame Projekt führte das Dorf aus der Krise. Ob der Zusammenhang nun ein ursächlicher ist oder ein zufälliger? Auch das ist eine Frage des Glaubens. Fest aber steht: Das Theater der Oberammergauer war nie bloßer Zeitvertreib oder Unterhaltung. Und der Ernst, mit dem die Passionsspiele bis in die Gegenwart betrieben werden, zeugt genau davon.

„Die Pest“

Noch heute erinnert ein Theaterspiel, das immer im Vorjahr der Passion aufgeführt wird, an die Entstehungsgeschichte derselben: Leo Weismantels Stück „Die Pest“. Es erzählt die Geschichte vom Kaspar Schisler, der der Überlieferung nach die Krankheit in den Ort gebracht hat: „Das Allhiesiege Dorf hat mann mit der fleißigen Wacht erhalten, daß nichts ist hereinkommen, […] bis auf unsern Kirchtag, da ist ein Mann Von hier, mit Nahmen Kaspar Schischler […] über den Berg herum gegangen, und hinten herein, weil da kein Wacht gewesen, […] so ist er schon am Montag nach der Kirchweihe eine Leich geweßen, weil er ein Pestzeichen an sich mit ihm herumgetragen.“18 Ob es ihn wirklich gab und ob er wirklich der Patient Null war in Oberammergau, ist mehr als ungewiss. Der Name „Schisler“ findet sich nicht in den offiziellen Büchern der Verstorbenen aus den Jahren 1632/33, Nachfahren sind keine bekannt. 46


Der Benediktinerpater Stephan Schaller aus dem nahegelegenen Kloster Ettal vertrat daher wohl die These, es habe den Schisler nie gegeben, vielmehr hätte eine Frau aus Kohlgrub die Pest eingeschleppt. Diese These allerdings hat Christian Stückl sonst nirgendwo gehört. Er glaubt auch nicht daran, dass der Schisler eine komplette Erfindung ist: Woher käme sonst dieser Name? Vielleicht aber war er kein Oberammergauer, sondern nur zu Besuch? Die Zustände damals waren chaotisch und unübersichtlich. „Viele der Pesttoten wurden sofort verbrannt, die Dokumentation ist unvollständig“, so Stückl. „Das waren wohl ähnliche Bilder, wie wir sie während der Corona-Pandemie aus Indien gesehen haben.“ Die Legende vom Schisler jedenfalls wurde über Jahrhunderte mündlich weitererzählt. Ob sie einen wahren Kern hat, lässt sich nicht mehr überprüfen. Damals wie heute aber sehnten sich viele Menschen nach einem Verantwortlichen, einem Sündenbock. Die Geschichte, die sie fanden, ist einfach: Der Schisler geht in Eschenlohe mit einer Magd fremd, wird von Gott mit der Krankheit gestraft und schleppt sie nach Oberammergau ein. Dieser Ehebruch wird sowohl im Weismantel-Stück betont als auch in Luis Trenkers Roman „Das Wunder von Oberammergau“. Die Sünde des Schisler gilt als Ursprung des Übels, die Pest als Strafe Gottes für einen sündig gewordenen Mann. Diese Sicht hielt sich lange, ihre Darstellung auf der Bühne wurde bis ins 20. Jahrhundert nie wirklich hinterfragt. Erst als Stückl 1989 zum ersten Mal „Die Pest“ inszenierte, änderte sich etwas. Stückl verwahrte sich gegen die katholische Lesart. Es war Ende der achtziger Jahre, kurz zuvor war ein neues Virus aufgekommen, das wiederum von vielen Kirchenmännern als Strafe Gottes tituliert wurde: HIV. „Wir wollten nicht von einem Gott erzählen, der im Himmel sitzt und Krankheiten ausstreut“, er47


Mit dem Spiel „Die Pest“ erinnern die Oberammergauer im Vorjahr der Passion an die Zeit der Seuche, in der die Tradition begann.

klärte mir Stückl vor der „Pest“-Premiere im Sommer 2019. Ihn interessierte vielmehr, was eine Katastrophe mit den Menschen macht, wie verloren der einzelne in einer bedrohlichen Situation ist. Stückl thematisierte auch das Zweifeln an Gott in schwierigen Situationen, was ihm im Dorf viel Kritik einbrachte. Darf man das zeigen? Dass einer ein Kreuz auf den Boden wirft, weil er an Gott verzweifelt? Ja, denkt Stückl nach wie vor. Sein Großvater hatte ihm einmal eine Geschichte von seinem Ur-Ur-Großvater erzählt: Dem verhagelte es die ganze Ernte. Wütend griff er das Kruzifix aus seinem Herrgottswinkel, lief damit aufs Feld, um Jesus die ganze Bescherung zu zeigen. „Viele Menschen verlieren ihren Glauben an Gott im Angesicht einer Katastrophe auch mal, verstehen ihn nicht mehr“, so Stückl. Er rückte die Reaktion auf die Gefahr in den Vordergrund, nicht länger die Suche nach einem mutmaßlichen Schuldigen. 48


Im Sommer 2019 hatte „Die Pest“ zuletzt Premiere, vermeintlich im Vorjahr der Passion 2020. Damals ahnte noch keiner, dass Oberammergau, Deutschland, Europa und die ganze Welt ein halbes Jahr später erneut von einer alles lahmlegenden Pandemie heimgesucht werden würde. Die Jahre 2020/2021 und die Corona-Pandemie haben gezeigt, wie aktuell die Fragen im Stück bis heute sind. (Und wie sehr sich auch heute die Gesellschaft in die teilt, die hetzend nach Verantwortlichen suchen, und die, die sich pragmatisch um Lösungen bemühen.)

Überwindung der Krise

Die ersten Passionsspiele fanden 1634 statt, im selben Jahr übrigens, in dem die Paulaner Mönche in München begannen, ihr eigenes Bier zu brauen. (Auch das eine Erfolgsgeschichte bis heute.) Die Spiele waren ein Fest am Ende der Not. Über die Anfänge ist wenig überliefert, nicht einmal die Namen der Spielleiter. Was man weiß: Gespielt wurde immer an Pfingsten, auf einer provisorischen Bühne auf dem Oberammergauer Friedhof. „Die Gräber waren sogenannte Klapp-Gräber, die man umklappen konnte, damit eine Bühne darüber errichtet werden konnte“, hat mir Markus Zwink erzählt. „Die Zuschauer saßen auf den Friedhofsmauern. Das waren sicher abenteuerliche Zustände, nicht nur akustisch.“ Man spielte direkt über denen, die an der Pest verstorben waren. Warum gespielt wurde, war also in jedem Moment schmerzlich präsent. Wie die Schäffler in München die Menschen nach der Pest mit ihrem Tanz wieder auf die Straßen, aus der Isolation und der Quarantäne lockten, waren auch diese Spiele das Zeichen für die Überwindung der Krise, das Ende der Not. Und wie die Schäffler, 49


die ihren Tanz bis heute alle sieben Jahre aufführen, halten auch die Oberammergauer bis heute an dieser alten Tradition fest, während es die meisten anderen Passionsspiele nicht bis in die Gegenwart geschafft haben. Die wenigen, die überdauert haben wie in Erl oder Thiersee, sind kaum von überregionalem Interesse. Das Gelübde von damals verpflichtet heutige Oberammergauer und Oberammergauerinnen freilich nicht mehr zum Spiel. Ein Versprechen bindet nur den, der es abgelegt hat. Dennoch machen sie es sich immer wieder neu zu eigen, indem sie das Gelübde vor jeder Passion feierlich erneuern. „Das Mitmachen ist eigentlich selbstverständlich, das gehört zum Leben dazu“, erzählte mir Eva Reiser, die die Maria spielen wird. „Die Frage ‚Spiel ich mit oder nicht?‘ stellt man sich eigentlich gar nicht. Das ist klar. In gewissen Zeiten ist es beruflich schwieriger, aber auch da habe ich mich nie gefragt, ob ich mitmache, sondern immer: ‚Wie schaffe ich es, mitzumachen?‘“ Woher kommt diese Motivation? Warum tun die Oberammergauerinnen und Oberammergauer das? Eine Zeitlang spielte sicherlich der Glaube die Hauptrolle. Später, als das Spiel Gläubige, Kirchen- und Staatsoberhäupter, Prominente und Touristen aus aller Welt anzuziehen begann, kam ein weiterer Aspekt hinzu: Die Passion machte Oberammergau, das kleine Dorf am nördlichen Alpenrand, weltbekannt und wurde zum bedeutenden Wirtschaftsfaktor. Heute beschert die Passion der Gemeinde ordentliche Gewinne und trägt zum allgemeinen Wohlstand bei: Eine halbe Million Gäste aus Bayern, Deutschland, Europa und der Welt reisen während der Saison an, übernachten, essen in den Gaststätten, kaufen Theaterkarten und Souvenirs. 34 Millionen Euro Gewinn brachten die Spiele 2010 der Gemeinde. Der wirtschaftliche Erfolg hat mit Sicherheit dazu beigetragen, die jahrhundertealte Tradition bis ins 21. Jahrhundert zu erhalten. Die 50


Leidenschaft aber, mit der hier alle bis heute bei der Sache sind, ist definitiv keine rein pekuniäre. 1922 war der Ort nach dem Ersten Weltkrieg und mitten in der Inflation in einer prekären finanziellen Situation. Ein Filmangebot aus den USA hätte viel Geld eingebracht und vieles leichter gemacht, wurde aber abgelehnt, wie Anton Lang in seiner Autobiografie schreibt: „Wir wollten unser Passionsspiel nicht verkaufen.“19 Er zitiert auch ei-

nen Artikel im New York Herald: „Anton Lang und seine Freunde haben ein Angebot von einer Million Dollar für die Verfilmung des Oberammergauer Passionsspiels abgelehnt, obgleich die Ihrigen daheim nur Schwarzes Brot – und davon nicht genug – zur Erhaltung ihres Lebens haben. Sie haben diese Riesensumme abgelehnt, weil sie trotz aller Not noch ein Ideal im Herzen haben, weil sie glauben, dass ihre Darstellung des Leidensweges Christi nur in Oberammergau den richtigen Rahmen innerer Religiosität finden könne.“20 Es war dies nicht das einzige Filmangebot, das die Oberammergauer ablehnten. 1957 sollte Luis Trenker einen Spielfilm mit dem Titel „Die Pest von Oberammergau“ drehen, Thea von Harbou hatte das Drehbuch geschrieben. Die amerikanische Filmgesellschaft wollte im Vor- und Nachspiel Szenen aus dem Passionsspiel 1960 zeigen. Die Gemeinde ließ sie abblitzen: „Wer die Passionsspiele erleben will, soll als Pilger nach Oberammergau kommen“, so laut Trenker das offizielle Statement. „Das Dorf, die Landschaft, die Menschen und die Berge gehören dazu.“21 So geschäftstüchtig die Oberammergauer (auch hier waren die Entscheidungsträger Männer) also auch sein mögen, so stur sind sie auch – und so wenig bereit, ihre Tradition an Fremde zu verkaufen. Der Ort und die Spiele sind über die Jahrhunderte eine Symbiose eingegangen. „Man kann Oberammergau nach der lan51


gen Zeit gar nicht mehr richtig trennen von den Passionsspielen“, sagt auch Frederik Mayet. „Auf diese lange Geschichte ist man ordentlich stolz und begeistert sich dafür.“ Rochus Rückel sieht auch in den vielen Diskussionen und Streitereien um die Passion einen Motor, der das Spiel am Leben hält: „In Oberammergau wird vor allem wegen der Passion gestritten; es gibt immer verschiedene Ansichten – und deswegen auch immer den Willen, selbst mitzuwirken, es nach den eigenen Vorstellungen zu machen.“ Es ist also anscheinend eine Mischung aus Verantwortungsgefühl für dieses kulturelle Erbe, der Lust am Gemeinschaftsprojekt und gelebtem Glauben. „Da laufen ganz viele Sachen zusammen“, glaubt Sophie Schuster. „Der Spaß, die Tradition. Aber auch, dass für dieses Event alle Altersklassen ins Theater kommen und das zusammen machen. Da ist ein brutaler Zusammenhalt, auch wenn man nicht jeden gut kennt. Wenn über die Passion diskutiert wird, merkt man immer, wie viel jedem daran liegt.“ Wer sich die Spiele als durch und durch ernste religiöse Angelegenheit vorstellt, liegt ebenso wenig richtig wie der, der sie als rein kommerzielle Veranstaltung abtut. Josef Georg Ziegler schrieb noch 2000 überzeugt: „Auf der Seite der Spieler ist […] eine gläubige Identifizierung mit der Handlung Vorbedingung.“22 Doch ist das noch immer so? Oder löst sich das Spiel allmählich von seinen religiösen Ursprüngen in Zeiten, in denen die christlichen Kirchen an Zuspruch verlieren? In denen eine wachsende Zahl der Mitspielenden keiner oder einer anderen als der katholischen Religion angehört? Hineinschauen kann man nicht in die Spielerinnen und Spieler. Tatsächlich aber erzählen viele auch unter den Jüngeren, dass ihnen ihr Glaube wichtig ist. Mehr wahrscheinlich als anderswo. Rochus Rückel zum Beispiel bezeichnet sich durchaus als 52


„christlich-religiös“. In einem Gespräch im Herbst 2019 erzählte er mir, dass er sich in einem imaginären „Ranking“ mit seinen katholischen Freunden „eher weit vorne“ einschätzt. Wie viele andere hatte er seine ganze Schulzeit über Religionsunterricht und war regelmäßig in der Kirche. Trotzdem ist ihm erst während der Vorbereitungen zur Passion bewusst geworden, wie groß das Thema ist. Wie viele Interpretationsspielräume es gibt. Und wie viel man auf die aktuelle soziale Situation der Welt beziehen kann. Es ist also durchaus so, dass der praktische Umgang mit den Bibelgeschichten zu einer intensiveren Auseinandersetzung führt und den einen oder die andere ganz neue Aspekte der vermeintlich bekannten Geschichte entdecken lässt. Das Spiel macht die Leute in Oberammergau „relativ bibelfest“, meint Eva Reiser. „Nicht weil man so viel in die Kirche geht, sondern weil man Passion spielt.“ In einer Dokumentation zu den Spielen 1950 hieß es: „Diese Kinder […] kennen die Bibel wohl besser als alle anderen Kinder auf der Welt. Für sie sind die Apostel lebende Menschen. Väter, Onkel, Nachbarn und Freunde.“23 Dass die alten Geschichten aber kritisch hinterfragt werden, ist eine eher neue Entwicklung. Die Passion bedingt also zum einen eine Beschäftigung mit dem eigenen Glauben (oder dem der anderen), gleichzeitig hebt sie ihn von einer theoretischen auf eine ganz praktische Ebene. Als Peter Stückl zum Beispiel 1990 als Judas besetzt wurde, freute sich seine Frau Roswitha ganz pragmatisch: „Der hängt sich um halb vier auf, danach kann er zum Kaffeetrinken nach Hause kommen.“24 Bei über hundert Vorstellungen von Mai bis Oktober durchaus ein Argument. Die Verbindung des Heiligen mit dem Profanen ist in Oberammergau unauflösbar, weil alle Passion und Leben irgendwie zusammenbringen müssen, weil das Spiel für die allermeisten parallel zum Brotberuf, in ihrer Freizeit stattfindet. 53


Passionsspiele im 21. Jahrhundert?

Die Frage, ob Passionsspiele im 21. Jahrhundert noch eine Berechtigung haben, erübrigt sich, wenn man sie als Auseinandersetzung mit unserer Gesellschaft versteht. Schließlich sorgen Fragen von Glauben oder Nichtglauben, von der Rolle der Religion in einer säkularisierten Gesellschaft, aber auch von der Toleranz gegenüber anderen Glaubensgemeinschaften bis heute weltweit für Konflikte und sogar Kriege. Im Sommer 2021 übernahmen die Taliban die Macht in Afghanistan, Menschen mussten vor einem neu errichteten religiös-fanatischen Schreckensregime fliehen. Menschen, die andere Vorstellungen von Freiheit und Glauben haben und deswegen um ihr Leben fürchten. Es waren Bilder, die fassungslos machten und traurig. Doch man muss gar nicht Extrembeispiele heranziehen, um zu sehen, dass auch in einem Land der Religionsfreiheit noch einiges an Konfliktpotenzial schlummert. Man denke nur an die Kruzifix-Debatte in Bayern oder die vehement geführten Diskussionen um das Tragen – oder eben das Verbieten – von Kopftüchern. Und auch ganz ohne religiösen Ballast lassen sich in der Geschichte eines Mannes, der Althergebrachtes neu denkt und hinterfragt, zeitlose Mechanismen von Macht und Ohnmacht erkennen, der Kampf gegen das Establishment. Der Stoff, der seit der ersten Aufführung immer der gleiche ist, kann auch losgelöst von der Religion als menschliches Drama gelesen werden. Verhandelt werden die letzten Tage im Leben Jesu. Einzug in Jerusalem, Abendmahl, Kreuzigung, Auferstehung. Sehr ereignisreiche Tage, in denen verschiedene Sichtweisen aufeinanderprallen und lange Angestautes kulminiert. Der Aufbau ähnelt einem klassischen Drama mit einer Steigerung der Spannung bis zum Höhepunkt, der Kreuzigung, und schließlich 54


der versöhnlichen Auflösung des Konflikts, der Auferstehung. Im Zentrum stehen allgemeine menschliche Gefühle und Erfahrungen: Sehnsucht und Leidenschaft, Vertrauen und Verrat, Masse und Vereinzelung, Wahrheit und Verleumdung. Mechanismen zwischen Mehrheiten und Minderheiten, die nichts an Aktualität verloren haben. „Mit C. G. Jungs Archetypenlehre lässt sich die Einsicht verständlich machen: ‚Tua res agitur – Du selbst bist es, der hier verhandelt wird‘“, so Josef Georg Ziegler. „Der berechnende Opportunismus nimmt in Judas Iskariot Gestalt an, die dankbare Liebe in Maria Magdalena, die furchtlose Hilfsbereitschaft in Veronika und in Simon von Cyrene, die erbärmliche Feigheit in Pilatus, die Trennung des Kindes von der Mutter in Maria, die leichte Beeinflussbarkeit der Menge in der Empörungsszene [‚Die Verurteilung durch Pilatus‘]. An die Undank-

Christian Stückl diskutiert in Israel mit seinem Ensemble die Relevanz religiöser Fragen für unser aller Leben.

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barkeit erinnert die Kreuzigung, an die Gewissheit, dass das Gute siegt, die Auferstehung, an die Hoffnung als der unerlässlichen Grundhaltung des Lebens die Schlussszene.“25 Vielleicht liegt der Erfolg der Passion also auch darin begründet, dass sie jenseits jeder Religion als Menschheitsparabel lesbar ist. Die Geschichte der Passionsspiele in Oberammergau ist jedenfalls ein jahrhundertelanges sehr praktisches Ringen mit der Religion, ihrer Bildsprache und ihrer Auslegung. Wo die religiöse Kunst sonst ihre Hoch-Zeit lange hinter sich hat, macht man sich in Oberammergau alle zehn Jahre aufs Neue ein Bild von Jesus, von Maria, Judas, des letzten Abendmahls, der Kreuzigung und der Auferstehung. Hinzu kommen die „Lebenden Bilder“, die biblische Szenen als Standbilder illustrieren. Die Frage „Was glaubst du?“ ist in diesem Ort immer direkt verknüpft mit der Frage „Wie lässt sich das darstellen?“.

Ein bisschen Glaube, ein bisschen Aberglaube?

Ohne Frage sind die Passionsspiele aber bis heute oder erst recht heute auch ein Beispiel gelebten Christentums. „[Man] kann nur staunen, wieviele Talente in dieser Gemeinde leben. Staunen auch über das selbstlose Engagement“, schrieb der Theaterkritiker C. Bernd Sucher zur Passion 2000. „Nicht zuletzt über die Beständigkeit, mit der die Oberammergauer ihr Spiel lebendig erhalten haben. Nicht allein als Theaterereignis wie viele andere, sondern als einen Glaubensbeweis. Darum verbeugen sich die Mitwirkenden auch nicht, um beklatscht, bejubelt zu werden von den Zuschauern. Ihnen gilt dieses Spiel […] nach wie vor als ein Akt des Bekenntnisses.“26 Hier finden sich Menschen zusammen, um etwas zu tun, das nur gemeinsam möglich ist, im Zusammen56


halt. Eine oder einer allein kann keine Passion spielen, dazu muss man sich zusammenraufen. Auch mit denen, die anderer Meinung oder anderen Glaubens sind. „Das ist ein großes Ereignis, wo das Dorf zusammenrückt und wir mal nicht streiten, sondern zusammenhalten“, sagt Ulrike Bubenzer. „Man lernt Leute aus dem Dorf kennen, die man noch nicht kennt, weil Oberammergau so klein nicht ist. Passion ist etwas, was uns ein Gefühl von Zugehörigkeit gibt. So identifizieren wir uns mit dem Dorf über das normale Maß hinaus.“ Über die Jahrhunderte haben sich eine Menge Rituale rund um die Spiele entwickelt, immer gleiche Abläufe, die die Lebenszeit strukturieren und Sicherheit geben: die Erneuerung des Gelübdes, die per Hand auf die Tafel geschriebenen Spielernamen, das Wachsenlassen der Haare, die Gebete vor den Vorstellungen oder das Zusammenkommen aller Beteiligten auf der Bühne nach der letzten Vorstellung. Diese Momente halten das Dorf trotz aller regelmäßig aufkeimenden Streitereien zusammen, geben Halt in einer sich schnell verändernden Welt. Das Theaterspiel wird zu einem Ritual, der Glaube an das gemeinsame Hervorbringen von etwas Großem steht mindestens gleichberechtigt neben dem an die religiöse Aufgabe. Christian Stückl jedenfalls ist überzeugt: „Viele können mit religiösen Sachen durchaus was anfangen, aber die Hauptmotivation für die Passion ist inzwischen das Theaterspielen.“ Monika Lang glaubt ebenfalls, dass die Lust am Spielen über die Jahrhunderte „irgendwie in den Genen angekommen ist“, das religiöse Bewusstsein sieht sie in den meisten Fällen gar nicht mehr. „Wenn man einen mitreißenden Menschen hat wie den Christian Stückl, der nicht mit althergebrachten Bibelsprüchen daherkommt, sondern wirklich versucht, die Geschichte in die heutige Zeit zu versetzen, das zu erklären und auch politisch 57


zu bewerten, ist das eine ganz neue Motivation. Er erzählt die Geschichte als eine alltägliche, die mit uns und unserem Leben etwas zu tun hat. Da entsteht plötzlich ein persönlicher Bezug.“ Natürlich aber möchte jeder auch gerne ein bisschen was Besonderes sein, denkt sie. So ehrlich müsse man schon sein. Hinzu kommt ein Verantwortungsgefühl für die gemeinsame Tradition: „Keine Generation will die sein, die nach dieser langen Zeit einfach damit aufhört“, sagt Frederik Mayet. Die zehnjährliche Erneuerung des Gelübdes verleiht den Spielen zudem einen höheren Sinn. Sie werden gewissermaßen zur kollektiven rituellen Reinigung und Läuterung. Und wer weiß schon, ob nicht bis heute auch ein wenig Aberglaube dabei ist? Die leise Furcht – oder zumindest ein leichtes Unbehagen beim Gedanken daran, ein Gelübde nicht zu erneuern, das den Ort durch die Jahrhunderte getragen hat?

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MITSPIELEN = DAZUGEHÖREN. VON AUSGRENZUNG UND INTEGRATION

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berammergau hat gut 5000 Einwohner. Ungefähr die Hälfte von ihnen ist an den Spielen beteiligt: in Sprechrollen, im Volk, im Chor, im Orchester, hinter der Bühne. Mindestens jeder zweite im Ort arbeitet also mit, organisiert sich jedes zehnte Jahr sein Leben so, dass genug Zeit fürs Theater bleibt. Dass es nicht noch mehr sind, liegt nicht an mangelnder Motivation. Ich bin ein Gast in Oberammergau, unter den Männern und Frauen des Ortes. Sie empfangen mich herzlich, beantworten mir meine Fragen offen, erzählen mir ihre Passionen und ihre Leben. Und doch ist hier klarer als anderswo, dass ich außen vor bleibe. Würde ich heute nach Oberammergau ziehen, dürfte ich erst bei den Passionsspielen 2050 mitspielen. Denn ein strenges Spielrecht regelt, wer mitmachen darf – und wer nicht. Nun bin ich tatsächlich nur als Gast hier und hege keine derartigen Ambitionen. Allein: Denen, die hierherziehen, um hier zu leben, geht es nicht anders. Sie bleiben eine sehr lange Zeit außen vor. Woher also kommt die strenge Regelung? Braucht es sie? Und wie genau sind die Regeln?

Das Spielrecht

Wie die Gesellschaft rund um die Spiele hat sich auch das Spielrecht im Laufe der Zeit verändert. Es zeugt von Ausgrenzung, aber auch von einer allmählichen Integration. Andersgläubige, Ungläubige, Zugezogene, Fremde, Flüchtlinge – wenn neue Be59


völkerungsgruppen in den Mikrokosmos Oberammergau kamen und die Gesellschaft bunter wurde, war die Reaktion nicht selten, diese neu Hinzugekommenen reflexartig auszuschließen. Die Mechanismen, das Eigene vermeintlich zu schützen, indem man das Andere fernhält, finden sich in Oberammergau wie im Rest der Welt. Die Geschichte der Passionsspiele Oberammergau ist über die Jahrhunderte auch eine der gezielten Diskriminierung. Das Mitspielen-Dürfen war und ist ein Gradmesser der Zugehörigkeit zur Gemeinde: Wer das Spielrecht hat, ist angekommen. Bis ins 19. Jahrhundert regelte sich das von selbst: Von der gut tausend Menschen zählenden Dorfgemeinschaft spielten sechshundert bis siebenhundert mit, „also alle, die konnten und wollten“, so Spielleiter Christian Stückl. Dass alle katholisch waren, war zu dieser Zeit im Grunde eh selbstverständlich. Dass ein besonderes Augenmerk auf der Darstellerin der Maria lag, auch. Es gibt nur wenige Frauenrollen im Stück, die wichtigste ist ohne Frage die Maria. Sich für diese Rolle zu qualifizieren, war immer schon schwer. Jung sollte die Darstellerin sein und unverheiratet. Was damals natürlich nichts anderes hieß als: möglichst jungfräulich. Einigermaßen spielen sollte sie auch können. Da war es oft gar nicht einfach, eine passende Kandidatin zu finden. „Im Falle der Darstellerinnen, die nicht verheiratet, ja nicht einmal verlobt sein dürfen, wird der Leumund vom vierundzwanzigköpfigen Wahlkomitee inklusive Honoratioren sorgfältig erörtert“, schrieb Richard Burton 1880. „Der kleinste Verstoß verwehrt einen Bühnenauftritt, und die Aberkennung einer Rolle gilt gewissermaßen als Schande. Folglich wurde so manch hübsche Blondine abgelehnt, und daher zeichnet sich diese Sparte weder durch besondere Schönheit noch üppiges Talent aus.“27

Aus Mangel an geeigneten Darstellerinnen wurde die Moral dann aber doch hie und da über den Haufen geworfen. Christian 60


Stückl zitierte mir gegenüber aus dem Stegreif einen Text über die Besetzung 1880, der andeutet, dass Jungfräulichkeit allein auch damals nicht das Kriterium war: „Ganz besonders schwierig ist die Wahl der Frauenspersonen, sie sollten hübsch, ledig und womöglich talentiert sein. Dieses Mal ist es gelungen, eine hübsche talentierte Schauspielerin zu finden. Das Passionsspielkomitee wählte eine Maria, die der lebendige Beweis dafür ist, dass Tugend allein in der Kunst wenig vermag.“ Ab 1900 wuchs das Dorf mit der Industrialisierung sprunghaft an. Um die Bindung der Spiele an den Ort zu bewahren, führte man auf Vorschlag des damaligen Pfarrers eine Fünf-Jahres-Regelung ein: Nur wer so lange in Oberammergau lebte, durfte mitspielen. Oder umgekehrt: Die neu Zugezogenen durften es eben nicht. Das Spiel sollte in den Händen der Alteingesessenen bleiben, möglichst ohne Einmischung von außen. Auch sollte verhindert werden, dass Leute nur in den Ort ziehen, um mitspielen zu dürfen. Das Interesse war scheinbar damals schon so groß, dass man es für möglich hielt, Passionsspiel-Nomaden anzulocken. Nach dem Ersten Weltkrieg wurde das Alter der Frauen offiziell auf maximal 35 Jahre begrenzt, weil es in Folge des Kriegs viel mehr Frauen als Männer gab. Diese Ausgrenzung der Frauen hielt sich über Jahrzehnte, als es schon lange keinen „FrauenÜberhang“ mehr gab. Und auch sonst hatten Frauen nichts zu melden. Noch in den 1970er Jahren war der Gemeinderat rein männlich, genau wie das Passionsspielkomitee, das über Spielrecht, Besetzung, Textfassung und alle wichtigen Fragen rund um die Passion entschied. Dieses Komitee bestand aus dem Gemeinderat und sechs weiteren spielberechtigten Männern, die extra gewählt wurden. Von den spielberechtigten Männern. Also: Wer ohnehin dabei war, hatte das Sagen. „Frauen durften weder wäh61


len noch gewählt werden“, so Monika Lang. Die Komitee-Wahl war eine große Sache im Ort, sie wurde durchgeführt wie eine Gemeindewahl: mit Wahlberechtigung, Stimmzetteln und allem Drum und Dran. Nur dass im Gegensatz zu einer normalen Wahl eben nicht alle Wahlberechtigten zugelassen waren.

Männerdomäne Passionsspiele

Die Passionsspiele waren lange eine reine Männerdomäne. Wenn ich als Frau auf diese Spiele schaue, sehe ich: Männer. Männer, die spielen. Und Männer, die entscheiden. Heute sind das Männer, die das nicht als selbstverständlich nehmen, die das reflektieren und durchaus offen sind für potenzielle Nachfolgerinnen. Früher war das anders. Die Emanzipation der Frau musste in Oberammergau letztendlich per Gerichtsurteil durchgesetzt werden. Bis zum Ende des 20. Jahrhunderts hatten die Frauen keinerlei Mitsprache- und nur ein eingeschränktes Spielrecht. 1960 zeigte sich beim Einzug in Jerusalem auf der Bühne ein sehr spezielles Volk: Auf historischen Filmaufnahmen sind Männer in allen Altersklassen zu sehen, von Heranwachsenden bis zu Greisen mit weißen Bärten, flankiert von durchweg jungen Frauen und Mädchen. Für alle anderen Frauen gab es schlicht nur eine Rolle: die der Gastgeberinnen für die Touristen. Während die Männer im Theater probten, besuchten die Frauen Hausfrauenabende zum Thema „Was koch ich für meine Passionsspielgäste?“. Die Einladungen hingen gut sichtbar überall im Dorf und ließen keinen Zweifel, was von den Frauen erwartet wurde – die Versorgung der rund 300 000 Gäste, die zu den Spielen kommen würden. Daheimbleiben, Betten machen, Schweine braten und Knödel rollen. Die Frauen sollten 62


den theaterspielenden Männern den Rücken freihalten und für Umsatz in den Gaststätten und Hotels sorgen. Die mitspielenden Kinder konnten nicht mit ihren Müttern ins Theater gehen, die Väter sahen sich auch nicht unbedingt in der Pflicht, hinter der Bühne Windeln zu wechseln. Also waren es eben immer mal wieder ledige Freundinnen der Familie, die sich der quasi elternlosen Kinder annahmen: Monika Lang beispielsweise wurde 1950 im Alter von zwei Jahren immer von einer Nachbarin mit ins Theater genommen. In der Rosner-Probe 1977 bekam Monika Lang dann eine der wenigen Frauenrollen: die Sünde, eine Schlange. Sie teilte sich als einzige Frau eine Garderobe mit den Männern, die die anderen allegorischen Figuren spielten. Darunter war auch der damalige SPD-Vorsitzende Xaver Seemüller, der im CSU-treuen Bayern ausgerechnet den Luzifer spielte. Und der Monika Lang fragte, warum sie sich das alles gefallen lasse. Dass sie nicht mal das Komitee wählen dürfe, dass die Frauen insgesamt nichts zu melden haben. Im Folgejahr reichten Lang und Seemüller gemeinsam Popularklage vor dem Bayerischen Verfassungsgerichtshof ein: für ein Frauen-Wahlrecht bei der Komiteewahl. Sie wurde abgeschmettert mit der Begründung, es fehle an einer existenten Rechtsnorm, außerdem sei das Passionsspiel „ureigenste Oberammergauer Tradition“. Und damit anscheinend irgendwie befreit von jeglicher Bemühung um Gleichberechtigung. Dass diese „ureigenste Tradition“ nur eine direkte und pragmatische Folge des Ersten Weltkriegs war, das Gelübde von 1633 aber keinen Unterschied machte zwischen Männern und Frauen? Das schien niemanden zu interessieren.

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Die Prozesse

Zum Jubiläumsspiel 1984 wurden dennoch alle mitwirkungsberechtigten Frauen, also alle Unverheirateten unter 35 Jahren, wahlberechtigt. Ein paar kandidierten sogar für das Komitee, wurden aber nicht gewählt. „Das war natürlich Wasser auf die Mühlen unserer Gegner“, erinnert sich Lang. Trotzdem waren alle sicher, dass sich die Frauenfrage bis zu den nächsten Spielen ohnehin erledigt hätte. Dem war nicht so: 1988 kam der Beschluss für die Passion 1990 – und alles war wie gehabt. Eine Ausnahme gab es jedoch. Christian Stückl hatte eine Klausel im Spielrecht gefunden, die hieß: Verheiratete Frauen „können herangezogen werden, wenn es die Qualität des Spiels hebt“. Dieser Passus war bis dato nur für Sängerinnen und Musikerinnen angewendet worden, nicht für Schauspielerinnen. Stückl aber wollte Elisabeth Petri als Maria, eine verheiratete Mutter von zwei Söhnen. „Weil jeder im Dorf wusste, dass sie eine extrem gute Schauspielerin ist, stimmte der Gemeinderat der Ausnahmeregelung zu“, so Stückl. „Und so hat 1990 das erste Mal bewusst eine verheiratete Frau die Maria gespielt.“ Für alle anderen galt nach wie vor: nur unverheiratete Frauen unter 35. Gemeinsam mit Hella Wolf-Lang und Anneliese Zunterer-Norz klagte Lang also erneut. „Wir sind alle geborene Oberammergauerinnen aus alteingesessenen Familien“, schmunzelt Monika Lang, „uns konnte man also nicht vorwerfen, eh nichts zu sagen zu haben. Wir haben uns einen jungen Anwalt genommen und vor dem Verwaltungsgericht geklagt. Als Streitwert wurde unser eventuelles Honorar angesetzt.“ Sie machten Informationsveranstaltungen im Ort, sammelten Geld für den Prozess. Oder vielmehr: für die Prozesse.

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Monika Lang und ihre Mitstreiterinnen nach der Urteilsverkündung 1990 vor dem Bayerischen Verwaltungsgerichtshof in München.

