Theater Willy Praml: Poesie, Heimat und Politik

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Herausgegeben von Wolfgang Schneider



Poesie, Heimat und Politik



Poesie, Heimat und ­Politik Theater Willy Praml Herausgegeben von Wolfgang Schneider


Hinweis zur geschlechtersensiblen Sprache

Für alle am Sammelband beteiligten Autor:innen ist die Gleichberechtigung aller Geschlechter wichtig. Die Sprachverwendung und der Sprachgebrauch der Beteiligten sind jedoch unterschiedlich – darin sind wir ein Spiegel aktueller Debatten der Gesellschaft.


Inhalt Partizipation als Prinzip, Theater als Projekt und Vision als Mission Vorwort des Herausgebers Prolog Darstellende Kunst, ein ganzes Leben lang Be- und Zuschreibungen von Willy Pramls Theater Von Wolfgang Schneider Erster Akt Darstellende Kunst mit Lehrlingen Was mit Theater in politisch bewegten Zeiten Von Hanne Seitz Zweiter Akt Darstellende Kunst mit dem Dorf Politische und Kulturelle Bildung in ländlichen Räumen Von Kristin Westphal Zwischenspiel Requiem im Schatten der bewältigten Nacht Von Hanne Seitz Dritter Akt Darstellende Kunst mit Geflüchteten Geschichten der Migration zwischen den Welten Von Matthias Bischoff

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Vierter Akt Darstellende Kunst als Gesamtkunstwerk Inszenieren in Raum und Zeit Von Julia Cloot Fünfter Akt Darstellende Kunst als Literatur Über das Erzählen und Deklamieren, vom Sinnlichen und Pathetischen Von Judith von Sternburg Epilog Darstellende Kunst, eine Probe-Bühne Produktionshaus Naxos mit vielen Wohnungen Von Eva-Maria Magel

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Partizipation als Prinzip, Theater als Projekt und V ­ ision als Mission Vorwort des Herausgebers


„Ich war nie in einem Theaterbetrieb, ich war immer frei“, bekundet der Theatermacher Willy Praml. In Frankfurt am Main verankert, behauptet er mit seiner künstlerischen Arbeit ein selbstbestimmtes und politisches Theater. Seit den 1970er Jahren erregte Praml Aufsehen durch die Erprobung neuer theatralen Formen mit Lehrlingen, im ländlichen Raum und mit dem Faust in der Frankfurter Paulskirche. Nachdem sein Theaterkollektiv 1991 in einem Industriedenkmal in der Main-Metropole, der Naxoshalle, seine Heimat fand, inszeniert das Theater Willy Praml dort Gesamtkunstwerke, literarisch sowie musikalisch und immer wieder auch interkulturell mit Geflüchteten. Mittlerweile ist aus dem Provisorium ein Produktions­­haus geworden. Im Studio Naxos arbeiten Künstlerinnen und Künstler aus der freien Szene; Kino und Konzerte gehören ebenso zum Programm. Damit prägt das Theater Willy Praml die kommunale Theaterlandschaft, die mit Mitteln des städtischen Haushaltes gefördert wird. Die Förderung von Infrastruktur der Darstellenden Künste in Deutschland ist eine der historisch gewachsenen Schwerpunkte der Kulturpolitik von Kommunen, aber auch der Länder. Viele hundert ­Staatstheater, Stadttheater und Landesbühnen sowie Orchester, Privattheater und Festspiele werden vom Deutschen Bühnenverein ver­treten. Der Bundesverband Freie Darstellende Künste vertritt die Interessen von fast zweitausend freien Theatern, der Bund Deutscher 8

Amateurtheater nennt mehr als zweitausend Mitgliedsbühnen. Die Enquête-­Kommission „Kultur in Deutsch­ land“ des Deutschen Bundestages spricht deshalb zurecht von einer Theaterlandschaft, „welche an Formen, Traditionen und Anzahl weltweit einzigartig ist“1. Doch trotz aller Superlative scheint der kultur­ politische Status nicht hinreichend gesichert zu sein, immer wieder gibt es Auseinandersetzung um die Finanzierung, gelegentlich auch um die Strukturen, allzu wenig um die Diskurse von Perspektiven. Nach 1968 gab es in Europa eine Zeit, die war reif für innovative Produktionen der Darstellenden Künste und die Stunde schlug für Projekte, die zwar an einem Ort mit Künstlerinnen und Künstlern aus ganz Europa entstanden, aber nur finanziell möglich waren, weil die Distribution in ganz Europa verabredet war. So entstanden neben den städtischen und staatlichen Häusern Produktionszentren. Die Künstler- oder Theaterhäuser sind nicht mit den Tankern der großen Bühnen vergleichbar, ihre Struktur unterscheidet sich von den großen Apparaten, sie sind durch Flexibilität gekennzeichnet und passen sich den Produktionsbedingungen an, die die Projektbeteiligten brauchen. Das Theaterhaus wird somit auch zum Modell des modernen Stadttheaters, ist beispielhaft für eine zukünftige Theaterlandschaft und versteht sich als interdisziplinäres, interaktives und integratives Zentrum der Theaterschaffenden. Es integriert Produktion, ­Distribution und Rezeption, es versteht sich als


Diese Entwicklung verstand sich durchaus auch als Gegenmodell zum deutschen Stadt- und Staatstheater, dem auch die Schuld an den permanenten inhaltlichen, ästhetischen und vor allem finanziellen Krisen gegeben wurde, weil sie allzu gerne nur auf die Perpetuierung ihres eigenen Jahrhunderte alte Systems beharren. Die Stadt- und Staatstheater haben es nicht geschafft, sich in der Kulturpolitik und Kommunalpolitik so zu verankern, dass sie erst gar nicht zur Disposition gestellt werden. Wenn sie sich geöffnet haben, dann eigentlich nur in Form einzelner Projekte. Wenn sich etwas geändert hat, dann eigentlich nur durch einzelne künstlerische Persönlichkeiten, die hier und da die Zeichen der Zeit erkannt haben. Aber es ist nichts Strukturelles passiert, bei dem man sagen könnte, dass es eine Perspektive für das Überleben der Theaterkunst wäre. Das gilt auch für das, was auf der Bühne verhandelt wird. Die Frage ist, ob es etwas mit dem System zu tun hat, wenn das Miteinander propagiert wird, während das Gegeneinander für die Darstellung auf der Bühne viel interessanter ist. Und wie verhält es sich mit der viel beschworenen Begegnung auf Augenhöhe? Das Stadttheater „da oben“ und die freien Theater „da unten“? Müsste die Vielfalt der Theaterpraxis nicht im Mittelpunkt der Kulturpolitik stehen und eben nicht

das Gegeneinander von institutioneller und unabhängiger Theaterarbeit? Das gilt auch für die Frage, mit wem wir es heutzutage rund um die Bühne zu tun haben. Wer ist denn das potenzielle Publikum? Städte und Regionen leben in Zeiten der Globalisierung von ihren kulturellen Identitäten. Und wir müssen wahrnehmen, dass zum Beispiel in der Schulvorstellung des Kindertheaters mehr als 50 Prozent Kinder sitzen, die Migrationshintergrund haben. Die sitzen entweder in zehn Jahren weiterhin im Theater oder sie gehen dem Theater verloren. Diese Perspektive ist längst ein existenzielles Thema für das Theater. Die oben bereits zitierte Enquête-Kommission „Kultur in Deutschland“ hat in einem einleitenden Kapitel die Rolle von Kunst und Kultur für Individuum und Gesellschaft eindrucksvoll bekräftigt. Denn wenn irgendwer die Freiheit und Würde des Einzelnen diskutiert, einfordert, in aller Widersprüchlichkeit darstellt, die symbolischen Formen bereitstellt, in denen sie überhaupt gedacht und vor allem erlebt werden können, dann geschieht dies vor allem im Medium der Künste. Durch die Künste werden ­Individualität und soziale Gebundenheit thematisiert. Damit wirken die Künste weit über die Sphäre der künstlerischen Kommunikation in die Gesellschaft 1 Deutscher Bundestag: Kultur in Deutschland. Abschlussbericht der Enquête-Kommission, Regensburg 2008, S. 148. 9

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­ xperimentierbühne, Forschungsanstalt und LaboraE torium für neue Spielweisen.


und prägen deren menschliche Sinn- und Zwecksetzung. Und deshalb bedarf es einer Kulturpolitik, die sich als Gesellschaftspolitik versteht und daher Kunst und Kultur ermöglicht, verteidigt und ­mitgestaltet.2

Kultur für alle als kulturpolitische Aufgabe In Frankfurt am Main hat Kulturpolitik als Gesellschaftspolitik spätestens mit der Ära des Kulturdezernenten Hilmar Hoffmann Tradition. Seine Schrift „Kultur für alle“ war ein einziges Plädoyer für eine barrierefreie Kulturlandschaft. Es ging um Zugangsmöglichkeiten, dezentrale Orte und eine Vielfalt des Angebots. Diese kulturpolitische Idee hat 2012 das städtische Kulturamt wieder aufgenommen und eine Perspektivkommission zur Evaluierung der Freien Theaterszene eingesetzt. Im Abschlussbericht heißt es unter anderem: „Die Frankfurter Freie Szene ist geprägt durch eine starke Alterung ihrer Protagonisten wie auch ihres Publikums. Dies gilt grundsätzlich zunächst für alle Sparten.“3 Die Handlungsempfehlung des Kulturamts: Wichtigstes Ziel bei der Veränderung der Strukturen der Freien Szene in Frankfurt müssen offene Rahmenbedingungen sein, die es erlauben, Projekte zu ­realisieren, die anderswo nicht möglich sind – sei es thematisch, sei es in der Art und Weise, wie oder an welchem Ort eine Aufführung entstehen soll. Denn 10

nach wie vor – und erst recht in einer Stadt wie Frankfurt – ist es Aufgabe des Freien Theaters, Produktionen zu realisieren, die sich grundlegend von dem unterscheiden, was das Stadttheater auf die Bühne bringt. Die Stichworte dazu sind: Zeitgenössische Lesarten, gesellschaftliche Relevanz, prozessorientiertes Arbeiten, Erprobung neuer Formen und Formate. Diese Aufgaben hat die Freie Szene in Frankfurt all-zu lange vernachlässigt. Die Gründe dafür liegen sowohl im Ästhetischen, in der Struktur der Freien Szene wie in der Förderpolitik.4

Die Evaluation führte zu heftigen Auseinandersetzungen unter den Beteiligten der Theaterkunst. Und hier kommen Willy Praml und sein Ensemble ins Spiel. Nach den Jahrzehnten ohne Haus und zwei Jahrzehnten in der Naxoshalle werden die permanenten Prozesse der Selbstreflexion wieder aufgegriffen und strukturelle Veränderungen angegangen. Und eben das hat auch Tradition. Mit dem Lehrlingstheater haben Willy Praml und seine Mitstreitenden die gesellschaftspolitische Grundlage geschaffen, mit dem Dorftheater wurde die Partizipation zum Prinzip erklärt, in der Arbeit mit Migrantinnen und Migranten konnten neue Formate entwickelt werden, mit der Bearbeitung von Stoffen aus der klassischen Literatur wurde die Gegenwart untersucht, mit den umfänglichen Projekten im öffentlichen Raum entstanden theatrale Ereignisse für alle Generationen, mit der Etablierung des Studio Naxos als Konsequenz aus der


Künstlerische Auseinandersetzung mit der sozialen Wirklichkeit Das Theater Willy Praml ist dementsprechend ein Modell der deutschen Theaterlandschaft, das seit mehr als fünfzig Jahre die permanente künstlerische Auseinandersetzung mit der sozialen Wirklichkeit pflegt. Die Autorinnen und Autoren aus Feuilleton und Wissenschaft analysieren und reflektieren in dieser Publikation also über fünfzig Jahre einer Theatergeschichte der künstlerischen Auseinandersetzung mit sozialer Wirklichkeit. Professorin für Theorie und Praxis ästhetischer Bildung Hanne Seitz beschäftigt sich mit den Anfängen eines Lehrlingstheaters an der Hessischen Jugendbildungsstätte Dietzenbach und beschreibt die Kreationen Willy Pramls mit jugendlichen Laien als Kunst des Handelns auf der Bühne – zwischen Pädagogik und Politik. Die Erziehungswissenschaftlerin und Hochschullehrerin Kristin Westphal widmet sich der kulturellen Bildung in ländlichen Räumen und erörtert – auch aus eigener Anschauung – das Dorf-Theater unter der Regie von Willy Praml als Ort des Erinnerns und der Wahr­­neh­ ­mung des Politischen, das als künstlerische Heraus­ forderung schon früh Akzente späterer „Bürgerbühnen“ zu setzen weiß.

Der Kulturjournalist und Verlagslektor Matthias Bischoff fokussiert seinen Beitrag auf Theaterprojekte mit Migrantinnen und Migranten und Geflüchteten, wie sie seit Anbeginn des Theater Willy Praml zum Repertoire gehören und markiert als künstlerische Besonderheit die Konfrontation der Laien migrantischer Herkunft mit den im deutschen Kanon verankerten Stoffen und Mythen. Die Kulturmanagerin und Kuratorin Julia Cloot befasst sich mit dem Verhältnis von Kunst und dem Raum, in dem sie sich ereignet, und erkennt in jene Produk­­­­­­­­­­­­­tio­ ­­­nen des Theater Willy Praml, die an sogenannten Un-Orten stattfinden, die ästhetisch interessantesten Relationen im Gefüge von Konzeption, Kunstschaffenden und Publikum. Sie seien multi­­perspektivische Erzählungen und Wanderungen zwischen den Welten. Die Feuilleton-Redakteurin der Frankfurter Rundschau Judith von Sternburg betrachtet die Literatur des Theater Willy Praml und seziert den Umgang mit Texten von Goethe und Kleist, von Hölderlin und Heine, aus der Bibel und aus der Antike, von dem aus sich Schluss-

2 Ebd., S. 61. 3 Kulturamt der Stadt Frankfurt am Main: Evaluation der Freien Theaterszene in Frankfurt am Main. Abschlussbericht der Perspektivkommission, Frankfurt am Main 2012, S. 27. 4 Ebd., S. 28. 11

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Evaluation sollten neue Impulse und Perspektiven möglich gemacht werden.


folgerungen für das gesellschaftliche Verständnis des Theaters insgesamt ziehen lassen. Die Leiterin des Kulturressorts der Rhein-Main-Zeitung der Frankfurter Allgemeinen Zeitung Eva-Maria Magel interessiert sich für die jüngste Entwicklung des Theater Willy Praml als Teil des Produktionshauses Naxos, durch das neue künstlerische Handschriften ausprobiert werden können, Kino und Konzerte neue Publika erreichen. Mein Prolog mit Be- und Zuschreibungen zu Prinzipal und Kollektiv versteht sich hierbei als ein Einstieg in den Mini Mundus der Weltbeobachtungen, -erklärungen und -visionen, unter Verwendung von Dokumenten zum 30-jährigen Jubiläum des Theater Willy Praml und 80. Geburtstag von Willy Praml. Diese Publikation trägt auch deshalb den Titel „Poesie, Heimat und Politik“, weil man die fünf Jahrzehnte Theaterarbeit, die es zu dokumentieren galt, nicht auf einen Nenner bringen kann. Von Anfang war der literarisch gebildete Willy Praml an Texten aristotelischer Poetik, als Drama, Epos und Lyrik interessiert, meinte aber immer auch die poetische Wirkung von Texten, die über die Alltagssprache hinausgehe und eine neue Qualität des Sprechens, Hörens und Sehens impliziere.

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Poesie, Heimat und Politik Verbunden war das Künstlerische in all den Jahren immer wieder mit dem nicht unumstrittenen Begriff von Heimat. Heimat – der Begriff war lange Zeit zu Recht verpönt. Die Faschisten benutzten ihn einst für ihre Blut- und Bodenideologie, die neuen Nationalisten positionieren sich damit in rassistischer Abgrenzung vom Fremden. Heimat-Filme und Heimat-Romane wollten heile Welt vorgaukeln. Heimat-Museen haben ein eher verstaubtes Image, Heimat-Kunde wurde wegen der allzu einseitigen Orientierung an Landidylle im schulischen Curriculum zumindest in der alten Bundesrepublik durch den Sachunterricht abgelöst. Im Grunde genommen ist Heimat aber eine durchaus wichtige Kategorie kultureller Identität, oder wie die Soziologie formuliert: Heimat ist Lebensmöglichkeit. Der Volkskundler Hermann Bausinger hat es konkretisiert: Heimat sei da, wo man Sicherheit und Verlässlichkeit erfahren darf. Und ist das nicht, was wirklich zählt, was auch Theaterkunst antreibt, die Gestaltung eines gelingenden Lebens zu imaginieren?5 Und das führt unweigerlich zur Politik, die im Kleinen wie im Großen wirkt. Willy Praml hat sich ebenso wie das nach ihm benannte Kollektiv als politisches Theater verstanden. Auch wenn es gelegentlich wie ein kleines Stadttheater zu sein scheint, zählen sich die Akteure zu den freien Darstellenden Künsten. Und sie mischen sich ein, in Diskurse der Stadt, auf dem Lande und zu


Theaterkunst als Kulturelle Bildung Die Herausgabe des Buches basiert auch auf persönlicher Inaugenscheinnahme des künstlerischen Arbeitens von Willy Praml. Tatsächlich kreuzten sich unsere Wege in all den Jahren an unterschiedlichen Orten. Und ich durfte zusehen und zuhören, konnte mich mit dem Kollektiv des Theater Willy Praml über Kulturelle Bildung und Kulturpolitik austauschen. An fünf Stationen kann ich mich erinnern und sie markieren relevante Phasen der Theaterarbeit von Willy Praml. Berlin 1979: Hansjörg Maier vom Wannseeheim für Jugendbildung und Willy Praml von der Hessischen Jugendbildungsstätte erhalten den Brüder-Grimm-Preis

des Landes Berlin. Und beide beginnen programmatisch und freuen sich, „dass nach dem ‚kommunistischen‘ Grips- und dem ‚Sauereien‘-Theater Rote Grütze mit dieser Auszeichnung ein Theater hervorgehoben wird, das es in der offiziellen Kultur, auch nicht im Kinderund Jugendtheater gibt; und weil diese Arbeit selbst in dem Rahmen, in dem sie entstanden und entwickelt wurde, keine Selbstverständlichkeit ist.“6 Damals war ich als Student am Institut für Jugendbuchforschung mit meinem späteren Doktorvater Professor Dr. Klaus Doderer auf Exkursion in West-Berlin. Und konnte erfahren, wie Theater für Jugendliche als Theater mit Jugendlichen entsteht: Als wir diese Arbeit begannen, hatten wir eine Art von Dokumentartheater im Sinn, also das Sammeln und Verarbeiten von sogenannten Fakten. Damit waren aber nicht irgendwelche Recherchen vor Ort gemeint, wie das etwa ein Reporter, nicht aber ein Betroffener machen würde. Wir haben uns vielmehr auch für uns damals verblüffend wirkungsvoll auf die Verarbeitung von Erlebnissen in den Köpfen 5 Vgl. Hermann Bausinger: Auf dem Wege zu einem neuen, aktiven Heimatverständnis. Begriffsgeschichte als Problemgeschichte (Bausinger_Hermann_Weg_neues_ aktives_Heimatverstaendnie.pdf (uni-tuebingen.de), Zugriff am 21.02.2024). 6 Willy Praml/Hansjörg Maier: Danksagung für den Brüder-Grimm-Preis des Landes Berlin. Manuskript im Archiv des Theaters Willy Praml, 1979. 13