Denn es ging von einer Instanz zur nächsten. Bis zum Bayerischen Verwaltungsgerichtshof in München. Monika Lang hat mir die dicken Ordner mit all den Gerichtsakten gezeigt. Der Anwalt der Gemeinde argumentierte, dass die Lebenserwartung der Frauen damals geringer war. Ein Punkt, der bei den Männern natürlich ebenso zutraf, aber niemanden interessierte. Auch führte er an, dass es auf den Straßen Jerusalems keine Frauen gegeben habe. Für sie galt „als Grenze die Schwelle des Hauses, die sie ohne Gefährdung ihres Rufs nur ausnahmsweise überschreiten konnten“. Zudem sei die Bühne ohnehin „überbevölkert“, zusätzliche Frauen würden die Sicht auf die Kreuzigung behindern. Mit einem Livius-Zitat brachte er seine Sicht dann auf den Punkt: „Jetzt wird unsere Entscheidungsfreiheit, um die es auch zu Hause durch die Herrschsucht der Frauen geschehen ist, auch hier auf dem Forum zermalmt und mit Füßen getreten.“ Die Emanzipation der Frau: eine Horrorvision im Alten Rom – und in Oberammergau 1990. Frauenfeindliche Aussagen der Vergangenheit 65


wurden als Rechtfertigung für die Ungleichbehandlung im Hier und Jetzt herangezogen und als „maßgebliche historische und religiöse Vorgaben“ gelesen. Am 22. Februar 1990 wurde das Urteil verkündet: Der Ausschluss der Frauen von der Wahl des Passionsspielkomitees und der Spiele ist rechtswidrig. Es wurde festgelegt, dass nach Artikel 3 des Grundgesetzes alle gleichberechtigt behandelt werden müssen. Also niemand benachteiligt werden darf. Tausend Oberammergauer Frauen, die somit mitwirkungsberechtigt geworden waren, wurden kurzfristig angeschrieben. Vierhundert zusätzliche Kostüme wurden genäht, die zusätzlichen Frauen in eine Volksszene integriert. Christian Stückls Vorgänger hatte vor Gericht noch eine eidesstattliche Erklärung abgegeben, dass es gar nicht möglich sei, so viele Frauen auf der Bühne unterzubringen. Stückl hatte mit einer Erklärung dagegengehalten. Also „wollte und musste“ er das nun umsetzen. Natürlich waren nicht alle begeistert von der neuen Regelung, viele machten keinen Hehl daraus, was sie davon hielten. „Es war ein Spießrutenlauf“, so Lang. Nach diesem Urteil für die Gleichberechtigung konnte natürlich auch niemand mehr aufgrund seiner Konfession ausgeschlossen werden. „Das Urteil schließt nicht nur Frauen ein, sondern die Religionszugehörigkeit, die sexuelle Orientierung, Herkunft und so weiter“, so Lang. Also gab es 1990 noch eine zweite Neuerung: Erstmals sprach ein Protestant den Prolog, bis dahin hatte ein Evangelischer nie eine Hauptrolle bekommen. Das verursachte einen weiteren Aufschrei in der Gemeinde. Inzwischen ist das Murren leiser geworden; Katholiken, Protestanten, Muslime und Konfessionslose spielen recht friedlich zusammen. „Was die katholische Kirche besonders ärgert“, grinst Stückl. „Bis dato war das eine sichere Bank: In Oberammergau tritt niemand aus der Kirche aus, weil er dann nicht mehr mit66


spielen darf.“ Die Öffnung der Spiele ist bis heute nicht jedermanns Sache, auch wenn sie der Qualität dient. Und die zählt für den Theatermann Stückl mehr als die biografischen Hintergründe seines Ensembles.

Zwanzig Jahre

So gibt es heute nur noch ein verbleibendes Kriterium: die sogenannte „Zwanzig-Jahres-Regel“. Nur wer zwanzig Jahre im Dorf wohnt, hat das Spielrecht. Wer in den Ort hinein heiratet, muss nur zehn Jahre warten. Dass aus den 1900 beschlossenen fünf Jahren im Laufe der Zeit zwanzig Jahre wurden, hatte nur den einen Grund, (Orts-)Fremde von den Spielen fernzuhalten. Aufgrund der Flüchtlinge aus den Ostgebieten wuchs das Dorf nach dem Zweiten Weltkrieg von 3500 Einwohnern auf über 5000 an. 1950 erhöhte man die Regel deshalb auf zehn Jahre. 1960 aber hätten auch die Nachkriegs-Flüchtlinge diese Regel erfüllt. Man einigte sich also schnell auf zwanzig Jahre, um sie noch einmal vom Spiel fernzuhalten. Stückl findet das „extrem lang“: „Man kann Integration doch nicht an der Zeit festmachen, die man hier ist“, denkt er. „Da kommt man als Junger her und darf als Alter mitspielen.“ Wer Pech hat und kurz nach einem Zehnerjahr in den Ort zieht, muss sogar bis zu 29 Jahre auf seinen ersten Auftritt warten. 2020 wollte Stückl die Regel darum abschaffen oder zumindest auf fünfzehn Jahre runtersetzen. Das ist (noch) nicht gelungen. Und dass irgendeine Beschränkung notwendig ist, daran zweifelt auch Stückl selbst nicht. Denn wer das Spielrecht hat und will, den muss der Spielleiter auf der Bühne unterbringen: Recht ist Recht. „Und es wollen viele. Es werden immer mehr“, so Stückl. Die 67


Qualität des Spielrechts ist, dass niemand, der die formalen Bedingungen erfüllt, ausgegrenzt werden kann. Insofern ist es dann doch wieder eine demokratische Angelegenheit: Sozialer Status, Einkommen, Geschlecht, Religionszugehörigkeit oder Herkunft spielen keine Rolle mehr. Inzwischen besteht das Ensemble ungefähr zur Hälfte aus Frauen. 2010 hat Stückl zwei weibliche Sprechrollen dazuerfunden: die Frau von Pilatus und die Ehebrecherin, die gesteinigt werden soll. Dennoch sind die Frauen in dieser männerlastigen Handlung extrem in der Minderheit. Und natürlich kämen die Spiele mit viel weniger Frauen aus, aber auch mit weniger Männern. Überall anders gäbe es ein Casting. In Oberammergau nicht. Hier darf der Spielleiter die Rollen aus dem Pool an Spielberechtigten besetzen. Ganz ablehnen aber darf er niemanden. Auch wenn das eine Herausforderung ist: Stückl sieht es als „Qualität“. Dass das Spielrecht über die Jahrzehnte angepasst worden ist, heißt nicht, dass der Ort sich aller Vorurteile entledigt hat. „Dass Abdullah Kenan Karaca heute als Sohn türkischer Eltern zweiter Spielleiter ist, da gibt es noch immer Vorbehalte“, erzählt Monika Lang. Doch was wäre geblieben von diesem Spiel, wenn es sich nicht alle zehn Jahre einer sich verändernden Welt anpassen würde? Ein Passionsspiel, in dem nur katholische Männer und Frauen (unter 35 Jahren) aus Oberammergau einen antisemitisch geprägten Text nachspielen – ob dieses Szenario im 21. Jahrhundert das Zeug zum weltweit bewunderten Theaterspiel hätte? Ob es in Oberammergau selbst noch für Euphorie sorgen würde, wenn über die Hälfte der weiblichen Bevölkerung aufgrund ihres Alters von den Spielen ausgeschlossen wäre? Und ein großer Teil der Bevölkerung aufgrund seines Glaubens oder eben Nicht-Glaubens? Es darf zumindest bezweifelt werden. Ohne die Reformen 68


hätte sich wohl der Eindruck, den Lion Feuchtwanger bei seinem Besuch 1910 gewonnen hatte, gefestigt: „Da nur Eingeborene an den Passionsspielen teilnehmen dürfen“, schrieb er in „Ein Buch nur für meine Freunde“, „herrscht eine traurige Inzucht, die sich für den Intellekt nicht eben förderlich erwiesen hat.“28

Nachwuchsförderung

Der Run auf die Spiele war nicht immer so groß wie heute. Zwischendurch gab es tatsächlich Probleme, die großen Rollen zu besetzen. Zu lange hatten immer die Gleichen die Hauptrollen gespielt. Als sie zu alt waren, fehlte es an Nachwuchs. Als nach der Rosner-Probe 1977 erneut alle Reformbestrebungen abgeschmettert wurden, waren die Jungen wenig motiviert, sich an den angestaubten Spielen zu beteiligen. Es ist eine Generationenlücke entstanden, die bis heute spürbar ist. In der Altersgruppe zwischen fünfzig und siebzig Jahren gibt es deutlich weniger Mitwirkende. Ein Resultat der Passionen zwischen 1970 und 1984, in denen kaum Wert auf die Bildung von Nachwuchs gelegt wurde, meint Stückl: „Wir haben die ganz Alten und die Jungen.“ Erst seit Christian Stückl seit 1990 permanent am Reformieren ist, hat sich das geändert. Die Besetzung für die Passion 2022 ist die jüngste in der Geschichte. Monika Lang findet das gut: „Es ist doch ganz wichtig, dass sich etwas verändert. Wenn wir die Jugend nicht mit einbeziehen auf der Bühne und im Publikum, geht das Spiel nicht weiter.“ Christian Stückl bemüht sich intensiv darum, möglichst viele Kinder einzubinden. Denn: Alle im Ort gemeldeten Kinder dürfen mitmachen. Egal wie lange sie schon hier sind. Für sie gilt ein gesondertes Recht: Alle, die am Premierentag unter 18 Jahre alt sind, dürfen mitspielen. „Die El69


tern, die selbst mitmachen oder schon länger hier sind, wissen natürlich, was es damit auf sich hat, und melden ihr Kind an“, hat mir Regieassistent Kilian Clauß erzählt. „Natürlich gibt es Eltern, die den Anmelde-Brief sehen und nicht genau wissen, was das bedeutet. Die kriegen dann aber schnell über die Kinder mit, was da los ist, weil die ja in der Schule darüber reden.“ Wo also könnte noch Informationsbedarf herrschen, haben sich Stückl und Clauß gefragt. Und sind auf das Kinderheim und die Flüchtlingsunterkunft gekommen. Im Kinderheim waren aber alle schon super vorbereitet, als Clauß vorbeikam, um Fragen zu beantworten. Mit den Kindern aus der Flüchtlingsunterkunft hat er im Herbst 2019 einen Ausflug ins Passionstheater gemacht, ihnen den Garderobenkomplex und die Bühne gezeigt. Er hat ihnen erklärt, was Lebende Bilder sind und was es mit dem Lamm am Pessachfest auf sich hat. „Mit Sicherheit war der eine oder die andere dabei, für den diese Thematik neu war“, denkt Clauß. „Aber darauf kommt es bei den Kindern auch gar nicht an. Die machen mit und haben Spaß dran, auch wenn sie bis zu einem gewissen Alter noch gar nicht genau verstehen, um was es da geht.“ Es ist halt eine noch mal ganz andere, größere Art der Gemeinschaft als in der Schulklasse oder einem Verein. „Das ist einfach integrativ“, so Clauß. „Drum ist es dem Christian Stückl sehr wichtig, dass alle mitmachen können, die wollen. Es wäre ja furchtbar schade, wenn die es verpassen würden mangels Informationen.“ Viel Überzeugungsarbeit musste er eh nicht leisten. Fünfzehn Kinder von Geflüchteten wurden 2020 von ihren Eltern angemeldet. Und: Wer als Kind mitgespielt hat, behält das Spielrecht auch als Erwachsener. So geht Integration à la Christian Stückl. Er macht sich damit nicht nur Freunde im Ort. Ein „richtiger Traditionalist“, wie Stückl ihn nennt, schrieb ihm 2020 einen Brief: Er wolle eine Aussage, ob „Flüchtlinge“ mitspielen 70


oder nicht. Stückls Antwort dürfte ihm nicht gefallen haben: „Sie werden behandelt wie alle anderen auch.“ Das Mitspielen-Dürfen ist in Oberammergau ein Zeichen der Zugehörigkeit, des Angekommenseins. Dass zumindest die Minderjährigen, die neu in den Ort kommen, in die Spiele integriert werden können, ist ein schönes Zeichen. Schließlich sind die Vorbereitungen und die Proben ein Gemeinschaftserlebnis, ein kollektiver Prozess, in dem sich der Ort allmählich in einen Theaterort verwandelt. Unter denen, die das Spielrecht haben, ist es beinahe eine Frage der Ehre, mitzumachen. Nicht wenige schleppen sich noch auf diese Bühne, wenn sie dafür Krücken brauchen. Wer nicht mitspielt, muss sich schon mal dafür rechtfertigen. Doch das ist ja ohnehin die Ausnahme.

Christian Stückl setzt auf den Nachwuchs: Weil alle Kinder in Oberammergau mitspielen dürfen, will er möglichst viele einbinden.

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WAS LANGE GÄRT. ANTISEMITISMUS UND BEHARREN AUF TRADITIONEN

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ie Streitereien, die ausbrachen, als Christian Stückl 1990 begann, die Spiele zu reformieren, waren nicht aus dem Nichts gekommen. Über Jahrzehnte hatten die Konflikte gegärt, bevor sie schließlich offen ausgetragen wurden. Es ging um das Festhalten am Bestehenden versus Veränderung, das Konservieren einer etablierten Inszenierung versus Neuerfindung der Tradition. Denn wo der Regisseur Stückl die Passion wie einen klassischen Theatertext behandelt, scheint es vorher vor allem darum gegangen zu sein, das einmal Entstandene zu bewahren. Über die Inszenierungspraxis der ersten Jahrhunderte ist nicht viel bekannt, auf das man sich beziehen könnte. Der größte Einschnitt fand 1860 statt, als eine neue Textfassung des Pfarrers Joseph Alois Daisenberger eingeführt wurde. Diese setzte auf Idealisierung und Psychologisierung und arbeitete die Dramatik der Ereignisse heraus. „Seine dramatische Konzeption [beruht] auf den Kontrasten […] zwischen Jesus und seinen Anhängern auf der einen Seite und den bösartigen jüdischen Gegnern auf der anderen Seite.“29 Um die Konflikte zuzuspitzen, wurden die jüdischen Händler im Tempel zu negativen Handlungstreibern, einiges wurde recht frei zur Vorlage dazugedichtet. Im Sinne der Dramatik, aber auch im Sinne einer antijüdischen Stimmungsmache. Über die folgenden Jahrzehnte erlangte dieser Text einen Status des Unantastbaren, als wäre er selbst das Evangelium. Der textimmanente Antijudaismus wurde als solcher kaum noch wahrgenommen, geschweige denn kritisch hinterfragt.

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Kritik und Spott

Dass die Darstellung immer wieder zu Kritik und Spott von außen führte, scheint die Oberammergauer wenig gestört zu haben. Seit dem Einsetzen des Tourismus Ende des 19. Jahrhunderts hielten viele Gäste ihre Erlebnisse schriftlich fest. Beim Lesen dieser Berichte bleibt ein Eindruck zurück: Um die künstlerische Qualität war es – vorsichtig formuliert – nicht immer gut bestellt. „Drei Hauptmängel besitzt das Schauspiel – Blutleere, zu wenig Realismus und falsche historische Details“, schrieb beispielsweise Richard Burton 1880. „In dieser rosenwassergetränkten Angelegenheit fehlt uns die derbe, reizbare Energie, die von einem Bergbewohnerensemble zu erwarten wäre und die als Kontrast zur zivilisierten Welt dem Stück so viel Kraft verliehe. Die völlige Abwesenheit von Lokalkolorit und chronologischer Treue […] empört den Reisenden.“ Zugeständnisse an das professionelle und kritische Publikum würden nicht gemacht: „Dies ist nicht der Menschenschlag, der Ratschläge beherzigt.“30 Es sei dahingestellt, ob tatsächlich „Lokalkolorit“ die Zutat gewesen wäre, die Spiele lebendiger zu gestalten und die Qualität zu heben – was genau Burton sich darunter vorstellt, führt er auch nicht weiter aus, ein Jesus in Lederhose wird wohl kaum gemeint sein. Tatsächlich ist er aber nicht der Einzige, der überzeugt ist, dass da mehr möglich gewesen wäre. Auch zu Beginn des 20. Jahrhunderts machten sich zahlreiche kritische Besucher über die schauspielerischen Talente der Oberammergauer lustig und kamen zum Schluss, dass von dem einstigen Glaubensspiel nur Kommerz geblieben sei: „Die Ammergauer trifft keinerlei Vorwurf“, schrieb zum Beispiel Theodor Lessing 1910. „Wenn wirklich in Paris und London Leute wohnen, die mit Vergnügen Hunderte von Mark dafür zahlen, 73


Heute werden für jede Passion neue Kostüme entworfen und genäht. Früher war das undenkbar.

dass sie in einem leidlich reizvollen Gebirgsdorf einen jämmerlich verhunzten Text von mittelmäßigen und keineswegs naiven Spielern stümperhaft schlecht deklamiert, geleiert und dargestellt bekommen – nun, die ehemaligen Holzschnitzer wären Narren, wenn sie solches Geschäft sich entgehen ließen.“31 PassionsspielBashing war ein weit verbreitetes Phänomen, positive Stimmen aus dieser Zeit habe ich kaum gefunden. So lobte Ludwig Ganghofer, der die Spiele 1900 besuchte, in einem Brief an Hugo von Hofmannsthal zwar die Dramatik des Spiels „dieser HochlandBauern“: „Und wie unter freiem Himmel die Natur hier mitspielt! Bei der Vorstellung, die wir hier sahen, ging während der Kreuzigungsszene ein Gewitter mit Blitz und Donner über Theater und Bühne nieder.“ Auch sieht er durchaus einen „künstlerischen 74


Fortschritt“ im Vergleich zu den Spielen 1880 und 1890. Trotzdem kann er nicht umhin festzustellen: „Freilich, wenn die Leute den Mund aufmachen, ist die Enttäuschung da.“32

Der Antisemitismus in der Passion

Die Kritik an den Spielen bezog sich nicht nur auf die darstellerischen Qualitäten, sondern zunehmend auch auf die Darstellung der Juden. „In der Historie aller Passionsspiele gab es immer einen latenten Antijudaismus“, hat mir Christian Stückl bei einem Gespräch im Sommer 2019 erzählt. „Die Juden wurden für den Tod Jesu verantwortlich gemacht.“ An die vierhundert Passionsspiele gab es in der Barockzeit in Bayern, sie waren immer auch ein Propagandamittel in einer nicht lesenden Gesellschaft. Daran änderte sich über Jahrhunderte nichts. Und warum auch? Schließlich war diese Sicht komplett auf der Linie der Kirche. „Im Grunde“, erklärte Pater Stephan Schaller 1970, „war der Text früher nicht mehr und nicht weniger antisemitisch, als es die ganze katholische Kirche war.“33 Schließlich war es erst Papst Johannes XXIII., der die Kollektivschuld der Juden am Tod Christi 1959 aus den Texten der Karfreitagsliturgie entfernte. Bis dato waren die „treulosen Juden“ („judaicam perfidiam“) an jedem Osterfest für die Kreuzigung verantwortlich gemacht worden, was nicht selten zu gewaltsamen Ausschreitungen gegenüber den als „Gottesmördern“ beschimpften Juden geführt hatte. Dass die Juden nicht nur für den Tod Christi, sondern auch für die Pest verantwortlich gemacht wurden, dürfte die antijüdische Tendenz der Spiele zusätzlich verfestigt haben. Europaweit wurden die Juden beschuldigt, die Brunnen vergiftet und so die Krankheit über die Menschen gebracht zu haben, was zu schrecklichen Pogromen 75


führte und einen Hass schürte, der bis heute in antisemitischen Verschwörungserzählungen weiterlebt und während der CoronaPandemie erneut entfacht wurde. Die vielleicht problematischste Stelle in der Passion ist das sogenannte „Blutwort“. Im Matthäus-Evangelium ruft „alles Volk“ (und gemeint ist hier natürlich das jüdische Volk) vor Pilatus, als Jesus verurteilt werden soll: „Sein Blut komme über uns und unsere Kinder!“34 An diesem Ausruf wurde festgemacht, dass das jüdische Volk die Verantwortung für das Todesurteil trägt. Im Passionstext war er noch verstärkt worden: „Wir nehmen es auf uns! Sein Blut komme über uns und unsere Kinder!“35 Der jüdische Religionswissenschaftler Pinchas Lapide fragte bei einem Besuch 1990 in Oberammergau: „Warum muss immer die Jesus-Liebe im Neuen Testament und in Oberammergau mit dem Juden-Hass zu einem bibelwidrigen Zweigespann zusammen gejocht werden? Kann man die nicht endlich auseinander kriegen?“36 Doch damals bestanden sowohl Passionsspielkomitee als auch beratende Theologen noch auf dem Satz. Ludwig Mödl, der Christian Stückl seit der Passion 2000 als theologischer Berater zur Seite steht, erzählt, dass es auch später noch heftige Diskussionen um diesen Satz gab: „Mein Argument war dann das entscheidende: Wenn drei Evangelisten ohne das Blutwort auskommen und nur einer es hat, dann können wir es auch weglassen. Das war eine wahnsinnige Befreiung für die jüdischen Gesprächspartner, weil an diesem Satz so viel Verfolgung hängt, dass man es nicht naiv zitieren kann.“ Die Stimmen, die diesen fest in den Spielen zementierten Antijudaismus anprangerten, waren seit Anfang des 20. Jahrhunderts lauter geworden. Einer der ersten war Rabbi Joseph Krauskopf, der die Spiele 1900 besuchte. „Ich hatte das Gefühl, ich müsse aufstehen und den Tausenden, die im Zuschauerraum ver76


sammelt waren, erklären, dass das, was sie da hörten und sahen, soweit es den Juden darstellte oder typisierte, unhistorisch, falsch interpretiert und grausam in seinen Schlussfolgerungen ist“, beschrieb er seine Eindrücke in einem langen Aufsatz. Dass es im Grunde kein kleines Kompliment an die Juden sei, dass ein Stück voll jüdischer Charaktere in einem Sommer eine Viertelmillion Besucher aus aller Welt anziehe. Dass es aber umso schlimmer wäre, wenn dieses Stück die bereits existierenden Vorurteile gegen die Juden bestärke und sogar noch größeren Hass schüre. Krauskopf hatte sich auf die Aufführung gefreut, doch in dem Moment, als sie begann, war es vorbei mit dieser Freude. Er hatte sich eingebildet, als Tourist nach Oberammergau kommen, die Passion wie jedes andere Theaterstück anschauen zu können – aber das war nicht möglich. „Sobald die ersten Zeilen gesprochen wurden, wurde der Tourist zum Kritiker; der Reisende, der Theologe, der Kosmopolit zum Juden.“37 1910 kam wie bereits erwähnt der Schriftsteller Lion Feuchtwanger nach Oberammergau, doch auch er war nicht erfreut über das, was er da sah. Er kritisierte sowohl den Dilettantismus als auch den Antisemitismus der Darstellung. „Da haben die Oberammergauer als die alleinzigen auf der Welt das Privileg, den wundervollen Dramenstoff, den die Evangelien bieten, auf die Bühne zu bringen“, schrieb Feuchtwanger über seinen Besuch. Und was machten sie daraus? Sie „verfälschen“ die Gestalt Christi: „Die Aktion Christi beschränkt sich in Oberammergau darauf, dass er die Wechsler und Verkäufer aus dem Tempel jagt. Diese Szene hat der Oberammergauer Dramaturg mit bewundernswertem Ungeschick zum Ausgangspunkt der jüdischen Feindseligkeiten gemacht. Die Händler sind es, die Volk und Priester gegen Jesum aufschüren, die Händler gewinnen den Judas zum Verrat; dass er die Händler in ihrem Erwerb gehindert, darüber leidet 77


und stirbt Jesus in Oberammergau.“ Dieser Jesus sei kein Wundertäter, sondern ein „höchst uninteressanter Mensch, der sich um Belangloses erregt, unverständliches, unbedeutendes Zeug treibt und sich gehabt wie ein lamentierender Oberlehrer.“ Ob dieser Prosa bekäme man Kopfschmerzen, über den Versen die Seekrankheit.38 1930 gestaltete Spielleiter Johann Georg Lang die Inszenierung und auch die Bühne völlig neu. An die Stelle der opulent bemalten Bühnenaufbauten trat eine schlichte Bühne, die bis einschließlich der Spiele 2010 beibehalten wurde. Auch die Inszenierung blieb im Großen und Ganzen bis 1990 unverändert, Kostüme wurden nur bei Bedarf nachgeschneidert. Allein die Musik von Rochus Dedler aus dem Jahr 1811 wurde für 1950 vom Generalmusikdirektor Eugen Papst überarbeitet. Am Text änderte sich kaum etwas. Ein Tiefpunkt in der Geschichte der Spiele war sicherlich erreicht, als Adolf Hitler bei seinem Besuch 1930 erkannte, wie gut sich dieses Theaterspiel zur antisemitischen Stimmungsmache nutzen ließ. Die Werbung für die Spiele, die 1934 zum 300-jährigen Jubiläum außer der Reihe stattfanden, übernahm Joseph Goebbels, auf den Plakaten stand: „Deutschland ruft Euch!“ Der alte, in der Kirche verfestigte Antijudaismus kam zusammen mit einem neuen rassistischen Antisemitismus. Die Spiele wurden zur „reichswichtigen Sache“ erklärt. Sowohl der damalige Bürgermeister Raimund Lang als auch der Spielleiter Johann Georg Lang (sein Bruder übrigens) waren Mitglied der NSDAP, fühlten sich keineswegs vereinnahmt, sondern geehrt. Als Hitler am 13. August 1934 die Passionsspiele besuchte, wurde er euphorisch begrüßt: „Ein brausendes, tausendfaches Heil scholl Hitler im Theater entgegen.“39 Wegen des Zweiten Weltkriegs fiel das Spiel 1940 aus, in der Vorbereitung aber waren die Rollen nicht mehr 78


vom Gemeinderat, sondern von der NSDAP vergeben worden – natürlich an stramme Parteimitglieder, wie Christian Stückl mir erzählt hat. Am 5. Juli 1942 erklärte Hitler im Führerhauptquartier noch einmal, warum er die Oberammergauer Passionsspiele für ungeheuer bedeutend für die „Aufklärung auch aller kommenden Geschlechter“ hält: „Kaum je sei die jüdische Gefahr am Beispiel des antiken römischen Weltreichs so plastisch veranschaulicht worden, wie in der Darstellung des Pontius Pilatus bei diesen Festspielen, erscheine dieser doch als ein rassisch und intelligenzmäßig so überlegener Römer, dass er wie ein Fels inmitten des jüdischen Geschmeißes und Gewimmels wirke.“40

Zuspitzung der Kritik

Nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs wurden die Forderungen nach Veränderungen lauter – und internationaler. Die Spiele 1950 wurden – wie bereits die 1922 nach dem Ersten Weltkrieg – als Friedensspiele propagiert. Dass zum Spielleiter wiederum Johann Georg Lang gewählt wurde, schien niemanden zu stören: Eine Entnazifizierung der Passion hielt man anscheinend für unnötig. Man berief sich auf den 1934 von Kardinal Faulhaber erteilten offiziellen Lehrauftrag der Kirche, die „Missio canonica“. Änderungswünsche, die unter anderem von Leonard Bernstein, Arthur Miller und Billy Wilder kamen, wurden standhaft ignoriert. Spielleiter Lang erklärte: „Wir haben ein reines Gewissen. Wir müssen ein Gelübde erfüllen, und unser Stück enthält nichts Anstoßerregendes.“41 Viele sahen das anders: Die Anti-Defamation League und das American Jewish Committee begannen, Analysen zu schrei79


ben und Änderungsvorschläge zu machen. Auswirkungen auf das Spiel hatte das aber auch 1960 nicht: Lang, der die Passion damals zum fünften Mal machte, war 72 Jahre alt und an Veränderungen nicht interessiert, erklärt Stückl. Erst in den sechziger Jahren gab es intensivere Gespräche in der Gemeinde, der relativ junge Hans Schwaighofer wurde zum Spielleiter gewählt. Der machte Vorschläge – die von der Gemeinde aber wiederum abgelehnt wurden, woraufhin Schwaighofer vom Spielleiter-Amt zurücktrat. 1968 schließlich entzog Kardinal Döpfner Oberammergau wegen der Verweigerung jeglicher Reformen die „Missio canonica“, den kirchlichen Lehrauftrag. 1970 spitzte sich die Situation nochmal zu. Sowohl die Anti-Defamation League als auch das Jewish Committee riefen zum Boykott der Spiele auf. Viele Gäste, gerade aus Amerika, blieben weg. Im Ort war die Stimmung aufgeheizt, Stückl erinnert sich, wie er diese Zeit als Kind im Wirtshaus der Eltern erlebte: „Bei uns am Stammtisch wurde wahnsinnig viel diskutiert. Da habe ich mich immer dazugesetzt, das fand ich total spannend. Da wurde auf den ‚Bauernbischof‘, den Kardinal Döpfner, geschimpft und auf Rabbiner Marc Tannenbaum vom American Jewish Committee, den ‚Juden‘. Da hieß es dann immer: ‚Der Scheiß-Tannenbaum, der will uns alles kaputt machen.‘“ Das Hauptproblem des Daisenberger-Textes: Jesus wird als erster Christ dargestellt, der von den Juden bekämpft wird. Auch Benediktinerpater Schaller benannte die antijüdischen Elemente im Spiel klar, wie Hannes Burger in der Süddeutschen Zeitung zur Premiere zitierte: „Es macht ganz den Eindruck, als habe Christus nur sterben müssen, weil er den unverbesserlichen jüdischen Schacherern das Geschäft im Tempel verdorben hat.“ Burger sprach auch mit dem damaligen Bürgermeister Ernst Zwink, der sich scheinbar erneuerungsbereit zeigte: „Die Kritiker sollen jetzt 80


erst einmal in das Passionsspiel hineingehen und sich ein persönliches Urteil bilden. Dann sollen sie nicht nur einfach herumkritisieren, sondern uns konkrete Änderungsvorschläge machen. Wir werden von den Einnahmen einen Fonds bilden, aus dem wir Studienaufträge für Verbesserungen des Spiels finanzieren können.“42 Dass es konkrete Vorschläge sowohl von Schwaighofer

als auch von Schaller bereits gab, ließ er geflissentlich unter den Tisch fallen. Schallers Reformvorschläge wurden abgelehnt. Die inhaltliche Wirkung wurde für weniger wichtig erachtet als optische und dramatische Aspekte: „Schallers Vorschlag beispielsweise, die breit ausgewalzte, biblisch nicht belegte Szene von den ,Rache‘ geifernden und ihre Intrigen spinnenden Händlern zu streichen, wurde mit den Argumenten abgelehnt: Erstens sei das die einzige lustige Szene im Spiel, und zweitens seien die Händlerrollen wichtig für die Einübung des Pharisäernachwuchses im intrigantischen Agitieren.“43 Auch leugneten anscheinend viele schlicht, dass Änderungen überhaupt nötig seien, dass es überhaupt ein antisemitisches Problem in Oberammergau gebe. Es war ein bisschen diese trotzige Haltung: „Was wir spielen, ist die Bibel. Und was in der Bibel steht, ist heilig und somit nicht zu hinterfragen.“ Burger zitiert in seinem Artikel den damaligen Bürgermeister Ernst Zwink: „Man muss doch froh sein, dass noch ein ganzes Dorf so viel Idealismus aufbringt, ein solches Spiel durchzuführen, und man sollte froh sein, dass es in den heutigen radikalen Zeiten hier noch eine Oase des Friedens gibt.“ Und einen anonymen Oberammergauer: „Wir können ja aa nix dafür, dass die ganze Passion halt bei den Juden passiert ist. Uns wär’s auch lieber, wenn’s die Preißn g’wesen wärn. Dann wär vieles leichter.“44 Aber es waren halt nicht die Preußen, so sehr sich der eine oder die andere das auch gewünscht 81


hätte. Und leicht war es auch nicht. Vor allem der Boykott-Aufruf in den USA traf Oberammergau und vor allem die Hotels im Ort hart: Denn ins Ausland wurden stets Arrangements mit zwei Übernachtungen verkauft, während inländische Gäste meist höchstens eine Nacht blieben oder gar direkt nach der Aufführung wieder nach Hause reisten.

Die Rosner-Probe

Weil also die Kritik am Antisemitismus immer lauter wurde und zunehmend auch wirtschaftlicher Druck dazukam, entschied man sich zu einem vorsichtigen Kompromiss: 1977, drei Jahre vor der nächsten richtigen Passion, veranstaltete man ein Zwischenspiel basierend auf einer älteren, allegorischen Textfassung des Ettaler Benediktinerpaters Ferdinand Rosner aus dem Jahr 1750. Da waren nicht die Juden die Schuldigen, stattdessen traten allegorische Figuren wie der Neid oder der Hass auf als Eigenschaften, die alle Menschen in sich tragen. Von Luzifer ausgesandt, um Jesus zu schaden, säen sie Missgunst und heizen die Stimmung auf bis zur Kreuzigung. Zwar finden sich im Original-Text auch hier Formulierungen wie „die vermaledeite Judenbrut“, erzählt mir Christian Stückl, die aber konnte man einfach streichen. Hans Schwaighofer inszenierte, entwarf Bühnenbild, Masken und Kostüme. In einer Ausstellung im Oberammergauer Museum waren diese 2021 zu sehen. Mit der Passion, wie sie davor war, hatten sie nichts gemein: Da gab es aufwendige filigrane, fast jugendstilartige Bäume und leuchtende Höllenfeuer. Die Sünde wurde als Schlange dargestellt, vom Kopf der Darstellerin schlängelte sich ein überdimensioniertes Reptil aus Stoff bis auf den Boden hinab. 82


Auch wenn ich nur die Modelle, das Schlangenkostüm und ein paar Filmaufnahmen gesehen habe: Das war etwas komplett anderes als die bis dato biedere Passion. Optisch eindrucksvoll und neu. Für manch einen zu neu. Sieben Monate dauerten die Proben, ungefähr 700 Oberammergauer und Oberammergauerinnen spielten mit. Die acht Aufführungen waren ein Erfolg. Die Israelitische Kultusgemeinde Bayern und das American Jewish Committee lobten die Aufführung, Oberammergau-Experte Burger schrieb in der Süddeutschen Zeitung: „Ja, dieser Rosner ist – mit allerlei Einschränkungen im Detail – im Prinzip nicht nur spielbar und auch publikumswirksam an das Volk zu bringen; er ermöglicht auch eine Darstellungsweise, die Daisenberger als ernst zu nehmende Alternative nahezu indiskutabel macht. Dies schließt selbstverständlich mit ein, dass an diesem für die knappe Zeit bereits erstaunlich weit gediehenen Rohentwurf noch fleißig mit Säge und Meißel, Schnitzmesser und Feile gearbeitet werden müsste – wozu ja bis 1980 noch genügend Zeit bliebe.“45 Obwohl der zugrunde liegende Text noch älter war als der von Daisenberger, war die Inszenierung ästhetisch erstaunlich und mutig. Ein Wagnis, riskant und spannend. Der Ort war gespalten, es gab einen Generationenkonflikt. Viele der Jungen waren begeistert. Christian Stückl erinnert sich, wie sie den Schwaighofer verehrt haben: „In dem Stück gab es einen Satz: ‚Es lebe unser Fürst und Herr, es lebe der große Luzifer.‘ Am letzten Spieltag haben wir geschrien: ‚Es lebe unser Fürst und Herr, es lebe der große Schwaighofer.‘“ Für ihn persönlich war diese Passion ein „Erweckungserlebnis“: „Schwaighofer hat mich dazu gebracht, selbst Regisseur werden zu wollen.“ Er hat verstanden, was Inszenieren heißt: einen Text als Material zu begreifen. Doch auch viele der älteren Spieler waren dabei: „Mein Papa war der Judas, mein Opa Annas.“ 83


In Oberammergau war Ausnahmezustand, Monika Lang spricht sogar von „Krieg“: „Es gab Diffamierungen in einem Maße, das ich so nicht kannte. Den Stückls hat man einen Dreckhaufen vor die Türe geworfen, weil Christians Vater als ‚Umfaller‘ bezeichnet wurde. Mich hat einer auf der Straße angespuckt und gesagt: ‚Du Schlange!‘“ Anonyme Briefe wurden geschrieben, Geschäfte boykottiert. Und das alles, weil man eine Theaterinszenierung zu gewagt fand. Als im Anschluss eine Bürgerbefragung durchgeführt wurde, entschied sich die Mehrheit dafür, 1980 wieder alles wie gehabt zu machen. „Der Schwaighofer war so frustriert, dass er nichts mehr gemacht hat“, so Stückl. „Wir Jungen hätten uns gewünscht, dass er weitermacht, waren enttäuscht.“

Zurück zum Gewohnten

Die Spiele 1980 gingen also unter der Leitung von Hans Maier ohne nennenswerte Änderungen zu 1970 über die Bühne. Das Motto war: „Wie haben wir es beim letzten Passion gemacht? So machen wir es auch diesmal.“46 Monika Lang weigerte sich, nochmal den Daisenberger zu spielen, obwohl es das letzte Mal war, dass sie laut altem Frauenspielrecht hätte mitmachen dürfen. Herman Unterstöger beschreibt in einem Artikel in der Süddeutschen Zeitung, wie man mögliche Kritik bereits im offiziellen Bildband vorwegnahm – um sie zu verwerfen: „Dennoch wird man versuchen, Oberammergau zu kritisieren. Doch das ficht die Oberammergauer wenig an.“ Unterstöger führt weiter an, dass bereits 1970 in einem „Report“ offiziell mit den Kritikern der Passion abgerechnet worden war: „Jemand, der an Art und Sinn der Passionsdarstellung etwas auszusetzen habe, [müsse] als außerhalb der christlichen Gemeinschaft stehend, ja als ein ver84


Bühnen-Modell der „Rosner-Probe“. Mit artifizieller Ästhetik versuchte Hans Schwaighofer eine völlig andere Passion.

kappter Glaubensfeind angesehen werden.“ Kritik könne also im Grunde nur von gläubigen Oberammergauern kommen. Anders formuliert: Von Auswärtigen lasse man sich gar nichts sagen. Und der selbstgewählte Haus-und-Passions-Kritiker Johannes Goldner bestätigte den Entscheidungsträgern, dass alles im grünen Bereich sei: „Es liegt jetzt ein Textbuch vor, das in jeder Hinsicht den Erwartungen aller Passionsbesucher entsprechen dürfte und keinerlei Angriffsflächen für Außenstehende mehr bietet.“ Andere, zum Beispiel das American Jewish Comittee, sahen das freilich anders: „So wie es heute ist, behält das Drama eine antijüdische Tendenz, trotz allen wohlmeinenden Bemühungen der Bearbeiter.“47 Nicht nur in Bezug auf die Frage nach dem Antisemitismus verweigerten die Oberammergauer jede grundlegende Reform. Auch künstlerisch betrachtete die Mehrheit Experimente wie das von Hans Schwaighofer argwöhnisch. Sie teilten vielmehr Goldners Ansicht, „dass die Passion niemals ein künstlerischer 85


Ausdruck sein könne“.48 Sie sei allein liturgisch zu beurteilen und somit über jede Kritik, die sich auf die Passion als Kunstwerk, als Theaterstück beziehe, von vornherein erhaben. Ansätze wie die von Schwaighofer seien daher grundsätzlich falsch. Auch, so die Argumentation, könnten sich 500 000 Besucher wohl kaum in ihrem Urteil irren. (Ob denn alle diese Besucher mit dem Gesehenen einverstanden oder gar glücklich waren, hat wohl keiner nachgefragt.) Die Spiele zum 350. Jubiläum 1984 leitete wiederum Hans Maier. Abgesehen von einigen kosmetischen Änderungen am Bühnenbild von Johann Georg Lang aus dem Jahr 1930 (die prompt eine Klage von dessen Sohn zur Folge hatten), blieb alles beim Alten. Zahlreiche aus den USA bestellte Karten wurden zurückgegeben. In einer Kritik in der Süddeutschen Zeitung hieß es wenig begeistert: „Hans Maier hat sich, wie erwartet, an seine Inszenierung von 1980 gehalten, deren Längen ebenso unübersehbar sind wie ihre dramaturgische Naivität, die nach Oberammergauer Verständnis allerdings gewollt sein könnte: Die Art, feierlich unbeholfen zu deklamieren, das karge Arsenal der Gesten, der Verzicht auf allzu bühnenwirksame Spielerführung, die süßliche Direktheit der Lebenden Bilder – all das wäre nach dieser Interpretation Ausdruck dafür, dass man künstlerischen Ambitionen fernsteht, dass man nichts will, als mit einer gespielten Abfolge frommer, gottesdienstähnlicher Szenen ein von den Vätern überkommenes Versprechen zu erfüllen.“49 Es werden dies die letzten Spiele nach überliefertem Muster sein: 1987 wählte der Gemeinderat den damals 24-jährigen Christian Stückl zum Spielleiter für die Passion 1990. Und mit ihm die Veränderung.