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weltweiten Phänomenen. Insbesondere Willy Praml hat es immer wieder gezeigt, wie wichtig ihm als Theatermann die Errungenschaften der Demokratie sind, die es zu verteidigen gelte und die man nicht nur den Parteien überlassen sollte. Das Theater Willy Praml hat sich auf, vor und hinter der Bühne als Zivilgesellschaft verstanden, die sich positioniert: gegen Krieg und für Frieden, für Geflüchtete und Asyl, für Bildung und Kultur, für Menschenrechte und Gleichberechtigung, gelegentlich auch für Personen der Politik, wie letztens mit einem Aufruf von Willy Praml für Mike Josef im Wahlkampf um das Amt des Oberbürgermeisters von Frankfurt am Main, mit einer klaren Botschaft zur Stärkung von Kulturpolitik und Kunstförderung.


verlassen. Es hat sich herausgestellt, dass wir mit dem Konzept, die Leute zum Reden zu bringen, uns im Zentrum der praktischen Politischen Bildung befanden. Denn in denen sind nicht nur nach Art eines Fotoalbums mehr oder weniger sortierte Erlebnisse, in denen werden Konflikte des Alltags verarbeitet, damals wie heute wesentlich bestimmt durch ökonomische Bedingungen. Und in den Köpfen bilden sich Interessen, die vertreten werden müssen und zu Konflikten führen. Diese Interessenvertretung wollten wir stärken. Nicht nach der Art irgendeines Geheimbundes, sondern durch Öffentlichkeit.7

außer Kraft gesetzt. Das Theater funktioniert aber nur darüber, dass man Theater macht, und im Entstehungsprozess entstehen dann 1000 andere Sachen, mit denen sich jeder beschäftigen und auseinandersetzen muss, die aber nicht das eigentliche Ziel der Theaterarbeit sind, sondern Nebenprodukt. (…) Meinen Erfahrungen zufolge ist es so, dass man eher die Jugendlichen vorm Theater beschützen muss! (…) Das Gefährliche am Theater ist, dass man, wenn man sich auf es einlässt, einer Verführung erliegt (…) und auf einen Weg gebracht wird, der sogar asozial werden lässt.8

Herne 1992: Willy Praml spricht auf einer Tagung zum Thema „Theater und Jugendschutz“. Zusammen mit dem Bundesverband Freier Theater hatte ich ihn als Gründungsdirektor des Kinder- und Jugendtheaterzentrums in der Bundesrepublik Deutschland eingeladen, seine Theaterkunst im Dienst sozialen Engagements zu reflektieren. Er berichtet von seinen Projekten und endet mit einer eher selbstkritischen Einschätzung, die auch die zahlreichen Teilnehmenden überrascht:

Frankfurt am Main 2002: Willy Praml wurde nach Schließung der Jugendbildungsstätte in Dietzenbach an die Fachhochschule Frankfurt am Main versetzt und wirkt dort als Professor für Theater- und Kulturarbeit. Er verstand es, die Lehre mit seinen Projekten zu verbinden. Abschluss und Höhepunkt bildeten, was nicht anders zu erwarten war, theatrale Großveranstaltungen. Kommen und Gehen inszenierte er mit 120 Mitwirkenden. In einem panoramahaften Bilderbogen wird die Geschichte des Neubaus der FH nachgezeichnet und durch die Menschen im Fachbereich Soziale Arbeit und Gesundheit, denen er zur Verfügung gestellt wird, nach und nach in Beschlag genommen.

Meines Erachtens werden an das Theater immer wieder falsche Erwartungen oder falsche Ansprüche herangetragen, sei es von der Pädagogik, oder von der Politik. Ich denke, das Theater wird in der Politik oder in der Pädagogik immer dadurch, dass es nur als Instrument genommen wird, verharmlost, einfach 14

Ähnlich wie bei Peter Handkes Stück Die Stunde da wir nichts voneinander wußten, in dem ein Platz im Mittelpunkt des Geschehens steht, ist es bei Kommen und


So wird ihm am 20. November 2006 auch der Innovationspreis für besondere Leistungen bei der Entwicklung der FH und der Umsetzung des Leitbildes verliehen. Die Vorsitzende des Fördervereins übergibt die mit 1.500 Euro dotierte Auszeichnung an Willy Praml. Willy Praml erhält den Preis für seine Arbeit am kulturellen Profil der Fachhochschule, weil er dazu beigetragen habe, den Anspruch, nicht nur eine Ausbildungs- und Forschungsstätte zu sein, sondern auch ein Ort, an dem sich Campuskultur entfaltet, mit künstlerischen Mitteln umzusetzen. Willy Praml habe viel zur öffentlichen Wahrnehmung der FH als Theaterort beigetragen und mehrere Theaterprojekte – darunter auch internationale Koproduktionen – inszeniert, die über die Hochschule hinaus auf ein interessiertes Publikum stießen. Beispielsweise mit Und die Liebe höret nimmer auf nach Motiven von Ödön von Horváth oder Der Kampf des Negers und der Hunde nach Bernard-Marie Koltès im Rahmen eines deutsch-marokkanischen Theaters.

Frankfurt am Main 2012: In der Frankfurter Allgemeinen Zeitung erscheint ein Beitrag unter den Titel „Wenn nichts so natürlich ist wie das Theater­leben“ von Claudia Schülke. Es geht um die Kinder von Willy Praml, die Geschwister Joanna und Gregor, die von sich selbst sagen: „Das echte Leben haben wir mit unserer Mutter geführt, aber sie hat uns ans Theater verloren“9. Sie wandeln auf den Spuren des Vaters, haben ihn und sein Theater immer mal wieder unterstützt, gehören gewissermaßen auch zur Geschichte des Theater Willy Praml, stehen aber längst auf eigenen Beinen, die eine, studierte Schauspielerin, als Regisseurin, der andere als Musiker und Komponist, seit 2023 zudem als künstlerischer Leiter der Frankfurter Romanfabrik. Welcher Papst bei ihm Pate gestanden hat, weiß er nicht. Aber seine Schwester weiß es umso besser: „Dieser strenge aus dem Mittelalter.“ Joanna-Maria Praml grinst: Ihren Namen soll der Legende nach eine Päpstin Ende des 11. Jahrhunderts getragen haben. Gregor Praml runzelt die Stirn: Mit 7 Ebd. 8 Willy Praml: „Mission oder Vision? Das soziale ­Engagement der Theaterkunst“, in: Wolfgang Schneider (Hg.): Theater und Jugendschutz. Aids, Sucht, Gewalt als Themen auf der Bühne, Weinheim/München 1993. 9 Claudia Schülke: „Kinder von Willy Praml. Wenn nichts so natürlich ist wie das Theaterleben“, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 18.8.2012. 15

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Gehen das weitläufige Foyer des Neubaus. Menschen kommen und gehen, Menschen, die sich vorher nie begegnet sind. Die Inszenierung zeigt szenische Umsetzungen von Alltagsfacetten des Lebens mit dem Ziel, möglichst viele Studierende mit einzubeziehen. Und auch das fiel vielen als etwas Besonderes auf, als künstlerische Aneignung einer ansonsten eher pragmatischen Architektur, die ja nur dann lebendig wird, wenn sie von Menschen auch gestaltend genutzt wird.


Gregor VII., der Kaiser Heinrich IV. in Canossa die Stirn bot, hat er nicht viel im Sinn. Was sich sein Vater dabei wohl gedacht haben mag? Willy Praml, Prinzipal des gleichnamigen Theaters in der NaxosHalle, wurde von Pallottinern erzogen. Er ist bibelfest und zu Hause in der Kirchengeschichte. Das merkt man immer wieder seinen Inszenierungen an. Seine Kinder sind anders. Dennoch wandeln sie auf den Spuren des Vaters: „Wir sind totale Theaterkinder“, sagt Joanna Praml, und ihr Bruder nickt zustimmend. Seit Jahren ist Gregor Praml [immer wieder mal] für die Bühnenmusik im Theater Willy Praml verantwortlich. Auch die zweite Inszenierung seiner Schwester [Leonce und Lena] hat er musikalisch begleitet. […] „Mein erster Klassiker“, seufzt Joanna. Der Vater hatte ihr das Lustspiel von Georg Büchner vorgeschlagen: „Aber ich habe das Reclamheft in die Ecke geschmissen.“ Dann fand sie doch noch den Zugang. „Das ist die Realität meiner Generation. Leonce hat alle Möglichkeiten, aber die totale Verfügbarkeit der Dinge macht ihn unfrei. Er sehnt sich nach Grenzen in der Grenzenlosigkeit“, erläutert sie ihre Lesart des Stücks. Ihre Inszenierung mit hundert Einkaufswagen sollte nicht nur Konsumkritik sein. „Was kann man diesem System noch entgegensetzen, wie ausbrechen?“, fragt sie sich.10

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Bacharach 2019: Das Theater Willy Praml bringt Festivalkultur nach Bacharach. Die Inszenierung Der Rabbi von Bacharach findet am Originalschauplatz von Heinrich Heines fragmentarischer Erzählung statt. Aus dem Open-Air-Theater ist mittlerweile ein umfangreiches Programm kreuz und quer über den Fluss geworden: „An den Ufern der Poesie“ bietet auch in Oberwesel, Lorch und Niederheimbach Schauspiel, Literatur und Musik und nimmt Kurs auf die Bundesgartenschau 2029, die ihre Fördermittel vorab auch in Kunst investiert. Wir sitzen auf einem Felsplateau vor dem „Günderrode-Filmhaus“ aus dem Set der legendären Film-Trilogie Heimat von Edgar Reitz mit Blick auf die Loreley und die Pfalz bei Kaub. Regisseur Willy Praml lädt unter dem Motto „Glotzt nicht so romantisch!“ zum Diskurs über Theater der Authentizität, an ungewöhnlichen Orten und in ländlichen Räumen. Und Schauspieler Michael Weber schreibt später dazu ein „Theatermanifest“, das ihn als weiteren kreativen Kopf des Kollektivs ausweist. Räume bespielen: In denen man sich Theater nicht vorstellen kann! Die verborgenen Winkel: Ausleuchten! Die ewigen Geschichten: Weitererzählen! Die nicht erinnerten Geschichten: Über die Ufer treten lassen! Die Idylle: Auf den Kopf stellen! Den Fährmann: Die Hauptrolle spielen lassen! Die Vögel des Himmels: Choreografieren!