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VOM ENDE ALS ANFANG. DIE NEUERFINDUNG DER SPIELE SEIT 1990

I

ch habe nur eine vage und theoretische Vorstellung davon, wie die Inszenierung des Stoffs sich über die Jahrhunderte entwickelt hat. Wie ich Berichten und den spärlichen Filmausschnitten im Archiv des Bayerischen Rundfunks und aus dem Oberammergauer Museum entnommen habe, war das Spiel lange Zeit ein wenig reflektiertes Runterspielen christlicher Klischeebilder, inklusive der mehr oder eher weniger subtilen Verbreitung althergebrachter Feindbilder. Hätte sich die Gemeinde auch 1990 wieder für das Bewahren und gegen die Reformation des Spiels entschieden, wer weiß, ob die Spiele den Sprung in die Gegenwart geschafft hätten oder ob sie nicht vielmehr in Irrelevanz versunken wären. Ziemlich sicher wären sie nicht zu einem Paradebeispiel für die Überwindung jahrhundertealter Ressentiments und Vorurteile geworden, zu einem Sinnbild für Toleranz und Miteinander.

Die Wahl Stückls

Die Wahl von Christian Stückl zum Spielleiter für die Passionsspiele 1990 war knapp. In einer Stichwahl wurde er am 8. Juli 1987 mit neun zu acht Stimmen vom Gemeinderat gewählt. Hans Maier, Spielleiter von 1980 und 1984, unterlag. Wirklich verstehen konnte dieser seine Niederlage wohl nicht. „Trotzdem will Maier die Sache nicht seinen Nachfolger entgelten lassen: ‚Hoffma, dass a’s zammbringt‘.“50 87


Was diesen ominösen Nachfolger angeht, der im Titel des Artikels nur „Kaiphas’ Sohn“ genannt wird, weil sein eigener Name bis dato gänzlich unbekannt ist außerhalb von Oberammergau, weiß der Autor nur zu vermelden: „Sein Großvater und sein Vater spielten je zweimal den Kaiphas, er selbst […] wirkte seit 1977 im Festspielchor.“ Mit „jungen Leuten“ habe Christian Stückl bereits Theater gemacht, ansonsten sei er ein unbeschriebenes Blatt. „Eines sei jedenfalls sicher, nämlich dass er ‚neu anpacken‘ und nicht ‚das Alte aufwärmen‘ wolle“, zitiert Hermann Unterstöger den jungen Stückl.51 Stückl selbst erinnert sich, dass er Mitte der 1970er Jahre das sogenannte „Schwarzbuch“ mit den Forderungen der AntiDefamation League und des American Jewish Committee in die Hände bekam und allmählich ein Bewusstsein dafür entwickelt hat, was das bedeutet: Antisemitismus in der Passion. Bei den Spielen 1980 und 1984 war er im Chor – und notierte sich, was er ändern würde als Spielleiter. „Uns war allen klar, so geht es nicht weiter“, sagt er. Trotz immer lauter werdender internationaler Proteste an der antisemitischen Textfassung wurden alle Reformansätze untergraben. Auf den eher fortschrittlichen Kardinal Döpfner war im Erzbistum München und Freising der konservative Joseph Ratzinger gefolgt, der „einen Rückschritt fabrizierte“, wie Stückl es ausdrückt. Als es dann hieß, es werde nun Otto Huber, ein Oberstudienrat und Exil-Oberammergauer aus Lauingen an der Donau geholt, um die Spielleitung zu übernehmen, dachte Stückl sich: „Wenn der es jetzt wird, werde ich es nie.“ Also kandidierte er selbst. 1986 ging er in den Gemeinderat und sagte, er wolle Spielleiter werden. Es gab also drei Kandidaten: Hans Maier, Otto Huber und Christian Stückl. Im ersten Wahlgang wurde Huber, der sich seiner Sache ziemlich sicher gewesen war, rausgewählt. 88


Es kam zur besagten Stichwahl zwischen Maier und Stückl. Die Reaktionen waren wie kaum anders zu erwarten sehr gemischt. Für die einen verkörperte Stückl die Hoffnung, die Spiele endlich vom Muff von tausend Jahren zu befreien. Für die Übrigen war er der jugendliche Revoluzzer, der den Fortbestand eines jahrhundertealten Kulturerbes gefährdete. Mit seinen Ideen für ein neues Bühnenbild und eine neue Textfassung verschreckte er nicht wenige. Eines Tages fand er an seiner Haustür ein Schild vor: „Totengräber von Oberammergau, zieh Leine, sonst bekommst du nasse Beine.“ Doch wer war dieser junge Wilde, dieser „Sohn des Kaiphas“, der sich aufmachte, die Passionsspiele zu revolutionieren? Seine Biografie hat etwas seltsam Schicksalhaftes, Vorbestimmtes. Die Stückls sind eine alteingesessene Oberammergauer Familie. Keine, die bei den entscheidenden Fragen mitredete. Aber eine, die fest verwurzelt ist im Ort und der Passion. Alle machten mit. Christian Stückl war das erste Mal 1970 dabei, als Kind im Volk. „Ich hatte den Beinamen Bühnenschreck, war immer im Theater und kann mich kaum erinnern, in der zweiten Klasse mal in der Schule gewesen zu sein“, erzählt er mir. Einmal hat er eine Ohrfeige vom Spielleiter bekommen, weil er sich jeden Tag in ein anderes Lebendes Bild hineingeschummelt hat. „Er hat mir angedroht, wenn ich mich das nächste Mal wo reinstelle, wo ich nicht hingehöre, setzt’s eine – und die habe ich dann auch gekriegt. Und angeblich, daran kann ich mich selbst nicht erinnern, bin ich heimgekommen und habe gesagt: ‚Wenn ich Spielleiter bin, hau ich zurück.‘ Meine ersten Beweggründe waren also niedere: Rachegedanken.“ Stückl lacht. Daheim war nur eine streng gläubig, und das war die Oma, die einzige Protestantin unter lauter Katholiken. Die hat ihn öfters mit in die Kirche genommen: „Das fand ich aber eher 89


schrecklich, weil das so langweilig war da drin. Der Weihrauch, das Pompöse und Theatrale der katholischen Kirche, das fehlt ja alles. Ich habe als Kind gesagt: ‚Die haben ja nicht mal gscheite Kostüme.‘“

Priester oder Passionsspielleiter

Die katholische Kirche dagegen mochte Stückl, war sie doch ein einziges großes Theater: die Gottesdienste und ihr dramaturgischer Aufbau, die Zwiesprache zwischen Pfarrer und Gemeinde, die Liturgie, die Osternacht, in der in der Dunkelheit zwölf Kerzen für die Apostel entzündet werden und den Raum erhellen … Das alles erschien ihm fast so verlockend wie die Passionsspiele. Und so kamen ihm zwei Berufswünsche in den Sinn: Priester oder Passionsspielleiter. Irgendwas mit Theater eben. Dass er kein Priester wurde, hängt wiederum mit seiner Leidenschaft fürs Theater zusammen: Im Kloster-Gymnasium in Ettal flog er in der sechsten Klasse raus, weil er geschwänzt hatte, um die Kostüme für seine Krippenspiel-Inszenierung zu nähen. Ein ehrenwerter Grund zum Schwänzen, ein für einen Zwölfjährigen bemerkenswertes Engagement. Von der Schule hat man ihn trotzdem geschmissen. Später versuchte er es in St. Matthias Waldram am Spätberufenenseminar, doch dort waren alle „so fromm und klebrig“, dass er es nicht aushielt. Dass es mit der Karriere als Kirchenmann nichts wurde, ist für die katholische Kirche mit Sicherheit ein Verlust, für das Theater aber definitiv ein Gewinn. Es blieb also: Passionsspielleiter. Ein Beruf, den es nur in Oberammergau gibt. Und auch dort nur alle zehn Jahre. Da „Passionsspielleiter“ zudem kein Ausbildungsberuf ist, absolvierte Stückl zunächst eine Holzbildhauerlehre: Alle Spiel90


leiter, die ihm bekannt waren, waren schließlich Holzschnitzer gewesen. Die Einsamkeit des Ateliers aber war seine Sache nicht. Er gründete 1981 eine eigene Theatergruppe, inszenierte Molière und Shakespeare, organisierte Fahrten nach München in die Kammerspiele. Im Frühjahr 1987 inszenierte Stückl mit seiner Truppe in Oberammergau den „Sommernachtstraum“. In einer Vorstellung saß der Journalist Erich Kuby. Der war wohl so begeistert von der Aufführung, dass er seine Kontakte zu den Münchner Kammerspielen nutzte: Am nächsten Tag rief das Theater Christian Stückl an und bot ihm eine Stelle als Regieassistent an. Drei Wochen lang hospitierte er bei Dieter Dorns „Faust“-Inszenierung, dann arbeitete er mit Volker Schlöndorff, der Heinrich Bölls „Frauen vor Flusslandschaft“ inszenierte. Statt Open-Air-Theater mit Bergblick fand er sich in einem dunklen Probenraum wieder, einem „Bunker ohne Tageslicht“. Stückl, der gedacht hatte, „Theatermachen ist einfach eine wahnsinnig schöne und intensive Form des Zusammenseins“, fing das Rauchen an: „Da hackten plötzlich lauter Geier aufeinander ein, die sich auf den Regisseur stürzten, um sich bei dem einzuschmeicheln, und ständig auch noch um die Gunst des Intendanten buhlten.“52 Er kam von einem Theater, das anders war, durchlässiger. „Ich habe hier mit meinem Papa und meinem Opa übers Theater geredet, alle Generationen am Stammtisch haben sich Gedanken gemacht, was man anders machen muss“, erzählt er. „Alle Fragen, die man sich am Theater stellt, haben wir uns auch gestellt. Aber eben viel unverkrampfter. Hier ist man nicht in so einer geschlossenen Bubble wie am professionellen Theater.“ Dass sein theatrales Denken von einer Theaterform ausgeht, die es nur in Oberammergau gibt, dass er einen Traumberuf hatte, den es nur hier gibt (nicht „Regisseur“ werden wollte er, sondern „Spielleiter“), prägt seine Arbeiten bis heute: in den Themen, denen er sich auf 91


der Bühne widmet und die immer wieder um Religion und Antisemitismus kreisen. Aber auch in seiner Art zu arbeiten, seiner Lust am Gemeinsam-Entwickeln, seinem offenen und genauen Blick für neue Talente.

Stückls Premiere

Er kehrte München also zunächst wieder den Rücken, kam zurück nach Oberammergau. Schließlich wartete dort seine größte Aufgabe: die Überarbeitung der Passionsspiele. Als Stückl 1990 mit 27 Jahren seine erste Passion inszenierte, kam wieder Bewegung in die Reformfrage. 18 Forderungen der Anti-Defamation League und des American Jewish Committee lagen vor. Stückl las sie sich durch und sagte: „16 können wir ohne Probleme sofort umsetzen.“ Aber da hieß es dann wohl: „Wir können uns ja nicht von den Juden diktieren lassen, was wir hier machen.“ Stückl blieb dabei: „Doch! Nach so einer langen Zeit, in der wir unbeweglich waren, müssen wir das jetzt machen und schauen, dass wir die Vorwürfe aus der Welt schaffen.“ Die Gemeinde stellte ihm schnell Otto Huber als zweiten Spielleiter – und ein bisschen auch als Aufpasser – zur Seite. „Ich glaube, sie haben Angst vor ihrer eigenen Courage bekommen“, so Stückl. Auch von anderer Seite wurde er ausgebremst: Die katholische Kirche schickte ihm einen theologischen Berater. Der wollte nicht so weit wie Stückl, bremste ihn – unter anderem beim „Blutwort“ – aus. Nicht nur bei seiner Textfassung, auch beim Bühnenbild und den Kostümen wurden ihm „Zügel angelegt“. Und Stückl erkannte: „Das muss ich jetzt wahrscheinlich einmal aushalten, dann kann ich 2000 richtig ran und meine Veränderungen durchsetzen.“ Er ging es also erst mal vorsichtig 92


an, begnügte sich mit kleineren Änderungen. Er hatte am Beispiel Schwaighofer gesehen, dass man als Spielleiter auch wieder abgesägt werden kann, wenn man zu schnell zu viel will. In der Premierenkritik wurde das durchaus so wahrgenommen: „Stückl und sein Vertreter Otto Huber haben ein übriges getan, um einer positiveren Darstellung des Judentums die Wege zu ebnen, insbesondere durch Änderungen in der Inszenierung. […] Bei diesem Stand der Dinge richtet sich der Blick naturgemäß nach vorn, also auf die Spiele von 2000, und die Frage lautet wie schon in den siebziger Jahren, ob nicht eine Reform hoch angebracht sei.“53

Das neue Jahrtausend

Bis Stückl 2000 seine zweite Passion inszenierte, hatten sich die Vorzeichen geändert: Er war an die Münchner Kammerspiele zurückgekehrt und hatte dort 1991 die Uraufführung von Werner Schwabs Radikalkomödie „Volksvernichtung oder Meine Leber ist sinnlos“ inszeniert. Die Inszenierung muss legendär gewesen sein. „Der Regisseur Stückl brachte genau die nötige Reizbarkeit des katholischen Insiders mit, um unerschrocken in Schwabs erzblasphemische Kleinbürgerhölle im sozialen Souterrain hinabzusteigen. Unbelastet von stilistischen Schwellenängsten gelang ihm ein brachial-religiöses Mysterien-Panoptikum und höheres Kasperl-Passionsspiel“, so der Kritiker Christopher Schmidt.54 Stückl wurde von der Fachzeitschrift Theater heute zum Nachwuchsregisseur des Jahres gewählt, die „Volksvernichtung“ wurde zu den Mülheimer Theatertagen und dem Berliner Theatertreffen eingeladen; er war einige Jahre Hausregisseur an den Münchner Kammerspielen gewesen und nun designierter Intendant des Münchner Volkstheaters. 93


Er war also nicht mehr nur der ambitionierte Sohn vom Dorfwirt, dem „Kaiphas“, sondern ein national anerkannter Theatermann. Für die Passion hatte er wieder ein neues Konzept erarbeitet samt Textänderungen und neuem Bühnenbild. Weil die Oberammergauer Entscheidungsträger aber eben die Oberammergauer Entscheidungsträger sind und keine TheatertreffenJury, verkündete die CSU-Fraktion im Gemeinderat vor der Spielleiterwahl, dass sie Stückl nicht wählen würde. Der präferierte Gegenkandidat: wiederum Otto Huber. Da Stückl aber Stückl ist und auch ein Dickkopf, gab er sich damit nicht zufrieden. Wenn der Gemeinderat mich nicht wählt, soll mich eben die Bevölkerung direkt wählen, dachte er sich. Und stellte sein Regiekonzept in einem Bürgerbegehren zur Wahl. Otto Huber zog sich zurück, Rudi Zwink, Jesus-Darsteller von 1980, reichte ebenfalls ein Konzept ein. Stückl wurde gewählt, es folgte allerdings – zu Absicherung quasi – ein zweites Bürgerbegehren, das ihn auf den Daisenberger-Text festlegte. „Dabei wollte ich gar nicht den Rosner machen“, erzählt er. „Ich wollte ja nicht mit dem Schwaighofer konkurrieren.“ Stefan Hageneier entwirft neue Kostüme und Szenenbilder, Stückl schreibt mit Otto Huber, der wiederum als Dramaturg dabei ist, ganze Szenen neu und verändert die Sicht auf die Rolle der Juden grundlegend. „Offiziell ist es noch immer der alte Text, aber es wird immer weniger Daisenberger. Gott sei Dank“, so Stückl. „Der Otto hat hundert Prozent anders gedacht als ich, wir haben uns viel aneinander gerieben, aber es ist was dabei rausgekommen.“ Das Passionsspiel wird zum innerjüdischen Konflikt, Fürsprecher und Widersacher finden sich in allen Gruppen, im Hohen Rat, im einfachen Volk und im Kreis der Getreuen. Die Vertreibung der Händler aus dem Tempel, die „das Klischee vom jüdischen Schacherer“ bekräftigte, wurde gekürzt, der Kon94


flikt mit den Händlern durch einen mit Vertretern der geistlichen Macht ersetzt.55 Jesus wurde nicht länger auf sein Leid beschränkt, sondern zum Kämpfer für seinen jüdischen Glauben. „Der Daisenberger-Text basiert fast ausschließlich auf dem Johannes-Evangelium“, erklärt Stückl. „Da wird Jesus von Anfang an als Gottes Sohn propagiert, während Matthäus viel stärker den Menschen und Juden Jesus sieht. Mir geht es darum, Jesus runter auf den Boden zu holen und verstehbar zu machen.“ Nicht länger auf Klischees und Vorurteile zu setzen, sondern eine im Grunde allzu menschliche Geschichte zu ergründen. Damit das gelingt, wurde ihm vom Kardinal und dem Landesbischof ein neuer theologischer Berater geschickt: Ludwig Mödl von der Ludwig-Maximilians-Universität in München. Mödl erinnert sich gut an das Symposium mit jüdischen Rabbinern im Vorfeld der Passion 2000, in dem ausgiebig über alle Änderungen diskutiert wurde. „Die großen jüdischen Weltorganisationen sehen in Oberammergau ein Symbol dafür, wieweit die katholische Kirche und vor allem die Deutschen bereit sind, Antisemitismen auszuschalten und in der Passion den jüdischen Anteil am Christentum herauszuarbeiten“, erzählt Mödl mir im Herbst 2021. Von 29 gewünschten Veränderungen konnten sie bis auf zwei alle umsetzen: „Nicht verändern konnten wir – nicht wegen der Rabbiner, sondern wegen der Mehrheit der Oberammergauer – eine Stelle im Prolog und eine Stelle in Reimform, die so mit der Musik verschmolzen war und beinahe ein Ohrwurm in Oberammergau war. Die beiden Stellen kannte offensichtlich jedes Kindergartenkind in Oberammergau auswendig, die wollte man nicht ändern“, so Mödl, der auch als „Schiedsrichter“ zwischen den streitenden Parteien fungierte. Denn auch wenn seiner Wahrnehmung nach alle dafür waren, die dezidiert antisemitischen Passagen zu streichen, gingen die Meinungen darüber, was 95


Die Passion 2000. Christian Stückl integriert jüdische Symbole ins Spiel, zeigt Jesus als gläubigen Juden.

denn antisemitisch sei, weit auseinander. Dem Wunsch nach Veränderung stand in Mödls Wahrnehmung kein Antisemitismus entgegen, sondern das Beharren auf der Tradition, „deren Veränderung wieder andere pikieren würde“. Mödl half Christian Stückl, die Änderungen durchzusetzen, der Durchbruch war geschafft.

Ernst zu nehmendes Theater

Die Spiele 2000 werden in einer anderen Liga wahrgenommen, als ernst zu nehmendes Theater. Hatte Sven Ricklefs die Passionsspiele noch 1994 in einem Porträt über Christian Stückl als „das tradierte Volksfest“56 bezeichnet, reist nun zum ersten Mal kein Lokaljournalist für die Süddeutsche Zeitung aus München zur Premiere an, sondern ein Theaterkritiker. Und: Er ist begeistert. „Das wahrlich schwierige Unterfangen gelingt. Denn die Aufführung zielt nicht darauf, sich als Christ, Jude oder Muslim zu bekennen oder auszugrenzen. […] Es geht allein um Heil und um Glauben, nicht um Aussonderungen von Konfessionen. […] Jesus, der Jude, will nicht erneuern. Er will auf den rechten Pfad zurückführen […] Es ist eine große Leistung der Oberammergauer, dass 96


ihr Spiel nie laut, nie seicht, nie kitschig-süß wird. Stückl schafft es, zwischen den Figuren, ja selbst zwischen dem als Masse auftretenden Volk und den Protagonisten eine aufmerksame Spannung zu inszenieren: Sie hören einander zu. Und dieses Interesse wird Bewegung, Geste, Blick. Stückl hat weder Furcht vor Stille noch vor dem Tumult. Selbst die Geißelung, selbst die realistische Kreuzigung, sie werden nicht reißerische, gruselige Nummern. Stückl inszeniert Schmerz, Trauer“, schreibt C. Bernd Sucher.57 Es war eine Revolution von innen. Stückl ist einer von ihnen, zutiefst verwurzelt in den Traditionen der Passionsspiele – und denen des katholischen Glaubens. Er wollte Spielleiter werden, seit er ein Kind war. Er ist kein Theatermann, der von außen kam, um die Passion zu revolutionieren. Er ist vielmehr ein Mann der Passion, der über diese zum Theater fand. Und auch wenn manche anfangs einen anderen Eindruck hatten, bringt Stückl es auf den Punkt, wenn er sagt: „Ich bin halt überhaupt kein Zertrümmerer.“58 Ihm geht es nie um eine Form, sondern immer um die Geschichte. Die Form kommt dann von allein, aus der Geschichte heraus. Form follows story, könnte man sagen. Stückl stülpt dem vermeintlich Bekannten keine fertigen Thesen über. Er liest und befragt vielmehr den Text der Passion alle zehn Jahre aufs Neue kritisch – und setzt um, was er darin entdeckt, was er beim letzten Mal noch nicht gesehen hat. Wenn er inszeniert, bleibt er bei sich, stellt immer weiter Fragen, nimmt nichts als gegeben hin und erfindet das Alte ständig neu. 2010 ist er nicht nur erfolgreicher Intendant in München, er hat in Oberammergau einen Theatersommer auch außerhalb der Passion eingeführt, den „Jedermann“ bei den Salzburger Festspielen und die Eröffnungsfeier der Fußball-WM in München inszeniert – und seinen Posten als Spielleiter in Oberammergau macht ihm keiner mehr streitig. Drei Gegenstimmen bekommt er dennoch, ganz 97


ohne Meinungsverschiedenheiten macht es der Gemeinderat eben nicht. Und da Stückl die Mechanismen inzwischen nur zu gut kennt, schwört er seine Mitbürger in einer Dorfversammlung Anfang 2009 auf Einigkeit ein: „Letztlich kriegen wir nur einen guten Passion hin, wenn wir alle zusammenhalten und wenn wir alle wissen, was für ein wichtiges Gut dieses Passionsspiel für uns alle ist. Dass es ganz wichtig ist, dieses Passionsspiel nach vorne zu treiben, weiter zu treiben. Das ist die eigentliche Oberammergauer Tradition und deswegen sind wir auch […] die bekanntesten Passionsspiele: weil wir uns immer getraut haben, was Neues zu machen, weiter zu gehen, was zu verändern.“59 Er kennt die

Konfliktlinien im Dorf genau, weiß sehr genau, dass der Zusammenhalt hier keine Selbstverständlichkeit ist. Und einen Monat vor der Premiere 2010 erscheint dann auch ein Artikel in der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung, in dem wiederum allerlei hochkocht, was längst überwunden schien. Draußen tobt der Streit ums Nachtspiel, Florian Streibl, Landtagsabgeordneter und Sohn des früheren Ministerpräsidenten, hat wohl „ein Kriseninterventionsteam angeregt, um während der Passionszeit die Ehen zu retten. Die Familien würden durch das Nachtspiel zerrissen.“ Seine Haare lasse Streibl nicht wachsen, weil er in München nicht „wie ein Neandertaler rumlaufen“ könne. Und wenn „bei mancher Volksszene die Hälfte der Leute Frauen seien, fühle man sich schon etwas wie in Monty Pythons Jesus-Parodie ‚Das Leben des Brian‘.“ Holzbildhauer Martin Müller bezeichnet Stückl in dem Artikel gar als „Passions-Diktator“, der aus dem Spiel ein „Möchtegern-Profitheater“ machen und die Bibel „neu erfinden“ wolle. „Seit sein Gemeinderatskollege Stückl an der Macht sei, müssten sie jüdische Organisationen fragen, was sie auf der Bühne sagen dürfen.“60 Von Einigkeit also noch immer keine Spur. 98


Christian Stückl befragt den Text und die Geschichte immer wieder aufs Neue, bezieht ihn auf die Gegenwart.

Die Spiele 2010 sind für Stückl die dritten, seine Sicht auf die Geschichte hat sich in zwanzig Jahren verändert. Er inszeniert Jesus diesmal ganz klar als Juden, zeigt auch die Reue des Judas. Markus Zwink vertont das Gebet „Schma Jisrael“ für den Besuch im Tempel, holt sich Inspiration sowohl bei hebräischen synagogalen Gesängen als auch bei Popmusik von Ofra Haza, um klanglich in eine andere Welt zu kommen. „Nicht nur der Chor, sondern das gesamte Volk singt hier auf hebräisch“, so Zwink. „Das hat den Leuten wahnsinnig viel Spaß gemacht und ist sofort zu einer Art Klassiker geworden.“ 1990 hatte sich Zwink zum ersten Mal an die Kompositionen von Rochus Dedler aus dem 19. Jahrhundert gewagt. Zunächst mit einer neuen Überleitung von sieben Takten, bei der er schon große Skrupel hatte: „Ich bin in einer Zeit groß geworden, wo ziemlicher Stillstand herrschte und es keine großen Neuerungen im Passionsspiel gab. Eine inhaltliche oder musikalische Auseinandersetzung fand im Grunde nicht statt, Text und Musik galten als unantastbar.“ 2000 komponierte er dann viele der Le99


benden Bilder neu, schaffte durch eine Splittung des Chors eine musikalische Tiefenwirkung. Und 2010 dann eben das „Schma Jisrael“. Auch das ein Schritt zu mehr Toleranz und Weltoffenheit, weg vom Antisemitismus. Durch ein Lied, nicht mehr, aber auch nicht weniger. In farbenprächtigen Bildern und beeindruckenden Massenszenen erzählte Stückl 2010 von einem Mann, der an seinen Überzeugungen festhält und von seinen Zeitgenossen ein Umdenken fordert. Einem, der durchaus auch anstrengend ist in seiner Konsequenz, seinen Mitmenschen viel abverlangt und ihnen auch mal auf die Nerven geht. Gemeinsam mit Otto Huber hat Stückl im Vorfeld erneut viel am Text gearbeitet und Szenen dazugeschrieben, die Jesu Überzeugungen und seinen Glauben plastisch werden lassen, etwa die Rettung der Ehebrecherin vor der Steinigung. Aus der jahrtausendealten Geschichte filterten sie aktuelle Fragen heraus, führten den Text zurück auf grundsätzlich menschliche und moralische Aspekte: „Der von euch, der ohne Sünde ist, der werfe den ersten Stein.“ Der Jesus dieser Passion, er hielt den reinen Glauben hoch, brachte seine Lehren wieder in Verbindung mit dem alltäglichen Leben.

Die Auferstehung

Alles gut also? Der Theologe John Warwick Montgomery findet: mitnichten. Er, der die Spiele zwischen 1970 und 2010 sechs Mal besucht hat, kündigt ihnen in einem Essay seine Treue: „Jedoch werde ich sie wahrscheinlich nicht mehr besuchen – und dies nicht aus Altersgründen.“61 Was war das Problem? Montgomery kritisiert vor allem den „verflachten Umgang mit der Auferstehung, die in der letzten Szene des Stücks dargestellt wird“.62 Es 100


fehle der Dialog der Soldaten, die das Grab Jesu bewachen, und die Erscheinung Jesu aus dem Grab. „Die Begegnung mit dem Auferstandenen“ sei eine „minimale Begegnung“ geworden, in der Jesus stumm bleibe. Die Erklärungen Ludwig Mödls im Vorwort des Textbuchs 2010 tut Montgomery als „Blödsinn“ ab: „Die klassische Theologie hat die Auferstehung immer als historische Tatsache und sichtbar wie die Kreuzigung gelehrt.“ Und kommt zu dem Schluss: „Halte liberale Theologen fern von feinen künstlerischen Ausdrucksformen der Offenbarungswahrheit.“63 Die Beobachtung von Montgomery ist richtig: Die Wächterszene am Grab fehlt 2010. Auch steigt Christus nicht mehr mit dem weißen Tuch und der Fahne in der Hand aus dem Grab. Stattdessen sitzt in der Mitte der Bühne ein Engel an einer Feuerschale und sagt Maria Magdalena, dass Jesus auferstanden sei. Sie ruft die anderen herbei, alle entzünden ihre Kerzen – und in ihre Mitte tritt Jesus, um dann nach hinten zu verschwinden, gefolgt von seinen Anhängern. „Das ist eins zu eins die Auferstehungs-Liturgie in der katholischen Kirche in der Osternacht“, erklärt mir Ludwig Mödl, angesprochen auf die Kritik Montgomerys. Diese kann er nicht wirklich nachvollziehen: „Natürlich ist die Auferstehung als historisches Ereignis unverzichtbar. Die Darstellungsform aber ist das Problematische. Stelle ich das plakativ dar oder so, wie es dem Historischen näher kommt?“, fragt Mödl. „Wir kommen ja historisch nur an den Rand dessen, was da passiert ist. Wir können sagen: Christus ist auferstanden und erschienen. Über das Wie wissen wir nur, es war blitzhaft und kurz.“ Die Wächter hält er für verzichtbar. Sie sollen ja nur belegen, dass der Leichnam nicht gestohlen wurde. Schließlich wurde die Szene aus inszenatorischen Gründen rausgenommen. Stückl war der Meinung, man könne die Auferstehung als Vorgang nicht direkt zeigen. „,Der Auferstande101


ne ist erschienen‘, heißt es in allen Evangelien“, so Mödl. „Da wurde dann lange diskutiert, wie das aussehen kann. Fest steht: Er ist immer nur kurz erschienen. Schon in der Barockzeit hat man die plakativen Darstellungen etwas reduziert. Wenn man den Auferstandenen so ins Bild bringt, entspricht das nicht den Erscheinungserzählungen. Da wäre der Charakter des schnellen Erscheinens nicht mehr gegeben. Stückls Darstellung kommt den verschiedenen Schilderungen in seiner Flüchtigkeit viel näher.“ Und nachzuspielen, wie Jesus auf dem Berg Tabor von einem überirdischen Licht überstrahlt wird und eine Stimme aus einer Wolke verkündet, „Dies ist mein geliebter Sohn“, würde wohl „auf der Bühne nachgespielt eher skurril wirken“.64 Und ob man dieses Wunder tatsächlich wortwörtlich nehmen soll, da gehen die Meinungen unter den Oberammergauern bei der Israel-Reise 2009 am Ort des Geschehens auch auseinander. Manch einer tut sich jedenfalls schwer damit.65 Von vielen Juden wird die Auferstehung übrigens ganz geleugnet, erzählt mir Ludwig Mödl: „Da wird gesagt, das sei eine Erfindung der Apostel, die hätten Halluzinationen gehabt. Das wird im Judentum aber sehr unterschiedlich interpretiert, da hat jede rabbinische Schule eine andere Interpretation. Und diese gehen einfach sehr weit auseinander, da sagen die einen wirklich das Gegenteil von den anderen. All das steht einfach nebeneinander, man legt sich in der jüdischen Theologie nicht so fest wie im Christentum.“

Nach der Passion ist vor der Passion

In Oberammergau ist Theater etwas, das alle angeht: Schneller als irgendwo sonst ist hier ein Skandal geboren, geht es doch um so viel, um Tradition und Glauben und überhaupt. Christian Stückl 102


macht keinen Skandal um des Skandals willen, er will nicht provozieren. Aber er will ein Theater machen, hinter dem er steht. Wenn das nicht ohne Aufruhr geht, nimmt er den in Kauf. Hartnäckig ist er nämlich mindestens genauso wie seine Widersacher. Er legt den Finger in Wunden, schaut nicht weg, sondern streitet, wenn es ihm um etwas geht – und wenn es um die Passion geht, ist ihm eben nichts egal. So ruhte er sich auch im Vorfeld der aktuellen Passion nicht darauf aus, dass ihm sein Posten sicher war. Er kandidierte vielmehr gemeinsam mit seinem zweiten Spielleiter Abdullah Kenan Karaca: „Ich wollte dem Abdullah ersparen, dass er alleine da durchmuss“, sagt er. „Drum habe ich gesagt, wir sind ein Team.“ Ein paar Gegenstimmen hat er sich damit also wieder gesichert, aber das gehört nun auch schon irgendwie dazu. Die Antworten, die Stückl zehn Jahre zuvor gefunden hat, sind heute nicht mehr gültig oder nur noch bedingt. „Ich bin mit dem Passionstext noch lange nicht fertig“, sagte mir Stückl im Herbst 2019. „Die Flüchtlinge, ein sich änderndes Gesprächsklima – all das spielt in die Sicht auf die Passion mit rein.“ Auch diesmal gab es Gespräche mit Ludwig Mödl, doch die waren vergleichsweise „kurz“, erzählt dieser mir. Die problematischen Stellen sind so weit bereinigt, „dass die meisten der jüdischen Gesprächspartner auch zufrieden sind. Ein paar wenige wird es immer geben, die noch was finden. Aber im Großen und Ganzen ist das Spiel angekommen in der heutigen Zeit und gibt dem jüdischen Anteil in der christlichen Geschichte eine angemessene Form und eine schöne Inszenierung. Viel schöner übrigens als dies bei manchen Liturgien inszeniert wird. Das kommt sehr stark und emotional rüber. Das Gebet ‚Schma Jisrael‘ vor dem Abendmahl ist so eine Szene, die man nicht mehr vergisst.“ Allerdings wisse man bei Stückl nie, was noch kommt, fügt er hinzu: „Der ist ja ein Bündel von Ideen. Der ruft dann an und 103


sagt: ‚Ich hab jetzt die und die Idee, was hältst du davon?‘ Wenn ich dann zögere, hat er schon die nächste Idee. Er ist absolut kompetent, und zwar in zweifacher Hinsicht: Er kennt die Bibel genau und die vielfachen Kommentare, und er ist ein begnadeter Regisseur, spontan, weitblickend und künstlerisch genial.“ Dass der Chor allerdings nicht mehr in liturgischer Kleidung auftreten und so ein Stück Feierlichkeit einbüßen wird, da ist Mödl noch skeptisch und ahnt, dass es Kritik geben wird. Aber er will sich überraschen lassen. Was man aber immer im Kopf haben müsse: Die Zuschauer und Zuschauerinnen wissen immer weniger vom Christentum, insofern muss man einige Sachen vielleicht noch verdeutlichen. Ganz so arg wie bei der japanischen Journalistin, die 2000 nach Oberammergau kam, sei es aber zum Glück eher selten, lacht Mödl: „Die war zuerst zwei Tage in Oberammergau und dann in Füssen beim König-Ludwig-Musical. Sie hat dann in einer Reportage geschrieben, dass es in Europa ein Dorf gibt, in dem 2000 Leute ein Theaterstück spielen über einen tollen Typen, der erst Sozialkämpfer ist, dann gekreuzigt wird und stirbt, schließlich vom Tod aufersteht, sich aber nach einiger Zeit aus Liebeskummer im Starnberger See ertränkt.“ Das Ludwig-Musical als Fortsetzung der Passion, Jesus, der aufersteht zum bayerischen Märchenkönig. So weit wird es nie kommen in Oberammergau, da brauchen sich die Stückl-Kritiker keine Sorgen machen.

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MAKING-OF. AUF DEM KREUZWEG ZUR PASSION

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ährend der Passion stehen in manchen Szenen über 600 Menschen gleichzeitig auf der Bühne. Dass das meist einigermaßen geregelt vonstatten geht, ist an sich schon beeindruckend. Dass sowohl das schauspielerische als auch das musikalische Niveau so hoch ist, dass man teilweise vergisst, es hier mit Amateuren zu tun zu haben, erstaunlich. Schon während ich 2010 in der Vorstellung saß, fragte ich mich: Wie machen die das? Wie kriegt man das organisiert? Und: Woher können die das?

Von Musikunterricht und Mangelinstrumenten

Tatsächlich hört man in Oberammergau im Grunde nie auf, sich mit Theater und Musik zu beschäftigen. Die Vorbereitungen für die nächste Passion beginnen, sobald die vorangegangene zu Ende gegangen ist. Das beginnt mit der musikalischen Früherziehung und Förderung der Kinder. „Die musikalische Ausführung wurde lange als dilettantisch kritisiert“, erzählte mir Markus Zwink im Oktober 2019 im Atelier des Passionstheaters. „Franz Liszt beispielsweise hat bei seinem Besuch 1870 wohl nur die erste Hälfte der Aufführung ertragen.“ Es war nicht unüblich, dass Leute nach Bedarf ein Instrument gelernt haben. Man hat geschaut, was fehlt, und jemanden motiviert, es zu lernen. „Manch einer hat in seinem Leben nie etwas anderes gespielt als die Passionsmusik“, so Zwink. Das Ergebnis war – wenig überraschend – nicht wirklich befriedigend. Also begann man allmählich, in die musikali105


sche Bildung der Bevölkerung zu investieren. Wer in Oberammergau Schullehrer werden wollte, musste musikalisch bewandert sein: singen, dirigieren oder arrangieren können. Am besten alles. Heute gibt es in Oberammergau zwei Mädchen- und zwei Bubenchöre, einen Jugend- und einen Erwachsenenchor, das örtliche Orchester sowie ein jugendliches Streichorchester, die „Nerven-Sägen“. Der Instrumentalunterricht wird von der Gemeinde großzügig bezuschusst. Wenn ein Kind es auf sich nimmt, ein sogenanntes „Mangel-Instrument“ wie Oboe oder Fagott zu lernen, werden sogar die Instrumente gestellt. Die Besetzung des Passions-Orchesters hat man hier immer im Hinterkopf, das Erlernen eines Instruments ist in Oberammergau nie reines Hobby. „Das Angebot wird gut angenommen“, erzählt Zwink. „Wir haben auch regelmäßige musikalische Events wie das Sternsingen, wo die alten Musiker und Chorsänger immer genau zuhören. So entwickeln die Kinder von klein auf ein Gefühl dafür, was Qualität ist.“ Ganz vermeiden lassen sich Lücken dennoch nicht. „Wir haben singende Frauen en masse und auch im Bass schaut es gut

Die musikalische Bildung der nachwachsenden Generationen hat für Markus Zwink hohe Priorität.

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aus. Aber Tenöre sind bei uns wie überall dünn gesät, die gibt es einfach weniger“, erklärt Zwink. Insgesamt ist er mit dem aktuellen Stand aber zufrieden: Es gibt einen Pool von 110 Musikerinnen und Musikern, im Orchestergraben sitzen immer um die 55. Auch der Chor ist doppelt besetzt. Natürlich proben Chöre und Orchester nicht nur im Passionsjahr: Zwischenjahre sind Übungsjahre.

Zwischenspiele

2005 hat Christian Stückl allsommerliche Zwischenspiele im Passionstheater etabliert, seitdem hört die Theaterzeit in Oberammergau auch in den Zwischenjahren nie wirklich auf. „Jeremias“ von Stefan Zweig war hier zu sehen, „Joseph und seine Brüder“ nach Thomas Mann, aber auch „Ein Sommernachtstraum“ von William Shakespeare. Wie bei der Passion stehen die Einheimischen auf der Bühne (wobei hier auch die mitmachen dürfen, die das Spielrecht für die Passion noch nicht haben). So spielen manche fast jedes Jahr Theater. Sie sind freilich noch immer Laien, aber durchaus geschulte. Und über die Jahre lernen Christian Stückl und sein zweiter Spielleiter Abdullah Kenan Karaca ihr potenzielles Ensemble kennen, was ihnen später bei der Besetzung für die Passionsspiele hilft. Rochus Rückel beispielsweise war bei der Passion 2010 als Kind dabei, seit 2012 hat er regelmäßig im Theatersommer mitgespielt: den Neffen von Moses, einen Handwerker im „Sommernachtstraum“, in „Kaiser und Galiläer“, der „Geierwally“, 2018 dann die Titelrolle im „Wilhelm Tell“. Es wurde immer mehr. „Das Theaterspielen hat mir total gefallen“, erzählt Rückel mir im Sommer 2021. „Das fehlt dieses und letztes Jahr während Corona total, das ist einfach ein Teil der Dorfkultur. 107


Man sieht sich jeden Abend im Theater, braucht gar kein Smartphone, um sich zu verabreden. Ein bisschen wie früher.“ Durch die regelmäßigen Spiele kennt Stückl seine Leute, beginnt im Grunde direkt nach der einen Passion, die Augen aufzuhalten für die nächste. Wer hat das Zeug zum Jesus? Wer könnte als Judas überzeugen? Denn wo es früher anscheinend RollenDynastien im Ort gab (Stückls Familie zum Beispiel war auf die Hohepriester gebucht), will er den Nachwuchs im Auge behalten und neue Talente fördern statt alten Klüngel. Für die 21 Hauptrollen, die doppelt besetzt sind, braucht er 42 Spielerinnen und Spieler. Auch wenn natürlich nicht alle Wert auf eine Sprechrolle legen und die meisten sehr zufrieden mit einem stummen Auftritt im Volk sind: Die Auswahl möglicher Spielerinnen und Spieler ist bei 2000 Mitwirkenden groß. Riesig. Christian Stückl kann gar nicht anders, als 24/7 auf Talentsuche zu sein: im Wirtshaus, auf der Straße, beim Einkaufen. Der Alltag im Ort ist für ihn immer auch ein großes Vorsprechen, ein immerwährendes Casting. In sein „Bücherl“ notiert er sich, wen er im Auge behalten will. So ist ihm beispielsweise Rochus Rückel schon vor Jahren aufgefallen, als Stückl mal einen Vortrag in der Schule gehalten hat: „Der hat mir mit 14 ein Loch in den Bauch gefragt“, erinnert er sich. „Sowas schreibe ich mir dann auf, dass ich den nicht vergessen darf.“ Als Rückel dann immer größere Rollen in den Zwischenspielen übernommen hat, hat Stückl ihn schon eine ganze Weile vor 2018 als möglichen Jesus ins Auge gefasst. Die explizite Bemühung um nachwachsende Generationen ist eine eher neue Entwicklung. Nach der Devise „einmal Jesus, immer Jesus“ spielten viele, solange sie konnten. Ob Spieler- und Rollenalter dabei irgendwie zusammenpassten, war eher unwichtig. Da die Frauen zudem alle unter 35 sein mussten, war die Maria nicht selten deutlich jünger als ihr Sohn. Wenn eine 108


Darstellergeneration zu alt wurde, fehlte es schon mal an zukünftigen Spielern. Das jahrzehntelange Beharren auf dem Althergebrachten und das Ausbremsen aller Reformansätze motivierte die Jugend in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts immer weniger zum Mitspielen. Bevor Stückl 1990 die Spielleitung übernahm, waren die Spiele eine angestaubte, in die Jahre gekommene Angelegenheit. Eine Sache der Väter und Großväter, eher Anlass zu Boykott und Auflehnung als Anziehungspunkt für einen kritischen und rebellischen Nachwuchs. Das ist heute anders. Sophie Schuster zum Beispiel sagt ganz klar, dass sie in „Ogau“ bleiben will – wegen der Passion: „Es gibt ja auch viele, die woanders studieren, aber zur Passion trudeln alle wieder hier ein. Weil jeder dabei sein will. Das macht einfach unfassbar viel Spaß und stärkt den Zusammenhalt. Das ist nur alle zehn Jahre, da wollen alle dabei sein. Die meisten lassen eh ihren ersten Wohnsitz in Oberammergau, wenn sie studieren gehen; die anderen verlegen ihn rechtzeitig wieder zurück, um mitmachen zu können.“ Dieses Heimkehren für die Passion gab es auch in früheren Zeiten. Die Anziehungskraft des gemeinsamen Theaterspielens war immer groß, oftmals größer als das Fernweh. Anton Lang formulierte das schon 1930. Und auch wenn der Inhalt ähnlich dem ist, was Sophie Schuster heute sagt, kommt es bei ihm doch sehr viel pathetischer daher: „Was die Passion bedeutet für den Oberammergauer? Alles. Er lebt und stirbt für die Passion. […] Der Oberammergauer fühlt immer eine geheime Sehnsucht, in der Passionsspielzeit treibt es ihn heim, besonders jüngere Leute, die auswärts sind. Ist jemand verhindert durch Studium, oder ist einer in Dienst oder in Stellung, so klagt er: ,Ich bin ein Oberammergauer Kind und soll nicht mitspielen!‘ So geht es allen, die draußen sind.“66

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Rollenwunsch: Römer

Die konkreten Vorbereitungen für die Passionsspiele beginnen im Vor-Vor-Jahr der Premiere, gut ein Jahr vor Probenbeginn. Alle Interessierten müssen dann ein Bewerbungsformular bei der Gemeinde abgeben, das bürokratisch genau auf die Erfüllung des Spielrechts geprüft wird. In diesem Formular gibt man an, ob und wen man schon gespielt hat – und optional einen Rollenwunsch. Tatsächlich kommt es eher selten vor, dass jemand in dieser Kategorie „Jesus“ nennt, erzählt Christian Stückl. Das Feld „Rollenwunsch“ lassen tatsächlich die meisten frei, aber manchmal steht da eben doch „Maria“, „Judas“ oder gar „Spielleiter“. Meist ist das ein Scherz, doch einer hat es Stückl mal sehr verübelt, als er seine Bewerbung als Pilatus als Witz interpretiert hat. „Der ist gegangen und hat nie wieder mitgespielt“, erzählt Stückl. Einen Wunsch haben aber doch einige: „Römer“. Die Rollen der römischen Soldaten sind deshalb besonders begehrt, weil diese vom Haar- und Barterlass befreit sind … Da wird auch mal eine Schuppenflechte als medizinischer Grund vorgetäuscht, warum Mann sich auf gar keinen Fall die Haare wachsen lassen kann. (Vor allem bei den Singles ist das ein Argument. Die langen Bärte kommen bei den Damen dann anscheinend doch nicht ganz so gut an.) Ansonsten wird abgefragt, ob man tagsüber spielen kann oder nur abends und wie oft man zur Verfügung steht. Ungefähr 110 Vorstellungen gibt es pro Spieljahr, 55 sind das erforderliche Minimum (bis 2010 waren es sogar 80). Wer weniger Zeit hat, kann bei der Verteilung der Rollen nicht berücksichtigt werden. Denn nur die 21 Hauptrollen werden seit 1980 doppelt besetzt, alle anderen werden im Notfall von jemand anderem vertreten. Alle diese (ungefähr 2000) Bewerbungszettel gehen an Christian Stückl. Der lässt erst mal den Feuerkommandanten seine Leute 110


rausholen und Markus Zwink Chor und Orchester. Dann sind es noch 1700. Wenn der Technische Leiter seine Techniker rausgefischt hat, sind es wieder fünfzig weniger. Jetzt fängt Stückl an, in Stapel zu sortieren: „1er könnten Hauptdarsteller sein, 2er Nebendarsteller, außerdem gibt es ‚interessante Leute, die ich noch nie gesehen habe‘. Mit denen mache ich ein Vorsprechen. Dann sortiere ich die Gruppen wie Römer und Rotte raus, und irgendwann wird es immer klarer und dünnt sich aus.“ Bis zum letzten Tag wird hin- und hergeschoben, wer wen spielen könnte; es gibt Vorsprechen im Passionstheater, es wird geschaut, wessen Stimme bis in die hinteren Reihen trägt. Stückl erklärt den Jugendlichen, wie man auf einer großen Bühne spricht, dass man nicht schreien muss, um verstanden zu werden. Da gilt es dann auch psychologisch vorzugehen, weil „einer geniert sich vorm anderen“67, wenn es darum geht, in der Gruppe vor den Kumpels zu sprechen. So ein Hauptdarsteller muss teamfähig sein, die Stimme haben und – ganz subjektiv – die richtige Ausstrahlung haben, erklärt Stückl.68 Seit 2010 schlägt Stückl dem Gemeinderat eine Besetzung vor, die er „auf Herz und Nieren geprüft“ hat. Vor diesem Termin schläft er nächtelang nicht und hat „totale Panik“. Denn der Gemeinderat hat ein Vetorecht, das aber noch nie zum Tragen kam. Zum Glück: 2010 zum Beispiel hatten Stückl und sein zweiter Spielleiter Otto Huber drei mögliche Christus-Kandidaten im Kopf, zwei Favoriten. Hätte der Gemeinderat zwei abgelehnt, wäre Stückl auch nichts mehr eingefallen.69 Früher war das Besetzungs-Verfahren sehr viel komplexer: Gemeinderat und Spielleiter haben Vorschläge gemacht. Aus beispielsweise acht möglichen Jesus-Darstellern wurden dann in einer ersten Wahl drei Kandidaten für die engere Wahl festgelegt. 1990 lief Stückl also von einem zum anderen Mitglied des Gemeinderats, um Überzeugungsarbeit für seine Wunschbesetzung zu leisten. 111


Carsten Lück als ersten Protestanten in einer Hauptrolle durchzubringen war damals „echt ein hartes Stück Arbeit“, so Stückl. Das war es ihm wert, war es doch eines der wenigen Dinge, die er damals noch auf den Weg bringen konnte, nachdem sein Bühnenbild und seine Textreform bereits abgeschmettert worden waren. Es kam wohl zu turbulenten Szenen, eine Fraktion verließ zeitweise wütend den Saal, manch einer wollte in der Folge Stückls Großvater rauswählen, um es ihm heimzuzahlen. „Das hat zum Glück nicht geklappt, sonst hätte ich daheim den Ärger gehabt“, erinnert er sich. 2000 setzte Stückl eine offene Wahl per Akklamation durch, die im Grunde bereits in der Gemeindeordnung verankert war, 2010 dann das neue Verfahren. „Jetzt ist es viel ruhiger, die Leute akzeptieren das auch viel besser als diese geheime Wahl im Gemeinderat, bei der die Zugehörigkeit zu einer Partei oder einem Verein oft wichtiger war als die schauspielerische Qualität“, denkt Stückl. Am 20. Oktober 2018 war es dann so weit: der Tag der „Spielerwahl“. Diese ist ein feierlicher Akt im Dorf – und ein heiliger Moment. An diesem Tag beginnt offiziell die Passionssaison. Eingeleitet wird sie durch einen Umzug von der katholischen zur evangelischen Kirche und ins Passionstheater. Im Rahmen eines festlichen ökumenischen Gottesdienstes erneuerten die Oberammergauer dort ihr historisches Gelübde, mit dem vor beinahe 400 Jahren alles begann: „Eingedenk des Gelübdes und getreu dem Verspruch unserer Vorfahren, führt Oberammergau im Jahre 2020 das Passionsspiel auf.“ (Für 2022 behält das seine Gültigkeit.) Anschließend wurden die Hauptdarsteller und Hauptdarstellerinnen der Passionsspiele 2020 vor dem Passionstheater bekannt gegeben. Um es spannend zu machen (und weil es so Tradition ist), wurden ihre Namen Buchstabe für Buchstabe mit 112


Die „Spielerwahl“ ist ein fast schon heiliger Moment im Ort. Nun beginnt für alle die Passionszeit.

Kreide in Schönschrift auf eine riesige Tafel geschrieben. Neben „Judas“ erschien da dann zum Beispiel: Cengiz Görür. Der konnte es ebenso wenig fassen wie seine Familie und seine Freunde. Sofort war er eine kleine Sensation, auf die sich die Presse gerne stürzte: der erste Muslim, der eine Hauptrolle bekommt. Auf den kleinen „Shitstorm“, der erwartungsgemäß losbrach wie bei jeder Neuerung beim Traditionsgut Passionsspiel, reagierte Görür gelassen. Sophie Schuster empfand den Moment, als ihr Name auf die Tafel geschrieben wurde, als „irgendwie surreal“. Natürlich hatte sie sich gedacht, dass sie gerne eine Sprechrolle spielen würde. „Aber ich wusste natürlich auch, dass es nicht viele Frauenrollen gibt. Es sind ja eigentlich nur sechs Hauptdarstellerinnen. Also bin ich nicht wirklich davon ausgegangen, dass es klappt“, erzählt sie. „Als dann mein Name draufstand, war das krass. Ich habe mich gefreut, hatte aber auch einen Heidenrespekt davor. 113


Das musste ich erst mal sacken lassen. Es hat ein paar Tage gedauert, bis ich das wirklich realisiert habe.“

Der Haar- und Barterlass

Am Aschermittwoch im Jahr vor der Passion beginnt dann der für alle im Ort sichtbare Countdown bis zur Premiere: Der „Haarund Barterlass“ fordert „alle weiblichen und männlichen Mitwirkenden und alle Kinder, die an den Passionsspielen teilnehmen“ auf, sich fortan „die Haare, die Männer auch die Bärte, wachsen zu lassen“. Kein Friseurbesuch also von Aschermittwoch des Vorjahres bis nach der letzten Vorstellung im Oktober des Folgejahres. Eine haarige Zeit im Ort. Die Gesichter der Oberammergauer, vor allem die der Männer, zeigen an, wie die Premiere näher rückt. Am Faschingsdienstag 2019 hatten die Friseure im Ort nochmal richtig was zu tun, die letzte Rasur der Jesus-Darsteller wurde zelebriert und von lokalen Fernsehsendern für die Ewigkeit festgehalten. Am Tag nach dem Erlass beginnt für die Friseure dann eine sehr ruhige Zeit. Nur die, die nicht mitspielen, die Darsteller der Römer und vielleicht der eine oder die andere Durchreisende kommen noch zum Haareschneiden, die anderen höchstens mal zum sanften Bartstutzen. (Als aufgrund der Verschiebung auf 2022 der Haar- und Barterlass im Februar 2021 wiederholt werden musste, war einiges anders als sonst: Die Friseure waren aufgrund des Corona-Lockdowns ohnehin geschlossen, die Haare vieler Beteiligter auch vor diesem Stichtag schon länger keiner Schere mehr begegnet.) Der Erlass ist ein skurriler, aber auch charmanter Brauch. „Das ist eine sehr alte Tradition“, erklärt Christian Stückl. „Wäh114


rend früher nur Männer dazu aufgerufen wurden, sich Haare wachsen und Bärte stehen zu lassen – Frauen trugen ihre Haare sowieso lang – gilt der Erlass heute für beide Geschlechter gleichermaßen.“ Wann genau diese Regel eingeführt wurde, lässt sich nicht mit Sicherheit feststellen. Aus dem Jahr 1950 ist ein Plakat mit dem Erlass erhalten, doch schon auf Fotos der Passionsspiele von 1870/71 tragen die Mitwirkenden lange Haare und Bärte. Seit die Spiele in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts weltbekannt wurden und die Vorstellungszahl anstieg, lohnte sich der Aufwand, um auszusehen, wie man sich das Volk Israel eben vorstellte: mit langen Haaren und bärtig. Das Volk auf der Bühne soll einen möglichst homogenen historischen und langhaarigen Eindruck machen. Und wenn dann bei den Aufführungen all die bärtigen alten und jungen Herren im Kostüm auf der Bühne stehen, sieht das wirklich eindrucksvoll

Damit am Ende auf der Bühne alle lange Haare und Bärte haben, müssen Friseure schon im Jahr vor der Premiere gemieden werden.

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aus. Der Einsatz von Perücken und falschen Bärten ist bei der großen Anzahl der Beteiligten keine Option. Der Erlass soll auch verhindern, dass bunt gefärbte Haare oder trendige Kurzhaarfrisuren die einheitliche Optik stören. Denn Färben ist selbstverständlich ebenfalls verboten in der friseurtechnischen Fastenzeit. Darüber hinaus ist das Haarewachsenlassen eine tägliche Erinnerung an das gemeinsame Projekt, eine gemeinschaftsstiftende Geste und eine der Demut, des Zurücksteckens der eigenen Bedürfnisse für ein höheres Ziel. Der Erlass gilt für alle Beteiligten. Vom Bürgermeister bis zum Hotelier, von der Studentin bis zur Töpferin. Das monatelange Haarewachsenlassen macht aus den Einzelnen eine Gemeinschaft, es ist eine rituelle Annäherung an Spiel und Rolle. „Normal verwandelt man sich in der Maske in ein, zwei Stunden in die Figur, die man spielt“, erzählt mir Andreas Richter, der 2010 die Rolle des Jesus hatte und 2022 den Kaiphas darstellen wird. „Hier aber wird man über die Monate allmählich zu dem, den man spielt. Man schaut jeden Tag in den Spiegel, sieht die Veränderung und wächst wirklich in die Rolle rein.“ Je nach Beruf wurden die langen Haare für den einen oder anderen aber durchaus schon zum Problem. Es wird erzählt, dass Josef Mayr, der Christus-Darsteller von 1870, sich während seines Militärdienstes in der Kaserne wegen seiner langen Haare und des Barts vor dem Kommandanten verstecken musste. Auch der Oberammergauer Bürgermeister Andreas Rödl, der beim Erlass 2019 noch im Polizeidienst war, musste sich für seine Frisur eine Ausnahmegenehmigung vom Innenministerium besorgen. Denn eigentlich galt bei der Polizei: Die Haare dürfen nicht auf dem Hemdkragen aufstehen oder gar länger sein. Die Genehmigung bekam er. Grund war die Entfaltung der persönlichen Freiheit, die mehr wog als der einheitliche Beamten-Look. 116


Wer in Oberammergau aufwächst, beschäftigt sich zwangsläufig intensiver mit Kopf- und Barthaaren als der Rest der Welt. Vor allem den Buben fordern die Haar- und Barterlässe durchaus ein gesundes Selbstbewusstsein ab. Wie mir einige erzählen, wurden sie regelmäßig für Mädchen gehalten. In Kombination mit einem in der Pubertät spärlichem und eher uncoolem Bartwuchs ist das nicht ganz einfach für einen Heranwachsenden. Zwischen zehn und zwanzig Jahren erwischt es jeden in einer schwierigen Phase, weiß auch Andreas Richter: „Da ist man irgendwo zwischen Kindheit und Erwachsensein. Und dann hat man plötzlich lange Haare und ein paar Haare im Gesicht. Wächst da überhaupt was? Wie viel? Will man eigentlich, dass da schon was wächst? Das ist eine Herausforderung, durch die alle Oberammergauer in ihrer Jugend durchgegangen sind.“ In einem Alter, in dem man sich auch optisch von anderen und vor allem von seinen Eltern abgrenzen will, wird auf einmal etwas so Persönliches wie die Frisur von außen diktiert. „1968 muss schlimm gewesen sein“, denkt auch Christian Stückl. „Da konnten sich die jungen Hippies nicht durch lange Haare von ihren Eltern abgrenzen. Wir sind halt seit 200 Jahren ein Dorf von Hippies.“ In einem Punkt sind sich alle einig: Blöd ist die Übergangsphase, wenn die Haare nicht mehr kurz, aber auch noch nicht lang sind. Wenn Mann einfach aussieht, als würde er sich gehen lassen. (Auch wenn das in Corona- und Lockdown-Zeiten ein durchaus über Oberammergau hinaus verbreiteter Look war.) „Die Proben fangen ja erst nach der wirklich schlimmen Zeit an, da sind die Haare schon einigermaßen lang“, so Andreas Richter. „Vorher sieht man sich aber im Ort und denkt: ‚Der schaut aber schlecht aus, ist der krank?‘ Dann kommt’s einem: ‚Nein, der lässt sich einfach grad zuwachsen.‘“ Richter mag diese Zeit, in der sich alle äußerlich, aber auch innerlich verändern. „Es ist lustig, wie man 117


sich in der Gruppe der Männer während der Proben auf einmal über Haar- und Bartfragen unterhält“, lacht er. „Da sieht man auf einmal Herren mit merkwürdigen Bändern und Reifen im Haar. Jeder versucht, einen individuellen Look zu finden, obwohl er im Grunde aussieht wie alle anderen.“ Abgeschnitten werden dürfen die Kopf- und Gesichtshaare erst nach der letzten Vorstellung. Und auch wenn die langen Mähnen und zotteligen Bärte bis dahin so manchen nerven: Neben der eindrucksvollen Ästhetik schweißen sie zusammen. Geteiltes Leid ist halbes Leid. Wenn einer sich nicht rasieren darf, ist er ein armer Hund. Wenn alle sich nicht rasieren dürfen, werden sie zu einer Gemeinschaft, in diesem Fall: zu einem Ensemble.

Vor-Ort-Termin: Israel

Im September vor jeder Passion kommt das Kernensemble immer auf einer ganz besonderen Team-Bildungs-Fahrt zum ersten Mal zusammen: Für eine Woche reisen sie auch 2019 nach Israel, zu den Orten, an denen der historische Jesus gewirkt haben soll und die Teil der Legende geworden sind. Dabei sind alle Hauptdarstellerinnen und Hauptdarsteller sowie Regisseur Christian Stückl. Parallel unternimmt der Musikalische Leiter Markus Zwink mit seinem Musikensemble ebenfalls eine Reise nach Israel. Seit Christian Stückl 1990 die Spielleitung übernommen hat, ist diese Tour zur Tradition geworden. Vorher gab es zur Einstimmung kollektiven Religionsunterricht im Wirtshaus, eine eher trockene Angelegenheit. Und eine, die kaum den Blick geweitet hat. „Da kamen wirklich unerträgliche Theologen aus München zu uns ins Gasthaus, die wurden vom Bischof zur 118


‚Volksmission‘ geschickt“, erzählt mir Stückl. „Alle saßen hinter ihrem Bier, haben sich was über die Motivation von Judas angehört und gehofft, dass es bald vorbei ist. So treibt man die Leute wirklich von der Religion weg.“ Er sprach mit Kardinal Wetter über seine Idee, diesen Frontalunterricht durch eine Reise nach Israel zu ersetzen. Der hat das sofort unterstützt. „Es ist halt was anderes, wenn du selbst in dem Dorf stehst, wo alles losging, wo sich junge Männer zusammengetan haben, um die Welt zu verändern. Das wird gleich viel lebendiger“, so Stückl. Darum jetzt also Israel. Die Bärte und Haare sind inzwischen seit über einem halben Jahr gewachsen. Die Bilder und Videos der Reise, die ich mir anschaue, zeigen eine recht eigentümliche Pilgergruppe. In einem Café an der Via Dolorosa, dem Kreuzweg in Jerusalem, hat Frederik Mayet eine hier alltägliche Szene gefilmt. Während der Barmann drinnen routiniert einen Espresso aus der Maschine lässt, schiebt sich draußen eine kleine Prozession durch die enge Gasse von der Altstadt zur Grabeskirche, dem vermeintlichen Ort der Kreuzigung Jesu. Fünf Männer und Frauen tragen oder vielmehr schleppen ein schweres Kreuz aus Holz am Fenster vorbei, die anderen folgen ihnen singend. Mayet und die anderen Hauptdarsteller und -darstellerinnen mischten sich unter all die Gläubigen, die Christen, Juden und Moslems, die in dieser Stadt mit- oder doch eher nebeneinander existieren. Hier kann sich jeder ein Kreuz mieten oder für ein paar Schekel eine Dornenkrone kaufen, um sich einen Tag wie Jesus zu fühlen. Und ein bisschen geht es auch den Theater-Pilgern darum: der Geschichte von Jesus, die sie später zusammen auf die Bühne bringen werden, nachzuspüren. Untergebracht war die Oberammergauer Gruppe im österreichischen Pilger-Hospiz direkt an der Via Dolorosa. An der Wand hängt eine Tafel zum Gedenken an den Besuch des beina119


Das Ensemble im September 2019 auf dem See Genezareth.

he legendären Jesus-Darstellers Anton Lang, der 1911 auf eigene Faust hierher gepilgert war. Man sieht ihn auf Fotos mit langen Haaren und Bart in seiner Töpferwerkstatt und als Jesus im Spiel. Darunter steht als Erklärung: „Er verkörperte Jesus drei Mal bei den Passionsspielen (1900, 1910 und 1922) und erlangte damit eine weit über Europa hinausgehende Berühmtheit. So schrieb beispielsweise die New York Times im Jahr 1922 über die Passionsspiele und deren Hauptdarsteller Lang; sie mokiert sich aber gleichzeitig darüber, dass die Berliner Regierung zu wenig unternehme, um dieses Schauspiel auch amerikanischen Touristen zugänglich zu machen.“ Nun ja, das hätte sie freilich tun können, die „Berliner Regierung“. Wer den Text auf dieser Tafel verfasst hat, ist leider nicht bekannt. Drinnen im Hospiz gab es Wiener Kaffeehauskultur, draußen Falafel, Granatäpfel und Hummus. Wie bei einer Klassen120


fahrt standen gemeinsame Ausflüge und viele Gespräche auf dem Programm, die die Gruppe enger zusammengebracht haben. Viele kannten sich vorher gar nicht. Der Altersunterschied zwischen dem jüngsten Teilnehmer (16 Jahre) und den Ältesten (78 Jahre) betrug immerhin über sechzig Jahre. „Das ist schön, dass durch die Passion unterschiedliche Generationen zusammenkommen und man sich Menschen nähert, mit denen man im Alltag wenig zu tun hat“, beschrieb Eva Reiser diese Erfahrung nach der Reise. Denn natürlich war auch Zeit für private Erkundungen und das obligatorische Bad im Toten Meer. Und das sieht dann schon recht lustig aus, wenn man die Filmaufnahmen der Reise von 2009 sieht: lauter Bärtige, Alte und Junge, die einen mit Strohhut, die anderen mit einer Flasche Bier in der Hand, wie sie gemeinsam mit Thomas Frauenlob von der Bildungskongregation des Vatikans auf dem Wasser treiben. Da sitzen sie auch mal abends mit Gitarre und einem Bier beisammen, singen und unterhalten sich über nicht weniger als Gott und die Welt.70

Nach der Reise zeigten sich alle, mit denen ich sprach, beeindruckt. „Mir war nie klar, dass Jesus und seine Jünger tiefgläubige Juden waren“, erzählte mir zum Beispiel Rochus Rückel. „Die haben keine neue Religion auf die Beine gestellt, sondern versucht, den jüdischen Glauben in seiner tiefsten Form zu leben und zu vergessenen Werten zurückzukehren.“ Dass er die Schauplätze der Passion selbst gesehen hat, durch die Steppenlandschaft am See Genezareth gewandert ist, die Grabeskirche und den Tempelberg besucht hat, hilft ihm bei der Annäherung an seine eigene Jesus-Darstellung. „Wenn ich mir jetzt meine Geschichte zusammenbaue, habe ich ein reales Bild von der Ortschaft im Hinterkopf. Ich kann mir vorstellen, wie es damals ausgesehen hat“, so Rückel. Das geht Mayet ähnlich. Denn auch wenn sich natürlich viel verändert hat in den vergangenen 2000 121


Jahren: Die Distanzen sind die gleichen, die Blicke vom Ölberg ähnlich. „Wenn man das kennt, geht man mit einem anderen Gefühl ins Spiel“, glaubt er. Neben der Erkundung der Landschaft und der OriginalSchauplätze geht es Christian Stückl aber immer um die Konflikte, die der Geschichte zugrunde liegen und auch ihre Rezeption über die Jahrhunderte geprägt haben: die Auseinandersetzung mit dem Judentum, die jahrhundertelange Verbreitung antisemitischer Botschaften durch die Passionsspiele und ihre politische Vereinnahmung im Dritten Reich. Darum traf sich die Reisegruppe auch mit dem Holocaust-Überlebenden Abba Naor. Sie sprachen über die Shoa, über den Glauben und das Verzeihen. „Ich habe ihn gefragt, ob er noch Hass verspüre“, erinnert sich Mayet. „Das hat er verneint. Er will den Hass durchbrechen, ihn nicht an seine Kinder weitergeben. Man hat nur ein Leben, hat er gesagt, und das Leben ist eine feine Sache, also nutzt es.“ Ein lebendes Beispiel für die von Jesus gepredigte Feindesliebe, also den Versuch, Hass und Feindschaft durch Verzicht auf Rache zu überwinden. Solche Begegnungen und die Besuche der Internationalen Holocaust Gedenkstätte Yad Vashem lassen für Stückl keinen Zweifel: „Unsere Aufgabe als deutsches Passionsspiel ist es, solche [antisemitischen] Sachen auf ewig rauszunehmen.“71