An dieser Publikation haben viele mitgearbeitet und noch mehr in all den Jahren durch Texte, Interviews und andere Dokumente aus den Archiven dazu beigetragen. Mein Dank gilt den Autorinnen und Autoren, den Fotografen, der Lektorin Sophie-­ Margarete Schuster, vor allem Willy Praml, Michael Weber und Birgit Heuser sowie dem Team des Theater Willy Praml. Ganz besonders danke ich Ruth Schröfel für die redaktionelle Mitarbeit, die zu jeder Zeit hilfreich mitrecherchiert hat, den Kontakt in das Theater gepflegt hat und mir wertvolle Hinweise geben sowie notwendige Korrekturen anregen konnte. Dem Trägerverein „Kulturelle Erziehung“ ist ebenso für die finanzielle Unterstützung der Publikation zu danken

wie dem Kulturamt der Stadt Frankfurt am Main und dem Hessischen Ministerium für Wissenschaft und Forschung, Kunst und Kultur, dem Freund des Theaters Karl-Heinz Schultheis (†), dem Ehepaar Marianne Wege und Hans Kieser, der Katholischen Kirchengemeinde Dompfarrei St. Bartholomäus, dem Bischöflichen Ordinariat des Bistums Limburg sowie dem Gesamtverband der Katholischen Kirchengemeinden Frankfurt am Main und den Autorinnen und Autoren aus dem Freundeskreis des Theaters, die ihre Beiträge anlässlich des 80. Geburtstags von Willy Praml für das Buchprojekt gespendet haben.

Post Scriptum Politica Culturalis „Es braucht eine klare kulturpolitische Steuerung, in welche Richtung sich die kulturelle Infrastruktur in Frankfurt entwickeln soll“12, heißt es im Bericht zur „Erhebung der Freien Spielstätten in Frankfurt am Main“ von EDUCULT Wien, im Auftrag des städtischen 10 Ebd. 11 Siehe An den Ufern der Poesie IV. Theaterfestival im UNESCO Welterbe Oberes Mittelrheintal, (www.mittelrheinfestival-poesie.com/theatermanifest, Zugriff am 18.02.2024). 12 EDUCULT: Erhebung der Freien Spielstätten in Frankfurt am Main, (https://educult.at/wp-content/uploads/2022/07/EDUCULT_Studie_Freie-Spielstaetten-inFrankfurt-am-Main_2023.pdf, Zugriff am 18.02.2024). 13 Ebd., S. 132. 17

Wolfgang Schneider: Partizipation als Prinzip, Theater als Projekt und V ­ ision als Mission

Die Landschaft: Zur Kunst erklären! Die Kunst: Der Landschaft aussetzen! Die Romantik ins 21.Jahrhundert: Katapultieren! Mit der Romantik, nachdem sie ins 21. Jahrhundert katapultiert ist: Die Zukunft denken! Wagners Ring auf dem Rhein aufführen und nach seinem eigenen Regietraum: Sämtliche Kulissen samt der Partitur in Flammen aufgehen lassen! Die Ufer des Rheins: Mit den Ufern des Nils, des Mississippi, des Ganges, des Roten Meeres verwechseln! Die Verbindung zwischen Theater und Wein: Zur heiligen Allianz erklären! Mit anderen Worten: Alle Schleusen öffnen.11


Kulturamtes aus dem Jahre 2023. Damit das gelingen könne, müsse zuerst eine Trennung von Infrastruktur­ förderung und der Förderung von künstlerischer Produktion hergestellt werden. „Das kann mit der Einführung einer Spielstättenförderung gelingen“13, schreibt Dr. Aron Weigl, Geschäftsführer der Evaluati­ onsagentur und benennt die Formulierung von Ziel­­­ vereinbarungen, die Definition von Erfolgsindikatoren und längerfristige Förderperioden mit regelmäßigem Monitoring als kulturpolitische Aufgaben. Es bedürfe einer Neuorientierung in der Frankfurter Kulturförderpolitik, die zu einer s­ trategischen Entwicklung der freien Darstellenden Künste beitragen könne. „Frankfurt könnte beispielsweise Vorzeigestadt für kollaborative Modelle werden.“14 Und das Theater Willy Praml wäre wieder mal nicht nur mit dabei, sondern vorne dran – mit einer Theaterarbeit, die Kultur für alle und mit allen in Projekten und Produktionen zu inszenieren weiß.

14 Ebd. 18


Ein Spektakel mit Straßentheater, Umzügen, Moritaten, Straßenmusik (1980), Foto: Manfred Horz

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Theaterspektakel (1980), Foto: Manfred Horz

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Theaterspektakel (1980), Foto: Manfred Horz

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Die Nirrerländer (1981), Foto: Eckhardt Krumpholz


Die Nirrerländer (1981), Foto: Eckhardt Krumpholz

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Die Nirrerländer (1981), Foto: Eckhardt Krumpholz


Die Nirrerländer (1981), Foto: Eckhardt Krumpholz

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Dau host dich doch hej ins gemochte Nest gesetzt (1981), Foto: Theater Willy Praml

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Dau host dich doch hej ins gemochte Nest gesetzt (1981), Foto: Theater Willy Praml

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I Macap (1981-1985), Foto: Wolfgang Schoen


I Macap (1981-1985), Foto: Wolfgang Schoen

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I Macap (1981-1985), Foto: Wolfgang Schoen


Prolog Darstellende Kunst, ein ganzes Leben lang


Be- und Zuschreibungen von Willy Pramls Theater Von Wolfgang Schneider


Etikett an ihm. Nicht die Last der vergangenen Jahre, sondern die Pläne für die Zukunft beschäftigen ihn. Lange Jahre ist er der eher sportliche Typ, gelegentlich gibt er den Proll, seine Unterhemden brauchen nicht viel Stoff, jüngere Generationen würden vom modischen Tank Top sprechen, Goldkettchen gibt es auf gebräunter Haut, manche seiner Hosen imitieren einen Military-­ ­­Look, meist schreitet er in wehenden Mänteln daher. Auffällig, und da ist er ganz Künstlerdarsteller: Seine Haare, sie werden nicht mehr, aber immer länger und sie sind hellgrau, schlohweiß sollte ich wohl formulieren, denn das klingt schöner. Aber wer ist denn dieser Willy Praml wirklich? Ein „Metropolit“, der vor der urbanen Kulisse den Menschen nie aus den Augen verliert, wie ihn einmal die Frankfurter Rundschau beschrieb, der „Unentwegte“, wie einmal die Frankfurter Allgemeine Zeitung titelte, „ein träumender Kopf“, wie es im Journal nachzulesen war, ein „Meister der professionellen Bühnenarbeit mit Laien“, wie es die Offenbach-Post zu spezifizieren wusste? Ein „fanatischer Tausendsassa“ oder gar ein „barocker Lebemann“, der „Prinzipal“ oder ein „Impressario“ – auf so vielfältige Art und Weise Journalistinnen und Journalisten zur Beschreibung des mit vielerlei Ehrungen bedachten Theatermannes beigetragen. 1 In Anlehnung an: Wolfgang Schneider: Laudatio auf Willy Praml. Anlässlich der Verleihung des Binding-­ Kulturpreises 2011. 33

Wolfgang Schneider: Be- und Zuschreibungen von Willy Pramls Theater

2011 wird im Kaisersaal des Römers in Frankfurt am Main der Binding-Kulturpreis verliehen, alljährlich mit 50.000 Euro ordentlich dotiert. Ich hatte die Ehre, die Laudatio auf den Preisträger Willy Praml zu halten; denn ihn habe ich all die Jahrzehnte über beobachten können: beim Theater mit Lehrlingen, beim Theater im Dorf, beim Theater mit Migranten, beim Theater zu Goethes Geburtstag, beim Theater der sozialen Praxis an der Fachhochschule, beim Theater im öffentlichen Raum und beim Theater in der Fabrik. Mit Studierenden der Hildesheimer Kulturwissenschaften haben wir vor Ort zudem gelernt, wie Kulturpolitik für die Darstellende Kunst geht, mit Kolleg:innen von Universitäten aus der Türkei, aus Japan und Südafrika haben wir uns über die Rolle von Theater in der Gesellschaft ausgetauscht. Und das Theater Willy Pramls hatte nicht nur kritische Fragen an sich selbst und die jungen und alten Kommiliton:innen, sondern auch immer eine Vielfalt an Antworten, was die Theaterarbeit will, kann und sollte. Aber was wissen wir von Willy Praml, der immerzu im Kollektiv forscht und produziert, und doch mit einer individuellen künstlerischen Handschrift Theater zu schaffen weiß? Mögen einige bearbeitete Passagen aus der mehr als zehn Jahre alten Laudatio den Versuch unternehmen, dem Phänomen von Pramls Profil auf die Spur zu kommen.1 Eigentlich ist er ja in einem Alter, in dem Festangestellte schon längst in Rente gegangen sind. „Ich weiß, dass der Mensch altert und dass das Leben endlich ist“, sagt er. Trotzdem klebt das Alter wie ein falsches