Vorbereitungen im Hintergrund

Die konzeptionelle Arbeit an der Passion ist längst in vollem Gange, wenn das Ensemble nach Israel reist. Seit 2000 bildet Stückl mit dem musikalischen Leiter und Komponisten Markus Zwink und Bühnen- und Kostümbildner Stefan Hageneier so etwas wie ein Triumvirat der Passionsspiele, ein künstlerisches 122


Dreigestirn. Alle drei vereint der Wille, ästhetisch und inhaltlich auf der Höhe der Zeit zu bleiben, sich alle zehn Jahre einer sich verändernden Welt und ihren Konflikten zu stellen. Stückl feilt am Text, Hageneier an der Ästhetik, Zwink an der Musik. Es ist längst Tradition geworden, die Handlung auf ihre Gültigkeit für uns zu befragen. Stückl lässt Jesus mehr zu Wort kommen, er will herausarbeiten, was Jesus wollte, ihn als politisch engagierten Menschen zeigen. Er gibt ihm mehr Text, um seine Anliegen klarzumachen, zum Beispiel aus der Bergpredigt. Den Judas eindimensional als Verräter zu zeigen, auch das genügt Stückl nicht. Er sieht ihn komplexer, eher als einen Freund, der irgendwann abtrünnig geworden ist: „Jesus hat sich nicht von vornherein einen ausgesucht, der nur eine miese Type war“, so Stückl. „Dann täte ich an Jesus zweifeln.“72 Er will keine Stereotypen reprodu-

zieren, sondern das Publikum mit den Fragen entlassen, die auch sie im Team sich monatelang stellen. Das Gelübde nur abzuarbeiten und die Passion als lukratives Touristenspektakel durchzuführen, darum kann es schließlich nicht gehen. Alle drei, Stückl, Hageneier und Zwink, haben die Kunst zu ihrem Beruf gemacht, auch außerhalb Oberammergaus und der Passionsspiele. „Natürlich ist das eine ungewöhnliche Aufgabe, dieselbe Geschichte alle zehn Jahre wieder anzugehen“, erzählte Hageneier mir bei meinem ersten Besuch. „Aber man selbst verändert sich in diesem Zeitraum, und natürlich auch die Situation, in der wir leben.“ So wird sich diesmal zum Beispiel die Flüchtlingsthematik in den Lebenden Bildern wiederfinden, die das Geschehen in einen größeren Zusammenhang einbetten: „Wir führen die Lebenden Bilder inhaltlich stärker zusammen, indem sie sich zu einer durchgängigen Erzählung des vertriebenen und unterdrückten jüdischen Volkes zusammenfügen“, so Hageneier. 123


Während diese Bilder in starken Farben gestaltet werden, setzt er für die Spielszenen auf „Farblosigkeit“: „Ich habe hier eine 45 Meter breite Bühne und einen großen Zuschauerraum. Da brauche ich eine Fernwirkung“, erklärt er. „Auch spielen wir ja zum Großteil bei Tageslicht und haben keine Lichtführung. Das Volk muss also in die Bühne integriert werden und optisch in den Hintergrund rücken, damit die Hauptfiguren vorne gut zur Geltung kommen.“ Die Grundfarbe der Bühne ist gleichzeitig die Grundfarbe der Kostüme für das Volk. Hageneier reaktivierte die Kontakte zu seinen Stofflieferanten in Indien, schickte ihnen beige-graue Farbproben der Bühne und Entwürfe für Muster – und gab tausende Meter eigens gefärbten Stoff in Auftrag. Diese werden kombiniert mit alten Stoffen: „So ein echter Silber-Brokatstoff hat einfach auf der Bühne eine ganz andere Wirkung als ein eingefärbter“, davon ist Hageneier überzeugt. Dabei bleibt er immer in einer historischen Ästhetik. Der Ehrgeiz der Passionsspiele ist es nicht, das Geschehen ins Heute zu übertragen. „Wir wollen hier nicht das zeitgenössische Theater aufrollen und die Römer als Nazis darstellen“, so Hageneier. „Sie stehen einfach für eine militärische Macht, für eine Gewalt. Wie stellt man das also dar? Es muss vorstellbar sein, dass sie so ausgesehen haben. Die Herausforderung dabei ist, dass sie nicht zu sehr wie die Römer bei Asterix und Obelix aussehen und zu Witzfiguren werden.“ Die Ausstattung für die fünf Stunden lange Aufführung ist unglaublich vorbereitungsintensiv. Alle zehn Jahre gönnt man sich hier mehr Aufwand, als anderswo denkbar wäre. Nicht nur bei den Flügeln mit ihren tausenden Federn. Neue Kreuze aus massivem Holz müssen her, weil eine Wiederverwendung der vor zehn Jahren allzu beanspruchten Vorgängermodelle schon aus Sicherheitsgründen nicht zu verantworten wäre. Immerhin hängt Jesus mit den Füßen drei Meter hoch über der Bühne. Die Aus124


stattung für sämtliche Lebenden Bilder muss hergestellt, ein halbes Dorf für das kollektive Theaterspiel eingekleidet werden. Die Mitspielenden werden vermessen, ihre Kostüme genäht und anprobiert. Zu Beginn der Spiele erneuern diesmal Chor und Volk in historischer Tracht das Gelübde von 1633. Also: noch ein Satz komplett neuer Kostüme. Neun Kubikmeter Styropor verwandeln sich in 300 Stunden Bildhauerei und 180 Stunden Malerei in ein beeindruckendes Goldenes Kalb. Für jede Vorstellung stellt Barbara Lampe in ihrer Töpferei einen riesigen Tonkrug her, den Jesus in der Händlerszene im Tempel auf dem Boden zerschmettern wird.

Der Ort des Geschehens

Als ich 2019 mit Stefan Hageneier durchs Passionstheater ging, war die Hauptbühne eingerüstet. Da wurde gemauert, verputzt, gemalert. Mit normalem Theaterbau hatte das wenig zu tun. Keine Sperrholzkulissen, sondern Ziegelwände, keine Prospekte, sondern Fassadenfarben. Ohnehin umwehte mich beim Rundgang über die Bühne und durch die Werkstätten eher ein Hauch von Ewigkeit als die Flüchtigkeit des Theaters. Und tatsächlich erhielt der Bau ein Jahr später, im Oktober 2020, eine Art Ewigkeits-Gütesiegel: Das Passionstheater wurde unter Denkmalschutz gestellt. „Schützenswert ist das Bauwerk aufgrund seiner besonderen Konstruktion und Gestaltung, der seltenen Technik im Bühnenhaus und seiner hohen geschichtlichen Bedeutung für das Volks- und Laientheater“, hieß es in der Pressemitteilung des Bayerischen Landesamts für Denkmalpflege. Und: „Nachdem die Oberammergauer Passionsspiele bereits zum immateriellen UNESCO-Weltkulturerbe gehören, würdigt der Eintrag 125


Für die jetzigen Spiele gestaltete Stefan Hageneier das Bühnenhaus um, bis 2010 wurde in dem Aufbau von 1930 gespielt.

des Theaterbaus in die Denkmalliste nun auch ihr bauliches, ihr materielles Erbe.“ Unter Denkmalschutz steht nun der momentane Stand. Zu dem gehört wohl auch das Bühnenbild von Stefan Hageneier. Gut, es ist kein gewöhnliches, mobiles Bühnenbild wie in einem normalen Theater, keine Attrappe, sondern fest gemauert und verputzt. Dennoch ist das für einen Bühnenbildner ein seltener, wenn nicht gar einmaliger Ritterschlag. Denn tatsächlich wurde für die Spiele 2020/22 erstmals seit Langem wieder richtig Hand an die Bühne gelegt, heißt: Es wurde nicht nur gestrichen, sondern wirklich in Form und Gestaltung eingegriffen. „Stefan Hageneier hat versucht, eine gleichmäßigere und ruhigere Linie reinzubringen“, erklärte mir Carsten Lück, als ich wiederum mit ihm durchs Theater spazierte, um mir die baulichen Details erklären zu lassen. Die vormals runden Bögen wurden durch ge126


rade Abschlüsse ersetzt, alles mit grauem mineralischem Putz versehen. Davor spielte man jahrzehntelang auf dem Bühnenaufbau von 1930. In Zukunft müssen nun alle Baumaßnahmen mit der Denkmalschutzbehörde abgesprochen werden. „Das macht es etwas komplizierter“, so Lück, „heißt aber nicht, dass es keine Veränderungen mehr geben wird.“ Und betont, dass sie auch die bisherigen Umbauten mit großer Sorgfalt durchgeführt haben: „Wir haben immer darauf geachtet, so dezent wie möglich vorzugehen.“ Im Passionstheater ist alles auf die besonderen und sich ändernden Bedürfnisse der Spiele ausgelegt. Die Oberammergauer waren schon immer kreativ, wenn es darum ging, das Notwendige und Gewünschte möglich zu machen. Da gibt es einiges, was es sonst nicht gibt im Theater, zum Beispiel die „Eselrampe“, über die die Theatertiere bequem auf die Bühne kommen. Damit auch die Kamele sich nicht den Kopf anstoßen, wurde der Eingang nach oben vergrößert. Der Eiserne Vorhang, der Bühne und Zuschauerraum brandschutztechnisch voneinander trennt, öffnet sich wie ein „Fischmaul“ nach oben und unten anstatt einfach hochgezogen zu werden. Letzteres wäre auch gar nicht möglich, weil es keinen Schnürboden gibt. Platz ist hinter der Bühne ohnehin Mangelware, alles ist streng nach Logik und Ablauf organisiert. Weil zum Beispiel der Chor so viele Auftritte hat, sind die Chorgarderoben der Bühne am nächsten. Das Volk muss sich gestaffelt umziehen, weil der Platz in den Garderoben für alle gleichzeitig nicht ausreicht. Es steckt viel Logistik dahinter, die zunehmende Anzahl an Teilnehmenden ohne Stau auf die Bühne zu kriegen und wieder herunter. Das Theater in seiner jetzigen Form ist sehr viel jünger als die Spiele selbst. 1830 wurden die Spiele auf die Passionswiese im Norden des Ortes verlegt: König Ludwig I. hatte die Durch127


führung nur unter der Bedingung erlaubt, dass sie nicht mehr auf dem Friedhof stattfänden. (Dieser war nach den Spielen wohl immer recht verwüstet gewesen.) Die Zuschauer saßen zunächst auf Holztribünen überwiegend im Freien, nur die Logen waren überdacht. Teilweise war das wohl einigermaßen abenteuerlich, wie Burton – wie gewohnt leicht übertrieben – schildert: „Unter den derben Bauern […], die das Publikum bilden, würde ein geöffneter Regen- oder Sonnenschirm sofort niedergeschlagen werden; Männer und Frauen schützen ihre Köpfe mit breiten Hutkrempen oder Tüchern, so gut es ihnen möglich ist. […] Der Zuschauerraum ist ordentlich gebaut, durch das Gewicht aber wacklig, was die Nervösen unangenehm beunruhigt und hässliche Vorkommnisse verheißt.“73 Zu diesen „hässlichen Vorkommnissen“ kam es zum Glück nicht: Weder stürzte das provisorische Gebäude ein, noch kam es zu einer Massenpanik. 1899 dann entwarf der Münchner Hoftheateringenieur Max Schmucker ein festes Zuschauerhaus, das auf der Passionswiese errichtet wurde. „Die Sitzplätze erheben sich ansteigend nach rückwärts, so dass für die höhergelegenen Plätze noch die Vorberge unserer bayerischen Alpen in das Stück mit hinein spielen und so einen wundervollen natürlichen Hintergrund schaffen“, schrieb Anton Lang.74 Über der Tribüne befindet sich eine fili-

grane Gerüstkonstruktion mit sechs Stahlbögen, auf der die aus Holz gebaute Halle ruht: das heutige Passionstheater, das nach vorne zur Freilichtbühne hin offen ist. Seit Anfang des 20. Jahrhunderts wird also in einem festen Theaterbau im nördlichen Ortszentrum geprobt und gespielt. Seit seiner Einweihung befindet sich dieses Theater in einem ständigen Prozess der Weiterentwicklung. Seine Geschichte ist eine Geschichte der Umbauten. Alle zehn Jahre wurde es auf den aktuellen Stand der Technik gebracht und den Bedürfnissen der 128


Zeit angepasst. 1922 beispielsweise wurde ein Atelier für Fotoaufnahmen an die Rückseite des Garderobenbaus angefügt, das heute als Raum für Besprechungen und Kreativzentrale dient. 1980 baute man hinten auf die Bühne für einen Special Effect ein riesiges Hubpodest, das in der Ölberg-Szene wie aus dem Nichts hochfuhr. Da es seitdem aber nicht mehr verwendet wurde und viel dringend benötigten Platz beanspruchte, wurde es zur jetzigen Passion wieder ausgebaut. 2010 ergänzte man Beleuchtungsbrücken, da die Verlegung des Spiels in die Abendstunden künstliches Licht notwendig machte. Auch ein mobiles Dach wurde konstruiert, das bei Bedarf über die Bühne gefahren werden kann, um vor Regen, Schnee oder auch Hagel zu schützen. 2019 kam ein Schallschutz in den hinteren Zuschauerraum, der die neue elektroakustische Beschallung unterstützen soll. Es geht also immer um die eine Frage: Wie können wir es noch ein bisschen besser machen?

Die Probenzeit

Im Dezember 2019 ging es dann los. Nach einer ersten Leseprobe hat Stückl im Kleinen mit seinem Hauptensemble geprobt, Zwink mit Chor, Orchester und Solisten. Unter der Woche abends und an den Wochenenden. Stückl feilt mit seinen Darstellern an Tempo und Betonung, spricht die Sätze vor, arbeitet ihre Bedeutung heraus, die Anliegen und Gefühlszustände hinter den Worten. Was wird betont? Worauf kommt es hier an? Was will die Figur sagen? Wort für Wort arbeitet er sich mit den jeweiligen Darstellern durch den Text. Mit dem Beginn der Probenzeit kommt das sonstige Dorfund Vereinsleben zum Erliegen, Hobbys und Freizeit werden 129


Wenn die Hauptproben im Passionstheater beginnen, wird es voll auf der Bühne, der Spielleiter muss die Menge sortieren.

dem gemeinsamen Spiel untergeordnet: „Man sieht seine Freunde weniger, fährt nicht in Urlaub …“, erzählt mir Frederik Mayet. „Es ist fast jeden Abend und am Wochenende Probe.“ Oft ist es viel, manchmal eigentlich zu viel, wenn man nebenbei auch noch in seinem Brotberuf tätig ist. „Aber man kann sich nicht zerreißen, man macht, was man schafft, und das so gut wie möglich. Und wenn mal was liegenbleibt, muss man das eben aushalten“, so Mayet. Die Zeit ist nicht mehr geworden seit 2010, inzwischen ist er verheiratet und hat zwei Kinder. „Da ist die Frage schon: Kriege ich das alles unter einen Hut? Natürlich ist es anstrengend, aber es ist halt nur alle zehn Jahre.“ Auch Andreas Richter 130


bestätigt, dass die Passion an den Kräften zehrt: „Die Rolle von Jesus erfordert massiv viel Engagement. Da musste meine Familie ganz schön zurückstecken“, erzählte er in einem Podcast 2021. „Auch wurde von uns erwartet, dass wir nichts machen, was riskant ist und wo wir uns Knochen brechen können. Eigentlich bin ich gerne beim Skifahren und im Bikepark unterwegs, das ist mir schon einigermaßen schwergefallen, da ein Jahr zu verzichten.“75 Da ist es hilfreich, wenn zumindest der Arbeitgeber die Bedeutung der Spiele erkennt und einem nicht im Wege steht: „In der Zeit ist die Belastbarkeit nicht die höchste, man muss die Arbeitszeit reduzieren. Das ist schon anspruchsvoll, man hat einfach noch einen kompletten Job nebenher“, so Richter. Bei der Passion 2000 studierte er gerade in Regensburg, da hat ihm die Studentenkanzlei kein Freisemester genehmigt, obwohl er eine Unterschrift vom Landrat und vom Spielleiter vorlegte. Jetzt ist er im sozialen Bereich tätig, da wird das Engagement anerkannt, es hat einen höheren Stellenwert. Ende Januar 2020 geht es dann auf die große Bühne. Es ist kalt. Und es ist voll. Hunderte Menschen drängen ins Passionstheater zur ersten Volksprobe. Die Kälte gehört seit jeher dazu: „Sobald es […] die Witterung erlaubt, finden die Übungen im Freien statt, und wenn es auch blaugefrorene Hände und Nasen gibt, so schreckt das nicht ab, dabei mitzutun“, so Anton Lang 1930. „Ja ein Jünger Thomas musste sogar kurz vor Beginn der Spiele infolge einer Lungenentzündung, die er sich bei den Proben zugezogen hatte, sein Leben lassen.“76 So dramatisch endet es dann doch eher selten, heute jedenfalls ist es zwar ungemütlich, aber auszuhalten. Alle sind da bei dieser ganz besonderen Dorfversammlung: die Alten, die Jungen, Frauen, Männer, Mütter, Väter, Kinder und Enkelkinder, die Snowboarder, die Studenten, die Holzschnitzer 131


und die Bergwachtler. Sie alle eint die Lust, an den Passionsspielen teilzunehmen – und ihre wachsenden Haare und Bärte. Die Zuschauerreihen sind noch abgedeckt, die Bühne leer. Ein paar Sonnenstrahlen bahnen sich ihren Weg am Schiebedach vorbei. Am Rande liegen die Werkzeuge der Bühnenarbeiter, die vorbereiteten Säulenkapitelle. Spielleiter Christian Stückl steht auf einem langen Tisch an der Rampe, Blick Richtung Bühne, in der Hand ein Mikro. Jede und jeder soll ihn sehen und hören. Alle Beteiligten müssen sich mit ihrer Chipkarte am Eingang registrieren, eine individuelle Anwesenheitskontrolle ist bei der Menge der Teilnehmenden unmöglich. Nachdem die Fluchtwege und Brandschutzvorschriften erklärt sind, kann es losgehen. Auf dem Plan stehen heute die „Empörung“ und der „Kreuzweg“. Bei der „Empörung“ stehen 457 Statisten aus dem Volk auf der Bühne, dazu kommen noch an die 200 Spieler und Spielerinnen: Hauptdarsteller, Hoher Rat, Römer inklusive Geißler, Pilatus- und Kaiphasdiener sowie Arme. Es ist die größte Szene. Stückl sortiert also die Massen: Die Römer schickt er nach unten, das Volk, das in vier Gruppen unterteilt ist, in verschiedene Bereiche der Bühne. Pro Gruppe gibt es einen Volksführer oder eine Volksführerin, die schon bei den ersten Proben im kleinen Theater dabei waren und dort stellvertretend die Rolle des Volks einnahmen. Sie werden vorab vom Spielleiter gebrieft und können später die genauen Abläufe an ihre Gruppe weitergeben. Vor den großen Bühnenproben werden ihnen noch weitere Darstellerinnen und Darsteller aus dem Volk zugeordnet, die alle Einsätze kennen. Wenn dann im Januar alle dazukommen, wissen so zumindest einige schon, wo es langgeht auf der Bühne. Hier und heute geht es ums Grundsätzliche: Wer kommt aus welcher Gasse? Wer ruft wann was? Wo eben noch alle chao132


tisch durcheinanderliefen und kaum vorstellbar war, dass all diese Menschen überhaupt auf die Bühne passen, finden erstaunlich schnell alle ihren Platz. „Der Nazarener soll sterben!“, rufen sie im Chor. „Sterben!“ Wenn so viele Menschen im Chor den Tod eines einzelnen fordern, verfehlt das seine Wirkung nicht. Von einem Moment auf den anderen ist das anfängliche Chaos einer konzentrierten und bedrohlichen Stimmung gewichen: Da ist er, der pöbelnde und aufgewiegelte Mob. Die Kreuzigung bahnt sich an. Die Skianzüge sind vergessen. Trotz der Kälte fühlt es sich schon ein wenig an wie Jerusalem. „Das klingt schon ziemlich gut!“, findet auch Stückl und erklärt die Situation: „Während dieser letzten Rufe rumpelt ganz Rom herein! Die, die schwer auf die Füß’ sind, stellen sich bitte an den Rand. Ich will, dass da wirklich was abgeht!“ Vorsicht steht an erster Stelle, wenn so viele Menschen sich auf engstem Raum bewegen sollen. Vor allem, da nicht wenige „schwer auf die Füß’ sind“, wie Stückl es nennt. Auch befindet sich in der Gasse eine Stufe, „die vorher nicht da war“. Vorher, das heißt vor zehn Jahren, bei der letzten Passion. Stückl, der die Spielleitung zum vierten Mal innehat, ist die Erfahrung anzumerken. Von den Massen lässt er sich nicht aus der Ruhe bringen, seine Euphorie wirkt ansteckend. Die Römer warnt er, dass ihre Lanzen spitz sind. („Echt“ eben, wie Hageneier sagen würde.) Verletzen soll sich keiner, darum müssen die Spitzen oben bleiben. Stückl rennt hin und her, seinen wollenen Janker hat er längst ausgezogen, ihm ist als Einzigem warm auf der frostig-zugigen Freiluftbühne. Er spielt alle Rollen vor, dirigiert und motiviert die Menge: „Jetzt kommt der Hohe Rat aus der Mitte raus, ihr vermischt euch mit dem Nachbarvolk“, ruft er. „Auf die Plätze, fertig, los!“ Und da ist er, der Tumult auf der Bühne. Größer als in jedem anderen Theater. – Die Pro133


be ist ein Event im Dorf. Nicht-Spieler aus dem Ort, Nachbarn und Kinder, aber auch zufällig vorbeikommende Touristen finden den Weg ins offene Passionstheater. Am Ende stehen die beiden Jesus-Darsteller im Zentrum der Bühne, da, wo später einmal das Kreuz aufgestellt wird. Auch wenn es heute noch eine schlichte Holzlatte ist. Auch wenn sie nicht hängen, sondern sie lässig halten: Eine Ahnung ist schon da, wie das mal sein wird. „Jetzt hängt er gleich!“, ruft Stückl, vermittelt unnachahmlich die Stimmung im Volk, die Aufregung. Und auch den Schmerz.

Die Kreuzigung

Der Höhepunkt und auch die technisch größte Herausforderung des Spiels ist natürlich die Kreuzigung. Tatsächlich entlockte diese Szene selbst Richard Burton so etwas wie Ehrfurcht. Er bezeichnete sie als „gem of the piece“, also als „Edelstein“ oder „Prachtstück“; seine Übersetzerin Susan Urban wählte allerdings den bayerischen Begriff „Schmankerl“, der in diesem Zusammenhang doch ein wenig befremdlich wirkt. „Als sich der Vorhang hebt, sind auf dem Podium zwei Kreuze zu sehen; die Diebe, barhäuptig und zerzausten Haares, hängen mit ihren Armen über den Querbalken. Das mittlere Kreuz, das langsam von den Henkern vom Boden aufgerichtet wird, rastet in seine Fassung ein, und die große weiße Gestalt, scheinbar nur von Nägeln gehalten, hängt vor uns.“77

Wie aus diesem Bericht hervorgeht, war die Kreuzigung bis einschließlich 1990 nur in Teilen fürs Publikum sichtbar. Das Kreuz wurde über die Bühne getragen, dann kam ein Lebendes Bild. Stückl spielte mir im Sommer 2021 auf der Terrasse des Theatercafés vor, wie das damals vor sich ging: „Man hörte die 134


Die erste Kreuzigungsprobe 2020: Christian Stückl erklärt Rochus Rückel, worauf es ankommt.

Hammerschläge und es wurde melodramatisch gesungen: ‚Ich hör schon seine Glieder schmerzen, die man aus den Gelenken zerrt‘, ging es los. Dann haben die Geigen gespielt. ‚Wem soll’s das Herz nicht beben machen, wenn er den Schlag des Hammers hört?‘ Da haben die Hörner gespielt.“ Als der Vorhang wieder aufging, lagen die Kreuze samt Opfern auf der Bühne und wurden vor dem Publikum aufgestellt. Stückl, der diese Gesänge selbst im Chor gesungen hat, war das zu viel. Er wollte weniger Pathos, dafür zeigen, was da wirklich passiert: die Brutalität dieses Vorgangs, die einem ja nicht unbedingt bewusst ist, wenn man Jesus relativ friedlich und würdevoll am Kreuz hängen sieht. Also änderte er den Ablauf, seit 2000 findet die gesamte Kreuzigung auf offener Bühne statt. Eine Idee übrigens, mit der bereits Schwaighofer in der Rosner-Probe experimentiert hatte. Und noch etwas wandelte Stückl ab: Wo in der bildenden Kunst 135


häufig nur Jesus ans Kreuz genagelt wird, die beiden Schächer links und rechts von ihm jedoch hingebunden werden, wollte er drei gleich große Kreuze und drei gleiche Kreuzigungen mit Nägeln. Der Pfarrer war damit nicht einverstanden: Die Tradition besage, dass Jesus herausgehoben am Kreuz stirbt und mehr leidet als die anderen. Stückl, der inzwischen wusste, wie man argumentieren muss, antwortete mit der Bibel: Da findet sich kein Hinweis, dass Jesus anders behandelt wurde als die beiden Räuber, die mit ihm gekreuzigt wurden. „Die beiden Verbrecher sind hundertprozentig genauso gekreuzigt worden wie Christus. Da gibt es zwar ein paar Theologen, die daran zweifeln, aber die nimmt heute keiner mehr ernst“, bestätigt Ludwig Mödl. „In der Spätgotik hat man dann angefangen, die anderen beiden als hingebunden darzustellen, um den Unterschied zu Christus hervorzuheben. Das sind psychologische Elemente, die sich in der Ikonografie durchgesetzt haben, aber nicht historisch sind.“ Auch sonst wird bei der Passion auf Korrektheit geachtet: So werden die Kreuzigungsnägel in Oberammergau nicht durch die Handflächen geschlagen (wie es in der bildenden Kunst oft fälschlicherweise dargestellt wird), sondern (scheinbar) durch die Handwurzelknochen. Die Herausforderung war und ist nun, diesen komplexen Vorgang so geschickt zu inszenieren, dass er auch aus der ersten Reihe echt aussieht. Wenn der Jesus-Darsteller das Kreuz auf der Bühne abgelegt hat, wird er von den Henkern rücklings daraufgelegt. Der unter seinem Schurz verborgene Klettergurt wird unauffällig am Kreuz befestigt. Die Füße kann er auf einem winzigen Tritt abstellen, die Hände legt er auf die „Nägel“, die im Holz eingehakt werden und sich unsichtbar unten um das Handgelenk wölben. Anschließend ziehen die Henker das liegende Kreuz von vorne mit Seilen in die Senkrechte, von hinten wird geschoben. 136


Ähnlich wie ein Maibaum wird das Kreuz in einer Versenkung im Boden verkeilt. „Das ist ein ganz wichtiger Moment, auch für mich selber“, so Frederik Mayet. „Wenn man diese Hammerschläge hört und das Kreuz aufgestellt wird, das hat so eine Gewalt. Da bekommt man ein ganz anderes Gefühl für das, was da vorgeht: Das ist ein brutaler Mord.“ Damit das reibungslos klappt, wird ausgiebig geprobt: Zuerst werden die beiden Jesus-Darsteller vermessen, die Kreuze werden an die individuellen Proportionen angepasst. Dann gibt es eine technische „Hängeprobe“, bei der das Kreuz zum ersten Mal mit dem Darsteller aufgestellt wird. Eine nicht ganz schwindelfreie Angelegenheit: Die Kreuze sind 5,45 Meter hoch, die Füße befinden sich in einer Höhe von ungefähr drei Metern über dem Bühnenboden. Frederik Mayet erinnert sich noch gut an sein erstes Mal 2010: „Als das Kreuz aufgestellt wurde, hatte ich das Gefühl, ich falle vornüber, weil das Kreuz so mitschwingt“, erzählt er mir. „Dann wurde es mir richtig bewusst: Jetzt spielst du wirklich diese Rolle, jetzt bist du wirklich der Jesus in der Passion.“ Auch Rochus Rückel hatte bei der ersten Hängeprobe das Gefühl, dass dies wohl „der sonderbarste Moment im Passionsspiel“ sein wird. Auch wenn die Laune bestens war und einer der Henker ein guter Freund von ihm ist; auch wenn sie „noch nicht so fortgeschritten waren“, noch nicht „emotional“: „Es wird einem bewusst, dass man das Sterben spielt, und das in einer derart ausgesetzten Position, in der man relativ wenig Gestaltungsfreiheit hat. Halbnackt und auf drei Metern Höhe, das ist schon bisschen gruselig.“ Im Laufe der Proben wachsen alle in ihre Rollen hinein, werden sicherer. Irgendwann ziehen sie ihre Bommelmützen aus und ihre Kostüme an, einen Monat vor der Premiere werden ganze Durchläufe geprobt. Und dann gibt es immer wieder diese 137


Es braucht eine Portion Vertrauen, um sich diesem Vorgang auszuliefern. Höhenangst sollte ein Jesus-Darsteller auch nicht haben.

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Momente, in denen Christian Stückl ein Schauer packt: „Plötzlich fragst du dich: Wie hat der das jetzt hingekriegt? Wenn du merkst, wie einem was aufgeht und es auf einmal auf einer anderen Ebene weitergeht.“ Schritt für Schritt nähert sich das Ensemble im Vorjahr der Passion wie auf einem Kreuzweg über immer gleiche Stationen der Kreuzigung Christi, die sie schließlich einen Sommer lang über hundert Mal in ihrem Theater nachspielen. Teilweise jahrhundertealte Rituale und ein durchaus (selbst-) kritischer Blick auf die eigene Geschichte vermischen sich zu einem Schatz an Erfahrungen, vor dem sie die Passionsgeschichte immer wieder neu befragen. Schon allein die jungen Schauspielerinnen und Schauspieler sorgen dafür, dass die Inszenierung keine Kopie der vorangegangenen wird. Auch die zehn Jahre lange Pause gewährleistet, dass Stückl und sein Team jedes Mal neu anfangen. In zehn Jahren verändert sich die Welt und mit ihr die Menschen. In zehn Jahren heiratet einer und bekommt Kinder. In zehn Jahren sterben Menschen. In zehn Jahren wird jeder ein ganzes Stück älter. Wer beim letzten Mal noch ein Kind war, ist diesmal erwachsen. Oder wie der Spielleiter es ausdrückt: „Es ist die gleiche Geschichte, aber sie kommt immer anders daher.“

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JESUS CHRIST SUPERSTAR. DIE HAUPTROLLE SPIELEN

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uch wenn dieses Theaterereignis ein kollektives ist, gibt es natürlich diese eine zentrale Rolle, auf die alle schauen. Im Ort und im Zuschauerraum. Jesus. Seine Kreuzigung ist der Höhepunkt der Passion, ihr Anlass. Es gibt tatsächlich wenig andere Stücke, die so sehr auf eine Szene fokussiert sind, diese ganz klare Klimax, auf die alles hinausläuft, wie „Das Oberammergauer Spiel von der Passion des Jesus von Nazareth“, wie der Titel im Textbuch von 2010 lautet. Alle Welt kennt die Geschichte und ihren Ausgang – und doch: „Wenn du am Kreuz hängend aufgerichtet wirst, spürst du, wie die Menschen mitleiden. Obwohl jeder weiß, was passieren wird, scheint doch jeder zu hoffen, dass es nicht so weit kommt“, schildert Frederik Mayet seine Eindrücke als Jesus-Darsteller. Wenn die Schläge der Hämmer auf das massive Holzkreuz durch das Theater dröhnen, ist das nicht nur für Gläubige ein erschütternder Moment. Selbst der ewig krittelnde Richard Burton kam nicht umhin, bei der Beschreibung dieser Szene Worte wie „Magie“ und „überwältigt“ zu verwenden: „Wir haben es tausendmal gesehen, künstlerisch und weniger künstlerisch ausgeführt, aber wir haben noch nie einen Mann wahrhaftig am Kreuz erlebt. Die Magie des Mythos überwältigt uns, und wir schauen zum ersten Mal das, was wir bis zum letzten Atemzug nicht vergessen werden.“78 Die Überwältigung, die das Publikum in diesem Moment empfindet, überträgt sich natürlich auf die Jesus-Darsteller. Frederik Mayet erinnert sich noch gut an seine erste Kreuzigung 2010 vor Publikum: „Das macht schon noch mal was mit einem“, erzählt er mir. „Man hängt sehr ausgesetzt halbnackt da, wird ver140


spottet und begutachtet. Das ist einfach ziemlich unangenehm, du fühlst das Entsetzen des Publikums, das ist eine krasse Situation.“ Und auch wenn alles natürlich nur Theater ist: „Du spürst dem Gekreuzigten nach, es kommen dir die Gedanken, wie grausam das gewesen sein muss, da Stunden oder Tage zu verbringen.“ Wenn Jesus dann seine letzten Worte spricht, sei da eine „unbeschreibliche Ruhe“ im Zuschauerraum: „Sonst hört man immer ein Hüsteln oder irgendwas, aber dann ist es auf einmal mucksmäuschenstill.“ Für das Publikum ist die Kreuzigung die bewegendste Szene des Stücks, für die Jesus-Darsteller die anstrengendste. Es ist ein Moment größter Verantwortung. Nicht wenige im Publikum fangen an zu weinen, andere vertiefen sich ins Gebet. Die Aufmerksamkeit ist zu hundert Prozent bei der Figur Jesus, während der Darsteller mit allerlei Widrigkeiten zu kämpfen hat. Die mitunter beißende Kälte ist da das kleinste Problem, sie hat zumindest Mayet wenig ausgemacht, so unter Adrenalin wie er in diesem Moment war. Rochus Rückel, der bisher nur zur Probe am Kreuz hing, beschreibt, wie alles da oben furchteinflößend wackelt, wenn man sich bewegt. Schwindelfrei muss man schon sein als Jesus-Darsteller. Wirkliche Unfälle sind nicht überliefert, wohl aber einige brenzlige Situationen. Anton Lang schildert in seinen Memoiren, wie 1910 an einem Spieltag das Kreuz nicht wirklich befestigt werden konnte: „[Einmal] wurde der Nagel, der das Kreuz am Boden festhielt, durch ein Versehen verlegt; die Kreuzerhöhung musste stattfinden, indem man das Kreuz nur notdürftig mit Ketten befestigte. An jenem Tage war mir zumute, als müsste es mein letztes Spiel sein; denn wenn das Kreuz mit mir gestürzt wäre, so hätte ich zerschmettert darunter gelegen.“79 Derartige Unglücksfälle kamen bislang zum Glück nicht vor. Verhaltenstipps, die die Zeit am Kreuz erträglicher machen, 141


aber werden von einer Jesus-Generation an die nächste weitergereicht: Muss man beispielsweise niesen, „wenn man schon tot ist“, soll man sich mit der Zunge oben am Gaumen kitzeln, dann verschwindet der Niesreflex, hat Frederik Mayet von Anton Burkhart, dem Jesus-Darsteller von 2000, gelernt. Auch sei es nicht empfehlenswert, vorher in der Garderobe Kuchen zu essen: Die sich im Bart verfangenden Aromen und Krümel locken Wespen und Bienen an. Wenn die um den Mund kreisen, während man am Kreuz hängt, macht das die Sache eher unangenehm. Eine Herausforderung ist es auch, die Arme über die zwanzig Minuten an Ort und Stelle zu halten. Sie schlafen gerne ein, wenn sie so lange in den Metallschlaufen der Nägel hängen, und laufen Gefahr, herunterzurutschen. Da hilft es, die Hände zur Faust zu ballen, solange das möglich, man als Jesus noch am Leben ist.

Die Wahl zum Jesus

Während alle anderen Beteiligten erst am Tag der Spielerwahl erfahren, welche Rolle sie übernehmen, werden die beiden JesusDarsteller bereits am Abend vorher von Christian Stückl vorgewarnt. Frederik Mayet erinnert sich noch gut, wie Stückl ihn 2010 nach der Sitzung des Gemeinderats angerufen hat. 2000 hatte er den Johannes gespielt, war sehr nah dran an den beiden Jesus-Darstellern: „Das waren für mich so Vorbilder, ich hätte mir das selbst nie zugetraut“, erzählt er. „Das war mir irgendwie zu heilig. Aber weil ich so ein großes Vertrauen in den Christian hatte, habe ich mir gedacht, er wird schon wissen, was er tut.“ Die ersten Tage und Wochen war er dennoch „ziemlich überfordert“: „Ich bin durchs Dorf gegangen, habe keinen angeschaut und mir gedacht: ‚Oh Gott, jetzt kennt dich jeder.‘ Man ist ja wirklich von 142


Was hat Jesus uns heute noch zu sagen? Diese Frage treibt auch Frederik Mayet um.

einem Tag auf den anderen dorfbekannt und steht total im Fokus. Da merkt man auch, was für eine Verantwortung das ist, das ist jedem hier wichtig.“ Er setzte sich selbst unter Druck und brauchte eine ganze Weile, um richtig frei zu werden. Der Ehrgeiz, es gut zu machen, war riesengroß. Nach einigen Jesus-Film-Abenden von Monty Python über Mel Gibson bis Pier Paolo Pasolini erkannte er, dass alles Interpretation ist, er seinen eigenen Weg finden muss. Dieses Mal kann er sehr viel lockerer an die Aufgabe rangehen: Es hat schließlich gut funktioniert beim letzten Mal. Rochus Rückel hatte schon so eine Ahnung, als Stückl ihn bat, am Abend vor der Spielerwahl erreichbar zu sein. „Aber eigentlich traut man sich gar nicht, das zu denken, weil man es für eine Anmaßung hält. Man will sich ja nicht für was Besseres halten oder sich über andere hinwegsetzen“, sagt er in der ihm eigenen Bescheidenheit. Am Abend war er dann mit seinem besten Freund und ihren beiden Freundinnen zusammen, als der Anruf kam und Stückl ihn bat, nochmal vorbeizukommen. „Dann hat er es mir gesagt, und ich war baff. Man weiß es zwar, aber man hat es 143


innerlich noch nicht begriffen“, schildert er seine Gefühle. Seine Freunde hat er dann angeschwindelt, er sei der Judas. Schließlich durfte er ja noch nichts verraten vor der offiziellen Spielerwahl. Der Höhepunkt der Proben war für ihn dann die Vertreibung der Händler mit dem ganzen Volk: „Da habe ich wirklich gemerkt, so schaut’s jetzt aus, du spielst den Jesus“, erzählt er. „Ich erinnere mich noch, wie wir Kinder 2010 immer vor dem Einzug in Jerusalem gewartet haben, dass der Frederik oder der Andreas [Richter] mit seinen Aposteln kommt. Da habe ich mir gedacht, wie krass das ist, dass der den Jesus spielt“, erzählt er. Nun ist er selbst derjenige, der auf dem Esel einreiten wird, um die Welt zu verändern. Wer ist dieser Jesus? Was zeichnet ihn aus? Wie hat er gelebt? – Es sind diese Fragen, die Christian Stückl umtreiben, seit er die Passion inszeniert. Er will ihn als einen zeigen, der der Gesellschaft Fragen stellt, als Irritator und vielleicht auch als Provokateur. Als Stückl anfing und selbst noch jung und wild war, sah er in Jesus einen „lauten Revoluzzer“80. Inzwischen sieht er in ihm vor allem eine Herausforderung. Einen, der nicht hinnimmt, dass andere niedergemacht werden, dass der Umgang miteinander und die Sprache verrohen. „Jesus ist eine Zumutung“, sagte Stückl 2018 in einem Interview, „weil er von mir Dinge verlangt, die ich im eigenen Leben gar nicht hinbringen würde. Ich kann gar nicht beschreiben, wie er ist, nur was ich spüre, was er mit seinem Leben von uns fordert. Wir leben seit 2000 Jahren das Christentum, aber keiner ist wirklich bereit, das zu leben, was er in aller Konsequenz vorgelebt hat.“81 Ich habe mich in den vergangenen beiden Jahren mehr mit Jesus beschäftigt als in meinem ganzen Leben bisher. Ich habe festgestellt, dass diese Figur (denn noch immer fällt es mir persönlich schwer, ihn mir als reale historische Person vorzustellen) 144


viel mehr zu bieten hat als den Tod am Kreuz, der so allgegenwärtig ist. Auch ich habe mich durch die Jesus-Filme von Monty Python, Pier Paolo Pasolini, Mel Gibson und zuletzt Milo Rau geschaut. Über dessen Film „Das neue Evangelium“ habe ich mich im Dezember 2020 mit Frederik Mayet unterhalten. Er fand es kein bisschen erstaunlich, dass Rau die Handlung in italienische Flüchtlingslager versetzt. „Jesus war jemand, der an die Ränder der Gesellschaft gegangen ist und sich mit Stigmatisierten umgeben hat, mit Huren und Kranken“, sagte er. „Er war jemand, der Missstände gesehen hat, hingegangen ist und versucht hat, eine Verbesserung herbeizuführen. Wenn man jetzt die Region Matera anschaut, wo Flüchtlinge unter prekären Umständen leben und Frauen sich prostituieren müssen, wo Menschen ausgebeutet und von der Obrigkeit schlecht behandelt werden – dann ist das natürlich eine schlüssige Analogie zur Geschichte vor 2000 Jahren.“ Es ist dieser Blick, der den Bogen zieht vom Damals ins Heute, der die Beschäftigung mit Jesus auch für die lohnenswert macht, die nicht gläubig oder nicht christlich gläubig sind. Und der die Geschichte dieses Menschen bis heute aktuell macht. Oder wie Andreas Richter es formuliert: „Dieser Jesus ist ein Mensch, der mutig ist und konsequent seinen Weg geht, keinen Millimeter von seinen Werten abweicht. Christian Stückl arbeitet heraus, wie er damit auch hadert, wie Wut und Angst in ihm aufkeimen, er das aber wieder transzendiert, wenn man so will. Davon kann man viel lernen, weil wir den ganzen Tag unseren Gefühlen und Bedürfnissen hinterherrennen wie einfache Säugetiere.“82 Die Frage, was Jesus uns heute noch zu sagen hat, zieht viele andere nach sich: Wie geht man um mit Flüchtlingen und einer globalen Ungleichverteilung? Wie lebt man in einer Welt, in der es so viele Arme gibt und so viel Reichtum bei wenigen? Mayet ist überzeugt, dass es diese soziale Dringlichkeit braucht, wenn man 145


die Geschichte heute erzählen will: „Dieses: Wenn ihr nicht für euch kämpft, kämpft niemand für euch.“

Die Reaktionen der anderen

Wer den Jesus spielt, steht im Mittelpunkt, was manch einer neben der großen Ehre durchaus auch als Last empfindet. Bevor 1980 die Doppelbesetzung für alle Hauptrollen eingeführt wurde, war die Identifikation der Person mit der Rolle noch größer als heute. Als 1959 die Darsteller für die Passion 1960 bekannt gegeben wurde, hieß es in einer Dokumentation des Bayerischen Rundfunks: „Der Preisinger Anton ist wieder gewählt. Für den 47-jährigen Hotelbesitzer […] geht wieder ein schweres Jahr an. Natürlich freut er sich, dass er zum zweiten Mal diese wichtige Rolle spielen darf. […] Aber wenn ihn die Autogrammjäger und Händeschüttler aus aller Welt von Früh bis Nacht bedrängen werden, dann wird er sich wieder, wie vor 10 Jahren auch, manchmal aus dem Haus schleichen, um ein paar Stunden allein zu sein.“83 Anton Preisinger gilt als so etwas wie der erste Pop-

star unter den Oberammergauer Darstellern, es wird erzählt, dass seine Frau ihm das Essen ins Theater bringen musste, sonst hätten ihn die Menschenmassen umgehauen. „Anton Preisinger wird im Jahr 1960 genauso berühmt sein wie Curd Jürgens oder Marlon Brando“, heißt es in der erwähnten Doku.84 Auch wenn das natürlich übertrieben scheint: Die Aufmerksamkeit ist auch heute noch groß. Von einem Tag auf den anderen steht man als Jesus-Darsteller im Zentrum des Interesses und der Öffentlichkeit, gibt Interviews und sitzt in Fernseh-Talkshows. Für Rochus Rückel war das besonders schräg, denn durch die Verschiebung der Passion von 2020 auf 2022 verlängerte sich 146


Rochus Rückel spielt die Rolle im Bewusstsein, ein Teil von etwas Großem zu sein. Er ist zu bescheiden, um abzuheben.

die Vorschuss-Aufmerksamkeit um zwei Jahre. Im Sommer 2021 erzählte er mir: „Jetzt stehe ich seit beinahe drei Jahren in der Öffentlichkeit, obwohl ich noch nichts geleistet habe. Das ist schon ein bisschen komisch.“ Auch hat er durchaus festgestellt, dass nach der Spielerwahl viele mit ihm Kontakt gesucht haben, die vorher nicht unbedingt das Bedürfnis hatten, mit ihm zu reden. Frederik Mayet hatte 2010 durchaus einige merkwürdige Begegnungen mit fanatischen Fans. Eine Frau aus Ohlstadt gab sich als Journalistin aus und führte ein Interview mit ihm. Als sie ihm aber immer eindeutigere Avancen machte, brach er das Gespräch ab. Ein anderes Mal kam er nach Hause und fand auf dem Tisch eine Torte mit einem Brief vor – von einem „älteren Typ aus Murnau“, der einfach in sein Wohnzimmer spaziert war. Mayet rief ihn an und stellte ihn zur Rede, doch der verstand die Aufregung gar nicht: Es sei ja nicht abgeschlossen gewesen. Auch Fanpost hat Mayet damals jede Menge bekommen. „Die 147


allermeisten Begegnungen waren aber sehr schön“, erzählt er mir. Zum Beispiel, wenn er ins Gespräch gekommen ist mit Leuten, die ihn am Vortag haben spielen sehen. Oder als Bundeskanzlerin Angela Merkel sich die Spiele angesehen und ihn noch auf ein Gespräch in der Garderobe besucht hat. „Als ich mich später umgezogen hab und in der Unterhose dastand, kam sie noch mal rein und meinte total cool: ‚Lassen Sie sich nicht stören, ziehen Sie sich ruhig weiter um, ich schau nicht hin, ich muss nur kurz telefonieren.‘ Sie musste noch ein Statement zu den Arbeitslosenzahlen durchgeben, hatte nirgendwo Ruhe. Das war sehr lustig“, erinnert Mayet sich.

Rolle versus Spieler

Ulrike Bubenzer hat 2010 erlebt, wie eine amerikanische Dame ins Museum stürmte und schrie: „I saw Jesus on a bike!“ Manchmal vermischen sich Rolle und Darsteller eben in der Wahrnehmung: „Für sie war das Jesus auf dem Fahrrad, die war völlig hin und weg“, erzählt Bubenzer. „Insofern ist die Doppelbesetzung schon gut, weil wenn einen das alleine trifft, ist das fast zu viel für einen Menschen.“ Es gibt diese Erzählungen im Dorf, dass manche Jesus-Darsteller nie wieder ins normale Leben zurückgefunden hätten. Diese Mythen, von deren Wahrheit die einen überzeugt sind, während andere sie vehement abstreiten, kreisen vor allem um einen: Anton Lang, der den Jesus 1900, 1910 und 1922 spielte. Der Erzählung nach schnitt er sich auch zwischen den Passionen nicht die Haare, prägte Münzen mit seinem Konterfei als Jesus darauf und ging noch Jahre später segnend durch den Ort. Ob das tatsächlich so war? Seine Enkelin Monika Lang kann diese Geschichten nicht mehr hören: „Keiner von den Leu148


ten, mit denen ich gesprochen habe und die ihn kannten, hat das bestätigt“, erzählt sie mir. Seine Autobiografie liest sich wie die eines gottesfürchtigen und bescheidenen Mannes: „Die Christusrolle verlangt von ihrem Träger vielfache Entsagung. Groß ist die Verantwortung dessen, der dem nachleben soll, den er nie erreichen wird.“85 Er beschreibt

sogar ausdrücklich, dass es die anderen waren, die „Darsteller und Dargestellten nicht auseinanderhalten“ konnten: etwa die französische Marquise, die ihm schrieb, er „dürfe nicht heiraten, weil Christus auch nicht verheiratet gewesen sei“, oder „jene Mutter, die [ihm] nach einem Spieltag ihr Kind brachte“, damit er es segne.86 Sein Spiel beschreibt er als „Gottesdienst; Erfüllung einer hohen Mission, der höchsten Mission“87. Allein in den Bildunterschriften vermischt er selbst teilweise Rollen und Personen, etwa wenn da steht „Petrus, Judas und ich über einem Brief aus der Heimat“ oder „Petrus nach dem Skilaufen“88. Ob es sich bei den Geschichten also nur um Gerüchte handelt oder nicht, lässt sich nicht abschließend klären. Eines wird aber ohne Zweifel allein durch ihr Vorhandensein klar: die große Bedeutung, die dem Jesus-Darsteller beigemessen wird. So wurde Lang nicht nur vom Papst empfangen, seine Familie profitierte noch nach seinem Tod von seinem Ruhm. Als nach dem Zweiten Weltkrieg die Amerikaner in Oberammergau einmarschierten, stellte der Kommandant die Pension der Langs unter Schutz, weil er als Kind hier im „Haus Jesu“ gewohnt hatte, erzählt mir Monika Lang: „Keiner wurde bei uns einquartiert, und wir mussten nicht raus.“ Auch wenn die Identifikation mit der Rolle früher wahrscheinlich eine andere war und weder bei Mayet noch bei Rückel die Gefahr besteht, abzuheben: Auch Frederik Mayet glaubt, dass diese Rolle ihn verändert hat. „Das macht was mit einem“, er149


zählte er mir 2020 bei einem Gespräch im Garten des Münchner Volkstheaters. „Ich denke anders über Religion nach. Das sollte etwas Integrierendes sein, wo man Menschen mitnimmt. Da ist die Kirche oft sehr weit von ihrer Kernbotschaft entfernt. Ich bin jetzt kein besserer Mensch geworden, aber ich höre vielleicht ein bisschen mehr auf meinen inneren Kompass und versuche, mehr Haltung und Position zu beziehen.“ Die Veränderung, die Mayet beschreibt, ist ein Orientieren an seinen Werten, das Streben nach einem besseren Zusammenleben. Auch Richter sieht in der Figur viel Alltagstaugliches: „Was die Nächstenliebe betrifft, den Umgang mit Konflikten, kommt man auch in der eigenen Familie, mit den eigenen Kindern immer wieder auf die Botschaft von Jesus: Es bringt nichts, zurückzuschlagen. Die Frage, ‚Warum wehrt er sich nicht?‘, interessiert Kinder ungemein, das ist ganz nah an ihrer Lebensrealität.“89 Die Auseinandersetzung mit Jesus hat die beiden Jesus-Darsteller von 2010 dazu gebracht, sich grundsätzlichen Fragen neu zu stellen. Von Realitätsverlust jedoch ist keine Spur zu erkennen. Auch Rochus Rückel, der bislang ja ein Jesus in spe ist, zeichnet sich durch eine große Bescheidenheit aus, die kein mangelndes Selbstbewusstsein ist, sondern vielmehr das Bewusstsein, ein Teil von etwas Großem zu sein. „Auf jeden Fall hat sich etwas verändert“, erzählt er mir im Sommer 2021. „Das ist Thema Nummer eins bei sämtlichen Freunden in München an der Uni, bei meiner Familie, den Freunden meiner Eltern. Es ist natürlich was Besonderes, wenn man einen Jesus in der Familie hat. Ich habe aber immer gedacht, das ist eine Rolle, deswegen bin ich auch nicht christlicher.“

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BACKSTAGE. VOM RUMMEL HINTER DER BÜHNE

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us dem Zuschauerraum betrachtet, sind die Passionsspiele ein überwältigendes Theaterspektakel, das angesichts der vielen Unwägbarkeiten (meist) fast unheimlich perfekt über die Bühne geht. Zumindest bei der Premiere 2010 ging trotz all der Erwachsenen, Kinder, Tiere und technischen Herausforderungen nichts schief. ( Jedenfalls nichts, was mir aufgefallen wäre.) Das Theater aber, das sich hinter den Kulissen abspielt, ist ein anderes: Da fällt im Gespräch mit allen möglichen Beteiligten auffallend oft das Wort „Schabernack“. Von den einen amüsiert, vom anderen (Christian Stückl) nicht ganz so amüsiert. Die Kinder sind dabei übrigens eher harmlos im Vergleich zu den Großen. Bei den Lebenden Bildern stehen wohl regelmäßig Unbeteiligte in den Gassen und versuchen, die Spielenden zum Lachen zu bringen, während die still in ihrer Position ausharren müssen. Da wird schon mal Tinte in Pilatus’ Händewaschwasser gemischt, damit er plötzlich mit blauen Händen dasteht, oder Schnaps in den Abendmahlwein gegossen. „Da passiert viel Unfug“, erzählt mir Christian Stückl. „Einmal haben sie auf die Rolle mit dem Todesurteil eine nackte Frau über den Text geklebt. Da ist aufgeflogen, dass der Junge, der das verkündet, den Text nie auswendig gelernt, sondern immer abgelesen hat. Das fällt einem beim Proben ja gar nicht auf. Der war so geschockt, der hat nur gestammelt: ‚Ist verurteilt.‘ Eigentlich sind sie schon zuverlässig, aber manchmal geht’s eben mit ihnen durch. Ich bin während der Aufführung eigentlich immer damit beschäftigt, dass alle da bleiben, wo sie waren.“ 151


Der „Sündenkatalog“

Dabei haben sich über die Jahrzehnte oder Jahrhunderte durchaus allerlei Bräuche entwickelt, die das Team zusammen- und bei der Stange halten sollen. So stellt jede Garderobe ihre eigenen Regeln auf, manche verfassen sogar einen „Sündenkatalog“. „Die Apostel sind da sehr aktiv“, erzählt mir Frederik Mayet. „Wenn einer von denen auf der Bühne lacht oder grinst, muss er fünf Euro zahlen. Beim Apostel-Grillfest unentschuldigt zu fehlen, kostet zwanzig Euro.“ Weitere „Sünden“, die geahndet werden: zu spät zur Probe kommen, den Auftritt verpassen, ein Kostümfehler wie das Vergessen des Gebetsschals, als Römer die Lanze umfallen lassen … In jeder Garderobe gibt es eine Kasse, in der die Strafgelder gesammelt werden. Am Ende wird davon eine Brotzeit gekauft oder das Geld gespendet. „Das dient natürlich der Disziplin. Es ist nicht schlecht, wenn alle ein Auge darauf haben, dass es läuft und die Spielmoral auch nach der siebzigsten Vorstellung noch oben bleibt“, so Mayet. Denn: „Unfug auf der Bühne wird da hart geahndet.“ (Wer an einem der Spieltage Geburtstag hat, muss übrigens eine Runde Brotzeit in der Garderobe spendieren, auch ohne vorher gesündigt zu haben.) Gut, könnte man also denken, die scheinen ja alles selbst zu regeln. Christian Stückl sieht das ein wenig anders. Als ich in unserem Gespräch das Wort „Sündenkatalog“ fallen lasse, stöhnt er auf: „Das ist das Schlimmste, was es gibt. Wenn man für ein Lachen auf der Bühne zehn Euro Strafe zahlen muss, verleitet das einige gerade dazu, die anderen zum Lachen zu bringen. Da geht es dann nur noch darum, Fehler zu provozieren. Diese Strafkataloge würde ich am liebsten ganz verbieten.“ Zumindest am Premierentag aber ist alles noch sehr feierlich, von all dem kommenden Unfug nichts zu spüren. Vormittags 152


In der Römergarderobe 2010. Wo viele zusammen spielen, wird auch viel Unsinn gemacht.

zieht wie bei der Spielerwahl die Musik von der katholischen zur evangelischen Kirche und schließlich zum Passionstheater, wo die Saison mit einem ökumenischen Gottesdienst beginnt. Nach einem Mittagessen mit den Ehrengästen aus Politik und Kirche beginnt dann am frühen Nachmittag das Spiel. „Da ist so eine Aufbruchstimmung“, erzählt mir Monika Lang begeistert. „Jetzt geht’s endlich los. Man ist motiviert und aufgeregt, und alle hoffen, dass wir es gut machen und nichts passiert. Was immer eine Wucht ist: Da probt man monatelang, und dann kommt man beim Einzug aus der Gasse raus und sieht das Theater voll mit Leuten. Da schießen mir immer die Tränen in die Augen.“ Wer von den doppelt besetzten Hauptdarstellern die Premiere spielt, wird ausgelost. Der oder die andere darf die mindestens so emotionale Dernière spielen.

Passionszeit = Festzeit

Nach der Premiere gibt es das erste von einer ganzen Reihe von Festen. Denn die Passionszeit ist auch eine Festzeit für die Ein153


heimischen. Sie verlangt den Oberammergauerinnen und Oberammergauern viel ab: Zeit, Energie, einiges an Nerven. Sorgen machen muss man sich aber nicht um ihr seelisches Wohlbefinden. Von einer Selbstgeißelung kann keine Rede sein; sie sind keine Kinder von Traurigkeit, holen einiges an Gemeinschaftserlebnis und Feierlichkeiten raus aus dieser besonderen Zeit. Trotz all des internationalen Trubels haben sie sich abseits des Touristenspektakels ihre ganz eigenen Traditionen bewahrt. „Es gibt jede Menge Feiern rund um die Passion“, erzählt Sophie Schuster. „Die Premierenfeier, das Halbzeitfest und die Dernièrenfeier. Zwischendurch gibt es auch immer so kleinere Festln, die die einzelnen Garderoben organisieren. Das war 2010 für mich ganz spannend, weil ich da zum ersten Mal auch allein mit fortgehen und feiern durfte.“ Ein Höhepunkt bei all dem ist das „Händlerfest“ im Sommer, das auf einer ganz besonderen Tradition beruht. Während der „Vertreibung der Händler“ wirft Jesus wütend einen riesigen, dreißig Kilogramm schweren Tonkrug auf den Boden. 130 davon stellt Barbara Lampe mit ihren Söhnen Tobias und Benjamin im Vorfeld der Passion in ihrer Töpferei her, die übrigens ihr Großvater, Jesus-Darsteller Anton Lang, 1903 gegründet hat. Diese Krüge haben ein relativ kurzes erstes Leben – und ein langes zweites. Das erste endet, wenn Jesus sie auf den Boden wirft. Ein gar nicht so unkontrollierter Vorgang übrigens, wie es scheinen mag: „Da kriegt man von den Händlern schon Ansagen als Jesus, wie man den Krug zu schmeißen hat. Du kannst ihn voll hinknallen oder nur leicht auf die Kante“, erzählt Frederik Mayet. „Wenn du ihn ungeschickt wirfst, kannst du ihn schon pulverisieren. Am liebsten wäre es den Händlern aber, dass nur der Henkel abbricht.“ Warum das so ist? Das liegt am zweiten Leben der Krüge. Denn das kann erst beginnen, sobald die Krüge geklebt 154


wurden. Damit das möglich ist, werden sie im Vorfeld innen mit farbiger Kreide markiert – und Jesus muss eben vorsichtig werfen. Die Scherben landen auf einem Tuch, werden im Anschluss von der Bühne in die Händlergarderobe transportiert. Dort werden die Einzelteile dann mehrere Stunden lang wieder zu einem Krug zusammengesetzt. Der wiederbelebte Krug geht durch alle Garderoben, wird von allen Darstellerinnen und Darstellern signiert und anschließend verkauft. Fast jeder von ihnen hat einen bei sich zuhause stehen, sie finden sich in Hotels und Restaurants. Mayet hat den Premierenkrug von 2010 bei sich im Wohnzimmer. „Passion 2010“ steht darauf, rundherum all die Autogramme. Der Preis für das Andenken ist mit 300 Euro einigermaßen hoch, doch am Ende kommt das Geld allen zugute: Vom Erlös wird im Sommer an einem spielfreien Tag ein Riesenfest geschmissen, eben das „Händlerfest“. Da gibt es alles umsonst: Getränke, Essen, Popcorn und Eis für die Kinder, Live-Musik. Und auf einmal wird aus dem internationalen Spektakel Passion wieder etwas ganz Lokales, Gemeinschaft Stiftendes: ein Dorffest. Ein wenig größer als gewöhnlich, aber nicht weniger ein Fest von den Einheimischen für die Einheimischen. Touristen sind da keine dabei.

Wer spielt wann?

Die Spiele setzen zu einem großen Teil auf Eigenverantwortung, die Beteiligten entwickeln schnell ihre Routinen in der Passionszeit. Denn natürlich ist es bei der Menge der Beteiligten schlicht unmöglich, einem einzelnen hinterherzutelefonieren. Darum ist jeder selbst in der Pflicht, zu seinem Auftritt, seinem Dienst im Theater zu sein. „Das spielt sich ein hinter der Bühne“, erzählt mir 155


Frederik Mayet. „Jeder weiß, wo seine Garderobe ist und wann er dran ist. Es wird auch keiner persönlich eingerufen vom Inspizienten, der sagt nur die Szenen an.“ Und es funktioniert. Man möchte sich schließlich nicht anschauen lassen, weil man es verpatzt hat. Die Hauptrollen in Oberammergau sind seit 1980 doppelt besetzt. Die Darstellerinnen und Darsteller machen untereinander aus, wer in der Folgewoche wann spielt. Dieser Einsatzplan geht an die Garderobenfrau und einen Verantwortlichen, der immer den Gesamtüberblick über die Tagesbesetzung hat. 2010 telefonierten die beiden Jesus-Darsteller Frederik Mayet und Andreas Richter an jedem Spieltag miteinander, erinnert sich Mayet: „‚Wie geht’s der Stimme? Bist du fit? Wie hast du geschlafen?‘ Oder auch: ‚Ich bin heute in München und muss arbeiten, wenn du irgendwie das Gefühl hast, dass es nicht passt, ruf rechtzeitig an.‘“ Zu weit vom Theater hat Mayet sich aber die ganze Saison von Mai bis Oktober nicht entfernt. „Da sind 5000 Menschen, da hat man einfach eine Verantwortung“, so Mayet. „Zu schauen, dass man da und einsatzbereit ist.“ Nur einmal ist ihm die Decke auf den Kopf gefallen, da ist er einen Tag radeln gegangen in Tirol. Er war erleichtert, dass ihn dort kein Notruf erreicht hat. Auch Christian Stückl erinnert sich nur an einen einzigen Fall, in dem ein Hauptdarsteller nicht da war. 1990 war das, als er auf einmal von der Garderobenfrau angerufen wurde: Kaiphas fehlt, eine der größten Rollen. Keiner der beiden Darsteller war telefonisch zu erreichen, der erste Auftritt am Ende der ersten Szene rückte näher. Irgendwann haben sie den einen in Garmisch erreicht, der beteuert hat, er sei nicht dran. (Der andere hat im Nachhinein übrigens dasselbe gesagt, aber das nützte ja nun auch nichts.) Dann stand Stückls Großvater Benedikt da, der die Rolle 1950 und 1960 gespielt hatte, und sagte: „Ich mach’s.“ Eigentlich 156


spielte er aber den Hohepriester Annas, der gemeinsam mit Kaiphas auftritt. Schnell hatte er auch dieses Problem gelöst, indem er den wichtigsten Annas-Satz kurzerhand dem Souffleur, der immer im Kostüm auf der Bühne unterwegs ist, übertrug. Stückl lacht bei der Erinnerung: „Mein Großvater hat sofort alles im Kopf gehabt, das war sehr lustig. Er hat einfach losgelegt und ist zu hundert Prozent in den Text von 1950 zurückgefallen, der fünfzehn Minuten länger war. Er hat sich dreißig Jahre zurück versetzt, das war wirklich schräg. Auch der ganze Antisemitismus war wieder da, alles, was ich gestrichen hatte.“ Aber funktioniert hat es. Benedikt Stückl rettete die Vorstellung. Nach dieser Erfahrung will Christian Stückl nun jedenfalls immer eine Woche vorher wissen, wer wann dran ist.

Theater statt Freibad

Neben den Erwachsenen sind fünf- bis sechshundert Kinder an der Passion beteiligt. Ab dem Schulalter können sie offiziell angemeldet werden. Drei Kindergruppen gab es 2010, die turnusmäßig für jedes dritte Spiel eingeteilt waren und auf der Bühne Aufgaben wie das Hüten der Schafe übernahmen oder auch als Diener beim Abendmahl auftraten. In den Kindergarderoben war da ein ganz schönes „Gewusel“, wie Sophie Schuster erzählt, die 2010 mit vierzehn Jahren dabei war: „Da ist man nur schnell rein und hat sich umgezogen, das ging relativ fix. Dann haben wir uns in der Kantine noch eine Schnitzelsemmel geholt oder ein Spezi. Und dann saßen wir immer im Gang und haben gewartet, bis es losging.“ Beim „Einzug in Jerusalem“ und der „Vertreibung der Händler“ sind alle Kinder dabei, die an dem Tag eingeteilt sind. Zwischen den Szenen „haben wir in der Garderobe Schabernack 157


Die Saison dauert von Mai bis Oktober. Wer bei fast jeder Vorstellung dabei ist, braucht auch mal eine Pause.

getrieben“, erinnert sich Rochus Rückel. Zwei oder drei Frauen kümmern sich um die Kinder, damit das Treiben nicht völlig aus dem Ruder läuft. Bei den schweren Szenen, der „Empörung“ und der „Kreuzigung“, spielen die Kinder nicht mit. Nur wer zusätzlich in einem Lebenden Bild mitspielt, bleibt noch. Oder kommt später wieder. Rückel zum Beispiel war 2010 bei der Auferstehung dabei, dem letzten Bild. „Das war ganz praktisch, weil man immer eine Ausrede in der Schule hatte, wenn man müde war oder keine Hausaufgaben hatte“, erzählt er lachend. „Da haben die Lehrer durchaus Verständnis gezeigt – und wir haben das natürlich schamlos ausgenutzt.“ Mit seinen Freunden und Freundinnen zusammen auf der großen Bühne zu stehen, ist eine „total schöne Erfahrung“, sagt Sophie Schuster: „Dass diese Leute alle herkommen, um uns dabei zuzuschauen, was wir da machen.“ Auch Cengiz Görür denkt gerne an 2010, als er und seine Schwester im Volk dabei waren. „Der Papa hat mich in sein Büro gerufen und gesagt: ‚Schau mal, du hast einen Brief bekommen, du darfst bei den Passionsspielen 158


mitmachen, im Volk und in einem Lebenden Bild‘“, erinnert er sich. Die Kinder in seiner Klasse haben alle darüber geredet. Weil die alle mitgespielt haben, hat er es auch gemacht. Beim Einzug in Jerusalem, wenn Jesus auf einem Esel hereinreitet, haben sie „Heil dir“ gesungen. Und zwischendurch immer ganz leise und heimlich miteinander geredet. Trotzdem war es auch stressig, von Mai bis Oktober immer wieder Auftritte zu haben, auch in den Ferien, wenn man doch eigentlich lieber ins Schwimmbad wollte. Doch bei ihm wie bei den anderen überwog das Positive. Alle drei sind diesmal in Hauptrollen zu sehen: als Jesus, Judas und Maria Magdalena. Sophie Schuster freut sich darauf – und ist gespannt, wie es ist, mit wenigen anderen exponiert auf der Bühne zu stehen und auch noch Text zu haben: „In der Gruppe denkt man ja immer, man kann untergehen, man wird gar nicht so wahrgenommen. Auch wenn das gar nicht stimmt. Wenn man weiter vorne steht und im Publikum rumschaut, sehen die das trotzdem.“

Die Tiere in der Passion

Auf der Bühne der Passionsspiele gibt es neben Erwachsenen und Kindern noch die Tiere. Letztere sind zwar in der Minderzahl, deswegen aber nicht weniger fordernd. Zwei Kamele, zwei Pferde, ein Esel und allerlei Schafe, Ziegen, Hühner und Tauben sollen 2022 mitspielen. Untergebracht sind die größeren Gasttiere alle auf der Wiese beim „Scholler Toni“, der eigentlich Anton Mangold heißt und hinter dem Passionstheater wohnt. Er kümmert sich um die Tiere und bringt sie zu ihrem Auftritt zum Theater. Zumindest versucht er das. Denn diese haben oft ihren eigenen Willen und ihre Eigenheiten. Der Esel Sancho, der genau genommen ein katalanischer Riesenesel ist, zum Beispiel: Bei den 159


Nicht nur alle Menschen müssen pünktlich auf der Bühne sein, auch die Tiere. Diese haben einen eigenen Eingang mit Rampe.