Prolog: Darstellende Kunst, ein ganzes Leben lang

Beliebte Typisierungen sind auch: „Veteran“ der Freien Theaterszene, „Ikone“ der freien Theaterarbeit oder gar „Eminenz“ der Freien Darstellenden Künste. In einer Stadt, in der viele Kaiser ihr Stelldichein gaben, in jener Stadt, in der es aber auch mehrere Päpste gleichzeitig gibt, den der Literaturkritik und den der Kulturpolitik, fehlt nur noch ein wenig weißer Rauch, um Willy Praml auch noch mit dem Titel zu krönen: Theaterpapst vom Main! Dabei ist er doch an der Isar geboren, damals in den Kriegsjahren in Landshut, als Sohn eines Metzgermeisters. In der Gastwirtschaft seiner Eltern lernte er die Schauspieler des benachbarten Stadttheaters kennen, die vom Vater mit Würsten versorgt wurden. Doch der Erzeuger wollte seinen Ältesten nicht auf der Bühne sehen, sondern am Altar. Also wurde Willy mit 11 Jahren ins Internat der Pallottiner gesteckt. So lernte der Schüler wenigstens das theatrale Element der katholischen Liturgie schätzen, den Kinderchor im Kloster, das Schultheater und die Oper im nahen München. Als er nach dem Abitur die Aufnahmeprüfung an der Otto Falckenberg Schauspielschule machen wollte, versagte ihm der Vater die Unterschrift. Der junge Praml studierte dann wohl oder übel Geschichte, Geographie und Germanistik an der Ludwig-Maximilians-Universität, um Lehrer zu werden. Aha, also doch, dachten wir es uns schon: Zwei Herzen schlagen, ach! in seiner Brust? Der Theatermacher und der Reform­ pädagoge! Kein Wunder, wenn es genauso biografisch weiterging: Referent für musische Bildung beim Bund 34

Deutscher Pfadfinder, Leiter internationaler Theaterseminare im deutsch-französischen Jugendaustausch, Dozent für Theater und Kulturarbeit an der Hessischen Jugendbildungsstätte Dietzenbach. Nach der Schließung durch die Landesregierung gründet Willy Praml sein eigenes freies Theater, zwischendurch begibt er sich noch einmal in den Staatsdienst und wird an der hiesigen Fachhochschule Theaterprofessor. Theater ist eben sein Leben! Willy Praml hat das Lehrlingstheater in Frankfurt am Main eingeführt und den Paradigmenwechsel von der Jugendsozialarbeit zur Jugendkulturarbeit vorangetrieben, er hat Stücke mit jungen Migranten auf die Bühne gebracht, als man von diesen noch von Gastarbeiterkindern sprach, er hat ein ganzes Dorf im Theater die dunkeldeutsche Vergangenheit aufarbeiten lassen, als noch immer alte Nazis in der jungen Bundesrepublik das Sagen hatten. Er hat unter anderem in Diskotheken inszeniert, in Schwimmbassins, in Tiefgaragen, in der Werkstatt einer Hafenschmiede, im altmodischen Kino Harmonie und in der altwürdigen Paulskirche. Das Theater ist für ihn Kampfzone. „Unser Theater hat aufgrund seiner politischen und ästhetischen Eigenart in der Öffentlichkeit immer wieder Anstöße gegeben.“ Willy Praml greift Themen auf, die gesellschaftlich in der Luft liegen – Themen, die unterschiedliche Bevölkerungskreise ansprechen und auch schon mal Betroffene als Akteure einbeziehen. Hartz-IV-Berechtigte kommen im Vorfeld einer Schiller-Erzählung zu Wort, zehnjährige Mädchen sollen bei der Inszenierung nach


Der Parasit als Seifenoper-Parodie; Medea als radikales Sprachungetüm; Hölderlins Hyperion, Müllers Prometheus und Hebbels Gyges und sein Ring – in einer Gegenüberstellung zu Feridun Zaimoglus Schwarze Jungfrauen. Und immer wieder Friedrich Schiller, zum Beispiel Don Carlos, mit dem die Symmetrie kalter Machtverhältnisse durch eine schlüssige Choreografie menschlicher Beziehungen illustriert wird. Und immer wieder Goethe. Der steht in Form der Hamburger Ausgabe gefühlt in jedem dritten Frankfurter Gutbürgerhaushalt, wird in jeder zweiten Frankfurter Haupt- und Staatsrede erwähnt und gilt gemeinhin als erster Sohn der Stadt. Willy Praml hat ihn gelesen, zum Beispiel den Wilhelm Meister, und zelebriert aus 600 Seiten Prosa ein Drama in drei Teilen, das dreizehn schlappe Stunden dauert. „Es trompetet, es posaunet, Auge blitzt und Ohr erstaunet. Trifft es euch, so seid ihr taub“, heißt es bei Ankunft des Sonnenwagens anlässlich der Aufführung von Faust Zwei nach Faust Eins zum Frankfurter Stadtjubiläum 1994. Knapp fünf Stunden sprechen und singen und spielen rund 250 Mitwirkende: „Das Unzulängliche, hier wird’s Ereignis. Das Unbe­­­ schreibliche, hier ist’s getan.“ Schiller, Goethe und immer wieder Kleist, gerne auch mal ein ganzes Jubiläumsjahr lang. Zum Beispiel Der zerbrochene Krug, gefiltert was den metaphysischen Hintergrund des Bühnentextes angeht, die schlüssige Neudeutung plus einer avantgardistischen Bearbeitung, das ist auch eine neue Facette der Theaterkunst des Willy Praml. Die Tradition mit den 35

Wolfgang Schneider: Be- und Zuschreibungen von Willy Pramls Theater

einem Roman von Vladimir Nabokov auf der Bühne Authentizität vermitteln, ebenso wie ältere Damen des benachbarten Seniorenstifts, die aus Liebesbriefen an Hitler lesen. In der Stadt, in der das Postdramatische Theater seine akademische Segnung erfahren hat, macht der selbsternannte Agent Provocateur ein Literaturtheater von großer Klasse. Pramls Meisterschaft ist es, klassische Stoffe einem radikalen Modernisierungsprozess zu unterziehen, ohne dabei den textlichen Charakter der Stücke zu zerstören. Theater ist für Willy Praml aber nicht etwa bloß ein Abbild des Lebens, Theater kann für ihn nur dadurch wirken, dass es ein Mehr auszubreiten hat: mehr zeigt, mehr anbietet, mehr als das Leben. Inspiration sind für ihn die Räume, in denen Theater entstehen soll, Motivation ist das „Graben, wo du stehst“, um in die Vergangenheit zu gehen und sich klar zu werden, wo hin man will, wie er es selbst einmal formuliert hat. Mehr als 100 Inszenierungen gehen auf sein künstlerisches Konto. Darunter so unterschiedliche Stoffe wie Die Kameliendame im Gallus-Theater, eine Liebe zwischen Kitsch, Konvention und Kunst, zwischen Küssen und Keilen, Zanken und Zetern; Egmont im Philanthropin, ein Schauwerk darstellerischer Glanzleistungen; Britannicus im Mousonturm, Menschen hinter Gittern, gefangen im Käfig ihrer Triebe und Gefühle. Die Trilogie Vatermord, Nibelungen und Patriotismus um das Aufbegehren der Jugend, des Fortschritts gegen die Tradition, um die Freiheit sich selbst zu suchen; Maria Stuart im Cinemascope-Format;


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Klassikern setzt sich ebenso im Spielplan fort wie der christliche Kalender, der uns zu Weihnachten und Ostern Jesus d’amour beschert, mal als kleines Oberammer-Gau, der größte anzunehmende Unfall im freien Theater, wahrscheinlich auf das extensive Studium des Krippenspiels einer bayerischen Kindheit zurückzuführen, mal als Wunder-Welt ohne Schmelz und Schmalz, mal als dreistündiger Kreuzweggang, bei dem das Publikum restlos durchkatechisiert und für die Karwoche präpariert wird. Neidlos muss das städtische Schauspiel gelegentlich konstatieren: Das eigentliche Theater ist abseits der Bühne angesiedelt. In der Naxoshalle, wo das Theater Willy Praml seit 2000 seine Inszenierungen zeigt. Streng genommen darf da gar nicht gespielt werden. Eine Genehmigung als Theater gibt es nämlich nicht. „Das hier ist nur eine Lagerhalle, alles andere ist illegal“, sagte der Hausherr dann gern mit leichtem Schmunzeln. Der Betrieb sei gewissermaßen nur geduldet. „Abbruch – Umbruch – Aufbruch“, treffender könnte ein Spielzeitmotto nicht gewählt werden. Und alle schwärmen: was für ein schöner Ort für das Theater, schmal, hoch und endlos lang; Kathedrale der Arbeit könnte man sagen, „in der das Schweröl, nach der es riecht, sich wie Weihrauch ausnimmt“, wie es Jutta Baier in der Frankfurter Rundschau vom 17.07.2008 zu formulieren wusste. Leerstehende Fabrikanlagen für kulturelle Zwecke nutzbar zu machen, ist ein Phänomen des nachindustriellen Zeitalters, das sich nicht etwa auf Praktikabilität und Eignung gründet, sondern auf die 36