Fotoaufnahmen 2020 hatte er einmal überhaupt keine Lust, auf die Bühne zu gehen. Er blieb einfach vor dem Theater stehen, alle Motivationsversuche blieben erfolglos. Erst als der Scholler Toni, der eigentlich gerade zu Gast bei einer Hochzeit war, herbeieilte, ließ er sich zu seinem Auftritt bewegen. Um die Kamele mit auf die Bühne nehmen zu dürfen, braucht man einen „Kamelführerschein“. Der Scholler Toni verbrachte vierzehn Tage auf dem Kamel-Hof in Landsberg, wo die Tiere herkommen, um sie kennenzulernen und die nötige Bescheinigung zu bekommen. Eigentlich sind es sehr genügsame Tiere, erzählt er. Mit der Kälte in den Bergen haben sie gar kein Problem, in der Wüste wird es oft deutlich kälter. Nur auf Schnee sind sie nicht vorbereitet, „da rutschen sie umanand wie die Teddybären, weil sie keine Klauen, sondern nur so Puffer haben“, erzählt der Scholler. Und wenn es ein Gewitter gibt, geht gar nichts mehr: „Wenn sich ein Kamel auf stur stellt, kriegst du das nicht vom Fleck. Wenn die nimmer mögen, ist Ende“, sagt er. Vielleicht deshalb teilen nicht alle Beteiligten seine Einschätzung über den Charakter der Tiere. „Kamele sind die hinterfotzigsten Tiere, die 160


ich kenne“, erzählt mir Markus Köpf, der 2010 als Herodes gemeinsam mit ihnen auftrat. „Die kommen immer so verknautscht daher, sind aber ganz linke Viecher.“ Die durchaus auch mal spucken, beißen oder treten, wenn ihnen danach ist. Oder sich samt der auf ihnen reitenden Herodes-Dienerin mit dem Kopf zur Wand statt zum Publikum hinstellen. „Aber im Großen und Ganzen sind sie auch Rampensäue“, so Köpf. „Drum hat es meist ganz gut geklappt.“ Die größte Herausforderung aber sind die Pferde. Zwei soll es diesmal geben, damit Hauptmann und Pilatus gemeinsam auf die Bühne reiten und römische Macht demonstrieren können. Und das funktioniert: „Es macht schon was mit einem, wenn man reinreitet“, erzählt Köpf, der diesmal den Hauptmann spielen wird. „Du bist sofort der Chef auf dem Platz, jeder muss zu dir aufschauen. Die erhöhte Sitzposition ist ein Machtfaktor in der Menge. Alle schauen, dass sie dir nicht zu nahe kommen. Auf dem Pferd kann die größte Pflaume was darstellen.“ Er lacht. Inzwischen hat er sich ans Reiten gewöhnt. 2010 war das noch anders. Als Christian Stückl ihm damals verkündete, dass auch er als Herodes diesmal reiten würde (und nicht nur wie bis dato der Hauptmann), nahm er das gar nicht ernst. Oder: verdrängte es. Denn mit Pferden hatte er gar nichts am Hut, wollte nicht mal als Kind im Zoo auf einem Pony reiten. Bis er auf einem Spaziergang zufällig seinem Herodes-Kollegen begegnete, der mit Pferd und Reitlehrerin unterwegs war. Ihm wurde klar, dass das mit dem Reiten kein Witz gewesen war. „Da hatte ich schon acht Wochen Rückstand“, erinnert er sich. Er nahm also auch Unterricht, schließlich wollte er sich keine Blöße geben. Bei der ersten Fotoprobe hat er 2010 trotzdem „geschwitzt wie nie mehr“ in seinem Leben: Das Passionspferd Gerko, das mit einem Stockmaß von 1,80 Metern deutlich größer war als seine 161


Übungspferde, hatte vorher nie ein Kamel gesehen. Als die beiden Höckertiere dann neben ihm auf der Bühne auftauchten, war ihm das nicht geheuer. Das Pferd war nervös, was seinem ebenfalls nervösen Reiter das Leben nicht unbedingt leichter gemacht hat. Diesmal ist Köpf besser vorbereitet auf seinen Auftritt zu Pferde, weiß, worauf zu achten ist, und gibt dieses Wissen an seine reitenden Kollegen weiter. Einer von ihnen ist Anton Preisinger, der den Pilatus spielen wird und sich ebenfalls so seine Gedanken macht. Dass ihm 1970 sein Vater als römischer Hauptmann vom Pferd herunter zugewunken hat, hilft höchstens moralisch. „Das Reiten ist nicht unbedingt mein Hobby“, gesteht Preisinger. „Aber nun verlangt es eben die Rolle.“ Im Dezember 2019 hatte er mit dem Reitunterricht begonnen, der diesmal in der Gruppe stattgefunden hat. Nun wird er wohl im Winter wieder einsteigen. Seine Reitszene ist einigermaßen überschaubar, was ihn beruhigt: Er reitet mit dem Hauptmann auf die Bühne, Soldaten vertreiben das Volk, und dann darf er schon wieder absteigen. „Ich hoffe halt, dass nicht zu viele Reitexperten im Publikum sitzen, weil die natürlich sofort sehen werden, dass ich blutiger Anfänger bin“, sagt er und lacht. Im Vorfeld der aktuellen Passion sorgte auch der seit jeher beim Einzug in Jerusalem mitspielende Esel für Aufregung. Die Tierschutzorganisation PETA wandte sich mit einer Bitte an den damaligen Oberammergauer Bürgermeister Arno Nunn sowie an Walter Rutz, den Geschäftsführer des Eigenbetriebs Oberammergau Kultur: Oberammergau solle doch bitte auf den Esel (und alle anderen Tiere) gänzlich verzichten. „Heutzutage würde Jesus nicht mehr auf einem Esel reiten“, so Peter Höffken, Fachreferent bei PETA. „Er würde sich vermutlich auf einem E-Roller oder mit einem anderen tier- und umweltfreundlichen Elektromobil fortbewegen.“90 Dieser Vorschlag wird nicht umgesetzt, allerdings 162


hat man sich bewusst für den katalanischen Riesenesel entschieden, weil dieser besonders kräftig ist. Auch ist die Strecke, die Jesus auf ihm zurücklegt, nicht gerade lang. An die dreißig Meter dürften es sein von hinten bis auf die Bühne, schätzt Frederik Mayet, einer der Jesus-Darsteller. Und wenn man die Beschreibungen von Anton Lang liest, der 1900, 1910 und 1922 als Jesus auf dem Esel geritten ist, scheint es durchaus Tiere zu geben, die Lust am Theaterspielen finden – und daran, ihre menschlichen Mitspieler auch mal spüren zu lassen, wer wirklich der Stärkere ist: „[Der Esel] war bald mit dem Spiele so vertraut, dass er allein zum Theater trabte, wenn seine Zeit gekommen war, und sich am hinteren Eingang in seiner Sprache bemerkbar machte“, schreibt Lang in seinen Memoiren. „Neckereien konnte er nicht vertragen. Einem Mitspieler, der ihn vor der Aufführung mit einem Stück Zucker genarrt hatte, trat er auf offener Bühne während eines Lebenden Bildes so kräftig auf den nackten Fuß, den die Sandale natürlich nicht schützte, dass dieser die Zähne zusammenbeißen musste, um sich nicht zu bewegen.“91

Turbulenzen

Auch wenn alles noch so gut geplant ist: Jede Panne lässt sich nicht verhindern, wenn so viele Menschen und Tiere im Spiel sind und das unter mehr oder weniger freiem Himmel. Der Zuschauerbereich ist zwar überdacht, die Bühne aber nicht. Sie verfügt lediglich über ein Notfall-Dach, das bei Bedarf ausgefahren werden kann. An einem Tag 2010 war Christian Stückl nicht in Oberammergau, sondern bei einer Wiederaufnahmeprobe vom „Jedermann“ bei den Salzburger Festspielen, erinnert sich Mayet. Es war ein wunderschöner Sommertag, aber urplötzlich, wie das 163


im Gebirge eben mal geschieht, kam ein Gewitter. Das fahrbare Dach hat man nicht mehr rechtzeitig zugekriegt. „Das war am Nachmittag mitten in der Ölbergszene, plötzlich hat es total angefangen zu hageln“, so Mayet. „Ich wusste auch nicht, wie damit umgehen. In der ersten Reihe wurde jemand getroffen und hatte eine Platzwunde. Da bin ich zu den anderen und habe gesagt, wir unterbrechen. Das war eine schwierige Situation, wir hatten nie darüber gesprochen, wann man abbricht, da war so eine innere Hürde. Es gibt halt auch Stücke, wo das einfacher ist. Das hat mich ganz schön aus der Fassung gebracht.“ Nach einer kurzen Unterbrechung konnte das Spiel aber zum Glück fortgesetzt werden. Auch 1990 gab es einmal am Nachmittag ein so heftiges Gewitter, dass man wohl vor lauter Regen und Donner kein Wort mehr verstanden hat. „Es hat geschüttet, es kam alles runter, es hat gedonnert und geblitzt“, erzählt Christian Stückl. „Das alles ging los mit der Kreuzigung. Wir haben siebzehn Leute mit Sanitätern aus dem Saal geholt, die in Ohnmacht gefallen sind, weil das so real war. Auch ich stand im Zuschauerraum und war überwältigt, wie der Himmel auf einmal mitgespielt hat, ohne dass wir das bestellt hätten.“ 2000 wurde mal aus Versehen eine ganze Szene übersprungen, was die Nachfolgenden einigermaßen in Stress brachte, weil nun zehn Minuten vom Spiel fehlten und die Leute normalerweise erst knapp zu ihrer Szene ins Theater kommen. Da mussten dann alle durchtelefoniert werden, dass sie früher kommen. Riskante Momente sind auch immer die Umbauten. Wenn ein Umbau ansteht – und das ist ob der eingeschobenen zwölf Lebenden Bilder recht oft der Fall – wird der gesamte hintere Spielbereich auf Rädern weggeschoben, damit Platz frei wird für die Rahmen, in denen die Lebenden Bilder aufgebaut werden. Für all das bleiben den Bühnenarbeitern gerade zweieinhalb Minuten 164


Zeit, bevor die Beteiligten in Position gehen müssen und sich der Vorhang wieder öffnet. Das ist durchaus sportlich, und hinter der Bühne geht es da mindestens so turbulent zu wie vorne. Ja, es kam durchaus schon vor, dass der Chor zwar ein Lebendes Bild besang, sich der Vorhang aber nicht öffnete, weil dahinter noch Chaos herrschte, gibt Carsten Lück schmunzelnd zu. „Aber das ist die Ausnahme.“ Die letzte Vorstellung ist dann noch einmal eine ganz besondere, auch wenn der Ablauf zunächst all den anderen ähnelt. Vor Beginn beten abwechselnd der katholische und der evangelische Pfarrer ein „Vaterunser“ mit den Beteiligten. Dann wird gespielt. Doch während das Ensemble am Ende für gewöhnlich ohne Verbeugen von der Bühne geht, weil sich das bei einem religiösen Spiel nicht geziemt, kommen beim letzten Spiel am Ende alle auf die Bühne, auch die, die an diesem Tag nicht dran waren. Zum Halleluja werden alle Tore aufgemacht, und dann sind an die 2000 Menschen auf der Bühne. Die Auf- und Abgänge werden vorher extra geprobt, sonst wäre das gar nicht machbar. Alle singen noch mal „Schma Jisrael“ und „Großer Gott wir loben dich“, Christian Stückl hält eine Ansprache. „Da laufen Tränen ohne Ende, auf der Bühne und im Zuschauerraum. Da klatschen dann auch alle mit, das ist ja auch einfach das Ende einer großen Belastung, auch eine Erleichterung“, beschreibt Monika Lang die gemischten Gefühle an diesem Abend. Beim anschließenden Abschlussfest verabschiedet sich der eine oder andere gleich von Bart und Haaren – und alle von der Passionszeit. „Dann kommt ein Loch“, erzählt Frederik Mayet. „Das ist krass, von einem Tag auf den anderen ist das Dorf total leer. Die Touristen sind weg, alle sind erschöpft und viele fahren in Urlaub. Aber man weiß ja: In zehn Jahren geht’s weiter.“

165


DIE NEUE SEUCHE. CORONA UND DIE VERSCHIEBUNG DER SPIELE

D

ass „der Passion“ alle zehn Jahre über die Bühne geht, war bis 2020 in Oberammergau so sicher wie das Amen in der Kirche. Corona hat einiges an Gewissheiten erschüttert. Der Puls des Ortes, wie der Passionsrhythmus irgendwo einmal genannt wurde, setzte aus. Seit dem Zweiten Weltkrieg gab es keine Unregelmäßigkeiten im Passions-Spielplan: Alle zehn Jahre haben sie stattgefunden, 1977 und 1984 gab es sogar zusätzliche Spiele. Für fast alle diesmal Beteiligten, selbst die Dorfältesten, ist die Erfahrung der Verschiebung eine neue. Etwas, das man nur aus der Historie und in der Theorie kennt. Am 8. März 2020 fahre ich noch einmal nach Oberammergau. Ungefähr eine Woche zuvor, beim Besuch einer Premiere in den Münchner Kammerspielen, habe ich zum ersten Mal gespürt, dass eine Anspannung über allem liegt, einige darauf achten, den anderen nicht zu nahe zu kommen. Wenige Tage später dann die Pressekonferenz zum „Radikal jung“-Festival im Münchner Volkstheater. Im Gespräch taucht zum ersten Mal die unglaubliche Frage auf: „Wann werden sie die Theater zumachen?“ In den Schulen fällt zum ersten Mal das antiquiert wirkende Wort „Quarantäne“: Kinder, die in den Faschingsferien in Südtirol waren, dürfen zwei Wochen nicht kommen. Es ist also eine merkwürdig unsichere Stimmung, als ich nach Oberammergau fahre. Zwei Monate nach der ersten großen Bühnenprobe. Wieder ist es kalt, wieder wird im Anorak geprobt. Rochus Rückel schleppt das gewaltige Holzkreuz auf die Bühne. Er schleift es mehr als er es trägt, bricht mehrmals unter der Last zu166


Die erste Kreuzigungsprobe 2020 ist die letzte Volksprobe in diesem Jahr. Wenige Tage später werden die Spiele verschoben.

sammen. An diesem Tag findet die erste Kreuzigungsprobe statt. Rückel wird aufs Kreuz gelegt, befestigt und hochgezogen. Zum ersten Mal hängt er hoch oben über denen, die den „König der Juden“ tot sehen wollten, und denen, die um ihn weinen. Und zum letzten Mal in diesem Jahr. Denn diese erste Kreuzigungsprobe ist zugleich die letzte große Probe für die Oberammergauer Passionsspiele 2020. Wegen der Corona-Pandemie müssen die Proben kurz darauf abgebrochen und die Spiele um zwei Jahre verschoben werden.

Stillstand

Am 19. März 2020 wurde Gewissheit, was nicht wenige schon länger geahnt oder befürchtet hatten: Spielleiter Christian Stückl musste verkünden, dass die Passionsspiele 2020 wegen der Corona-Pandemie verschoben werden müssen auf 2022. Drei Tage 167


Christian Stückl verkündet im März 2020, dass die Spiele um zwei Jahre verschoben werden.

zuvor hatte Ministerpräsident Markus Söder in Bayern den Katastrophenfall ausgerufen, alles, was nicht unbedingt lebensnotwendig war, wurde geschlossen. „Ich hab kein gutes Gefühl mehr gehabt“, sagte Christian Stückl den wenigen Pressevertretern, die nach Oberammergau vor das Passionstheater gekommen waren. Der Gemeinderat hatte am Abend zuvor einstimmig beschlossen, die Spiele nicht abzusagen, sondern zu verschieben. „Wir werden irgendwann wieder weitermachen und wir sind guter Dinge“, 168


sagte Stückl. Seine Stimme stockte, ihm kamen die Tränen. Das zu sehen, war für viele hart, auch für Monika Lang: „Was das für Konsequenzen hat für den Einzelnen, für das Dorf und die Welt … Für alle, die kommen wollten, und alle, die mitgemacht hätten. Das war wie eine Seifenblase, die geplatzt ist.“ Bis zwei Tage vor der Entscheidung hatte Stückl noch „Durchhalteparolen“ in die Welt gesetzt, wie er mir wenig später am Telefon erzählte, auch wenn er bereits geahnt hatte, dass das Risiko zu groß geworden war: „Auch meine Hauptdarsteller haben nicht mehr richtig daran geglaubt, ich habe einige Tränen gesehen. Als die Absage dann kam, hat es mich emotional total erwischt.“ Bevor er den Bescheid des Landratsamts GarmischPartenkirchen an die Presse weitergab, rief er sein Kernensemble zusammen. Es kamen nur wenige. Die Enttäuschung war zu groß. Statt in die Endproben zu starten, kam Oberammergau wie Bayern, Deutschland und fast die ganze Welt zum Stillstand. Kostüme, Requisiten und Kulissen wurden beschriftet, verpackt und eingemottet. Statt weiter zu proben, gab Christian Stückl Interviews, betrieb die „Rückabwicklung“ seiner Spiele. Eine halbe Million Tickets mussten storniert oder umgebucht werden. Er klang leiser als sonst am Telefon, ausgebremst. Dass nicht alles würde laufen können wie geplant, war ihm Anfang März 2020 bewusst geworden. „Da hatte ich eine große Probe mit 400 Leuten“, erinnerte er sich. „Und da wurde mir ziemlich heftig klar, dass ich zu viele alte Leute auf der Bühne habe, dass das gefährlich ist.“ Am nächsten Tag rief er den Bürgermeister an, sagte, dass er eine Gemeindesitzung bräuchte, um zu besprechen, wie es weitergehen soll. „Wir haben bis zu 1000 Leute auf der Bühne und über 4000 im Zuschauerraum. Da brauchten wir einfach eine Einschätzung vom Landrat und dem Gesundheitsamt“, so Stückl. Er sagte die geplanten Proben vorerst ab. 169


„So kann man nicht Theater machen, unter diesen Umständen. Da kann man nicht sprachlich genau sein und an Szenen feilen“, erklärte Stückl. „Letztlich waren wir uns alle einig, dass die Verschiebung traurig ist, aber auch eine Befreiung nach dem Hin und Her.“ Kurz wurde diskutiert, ob die Spiele 2021 nachgeholt werden, aber 2022 schien realistischer. Zu diesem Zeitpunkt wusste niemand, wann sich die Situation weltweit wieder normalisieren würde. Nun, über ein Jahr später, zeigt sich, dass das die einzig richtige Entscheidung war: 2021 wären die Spiele sicher nicht möglich gewesen. Auch jetzt, im Herbst 2021, ist nicht ganz klar, wie die Situation zum Probenbeginn im Winter sein, ob und welche Einschränkungen es im nächsten Jahr geben wird.

Wieder Pandemie

Es ist nicht das erste Mal, dass die Passionsspiele verschoben werden. Und auch nicht das erste Mal, dass das wegen einer Pandemie geschieht. Auch die Passion 1920 konnte erst 1922 stattfinden. Weil viele nicht aus dem Ersten Weltkrieg zurückgekehrt oder noch in Gefangenschaft waren. Und weil in dieser ohnehin schwierigen Situation die Spanische Grippe ausgebrochen war. Auch damals kam eine Absage nicht in Frage: „1921 […] erwog man in Oberammergau ernstlich, ob es gut wäre, bis zum Jahre 1930 zu warten. Bei einer zwanzigjährigen Unterbrechung hätten die jungen Leute ja gar keine Fühlung mehr mit dem Spiel gehabt.“92 Was damals gegolten hatte, galt auch im Jahre 2020. „Es gab ja immer wieder schwierige Phasen in der Geschichte. Daran sieht man aber auch: Das Leben geht weiter und es geht auch wieder aufwärts“, so Frederik Mayet im Sommer 2021. „Jetzt ist es auch gerade schwierig durch Corona, aber umso wichtiger ist 170


es, die Spiele 2022 zu machen. Wenn man erst 2030 weitermachen würde und zwanzig Jahre kein Spiel hätte, würde sowohl bei den Teilnehmern als auch bei den Besuchern ein echtes Loch entstehen. Ein Komplett-Ausfall wäre schon eine echte Zäsur.“ Eine Absage würde auch bedeuten, dass es eine Generation von Kindern gibt, denen dieses prägende Erlebnis fehlt. Eine Generation, die später als Nachwuchs vielleicht nicht in Betracht kommt, weil sie mit diesem Theater nichts verbindet. Zudem sind die Passionsspiele über die Jahrhunderte auch ein Garant für Beständigkeit geworden im Ort: So schlimm wird es nicht kommen, dass es keine Passion gibt. Von kaum etwas ließen sich die Oberammergauer je davon abhalten, an ihrem Spiel festzuhalten. Nicht von Verboten (auch wenn diese von der Kirche kamen und sie ja eigentlich ihres Gelübdes entbunden hätten). Nicht von Kriegen (allein der Zweite Weltkrieg war von einer Dimension, gegen die sie nicht ankamen). Auch nicht von Seuchen. Dennoch hat die Corona-Pandemie in ihrer Unberechenbarkeit den Ort tief erschüttert. Dass ausgerechnet eine neue Krankheit die Spiele im 21. Jahrhundert zum Erliegen gebracht hat, wo sie einst doch gerade vor so etwas schützen sollten. Der erste Impuls bei nicht wenigen war: Wir müssen das machen, gerade in dieser Situation, genau das ist ja unser Gelübde, das ist unsere Aufgabe. Andreas Richter schilderte diesen Impuls in einem Podcast zu Ostern 2021: „Darüber wurde viel geredet, dass wir das nicht einfach sausen lassen können. […] Der Glaube, dieses tiefe innere Verbundensein mit etwas, das größer ist als wir selber, kann heilsam sein. Das kann in Zeiten, in denen man sich gegen ein Virus wehren muss, eine wichtige Ressource sein.“93 Der Glaube an die Spiele, der in Oberammergau immer beides ist – einer an die (religiöse) Tradition und einer ans gemeinsame Theatermachen – setzt den Einzelnen in einen größe171


ren Kontext, macht ihn zum Teil des großen Ganzen, gibt Halt in schwierigen Zeiten. Die Spiele 2022 sind so etwas wie ein Licht am Ende des Tunnels. Das ist wichtig. Denn die Durchführung der Spiele verlangt den Menschen heute mehr ab als in früheren Zeiten. Viele studieren oder arbeiten nicht mehr vor Ort, müssen alle zehn Jahre ihr komplettes Leben um die Passion herum planen. Durch Corona sind einige Biografien durcheinandergeraten, einiges an Lebensplanung. Es ist das eine, sich mit langem Vorlauf alle zehn Jahre auf ein Jahr Ausnahmezustand einzustellen. Es ist etwas anderes, diesen Ausnahmezustand dann wieder rückund auf zwei Jahre später umzuplanen. Zweimal innerhalb von drei Jahren sein Leben in den Passionsmodus umzupolen. Und das in einer Situation, die für alle eine beruflich eher schwierige ist, auch ganz ohne Passion. In der viele ihren Job verloren haben oder in Kurzarbeit geschickt wurden, in der viele Sicherheiten verloren gegangen sind. Christian Stückl sagte mir in unserem Gespräch nach der Absage, dass er die Besetzung wenn irgend möglich beibehalten möchte: „Ich hoffe sehr, dass alle wieder dabei sind. Schaun ma mal, wo’s hinläuft.“

Nochmal umplanen

Auch wenn es mühsam ist: Alle, mit denen ich gesprochen habe, wollen selbstverständlich auch 2022 dabei sein. Selbst wenn es bedeutet, das Studium wieder umzuplanen, sich jobmäßig nochmal umzuorganisieren, erneut nach einem Sabbatical oder unbezahltem Urlaub zu fragen. Christoph Stöger, der den Johannes spielen wird, hatte für die Passion 2020 sein erstes Staatsexamen in Jura verschoben. Nun startet er später mit seinem Referendariat, um 2022 dabei sein zu können. „Wenn ich das Freunden 172


erzähle, die nicht aus Oberammergau kommen, sagen die, das ist doch völlig wahnsinnig“, erzählt er. „Für viele ist das nicht wirklich nachvollziehbar, wie man sein Leben und seine Planung danach ausrichten kann. Aber man wächst damit auf, macht als Kind mit und merkt, was für eine tolle Sache das ist.“ Eva Reiser durfte 2010 die Maria Magdalena spielen und nun die Maria. Zweimal in einer Hauptrolle besetzt zu werden, ist für eine Frau eine noch größere Ehre als für einen Mann, da die Frauenrollen bekanntlich eher spärlich gesät sind und es ab einem bestimmten Alter überhaupt keine mehr gibt. Die Verschiebung hat Reisers Lebensplanung gehörig durcheinandergebracht. Für 2020 war alles organisiert und musste wieder zurückgenommen werden. Für 2022 muss ein neuer Plan her. Wie der genau aussieht, weiß sie im Sommer 2021 noch nicht. „Aus der Erfahrung mit der Verschiebung bin ich diesmal vorsichtiger und versuche, die Entscheidung so lange wie möglich rauszuschieben“, sagt sie. Natürlich ist da im Hinterkopf die Frage, ob man schon wieder um eine Sonderregelung beim Arbeitgeber bitten kann. Natürlich sind die Skrupel größer geworden. Trotzdem: Die Alternative, die Rolle zurückzugeben, ist keine. „Ich möchte das jetzt schon machen“, sagt sie. „Klar: Im Volk würde ich es leichter organisiert kriegen, aber es reicht nicht, dass man ausgesucht wurde, man will es dann schon spielen.“ Sophie Schuster hat das Thema Corona zu Beginn solang es ging „schön weggeschoben und gedacht, das wird schon gehen“. Als es dann nicht ging, war „auf einmal alles über den Haufen geworfen“. „Am Anfang war es schon krass“, erinnert sie sich im Sommer 2021. „Es hat eine Weile gedauert, bis ich realisiert habe, das war’s jetzt für das Jahr.“ Ihr Marketing-Studium an der Fernuniversität lief weiter, finanziell hatte sie aber natürlich mit der Passion geplant. Sie hat sich also wieder bei der Bank beworben, 173


bei der sie ihre Ausbildung gemacht hatte. Sie bekam einen Job, war wieder „ein bisschen entspannter“. Nicht ganz einfach fand sie den langen Wartemodus, der durch die Verschiebung entstanden ist: „Man hat ja immer im Hinterkopf, 2022 ist Passion, man plant alles unter diesem Aspekt.“ Umso mehr freut sie sich auf den Moment, wenn die Proben endlich wieder losgehen. Auch Rochus Rückel wollte lange „nicht wahrhaben“, dass es schiefgehen könnte mit der Passion 2020. „Es kam schon der Punkt, wo man gemerkt hat, es brennt“, erzählt er mir im Rückblick. „Insgesamt war die Stimmung aber noch recht positiv, wir haben gedacht, das wird schon.“ Am 14. März hatte er Geburtstag, da wurden Fotos für den Bildband gemacht. Er war gerade in der Kantine, als alle Beteiligten per Durchsage auf die Bühne gerufen wurden. „So eine Durchsage gibt es eigentlich nicht“, sagt er. „Da haben wir dann alle gewusst, was das jetzt heißt.“ Nämlich die Einstellung der Proben. Zur offiziellen Absage ist Rückel dann gar nicht mehr gekommen. Er nahm die Infektionsgefahr sehr ernst, hatte „große Sorgen, dass sich Menschen in meiner Umgebung anstecken und krank werden“. Was zum Glück nicht passierte. „Aber so war die Absage der Passion eigentlich recht verträglich“, sagt er in seiner so bedachten Art. „Es ging ja um Leben und Tod.“ – Seltsam war es trotzdem, als von einem Tag auf den anderen sein ganzer Tagesplan zusammenfiel. Gerade noch war alles voll ausgebucht mit Proben und Lernen für die Prüfungen in der Uni. Auf einmal war alles weg. Rückel restaurierte mit seinem Bruder einen Unimog in der heimischen Werkstatt und schrieb seine Bachelor-Arbeit. Das hätte er eigentlich parallel zu den Spielen gemacht, was wohl „sehr intensiv“ geworden wäre. Ein Freisemester in seinem Luft- und Raumfahrtstudium hatte er sich nicht gegönnt für die Passion, was im Nachgang betrachtet eine gute Idee war. So konnte er im Lockdown in Ruhe schreiben 174


– und wird wohl 2022 während der Passion schon an seiner Masterarbeit sitzen. Ganz ohne Doppelbelastung geht’s halt nicht. Trotz aller Loyalität zur Passion: Einige Änderungen in der Besetzung lassen sich nicht vermeiden. 138 Beteiligte können 2022 nicht mehr dabei sein. Einige sind gestorben, anderen passt es nicht mehr in ihre Planungen. Wieder andere sind dazugekommen: Einige davon hatten 2020 keine Zeit, ein paar haben aber auch erst durch die Verschiebung das Spielrecht erhalten. Eine davon ist Ulrike Bubenzer: Ihre Familie ist zwar mütterlicherseits tief verwurzelt in Oberammergau, lässt sich zurückverfolgen bis zum Gelübde. Da sie aber in München aufgewachsen ist und erst 2001 zurück nach Oberammergau zog, hat sie erst 2022 das Spielrecht. Verloren hat übrigens durch die Verschiebung niemand sein Spielrecht: Alle, die 2020 unter 18 Jahre alt waren und das Kinder-Spielrecht bekamen, dürfen auch 2022 mitmachen. Wer einmal besetzt war, wird nicht rausgeworfen. In Oberammergau ist das Theater ein Wirtschaftsfaktor. Mit den Überschüssen aus der Passion wurde unter anderem das Freibad gebaut. „Passion wirds scho richten“, sagt man hier, wenn es mal eng wird. Die Hotels sind im Zehnerjahr komplett ausgebucht, die Gaststätten machen mehr Umsatz als in den neun Jahren zuvor, die Gäste kaufen Souvenirs und Merchandise-Artikel. Alle zehn Jahre macht die Passion die Kassen voll. (Deshalb ist jeder Streit um die Passion immer zumindest in Teilen auch ein Streit ums Geld.) In Oberammergau lebt man vom Tourismus, und die Passionszeit ist ohne Frage die Hochsaison. „Wir sind abhängig davon“, zitiert Ilja Trojanow 2010 den damaligen Leiter des Hauptamtes der Gemeinde, Martin Norz. „Die Erhaltung der Einrichtungen, die wir hier haben, ist inzwischen ein großes Problem, weil wir sonst wenig haben. Der Tourismus in den Zwischenjahren ist nicht ausreichend, die Sport175


anlagen, Skilifte, das Wellenbad […], all das wird finanziert durch die Passionsspieljahre.“94 Die Verschiebung hat auch hier einiges durcheinandergebracht. Im Großen (der Gemeinde) wie im Kleinen (dem Einzelhandel, den Hotels und der Gastronomie). Der Wohlstand Oberammergaus basiert zu einem nicht geringen Anteil auf den Spielen und allem, was mit ihnen zusammenhängt. Cengiz Görür, dessen Vater ein Hotel in Oberammergau betreibt, bestätigt mir, wie schwierig es nach der Verschiebung war: statt Full House war da auf einmal eine Geisterstadt. Von einer durchgebuchten Saison blieb von heute auf morgen nur ein leerer Kalender. Lockdown statt Touristenansturm. Dass es nicht ganz so arg kam wie befürchtet, liegt daran, dass im Frühsommer 2020 die Beherbergung für Reisen innerhalb Deutschlands wieder erlaubt wurde. So profitierte auch Oberammergau von den vielen, die nun spontan Urlaub im eigenen Land machten, weil Reisen ins Ausland nicht möglich waren.

Planung in Unsicherheit

Die Planung der Spiele 2022 ist eine in Unsicherheit. Als die Spiele verschoben wurden, befand sich die Welt im Lockdown. Als im Oktober 2020 der Vorverkauf für 2022 begonnen hat, gab es noch keinen Impfstoff. Dafür jede Menge Hygienevorschriften für die Theater und Abstandsregeln auf der Bühne. Zehn Quadratmeter pro Person waren vorgeschrieben. Hochgerechnet auf Oberammergauer Verhältnisse, wo an die 1000 Menschen gleichzeitig auf der Bühne stehen, müsste diese einen Hektar groß sein … An das Orchester wäre nicht zu denken. Auf der Pressekonferenz zum Vorverkaufsstart leugneten weder Christian Stückl noch Geschäftsführer Walter Rutz die Unsicherheiten: 176


Ob Corona 2022 vorbei ist? Ob die Leute wieder reisen? Ob die ausländischen Gäste einreisen können? All das wusste zu diesem Zeitpunkt niemand. Dennoch wollten sie es optimistisch angehen. Und das Publikum ging diesen Weg mit: Ungefähr fünfzig Prozent der bis Sommer 2021 gebuchten Tickets für 2022 sind Umbuchungen aus 2020. Trotzdem ist es ein Produzieren in großer Unsicherheit: Was wird möglich sein, wenn im Dezember wieder die Proben beginnen? Wenn im Mai 2022 Premiere ist? Das Funktionieren der Spiele liegt auf einmal nicht mehr nur in den Händen der Oberammergauer und Oberammergauerinnen: Es ist abhängig von äußeren Umständen. Wenn ein Hygienekonzept nötig ist, werden nicht alle mitspielen können, so Stückl: „Dann müssten wir zu fünf- oder sechshundert Leuten sagen, ihr müsst zuhause bleiben.“ Und wer sollte das nun sein? Die Älteren, die so gerne noch einmal spielen würden, aber schon sechs, sieben oder acht Mal dabei waren? Oder eher die Jungen, die die Passion in die Zukunft tragen sollen? „Das wird noch ein riesiger Kampf werden“, vermutet Stückl. „Wie soll man entscheiden, wer mitmachen darf und wer nicht? Irgendwer wird auf jeden Fall enttäuscht sein.“ Zumindest die Situation im Zuschauerraum scheint einigermaßen geklärt zu sein, mit 3G- oder 2G-Vorgaben sollten die Spiele stattfinden können. Und inhaltlich? Wie werden die Spiele 2022? Was verändert sich durch die Pandemie-Erfahrung? Was wird anders als 2020? Christian Stückl sagt im Sommer 2021 klar: „Wir wissen nicht, wie 2020 geworden wäre. Aber 2022 wird definitiv anders.“ Er wird sich noch mal an den Text setzen, in ihn und sich hineinhören. Was noch passt. Und was nicht. Seit seiner ersten Passion hat sich wahnsinnig viel verändert, so sein Gefühl: „Ich merke, dass mich der Text an den Stellen langweilt, an denen er sehr 177


theologisch wird und zum Beispiel die Einhaltung des Sabbats diskutiert wird“, erzählt Stückl mir. „Da muss ich jetzt einfach noch mal schauen, da ist mir das Zwischenmenschliche zunehmend wichtiger. Der religiöse Ballast rückt für mich eher in den Hinter-, das Soziale in den Vordergrund.“ Ihn interessiert immer mehr das, was zwischen den einzelnen Menschen passiert, als das, was zwischen den Religionen schiefläuft. In der Pandemie hat ihn erschrocken, wie viele Theaterleute immer betont haben, wie systemrelevant die Kunst sei und wie sehr sie es hassen, gemeinsam mit Bordellen und der Gastronomie genannt zu werden. „Da bin ich irgendwann richtig zwieder geworden“, so Stückl. „Irgendwie hat es keinen interessiert, wie es diesen Menschen geht und dass die Schere zwischen Arm und Reich immer weiter aufgeht. Jeder hat nur auf sich selbst geschaut. Und am Ende ist uns wahrscheinlich sogar das Klima wurscht, Hauptsache, wir können wieder in Urlaub fahren.“ Die Geschichte von einem, der an grundsätzlichen Werten festhält, hat da natürlich eine Dringlichkeit. Dass Jesus durchaus auch einer ist, der nervt, die anderen mit seiner Penetranz zur Weißglut bringt, ist Stückl schon lange bewusst. Er ist eine „Zumutung“, wie er es einmal formulierte. Weil er nicht aufhört, die Menschen daran zu erinnern, wer sie sein könnten. Wenn sie nur wollten. Was sie ändern könnten und müssten.

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ZEIT FÜR UTOPIEN. DIE ZUKUNFT DER PASSION

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ie neue Pandemie kam zu einem Zeitpunkt, als im Ort alles einigermaßen zur Ruhe gekommen schien. Die Vorbereitungen für die Spiele 2020 waren in einer ungewohnten Harmonie abgelaufen, es gab keine Bürgerentscheide und keine größeren Proteste. So wenig Reibung war selten. Dass die Änderungen, die Stückl vorgenommen hat, wichtig waren, um die Spiele ins neue Jahrtausend zu überführen, haben inzwischen die meisten im Ort eingesehen. Das Vertrauen in ihn ist bei seiner vierten Passion so groß, dass man nicht mehr über jede Inszenierungsidee im Gemeinderat diskutiert. Der Erfolg hat ihm Recht gegeben. Die Passionsspiele haben nie so viel nationale und internationale Anerkennung bekommen wie in den vergangenen zehn Jahren. Stückl wurde allein 2020/21 mit drei Preisen für sein Engagement für Toleranz und gegen Antisemitismus ausgezeichnet. Ihm wurde der Abraham-Geiger-Preis, der Toleranz-Preis der Evangelischen Akademie Tutzing und zuletzt die Buber-Rosenzweig-Medaille verliehen. 2014 wurden die Passionsspiele „Immaterielles Kulturerbe“, 2020 nahm die New York Times die Spiele in Oberammergau in ihre Liste der „52 Places to Go in 2020“ auf. Im November 2020 schließlich ernannte die Gemeinde den einstigen „Bühnenschreck“ zum Ehrenbürger: „Der Gemeinderat möchte Herrn Christian Stückl als Oberammergauer Bürger und Persönlichkeit und als Person mit tiefer Verwurzelung im Ort für sein äußerst positives und erfolgreiches Wirken nach innen und nach außen und für sein Wirken als Botschafter der Passionsspiele danken und mit der Verleihung des Ehrenbürgerrechts seine 179


Wertschätzung zum Ausdruck bringen“, so die offizielle Begründung des Gemeinderats. Nach all den Kämpfen ein versöhnliches Zeichen.

Ist das Tradition oder kann das weg?