Zeichenfunktion der Gebäude. Die Umnutzung von Industriekultur ist ein symbolischer Akt. Kulturfabriken fungieren als eine Art Projektionsfläche und Medium für verschiedene künstlerische Konzeptionen, sie stehen u. a. für einen gesellschaftspolitischen Gegenentwurf, für ein Modell von Stadterneuerung und auch schon einmal als Mittler im kulturellen Umbruch. Diese städtischen Leerflächen, die „blinden Flecken“ einer Stadt, sind morbide Stadträume mit eigenem Charme und Potenzial. Zugleich wirken solche „Leerstellen“ als sperrige Provokation. Doch wie kann man auf Dauer adäquat mit der Authentizität des Ortes umgehen – zwischen Facelifting, „Hochglanz-Chic“ und Kulisse? Einerseits schreit die innerstädtische Lage nach Sanierung und möglichst teurer Vermarktung, anderer­seits könnte sie als Verfallskunstwerk mit wechselnden Implantaten einen Improvisationsraum entwickeln: zum Laboratorium der Polis werden, zum Spiegel des ungefilterten städtischen Lebens. Implantieren – so definierte sich die bisherige Arbeit von Willy Praml und seiner Truppe an diesem Ort der Theaterarbeit, der Kulturarbeit, der Forschungsarbeit, der Stadt(teil)-Arbeit: Industriearchäologie, erzählte Geschichte, Untersuchung der Räume, Ausleuchtung der Ecken, theatrale Führungen durch Raum und Zeit. Bei allem wurde darauf geachtet, dass die Halle in der ihr eigenen, architektonischen und ästhetischen Aussage erhalten blieb – in ihrer räumlichen Wirkung, ihrer einzigartigen Aura, ihrem atmosphärischen Reiz des Bruchstückhaften. So hatte vieles, das hier stattfand,


an der Universität Hildesheim forsche und lehre; das ist es, was mich schon damals als Frankfurter Student am Institut für Jugendbuchforschung an der Theaterarbeit von Willy Praml interessiert hat; das ist es, was ich bis zum heutigen Tag an seinem Wirken so überaus schätze: der kämpferische Impetus der Kunst, die implizierte gesellschaftliche Rahmung, vor allem die immanente kulturpolitische Perspektive durch sein Tun und Handeln. Aus der Analyse seines Gesamtkunstwerks ergibt sich für mich eine Art Modell von Praxis und Theorie einer Kulturpolitik, die sich in drei Arbeitsebenen erschließt. Erstens: Theater ist für alle da! Willy Pramls Theater ist immer darauf bedacht, sich zu verorten. Er spielt an vielfältigen Orten, er spielt mit den unterschiedlichen Orten und an einem Ort schließlich ermöglicht er, in enger Zusammenarbeit mit seinem Co-Theater- sowie Lebensgefährten, dem Bühnenbildner, Dramaturgen und Schauspieler Michael Weber, vielfältig und unterschiedlich Entdeckungen zu machen. Das lädt ein, das ist möglicherweise modernes Marketing, das holt die Menschen ab, lässt sie teilhaben, macht sie zum Teil des Ganzen. Theater ist noch immer nicht barrierefrei, in dem Sinne, dass jede:r lernen könnte, es entdecken zu dürfen. Niedrige Zugangsschwellen hat aber vor allem jenes Theater, das nah dran ist. Das Theater Willy Pramls macht das zum Prinzip – ohne sich anzubiedern. Es geht um eine allumfassende Inklusion von Publika, vor allem mit Mitteln der Kunst. 37

Wolfgang Schneider: Be- und Zuschreibungen von Willy Pramls Theater

den Charakter der Improvisation. Und so sind die hier bisher entwickelten Szenarien auch programmatisch zu nennen: Implantieren als Strategie zur Nutzung innerstädtischer Brachen. Interdisziplinäres Arbeiten dient als Nutzungs-­ Generator, fantasievoller Umgang mit Ort und Material war die Devise der künstlerischen Projekte. Höhepunkt war sicherlich „Ariadnes Faden, Arthurs Schwester Marie & der ‚ächte‘ Naxosschmirgel“, eine Revue der bewegten 100-jährigen Geschichte des Industriearenals, mit authentischem Textmaterial, ein Stück Heimatgeschichte über Kapitalismus, proletarischer Bewegung und Zwangsarbeit. Die Naxoshalle als Teil der Route der Industriekultur Rhein-Main ist aber auch ein Beispiel für die Reflektion von Kulturpolitik. Nach mehrjähriger Existenz, Erfahrung und Erfolg wird das Projekt mehr und mehr institutionalisiert und Bestandteil der Frankfurter Stadtgesellschaft. Oper und Städtische Bühnen, Museumsufer und Literaturförderung werden zwar nicht neu vermessen, erhalten auch nicht weniger Mittel oder müssen sich gar grundlegend legitimieren, sie bekommen aber ein neues Familienmitglied – zunächst als Additivum, möglicherweise auch einmal integrativ, auf alle Fälle innovativ wirkend. Die Reanimation der Industriekultur kann also zur Reform der Kulturpolitik beitragen. Und so wären wir schließlich bei meinen Schlussbetrachtungen angelangt, gewissermaßen einem kulturpolitischen Credo. Denn das ist es, worüber ich


Prolog: Darstellende Kunst, ein ganzes Leben lang

Zweitens: Theater von allen kann auch Kunst sein! Lehrlingstheater, Pramls partizipatorisches Projekt wird zum Modell, kreiert ein neues Theaterformat; Theater mit ausländischen Jugendlichen: „Teatro Siciliano“ und „IMACAP“ bereichern die Theaterlandschaft, formieren auf ihre Art und Weise die Integrationsdebatte in der Gesellschaft und plädieren doch eigentlich nur für die theatrale Selbstverwirklichung; und dann das Dorftheater in Niederbrechen bei Limburg oder in Mellnau bei Marburg, Theaterarbeit mit Jungen und Alten, mit Feuerwehr und Spielmannzug, mit Bürgern und Bürgermeistern, Laien auf der Bühne, aber professionell in Regie und Dramaturgie, deutschlandweit festivaltauglich. Für mich eine der beeindruckendsten Aufführungen im Grüneburgpark anlässlich der Frankfurter Feste 1985. Die Idee eines Nassauischen Volkstheaters wurde nie verwirklicht, aber warum leistet sich unsere Gesellschaft nur einseitig elitäres Theater für gerade mal zehn Prozent der Bürger, wo es doch insbesondere durch Willy Praml beste Belege gibt, dass auch ein anderes Theater, das der breiten Bevölkerung, künstlerisch wertvoll und unterhaltsam zugleich sein kann? Drittens: Theater ist kulturelle Bildung! Theater war für Willy Praml auch schon einmal Bildungsurlaub; denn Theater will gelernt sein, das Sehen und das Hören, das Dekodieren der Zeichen, das Lesen zwischen den Zeilen. Das lernt man im Theater der Transparenz, in einem Theater, das seinem Publikum die Zuschau­kunst ermöglicht. Willy Praml gilt bundesweit als ein 38

begnadeter Theaterpädagoge, aber selbst wollte er sich nie als solchen beschreiben. Er fordert ihn lieber, den Zuschauer, er konfrontiert ihn mit theatralen Parcours „auf der Suche nach dem Wunderbaren“, über die Kraft des Wortes nachzudenken, Widerstand durch Bildung zu erleben, die Darstellenden Künste als Forschungslabor zu entdecken. Mit Schall und Hall bringt er Texte zum Klingen, in der Tiefe des Raumes öffnet er Perspektiven und fordert auf, den Sinn des Lebens zu finden. Nicht mehr und nicht weniger. Konsequent setzt er im hohen Alter auf die Jüngsten. Mit Die große Erzählung präsentiert das Theater Willy Praml ein erstes Stück für ein junges Publikum. Und er macht es richtig, nicht wie der Kinderteller im Restaurant, halbe Portion und halber Preis, sondern eher wie beim guten Metzger: Darf es ein bisschen mehr sein: Die Odyssee in einer Stunde für Menschen ab acht Jahren. Denn Theater, ja, ich wiederhole es gerne, will gelernt sein … Theater ist für Willy Praml das Leben, und da es so kurz ist, soll es doch schön sein. Für alle, von allen, als permanente kulturelle Bildung. Die Ehrenplakette der Stadt Frankfurt im Dezember 2022 ist nicht der erste Preis, den Willy Praml erhält. 1980 wird ihm zusammen mit Hansjörg Maier vom Berliner Senat der BrüderGrimm-Preis verliehen, für besondere Verdienste auf dem Gebiet des emanzipatorischen Jugendtheaters, 2006 verleiht ihm die Fachhochschule Frankfurt den Innovationspreis für seine theatralen Raumbespielungen und dramatischen Lehrexperimente. 2018 wird Willy Praml der Walter-Dirks-Preis verliehen, der Menschen und


sierten Selbstausbeutung – wie sich Willy Praml auch schon einmal selbst tituliert hat – wäre nicht so erfolgreich ohne ein Team, denn Theater ist eine kollektive Kunst.

30 Jahre Theater, 80 Jahre Willy Praml 2021 wird das Theater Willy Praml 30 Jahre alt. Die Festivität fällt zusammen mit dem 80. Geburtstag von Willy Praml. Oder umgekehrt. Grund genug, Rückschau zu halten, die Darstellende Kunst zu feiern und ein „Lesebuch“ herauszubringen, „das ein Zeitalter rekonstruieren hilft“, wie der Prinzipal des Kollektivs höchstpersönlich in einem Brief an „Wegbegleiter, Mitarbeiter und Mitwirkende in diversen Projekten, Schauspieler, Musiker, Tänzer, Bühnengestalter, Techniker und Organisatoren, Werber, Dokumentatoren, Fotographen, Filmemacher, Praktikant*innen und Assistent*innen, Dirigenten und Pianisten, Kritiker und Förderer, Freundinnen, Freunde und Geliebte, Verwandte und Familie, Zeitgenossen meines Lebens alle“, schreibt. Es soll Einblick gewähren in das Theater der Vielen, „die mein Leben gekreuzt, beeinflusst, bereichert und dazu beigetragen haben, was es geworden ist“, wie es der Altersjubilar in einem Anschreiben an Wegbegleiter, Mitarbeiter und Mitwirkende sowie „Zeitgenossen meines Lebens“ formuliert. Die Beiträge, die dabei zusammengetragen wurden, waren wohl allzu disparat, als dass sie in eine Publikation gepasst hätten, so dass das Projekt zu keinem Ende kam. Immerhin sind dabei 39

Wolfgang Schneider: Be- und Zuschreibungen von Willy Pramls Theater

Institutionen auszeichnet, deren Leben und Arbeit im Zeichen des Brückenschlags zwischen Konfessionen, gesellschaftlichen Kräften und Parteien steht. Die Auszeichnung steht in der sozialethischen Tradition des Katholizismus. Und ein paar Jahre später erhält er vom Fonds Darstellender Künste der Bundeskulturstiftung die so genannte Konzeptionsförderung, kein Preis, aber eine Auszeichnung für kontinuierliche, herausragende freie Theaterarbeit. Auch wenn Willy Praml, ebenso wie seine Weggefährten Hansjörg Maier vom Wannseeheim, Michael Kelbling vom Dörnberg oder Jürgen Flügge von der Tromm, bisher nicht Eingang gefunden haben in die theaterwissenschaftliche Literatur – weder in Braunecks Theatergeschichte, noch in Fischer-Lichtes Performativitätstheorie kommen sie vor – so gehören sie meiner Meinung nach zu den wichtigen Akteuren der gelegentlich gerne als Weltkulturerbe apostrophierten deutschen Theaterlandschaft. Zu dieser Theaterlandschaft zählt mittlerweile selbstverständlich auch die Naxoshalle. Im Winter erhalten die Zuschauer dort neben der Eintrittskarte auch noch wollene Decken für die Vorstellungen ausgehändigt, was sicher nicht als ein Vorgeschmack für die in der schwarz-grünen Koalitionsvereinbarung angekündigte Energiewende zu verstehen ist, sondern viel mehr etwas mit der zunächst fehlenden und dann fehlerhaften Heizung zu tun hat. Das Theater Willy Praml ist zudem so basisdemokratisch organisiert, dass die Besucher:innen ihre Brezeln selbst mit Butter bestreichen dürfen. Aber der Meister der gut organi-


Prolog: Darstellende Kunst, ein ganzes Leben lang

kluge Texte entstanden, von denen ausgewählte an dieser Stelle dokumentiert werden sollen, weil sie eben ganz unterschiedlich Auskunft geben über ganz unterschiedliche Aspekte von Theaterarbeit, so wie Willy Pramls Theater gesehen wird. Nur eine kleine Auswahl von Beschreibungen und Zuschreibungen sollen hier wiedergegeben werden, von unterschiedlichen Wegbegleitungen, die nicht nur über die Persönlichkeit Praml Auskunft geben können, sondern die künstlerischen Wege zu reflektieren und aus der Praxis zu berichten wissen. Dr. Stefan Scholz studierte Philosophie und Theologie an der Hochschule St. Georgen in Frankfurt am Main und Theaterwissenschaft an der Ludwig-Maximilians-Universität in München, promovierte über Theaterarbeit und Theaterstücke George Taboris und ist katholischer Priester in der Dompfarrei St. Bartholomäus in der MainMetropole sowie in der Katholischen Akademie Rabanus Maurus des Bistums Limburg verantwortlich für den Bereich der Kunst. Auch er zählt zum Freundes­kreis des Theater Willy Praml und kennt sicher alle Aufführungen in der Naxoshalle, zumal er auch immer wieder zu Nachgesprächen mit dem Team ins Haus am Dom einlädt. Seine Beschäftigung mit der Darstellenden Kunst ist eine philosophisch-theologische, eine Reminiszenz an den Prinzipal und rekurriert auf die katholische Biografie des Protagonisten im Theater Willy Praml. Dem, der Ministrant war, Priester werden sollte und in einem Klosterinternat geschult wurde, 40

dem entwirft er einen theoretischen Überbau seiner Theaterarbeit, schreibt vom Sündenfall im Paradies, von der Rolle der Moral, von Gott und Mensch, und wer nun die Wahrheit ins Bühnenlicht bringt.

Nietzsche: Gott ist tot! Gott: Nietzsche ist tot! Scholz: Willy Praml lebt! Was bleibt, wenn alles den Bach runtergeht? Die Welt als Theater; das Theater als Bühne der Welt; Gott als biblischer Autor, der Mensch als Figur in Gottes Stücken; Gott als Schauspieler in der Rolle Jesu Christi, der Mensch als Autor von Stücken mit Gott als Figur. Wenn alle tot sind, kann ihnen nur das Theater Leben einhauchen. Gott schaut sich selber zu auf der von Menschen gemachten Bühne. Der Mensch traut sich eine Rolle zu im göttlichen Theater. Endlich sind beide gleichberechtigt, Gott und Mensch. Jeder schreibt dem anderen Rollen auf dem Leib, zieht ihn durch den Kakao, macht ihm Vorhaltungen, gibt ihm der Lächerlichkeit preis, lässt ihn Tragödien durchleiden und Dramen bestehen. Gott und Mensch schenken sich nichts! Sie können nicht miteinander und kommen doch nicht los voneinander. Gott wird Mensch, der Mensch Gott. Solange auch nur ein Mensch bleibt, bleibt zumindest die Frage nach Gott. So lange nach Gott gefragt wird, kann der Mensch sich nicht anders als Mensch verstehen als in der totalen Perspektive Gottes. Darunter geht gar nichts.2


Industriehalle als Theater. Industrie und Kapital versklaven Menschen wie einst Pharao Israel in Ägypten. Fortschritt beschleunigt den Menschen bis zum Kollaps. Maschinen werden menschlich, um dem Menschen eine künstliche Intelligenz zur Seite zu stellen, wenn einer aus Fleisch und Blut für ihn da ist. Das Klima kippt, weil der Mensch Gott spielt. An Gott glaubt keiner, weil man so selten Menschen trifft. Die großen Ideen: Selig, Ihr Armen! Weh Euch, Ihr Reichen! Genesis: Alles gut geschaffen – nichts gut geworden. Jesus d’amour: Der menschliche Gott, der unmenschliche Mensch – Krippe und Kreuz. Die noch größeren Ideale: Unaufführbar, auf Naxos auf die Bühne gebracht: Goethe, Heine, Novalis, immer wieder Kleist, aber auch Seghers, Hölderlin, Schiller, Lessing, Aischylos; selbst wenn’s lustig wird, bleibt es ernst: Valentin, Moliere. Immer großes Theater, immer die ersten und letzten Fragen, immer der Mensch in seinem tragischen und komischen Zerbrechen, über und hinter und in allem:

Willy Praml, der gottgleiche Regisseur, der glutrote Teufel (im Jedermann), der zerbrechliche Mensch. Immer nach Gott fragend, ohne ihm glaubend in die Arme zu laufen, immer nach dem Menschen fragend, ohne die großen Fragen, wie die nach Gott, ihm zu ersparen, immer das Theater in Frage stellend, ob das noch geht: Die allergrößten Fragen auf der Bühne zu verhandeln, das Allerbanalste zur Sprache zu bringen, der Gesellschaft den Spiegel vorzuhalten und über die Kirchen zu klagen, dass sie so schlechtes Theater spielen, in dem Gott und Mensch um ihre Kraft gebracht werden. Vom Schlag getroffen, das eigene Leben zur Bühne geworden, für die Leiden des jungalten Willy Praml, dem Gott und Mensch immer eine Frage wert sind und beide auf die Bühne holt, gerade dann, wenn Gott sich göttlich aufbläht und der Mensch sich menschlich verzwergt. Auf der Bühne des Theaters zwingt Willy Praml sie in jenen menschlichen und göttlichen Dramen, die letzten Endes den Menschen Mensch und Gott Gott sein lassen, unter dem Verdikt, beide könnten sterblich sein, Gott, der Mensch und der Regisseur, der beiden eine Bühne bereitet: Willy Praml lebt! – Gott sei Dank!3

2 Stefan Scholz: Nietzsche: Gott ist tot! Gott: Nietzsche ist tot! Scholz: Willy Praml lebt!, 2021. 3 Ebd. 41

Wolfgang Schneider: Be- und Zuschreibungen von Willy Pramls Theater

In Kenntnis der Stücke und Inszenierungen analysiert und interpretiert Stefan Scholz als bekennender Christ die Welt des Theater Willy Praml und weiß sie zu sezieren. Gott und die Welt treffen in der Naxoshalle zusammen – bei ganz unterschiedlichen dramatischen Vorlagen – und werden zu Stoff für einen Disput der Theologie über das Weltliche und dessen gesellschaftskritische Wahrnehmung.