Stückl hat die Spiele auf eine neue Ebene gehoben. Die junge Spielergeneration kennt die Passion nur unter seiner Leitung. Die Auseinandersetzungen um seine Wahl, die Grabenkämpfe zwischen Traditionalisten und Erneuerern sind für sie Geschichte. Der Antisemitismus scheint soweit möglich überwunden zu sein. Wenn man die Jungen in Oberammergau fragt, wie es um ihre Motivation bestellt ist, ist da eine ganz große Begeisterung. „Ich habe mit drei Jahren mitgemacht, daran kann ich mich nicht wirklich erinnern, und dann mit 13. Und da hat es mich gehabt“, erzählt zum Beispiel Kilian Clauß. „Seitdem fällt es mir sehr leicht, über die Passion zu schwärmen, weil es eine so tolle Zeit war.“ 2017 hat er selbst mit den Kindern das alljährliche Krippenspiel einstudiert, das in Oberammergau selbstredend auch eine größere Sache ist als anderswo: „Ich habe den Christian [Stückl] gefragt, ob ich das machen kann. Da er selbst eh immer notorisch zu viel zu tun hat, war er einverstanden.“ Clauß hat diese Aufgabe auch in den folgenden Jahren übernommen, nun ist er Regieassistent bei der Passion und spielt den Nathanael. Sophie Schuster übernahm 2015 die weibliche Titelrolle im Zwischenspiel „Romeo und Julia“ in der Inszenierung von Abdullah Kenan Karaca – und nun also ist sie die Maria Magdalena in der Passion. Sie glaubt nicht, „dass es mal so weit kommen wird, dass diese Tradition aufhört“. Und auch Rochus Rückel schaut positiv nach vorne: „Wir haben jetzt die jüngste Besetzung über180


An Nachwuchs und Motivation mangelt es nicht in Oberammergau. Es wird Leute geben, die in die Aufgabe Passion hineinwachsen.

haupt, drum steht das für die Zukunft in sehr guten Schuhen.“ Von einer Legitimationskrise also keine Spur. Was mit Sicherheit daran liegt, dass Stückl und seine Kollegen die Jungen nicht kleinhalten, sondern neben sich groß werden lassen, sich um sie kümmern und unter Nachwuchsförderung wirklich Förderung verstehen. Nicht das bloße Entdecken von Talenten, sondern das aktive Ermöglichen von Karrieren. Es scheint Teil der Tradition geworden zu sein, dass die Profis die Augen offen halten nach Begabungen. Auch heute noch landen verhältnismäßig viele Oberammergauer im professionellen Theater. So studiert Lorenz Stöger, der 2000 und 2010 als Kind und Jugendlicher bei der Passion mitgespielt hat, Bühnenbild an der Weißensee Kunsthochschule Berlin und assistiert Stefan Hageneier bei den aktuellen Spielen. Cengiz Görür bewarb sich 2020 für das Schauspielstudium an der Münchner Otto-FalckenbergSchule. Er wurde als einer von sehr wenigen angenommen. Abdullah Kenan Karaca spielte als Kind bei der Passion 2000 mit. Nach seinem Abi studierte er Regie an der Hochschule für Musik und Theater in Hamburg. Heute arbeitet er als Regisseur und 181


2020/22 als zweiter Spielleiter in Oberammergau. – Ob einer von ihnen auch ohne die Passionsspiele ans Theater gegangen wäre? Das ist zumindest fraglich. Und dass ein Student wie Stöger ganz selbstverständlich davon spricht, noch mit neunzig Jahren bei der Passion mitzuspielen, zeigt, wie tief der Ort in seiner Theatertradition verwurzelt ist. Eines aber wird immer schwieriger für die nachwachsende Generation: die Passion mit der Lebensplanung in Einklang zu bringen. Als Christian Stückl 2021 im Theatercafé einen weiteren Cappuccino bestellt, fragt er den jungen Kellner, wie’s denn bei ihm aussehe mit der Passion 2030 oder 2040? Seine Antwort hält Stückl für einigermaßen exemplarisch: Wollen tut er schon, aber er studiert gerade Medizin in Salzburg. Wo er in acht Jahren sein wird? Keine Ahnung. Christoph Stöger, der Bruder von Lorenz, antwortet mir ähnlich. „Natürlich möchte ich mitspielen, aber ich muss halt schauen, wo und was ich dann arbeite, wie sich das vereinbaren lässt“, sagt er. „Jetzt geht es noch relativ einfach, ich bin Student, jung und ungebunden. Aber bei der nächsten Passion werden wir wohl alle am meisten zu kämpfen haben, um mitmachen zu können.“ Bleibt man in Oberammergau? Gründet man anderswo eine Familie? Was ist, wenn der Partner oder die Partnerin nicht aus Oberammergau ist und nicht mitspielen darf ? Beim nächsten Mal ist die heute aktivste Generation an dem wohl schwierigsten Punkt in der Passions-Biografie: mitten in der Familien- und Karriere-Planung. Auch Eva Reiser glaubt, dass sich einiges verändern wird, es nicht „ewig so funktionieren kann, wie wir das jetzt machen. Man muss schauen, wie sich das mit den Berufstätigen und den Studierenden organisieren lässt. Manche Sachen wird man vielleicht aufweichen oder anders angehen müssen, damit es weiter möglich ist. Die Motivation und Faszination werden schon bleiben. Die 182


Frage ist nur: Wie schafft man es, das immer in die nächste Zeit zu heben, dass alle mitmachen können?“ Dieses Problem sieht auch Stückl: „Wir haben strukturell eigentlich nur den Fremdenverkehr und zwei, drei Kliniken drum herum. Alles andere ist weit weg, immer mehr arbeiten in München.“ Die jungen Leute ziehen für die Karriere weg. Genau die, die die Passion so dringend braucht.

Wer ist Oberammergauer?

Wenn also die guten Spieler und Spielerinnen wegziehen und die anderen, die herziehen, aufgrund des Spielrechts nicht mitmachen dürfen, wird es schwierig werden, die Qualität zu bewahren. „Manche Sachen können wir nicht mehr halten“, denkt Stückl. „Und es ist gut, dass wir sie nicht mehr halten können.“ Zum Beispiel: die Zwanzig-Jahres-Regel. Eine Einschränkung, die aus dem Geist heraus entstanden ist, alle Neuen fernzuhalten. Eine ausgrenzende Geste, die nicht mehr zeitgemäß ist, wie Stückl findet. Das systematische Ausschließen von allen „Zuagreisten“, ob aus Weilheim oder Syrien, sieht er als ein zu überwindendes Relikt aus einer vergangenen Zeit. Bei den Zwischenspielen merkt er, was beziehungsweise wer ihm bei der Passion fehlt. Hier nämlich darf jeder mitspielen, der in Oberammergau wohnt. Egal, wie lange schon. „Da sind dann plötzlich die dabei, die neu hergekommen sind wie der Raouf Habibi, der bei meiner Familie wohnt. Da ist auch eine Frau, die vor neunzehn Jahren hierhergezogen ist und bei jedem Zwischenspiel im Chor gesungen hat – aber für die Passion fehlt ihr das eine Jahr, da ist sie dann draußen“, erzählt Stückl. Die Frage, „Wer ist Oberammergauer?“, wird man in Zukunft so beantworten müssen: „Der, der hier lebt.“ 183


Sollte die Zwanzig-Jahres-Regel tatsächlich eines Tages aufgehoben werden, muss möglicherweise auch das Recht auf Mitwirkung fallen. Im Grunde sind es ja jetzt schon zu viele, sagt Stückl: „Die Szenen sind manchmal so zugeklebt von diesen Massen. Wir müssen vielleicht komplett zwei Doppelbesetzungen machen auch im Volk und bei den Soldaten. Dann kann man mehr mitnehmen, und die Bühne ist trotzdem ein bisschen leerer.“ Und wenn es gar nicht anders gehe, müsse man eben losen. Dann sei zumindest niemand von vornherein ausgeschlossen. „Da sind wir an einem Umbruch“, denkt Stückl. „Aber wo wir genau landen werden, weiß man noch nicht.“

Passion post Stückl?

Und dann ist da noch die eine Frage, die sich im Grunde niemand hier stellen mag: Wer könnte in zehn oder in zwanzig Jahren die Spielleitung übernehmen? Stückl hat die Latte hoch gelegt. Seine Nachfolge anzutreten, wird nicht leicht werden. „Passion ohne Christian kenne ich nicht und möchte ich mir eigentlich auch gar nicht vorstellen“, sagt Eva Reiser und spricht damit vielen aus der Seele. „Er wird natürlich sagen, es muss weitergehen, es muss ein Junger machen. Da hat er ja auch Recht. Es liegt nicht an ihm, er wäre sicher bereit, seinen Posten an jemanden abzugeben, der das machen will. Aber irgendwie schreit auch niemand hier, solange er da ist.“ Der einstige Revoluzzer ist zum Klassiker geworden, der personelle Neuanfang zur nächsten Herausforderung. „Es wird halt komplett anders werden“, so Reiser. „Man muss sich von dem Gedanken verabschieden, dass es genauso weitergeht.“ Die Aufgabe einer nachwachsenden Generation wird es nicht sein, gegen überholte Vorstellungen anzugehen, sondern 184


sich eines Tages vom großen Vorbild Stückl zu lösen und ihren eigenen Weg zu finden. Auch für sie gilt, was Holzheimer zur Passion 2000 schrieb: „Tradition ist nichts Statisches, weil das Statische an sich keine Tradition sein kann. Tradition ist schon von seinem Wortsinn her etwas, was übergeben wird, weitergegeben und deshalb einer Veränderung unterworfen ist. […] Immer wieder wird […] so getan, als gäbe es eine Tradition per se und nicht ausschließlich deren dynamische Aneignung.“95 Nur dann bleibt das Spiel eine lebendige Auseinandersetzung mit der Historie und dem Stoff, wird nicht zum Heimatmuseum. Stückl selbst ist keiner, der das einmal Erreichte als das ewig Gültige sieht. Wenn dieser Geist erhalten bleiben kann, wenn nicht die eine Inszenierung eingemottet und alle zehn Jahre wieder abgestaubt wird, dann kann diese Passion relevant bleiben. Theater ist eine flüchtige Kunst, die in einem Moment auf der Bühne entsteht und im nächsten vergeht, um sich – in diesem Fall zehn Jahre später – wieder neu erfinden zu können. Oder wie Otto Huber es im Jahr 1990 formulierte: „Wie in anderen Lebensbereichen gilt […] auch beim Passionsspiel, dass die Tatsache, etwas schon einmal gemacht zu haben, zwar Zuversicht für die erneute Wiederholung geben kann, dass diese aber nicht von vornherein leichter fällt. Das Passionsspiel ist ja nicht eine Ikone oder ein Museumsstück, das als solches ohne Bezug auf die Gegenwart weitergegeben werden könnte, vielmehr muss es immer wieder neu entstehen. Die Melodie, die hier zu spielen ist, kann nur auf den Saiten des eigenen Lebens zum Klingen gebracht werden – die Passion lebt nur, wenn die Mitwirkenden sie durch die eigene Person hindurch zum Leben erwecken.“96 Irgendwann wird einer oder eine kommen müssen, die Lust hat auf diese Mammutaufgabe, die viel Kraft und Nerven kostet, aber auch süchtig machen kann. Jemand aus Oberammergau. Je185


Vielleicht steht der zukünftige Spielleiter oder die zukünftige Spielleiterin längst in den Startlöchern?

mand, der seine Pappenheimer kennt und trotz all ihrer Marotten liebt. Jemand, der gute Ideen hat und konfliktfähig ist. Denn die Passion zu machen, verlangt nicht nur gute Ideen und Engagement, sondern auch eine gehörige Portion Resilienz und Durchsetzungsvermögen. Vielleicht wird es auch erst mal eine Durststrecke geben, bevor neue Ansätze entstehen können. Christian Stückl blickt mit der ihm eigenen Neugier in die Zukunft, einen 186


konkreten Vorschlag aber hat auch er momentan nicht. „Ich weiß nicht, wer das mal übernehmen wird“, sagt er im Sommer 2021. „Man kann es nicht züchten. Ich frage mich immer, wo ist der Junge oder das Mädel, das das mal machen will? Ich fände es total spannend, wenn mal eine junge Frau kommt und sagt, sie möchte Passionsspielleiterin werden.“ Eine Frau als Passionsspielleiterin? Das wäre nur konsequent weitergedacht. Theoretisch freilich zunächst. Denn die jungen Frauen, mit denen ich gesprochen habe, haben keine derartigen Ambitionen. Und jenseits der Leitungsposten (Inszenierung, Musik, Bühne/Kostüm) sind die Möglichkeiten, die Passion weiblicher zu machen, mehr als übersichtlich. Natürlich kann man aus Jesus keine Frau machen, und auch die Apostel waren nun mal keine Apostelinnen. Und Frauen in Männerrollen zu besetzen, das wollen auch die Oberammergauerinnen nicht, in dem Punkt bleiben sie der Historie treu. Hier begrenzt also die klar männerdominierte Geschichte die Möglichkeiten. „Da kann man halt nicht ewig viele Frauenrollen dazuerfinden“, denkt auch Reiser. „Es wäre aber schön, wenn die vorhandenen Frauen ein bisschen mehr Text bekämen.“ Dass die Texte der Frauen „sehr oberflächlich“ seien, beklagte schon Andrea Hecht, die MariaDarstellerin 2010: „Es wäre mein Wunsch, dass sie etwas mehr Inhalt sagen dürfen. Sie müssen ja keine Predigt halten.“97 Dieser Meinung ist auch Monika Lang: „Man könnte den wenigen Frauen, die es gibt, eine andere Wertigkeit geben. Die Frauen haben einfach nicht viel zu sagen, da kommt zu wenig rüber.“ Vor allem die Maria Magdalena hätte durchaus mehr Potenzial als wichtige Frau unter den Aposteln. Vielleicht muss man da noch ein wenig kreativ werden: „Natürlich steht in der Bibel sehr wenig über die Frauen drin, es wurde kaum bemerkt, dass sie überhaupt da waren“, so Andrea Hecht. „Aber ich denke, dass das auch ein Fak187


tum der Zeit war. Wenn man damals nicht über Frauen sprechen durfte, sie nichts öffentlich sagen lassen wollte, dann muss man es jetzt unbedingt.“98 In Oberammergau ist man nach jahrhundertelangem Ringen dahin gekommen, das Passionsspiel als Theaterstück zu sehen, als Schauspiel. Die Vorstellung, nur Christen könnten Teil dieses religiösen Spiels sein, hat man überwunden. „Man muss nicht gläubig sein, um eine Figur aus der Bibel darzustellen“, so Eva Reiser. „Die Frage nach der Religiosität finde ich ein wenig überholt.“ Auch zeigen sich christliche Werte ja gerade im Miteinander: ein friedliches Zusammenleben mit anderen, Toleranz, Respekt und gegenseitige Wertschätzung. Das Ideal der Spiele ist längst ein aufklärerisches: Alle Menschen sind gleich und haben die gleichen Rechte. Das gemeinsame Spielen setzt nebenher im Kleinen gesellschaftliche Utopien durch. In diesem Ort ist die (Theater-)Kunst seit jeher ein Katalysator für all die Konflikte, die zwischen Menschen(gruppen) auftreten. Wie unter einem Brennglas zeichnen sich hier globale Konflikte in konzentrierter Form ab. Insofern ist dieses Passionsspiel, das einer Volksversammlung ähnelt, mehr als nur Theater: Es ist auch das Abbild einer sich wandelnden Gesellschaft, eine Demokratie en miniature. Während man sich in Oberammergau also Schritt für Schritt dem Ideal annähert, dass die eigene Biografie und Herkunft keine Rolle bei der Besetzung spielen, sondern lediglich das schauspielerische Talent und die Persönlichkeit; während sich hier der Blick also weitet, wird er andernorts gerade wieder enger. Denn auch die Amazon Studios haben 2021 eine Debatte darüber angestoßen, wer wen spielen darf. Aus dem Impuls, Minderheiten zu schützen, ist hier allerdings eine Vorgabe erwachsen, die im Grunde das Ende des Theaterspiels, der darstellenden Kunst bedeutet. Die neuen Richtlinien sehen vor, dass Schauspieler in 188


Geschlecht, Geschlechtsidentität, Nationalität, Ethnizität, sexueller Orientierung und Behinderung mit ihren Rollen übereinstimmen sollen. Man könnte es auch anders formulieren: Jeder darf nur noch sich selbst spielen. Die Vorgabe ist nicht, dass niemand aufgrund eines persönlichen – und privaten – Merkmals ausgeschlossen werden darf, sondern vielmehr, dass er oder sie dieses oder jenes Merkmal aufweisen muss, um eine Rolle zu bekommen. Für die Passionsspiele wäre eine solche Regelung das Aus: Kaum einer hier kommt aus dem Nahen Osten, eine jungfräuliche Geburt hat wohl auch keine Oberammergauerin erlebt. Die Figuren des Spiels haben herzlich wenig mit ihren Darstellern und Darstellerinnen gemein. Die Grundfrage ist doch: Was ist wichtiger? Die Auseinandersetzung mit relevanten Themen oder eine Besetzung, die vermeintlich korrekt ist, aber jede Fähigkeit eines Schauspielers oder einer Schauspielerin leugnet, sich ein fremdes Leben anzueignen? Diese Fragen wird sich das Theater der Zukunft stellen müssen. Auch die Passionsspiele. Nach allem, was ich im Laufe der beiden letzten Jahre über Oberammergau erfahren habe, hege ich keinen Zweifel, wie die Antwort hier lauten wird. Die Oberammergauer werden sich auch in Zukunft mit Geschichten auseinandersetzen, die mit ihren eigenen Leben erst mal recht wenig zu tun haben, die in einem anderen Teil der Welt, einer völlig anderen Zeit angesiedelt sind. Durch die Beschäftigung mit ihnen werden sich auch zukünftige Generationen Fragen stellen. Fragen, die das Zusammenleben in diesem nicht ganz kleinen Ort im Voralpenland bereichern werden. Um Diskussionen, Denkanstöße, eine Erweiterung des Blicks, das Einfühlen in fremde Schicksale. Ein Ende dieser Tradition hält hier keiner für denkbar. Es sieht gut aus für die nächsten vierhundert Jahre.

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EPILOG

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ährend ich dieses Buch geschrieben habe, ist die Welt eine andere geworden. Sie hat eine Pause gemacht und sich klammheimlich ein paar Runden zurückgedreht. Jahrhundertealte antisemitische Erklärungsmuster wurden von selbsternannten „Querdenkern“ wiederbelebt, alter Hass neu geschürt. Zunächst ist die Welt in der Bedrohung scheinbar näher zusammengerückt, denn auf einmal hatten alle die gleichen Probleme (und keine Lösung). Arme Länder und reiche, nördliche, südliche, westliche und östliche. Die ganze Welt befand sich im Lockdown. Sehr schnell aber traten auch die Unterschiede zutage. Wie gut oder schlecht ein Land mit der Pandemie zurechtkam, sagte viel aus über dessen Strukturen und Möglichkeiten, auch über die Verteilung von Ressourcen. Wie wissenschaftliche Erkenntnisse angenommen oder eben geleugnet wurden, viel über das Wesen der Menschen. Die Corona-Pandemie hat länger gedauert, als die meisten es sich im Frühjahr 2020 hätten vorstellen können. Weil ihnen die Erfahrung fehlte, was ein aggressives Virus in einer global vernetzten Welt anrichten kann. Als ich den Prolog schrieb, hatten die Schulen und die Theater gerade ein paar Wochen geschlossen, und das kam einem lange vor. Naiv rechnete ich (und nicht so wenige andere, mit denen ich gesprochen habe) damit, dass nach diesen Wochen eine Rückkehr zur Normalität möglich wäre. Die Oberammergauer waren glücklicherweise klug genug, einen Puffer einzubauen, ihre Spiele um zwei Jahre zu verschieben. (Klüger als das Olympische Komitee es war.) Das Schreiben dieses Buches fand in dieser merkwürdigen Zeit statt, in der es die Ausnahme wurde, dass Kinder in die 190


Schule gingen und Erwachsene ins Büro. Stattdessen fand alles gleichzeitig zuhause statt: Home-Schooling, Home-Office und Lagerkoller. Auf der einen Seite dieses Ganz-dicht-Zusammenhocken, auf der anderen Social Distancing zu allen, die nicht diesem engsten Kreis angehörten, der auf einmal „ein Haushalt“ hieß. Ungewohnte Nähe und ungewohnte Distanz, alles auf einmal. Gemeinsam etwas zu tun hat seit März 2020 den Beigeschmack von etwas Gefährlichem bekommen; eine Ansammlung von Menschen wirkt wie eine Bedrohung. Auch diese Erfahrung hat die Entstehung der aktuellen Passionsspiele geprägt. Die Spiele sind nicht nur aus einer Krise entstanden, sie behandeln auch die ultimative Krise im Leben Jesu, eine Krise des Glaubens. Für Christian Stückl ist ihre Botschaft klar: „Farbe bekennen. Wie auf den Ostereiern. Die zurückweisen, die andere niedermachen. Und nach schwierigen Situationen wieder aufstehen.“99 Die Überwindung der Angst nach der Pandemie, die Rückbesinnung auf den Wert der Gemeinschaft – auch das macht die Passionsspiele 2022 zu einem Symbol der Hoffnung und des Glaubens an die Zukunft. Einer Zukunft nach der Pandemie. Vielleicht sind diese 42. Spiele daher ihrem Ursprung näher, als sie es in den meisten Jahren waren. (Oktober 2021)

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DANK

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in ganz großer Dank an Frederik Mayet, der nicht nur sofort an dieses Buch geglaubt hat, sondern mir in vielen langen und kürzeren Gesprächen so viel über Oberammergau und die Passionsspiele erzählt hat. Auch Christian Stückl hat sich immer wieder Zeit für Gespräche genommen, auch wenn er sie eigentlich nie hatte. Noch zwischen Umzug des Münchner Volkstheaters ins neue Haus, Proben und wohlverdienter Sommerpause sprach er einen Samstagnachmittag lang im Theatercafé mit mir über seinen Weg zur Passion, über Vergangenes und die Zukunft. Merci beaucoup. Ohne diese Offenheit, mit der mir auch so viele andere Oberammergauer und Oberammergauerinnen begegnet sind, wäre es mir nie möglich gewesen, dieses Buch zu schreiben. Vielen Dank also an David Bender, Ulrike Bubenzer, Kilian Clauß, Stefan Hageneier, Cengiz Görür, Markus Köpf, Monika Lang, Carsten Lück, Florian Maderspacher, Anton Preisinger, Anton Preisinger Jr., Eva Reiser, Andreas Richter, Andreas Rödl, Rochus Rückel, den Scholler Toni, Sophie Schuster, Alexander Schwarz, Christoph Stöger, Lorenz Stöger, Peter Stückl und Markus Zwink für all die Anekdoten und Blicke hinter die Kulissen. Und an Ludwig Mödl, der mir bei der Klärung einiger theologischer Fragen behilflich war. Jenny Greza und Franziska Seher beantworteten mir jede meiner Fragen, haben das Kreuz für mich ausgemessen und Kontakte hergestellt. Dem Eigenbetrieb Oberammergau Kultur und seinem Werkleiter Walter Rutz danke ich für die Bereitstellung der zahlreichen Fotos. Cornelia Pichler hat mir Statistiken zu Geburten und Sterbefällen zusammengestellt. Michaela Prisco 192


und Julia Borghoff haben mein Manuskript in frühen Phasen gelesen, mir Mut gemacht und Zweifel genommen. Jessica Krämer, Detlev Baur, Oliver Brunner und meine Eltern haben gelesen und mir hilfreiche Hinweise gegeben. Johanna Deffner hat mir einfach so, weil sie um mein Interesse für Oberammergau wusste, das Textbuch von 1960 geschickt. Paul Tischler und Nicole Gronemeyer vom Verlag Theater der Zeit haben sich für dieses Buch interessiert, bevor es existierte, und mich durch seine Entstehung begleitet. Christoph Leibold hat mir seine Fotos aus Israel zur Verfügung gestellt, Dieter Mayr seine Fotos rund um die Passionen 2010 und 2022. Danke, Amen Gestaltung, für das tolle Cover und die Gestaltung (und euren Namen, der wirkt, als wäre er eigens für dieses Buch erfunden worden). Danke an meine Familie, die mir immer wieder Freiräume zum Schreiben geschaffen und mich immer darin bestärkt hat, weiterzumachen. Danke, Emma, für die Kamel-Idee. Danke, Anton, fürs gemeinsam Lachen. Danke, Robert, fürs Mutmachen, Launen-Aushalten und Immer-wieder-Lesen. Eine „richtige“ Autorin sei man erst, wenn man mindestens zwei Bücher geschrieben habe, finden meine Kinder. Aber ein Anfang ist ja nun gemacht.

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QUELLEN Jörg Adolph: Die Oberammergauer Leidenschaft, if… Productions im Auftrag des Bayerischen Rundfunks, 2010 Jörg Adolph: Die große Passion – Hinter den Kulissen von Oberammergau, if… Productions/Bayerischer Rundfunk, 2012 Gunda Bartels: „Ostern, das heißt Farbe bekennen“, in: Der Tagesspiegel, Berlin, 9. April 2020 Hannes Burger: „Uns wär’s lieber, wenn’s die Preißn gwesen wärn“, in: Süddeutsche Zeitung, München, 16./17./18. Mai 1970 Hannes Burger: Mit Leidenschaft Passion gespielt, in: Süddeutsche Zeitung, München, 16. August 1977 Joseph Alois Daisenberger: Dorfchronik (nach einem unbekannten Verfasser), 1858/1859 Richard Dill: Spielerwahl in Oberammergau, Bayerischer Rundfunk, 1959 Lion Feuchtwanger: Oberammergau, 1910, in: Lion Feuchtwanger: Ein Buch für meine Freunde, Frankfurt am Main, 1984 Ludwig Ganghofer: Brief an Hugo von Hofmannsthal, 1900, in: Holzheimer/ Tworek/Woyke (Hg.): Leiden schafft Passionen – Oberammergau und sein Spiel, München, 2000 Gemeinde Oberammergau: Das Oberammergauer Passionsspiel 1960, Textbuch, Mit Benutzung der alten Texte verfasst von J. A. Daisenberger, Offizieller Gesamttext, für das Jahr 1960 überarbeitet und neu herausgegeben von der Gemeinde Oberammergau, 1960 Gemeinde Oberammergau: Pressetext zur Passion 2000, in: Holzheimer/Tworek/Woyke (Hg.): Leiden schafft Passionen – Oberammergau und sein Spiel, München, 2000 Mel Gibson: Die Passion Christi, 2004 Otto Guggenbichler: Oberammergauer Passionsspiele, Bayerischer Rundfunk, 1960 Leopold Höhl: Führer zum Ammergauer Passionsspiel im Jahre 1880, Woerl’s Reise-Handbücher, Würzburg, um 1880 Gerd Holzheimer: Kraglfing oder Wahnmoching – Auseinandersetzung um die Moderne, in: Holzheimer/Tworek/Woyke (Hg.): Leiden schafft Passionen – Oberammergau und sein Spiel, München, 2000

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Otto Huber: Die Erlösung spielen, 1990, zitiert nach: Holzheimer/Tworek/ Woyke (Hg.): Leiden schafft Passionen – Oberammergau und sein Spiel, München, 2000, S. 13ff Andrea Kammhuber/Petra Wiegers: Der fromme Rebell – Christian Stückl und die Passionsspiele in Oberammergau, Bayerischer Rundfunk, 2018 Joseph Krauskopf: A Rabbi’s Impressions of the Oberammergau Passion Play, 1901 Daniel Krochmalnik: Oberammergau – eine deutsche Passion, 1990, in: Holzheimer/Tworek/Woyke (Hg.): Leiden schafft Passionen – Oberammergau und sein Spiel, München, 2000 Joachim Kronsbein/Bettina Musall: „Draht nach oben“, in: Der Spiegel, Hamburg, Nr. 29, 2005 Hans Lamm: Oberammergau – ein Trauerspiel, 1970, in: Holzheimer/Tworek/Woyke (Hg.): Leiden schafft Passionen – Oberammergau und sein Spiel, München, 2000 Anton Lang: Aus meinem Leben, München, 1930 Theodor Lessing: Oberammergau. Epilog eines Ewig-Malkontenten, 1910, in: Holzheimer/Tworek/Woyke (Hg.): Leiden schafft Passionen – Oberammergau und sein Spiel, München, 2000 Oliver Mayer-Rüth: Bayerische Passion im Heiligen Land, Bayerischer Rundfunk, 2009 John Warwick Montgomery: Oberammergau – Probleme der Passionsspiele 2010, in: MBS Texte 157, München, 2010 Monty Python: Das Leben des Brian, 1979 Pier Paolo Pasolini: Das 1. Evangelium – Matthäus, 1964 Presseerklärung PETA, 5. September 2019 Julia Prosinger/Susanne Kippenberger: „Jesus war mir nicht vergönnt“ – Wie Christian Stückl den Wahnsinn in Oberammergau organisiert, in: Tagesspiegel, Berlin, 1. Februar 2020 Milo Rau: Das neue Evangelium, 2021 Andreas Richter, Podcast Mitgehört/Zugehört, Folge 12: Osterspecial mit Andreas Richter, Erzbischöfliches Jugendamt München und Freising, www.eja-muenchen.de, 2021 Sven Ricklefs: Christian Stückl – Portrait, in: Anke Roeder/Sven Ricklefs: Regie im Theater – Junge Regisseure, Frankfurt am Main, 1994

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Christopher Schmidt: Eroberung im Sturm, in: Sabine Dultz (Hrsg.): Die Münchner Kammerspiele, München, Wien, 2001 Christian Stückl: 2000 – das 40. Spieljahr der Oberammergauer Passion, in: Gemeinde Oberammergau (Hrsg.): Passion 2000, München, London, New York, 2000 C. Bernd Sucher: Aus Unterammergau kommt nicht einmal der Esel, in: Süddeutsche Zeitung, München, 23. Mai 2000 C. Bernd Sucher: Eine gottgefällige Lust, in: Süddeutsche Zeitung, München, 29. August 2000 Charu Suri: Oberammergau, Germany, 52 Places to Go in 2020, in: New York Times, New York, 2020 Kati Thielitz: Das Spiel seines Lebens, in: Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung, Frankfurt, 25. April 2010 Luis Trenker: Das Wunder von Oberammergau, Gütersloh, Neuauflage 1979 Ilja Trojanow/Richard F. Burton: Oberammergau – Zu Besuch bei den Passionsspielen, Zürich, 2010 Hermann Unterstöger: Die Leidensgeschichte einer Versöhnung, in: Süddeutsche Zeitung, München, 17./18. Mai 1980 Hermann Unterstöger: „Wirf zum heiligen Staunen dich nieder“, in: Süddeutsche Zeitung, München, 21. Mai 1984 Hermann Unterstöger: Kaiphas’ Sohn als Spielleiter, in: Süddeutsche Zeitung, München, 11./12. Juli 1987 Hermann Unterstöger: Ein bayrisch-katholisches Glaubenszeugnis, in: Süddeutsche Zeitung, München, 21. Mai 1990 Angelika Winterer (Hrsg.): Das Gelübde und die „Gründungsurkunde“ des Oberammergauer Passionsspiels, München, 2020 Josef Georg Ziegler: Das Oberammergauer Passionsspiel. Erbe und Auftrag, in: Holzheimer/Tworek/Woyke (Hg.): Leiden schafft Passionen – Oberammergau und sein Spiel, München, 2000 www.passionsspiele-oberammergau.de/de/spiel/historie Alle nicht anderweitig gekennzeichneten Zitate sind Gesprächen entnommen, die die Autorin zwischen 2019 und 2021 geführt hat. Mit David Bender, Ulrike Bubenzer, Kilian Clauß, Stefan Hageneier, Cengiz Görür, Markus Köpf, Monika Lang, Carsten Lück, Frederik Mayet, Ludwig Mödl, Anton Preisinger, Eva Reiser, Andreas Richter, Andreas Rödl, Rochus Rückel, Toni Scholler, Sophie Schuster, Alexander Schwarz, Christoph Stöger, Lorenz Stöger, Christian Stückl, Peter Stückl und Markus Zwink. 196


ANMERKUNGEN Höhl 1880: 7f Trojanow 2010: 8f 3 Trojanow/Burton 2010: 65f 4 Lang 1930: 118 5 Lang 1930: 143 6 Lang 1930: 144 7 Lang 1930: 145 8 Feuchtwanger 1910: 238 9 Ziegler 1990: 35 10 Ziegler 2000: 35 11 Stückl 2000: 12 12 Sucher: 29.08.2000 13 Holzheimer 2000: 14 14 www.passionsspiele-oberammergau.de/ de/spiel/historie 15 Daisenberger 1858 16 Winterer 2020 17 Daisenberger 1858 18 Daisenberger 1858 19 Lang 1930: 118 20 Lang 1930: 123f 21 Trenker 1979: 6 22 Ziegler 2000: 36 23 Adolph 2010 24 Kammhuber/Wiegers 2018 25 Ziegler 2000: 36 26 Sucher 23.5.2000 27 Trojanow/Burton 2010: 67 28 Feuchtwanger 1910: 239 29 Krochmalnik 1990: 160 30 Trojanow/Burton 2010: 80f 31 Lessing 1910: 31 32 Ganghofer 1900: 23 33 Burger 1970 1 2

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Matthäus 27, 25 Gemeinde Oberammergau 1960: 117 36 Adolph 2010 37 Krauskopf 1901 38 Feuchtwanger 1910: 233ff 39 Lamm 1970: 170 40 Lamm 1970: 171 41 www.passionsspiele-oberammergau.de/ de/spiel/historie 42 Burger 1970 43 Burger 1970 44 Burger 1970 45 Burger 1977 46 vgl. Adolph 2010 47 Unterstöger 1980 48 Unterstöger 1980 49 Unterstöger 1984 50 Unterstöger 1987 51 Unterstöger 1987 52 Kronsbein/Musall 2005 53 Unterstöger 1990 54 Schmidt 2001: 382

70

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56

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Gemeinde Oberammergau 2000 Ricklefs 1994: 59 57 Sucher 23.5.2000 58 Kronsbein/Musall 2005 59 Adolph 2010 60 Thielitz 2010 61 Montgomery 2010: 3 62 Montgomery 2010: 4 63 Montgomery 2010: 6 64 Mayer-Rüth 2009 65 vgl. Mayer-Rüth 2009 66 Lang 1930: 18 67 Adolph 2010 68 Adolph 2010 69 vgl. Adolph 2010 55

198

vgl. Mayer-Rüth 2009

Mayer-Rüth 2009 Mayer-Rüth 2009 73 Trojanow/Burton 2010: 62 74 Lang 1930: 21 75 Richter 2021 76 Lang 1930: 19 77 Trojanow/Burton 2010: 119 78 Trojanow/Burton 2010: 119 79 Lang 1930: 27f 80 Prosinger/Kippenberger 2020 81 Kammhuber/Wiegers 2018 82 Richter 2021 83 Dill 1959 84 Dill 1959 85 Lang 1930: 111 86 Lang 1930: 44f 87 Lang 1930: 27 88 Lang 1930: 127/132 89 Richter 2021 90 Presseerklärung PETA 2019 91 Lang 1930: 60 72

Lang 1930: 110f Richter 2021 94 Trojanow/Burton 2010: 68f 95 Holzheimer 2000: 10 96 Huber 1990: 13f 97 Mayer-Rüth 2009 98 Mayer-Rüth 2009 99 Bartels 2020 92


Die Autorin Anne Fritsch wurde 1978 geboren. Sie studierte Theaterwissenschaft, Germanistik und Jüdische Geschichte an der LMU München, anschließend Kulturkritik an der Theaterakademie August Everding. Während

ihres Studiums hospitierte sie am Münchner Volkstheater und den

Münchner Kammerspielen. Sie lebt mit ihrer Familie in München und arbeitet als Autorin und Kulturjournalistin, veröffentlichte in di-

versen Fachpublikationen, der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung, der taz und der Süddeutschen Zeitung. Für die Deutsche Bühne und die

Junge Bühne ist sie als freie Redakteurin und München-Korrespondentin tätig.

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Was ist da los in Oberammergau? Seit beinahe 400 Jahren führen die Menschen in dem oberbayerischen Alpendorf alle zehn Jahre die Passion Christi auf. Alle zusammen. Großeltern, Eltern, Kinder und Enkelkinder stehen gemeinsam auf der Bühne. Sie folgen einem Gelübde ihrer Vorfahren, das einst die Pest fernhalten sollte. Dieses Buch will ergründen, warum die Theaterbegeisterung der Dorfbewohner bis heute ungebrochen ist. Es blickt hinter die Kulissen und begleitet die Entstehung der Passionsspiele im Jahr 2022 mit ihren über 2000 Mitwirkenden. Die Autorin Anne Fritsch hat mit vielen von ihnen gesprochen: über ihre Motivation, über besondere Rituale wie etwa den Haar- und Barterlass und über das Leben mit Theater auch in Zeiten der Corona-Pandemie. Und darüber, warum Aufgeben keine Option ist.


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