Prolog: Darstellende Kunst, ein ganzes Leben lang

Ariadnes Faden, Arthurs Schwester Marie & der „ächte“ Naxosschmirgel „Wir sind Laien, haben die hohe Schauspielkunst nie gelernt und sehen mit Staunen und manchmal ein wenig Ehrfurcht auf die ‚richtigen‘ Schauspielerinnen und Schauspieler in Willys Truppe“4, schreibt Jeanette Schmidt in ihren Erinnerungen an das Mitarbeiten und Mitspielen im Theater Willy Praml. „Für Willy ist jeder befähigt, Willy’s Visionen umzusetzen. Wenn wir es nicht hinkriegen, dann liegt das nicht an mangelndem Können, sondern daran, dass wir noch nicht verstanden haben, was er von uns will. So sieht er das anscheinend. Das ist verblüffend, äußerst schmeichelhaft, und veranlasst uns, unser Bestes zu tun. Um ihn nicht zu enttäuschen.“5 Sie hört ihn immer noch sagen „Nicht so professoral, Jeannette!“ und ahnt, was der Regisseur meint. Sie sitzt an einem Quadrat aus schwarzen Tischen, auf denen Fotos von schlimm zugerichteten Frauen angeheftet sind, und wird einer Schar von Bürgersfrauen begeistert von der ehrenamtlichen Arbeit in einer Rechtsberatung berichten. Aber, wie ist sie dahin gekommen? Der Anfang war da, wo er immer ist – im physischen Raum und im Kopf von Willy. Der Raum ist die Naxoshalle. Ein Industriedenkmal, das in anderen Stücken von Willy schon zu einer Säulenhalle oder zu einer Kathedrale wurde. Aber diesmal stellt die 42

Naxos-Halle sich selbst dar – das ist neu. Diesmal geht es nicht darum, die Worte großer Dichter lebendig werden zu lassen. Diesmal geht es um echte Erinnerungen.6

Das Theater Willy Praml hat Zeitzeugen gefunden für die Geschichte der Naxos-Union und der Naxoshalle. Es wurde ein Stück Industriegeschichte, eine Familiengeschichte und nicht zuletzt auch deutsche Geschichte. Denn es war eine wichtige Firma, eine Firma mit Bedeutung in der ganzen Welt. Heute kennt sie kaum einer mehr und man wundert sich vielleicht noch, was die Naxoshalle mit der Insel Naxos zu tun haben könnte. „Viel“, schreibt Jeanette Schmidt, denn der Firmengründer fand auf dieser Insel den Schleifsand, der ihn zur Firmengründung inspirierte. Julius Pfungst muss ein sehr findiger Unternehmer gewesen sein und er hatte eine außergewöhnliche Familie, mit seinem Sohn Arthur, dem klugen Schöngeist, und seiner Tochter Marie Eleonore, die sowohl einen guten Geschäftssinn hatte wie auch das Ethos einer Firmenchefin im besten Sinne verkörperte. Sie stellte sich dieser Aufgabe zu einer Zeit, in der Frauen noch nicht einmal wahlberechtigt waren, immer mutig und ohne viel Aufhebens um die eigene Person. Die Firma oder besser die Firmenangehörigen kamen immer an erster Stelle. Aber sie hat auch ihre Stadt nicht vergessen und sich für ein Heim für ledige Mütter und für eine gute Ausbildung für junge


Und deshalb sitzt die Darstellerin jetzt an diesem Tisch-Ensemble und leiht einem Text, den sie selbst geschrieben hatte, eine Stimme. Der Vorhang ist noch geschlossen. Auf der anderen Seite, dem Publikum zugewandt, steht Willy und erzählt den Zuschauer:innen, was sie gleich erwartet: Stationentheater. Gleich hebt sich der Vorhang und alle werden in die Halle strömen und von Exponat zu Exponat gehen. Sie erleben in kleinen Ausschnitten auch die Familiengeschichte der Familie Pfungst. Und weil Marie Pfungst die Geschicke der Naxos-Union lange geprägt hat, gibt es sie gleich viermal: „Meine Station ist die frühe Marie, zu Beginn ihres Wirkens, weiter in der Mitte der Halle widmet sich Anja der Marie als Firmenchefin, die sich mit einer Judenzählung auseinandersetzen muss, Birgit spielt die Marie, die schon massiv unter den Eingriffen der Nationalsozialisten leidet, und den härtesten Part hat Hertha, die in einem Kellerraum steht und den Vertrag zitiert, den Marie vor ihrer Deportation nach Theresienstadt unterschreiben musste. Ein unmenschlicher Text.“ Für die Mitwirkenden sind die Stationen diejenigen Elemente der Aufführung, die sie in den Proben wie Zuschauer:innen sehen konnten – mit Beleuchtung und allem, was dazugehört. Denn wenn sie alle auf der Bühne stehen, dann sehen sie nie den Gesamteindruck. „Wie gerne hätte ich dieses Stück einmal in seiner

Gänze als Zuschauerin gesehen.“, beschließt Jeanette Schmidt ihren autobiografischen Blick auf das partizipative Theaterprojekt. Marie Pfungsts Erbe, die Firma, für die sie sich mit ganzer Kraft eingesetzt hat, hat nach Kriegsende den Weg vieler Firmen genommen: Filettiert für den Aktienhandel und die Profitmaximierung von wind­­­ schlüpfigen Karrieristen auf der Suche nach dem schnellen Geld. Die Firma ging in die Insolvenz. Auf der ganzen Welt hüten Messerschleifer ihre schwinden­ ­­­den Vorräte des ‚ächten‘ Naxos-Schmirgel. „Den wird es nie mehr geben“, heißt es abschließend im Text von Jeanette Schmidt. „Aber die Firmengeschichte, die wurde hier noch einmal zum Leben erweckt in Bildern und Eindrücken, die bleiben.“

Ein Leben ohne Theater ist möglich, aber sinnlos Dr. Ina Hartwig ist Kulturdezernentin der Stadt Frankfurt am Main und sie trägt die politische Verantwortung für die kommunale Theaterlandschaft. Und das ist auch immer wieder eine Frage der Finanzierung mit 4 Janette Schmidt: Ariadnes Faden, Arthurs Schwester Marie & der „ächte“ Naxosschmirgel, 2022. 5 Ebd. 6 Ebd. 7 Ebd. 43

Wolfgang Schneider: Be- und Zuschreibungen von Willy Pramls Theater

Mädchen engagiert und für eine Rechtsberatung für diejenigen, die keinen Anwalt bezahlen können.7


Prolog: Darstellende Kunst, ein ganzes Leben lang

öffentlichen Mitteln. In der jüngeren Geschichte hat das auch schon das eine oder andere Mal dazu geführt, dass die Darstellenden Künste Kürzungen ihrer Etats hinnehmen mussten. Oder dass die Häuser ganz geschlossen wurden. Unrühmliche Beispiele sind das Theater am Turm und das Kommunale Kinder- und Jugendtheater. Auf internationales Unverständnis stieß vor allem das Ende der Förderung der Forsythe Dance Company. Das Theater Willy Praml war aber von Anbeginn auch kulturpolitisch besonders gefährdet. Und das hatte vor allem mit der Immobilie zu tun, in die bis zum heutigen Tag riesige Summen zu investieren sind. Und all das immer auch im städtischen Wettbewerb mit dem Milliarden-Projekt von Neubauten für Oper und Schauspielhaus. Umso mehr klingt die Laudatio der Stadträtin für Kultur und Wissenschaft wie ein Projektantrag zur Unterstützung des Theater Willy Praml. Die Literaturwissenschaftlerin plädiert für eine Theaterkunst, die sich dem gesellschaftlichen Leben widmet, den Erfahrungsaustausch pflegt, aber auch Meinungsbildung betreibt. Ach, die Aktualität. Immer wenn wir uns treffen, lieber Willy, fällt ein Name, Jean Genet, Ingeborg Bachmann, die wir beide lieben, oder zuletzt Rainer Maria Rilke, dessen „Duineser Elegien“ Du so gern auf die Bühne bringen möchtest. Diese zehn Klagegesänge gehören zum Schönsten und Rätselhaftesten und zugleich Klarsten, was die Dichtung der Moderne hervorgebracht hat. Von Engeln wären die 44

Elegien geschrieben worden, glaubte Rilke, sagtest Du mir neulich auf einem Dach mit Blick auf die – darf man das sagen – kapitalistische Skyline dieser ungewöhnlichen Stadt, in der wir leben. Vor hundert Jahren entstanden, ja, und vielleicht wirklich von Engeln geschrieben, anders kann man sich Rilkes Schaffensrausch eigentlich gar nicht erklären. Ein jeder Engel ist schrecklich. Hundert Jahre später steht die Menschheit vor Entwicklungen und Herausforderungen, die so manche „Hilfe von oben“ wünschenswert erscheinen lassen. Vielleicht hilft es aber auch schon, die strikten Trennungen zwischen dem künstlichen Ort des Theaters und dem Leben da draußen infrage zu stellen, damit aus dem Gefühl der Ohnmacht, das so mancher aktuell erlebt, ein Bewusstsein des Handelns erwachsen kann. Das Theater jedenfalls war stets Ort der Zuspitzung und Übertreibung, aber auch des zurücknehmenden Spiels, das in feinen Linien dort Zusammenhänge auszudrücken vermag, wo es den Menschen im Alltag allzu oft die Sprache verschlägt. Hier können selbst Menschen, deren Stimme in der Öffentlichkeit noch wenig zählt, oder denen es an Selbstvertrauen und Zuversicht mangelt, Gehör finden: Dann ist es möglich, dass die Begegnung über Werte- und Interessenskonflikte hinaus stattfindet, dass sich das Publikum einer äußert vielfältigen und durchaus auch gegensätzlichen Gesellschaft versammelt, um gemeinsam das scheinbar unver-


Für die Frankfurter Stadträtin klingt es fast zu schön, um wahr zu sein, der Anspruch sei sicherlich hoch – und doch attestiert sie Willy Praml, es sei gelungen, solche Orte immer wieder zu erschaffen. Er habe das Theater nie als reinen „Musentempel“, als Rückzugort für ein gut betuchtes Theaterpublikum verstanden (ein Vorurteil, das leider nach wie vor an Theatern haftet), sondern habe es vernetzt, mit unterschiedlichen Formaten geöffnet und von Beginn an alle Bevölkerungsschichten zum Mitmachen eingeladen. Seit drei Jahrzehnten gehe Willy Praml beharrlich diesen Weg und ermögliche mit seiner Passion gelebte gesellschaftliche Teilhabe. Die Rolle von Theater für den Zusammenhalt, für Meinungsbildung und Meinungs­­­­äußerung sowie das Verständnis und die Wahrnehmung des Anderen und des Andersseins habe er schon früh erkannt und seinem Schaffen als Prämisse vorangestellt, als er in den 1960er Jahren begann, mit Jugendlichen aus Gastarbeiterfamilien Theater zu machen. Seit mehr als 20 Jahren produziere das Theater Willy Praml nun in der Naxoshalle und beweise seither in zahlreichen Inszenierungen die Gegenwärtigkeit alter Texte und Theaterstücke. Der Blick zurück könne zukunftsweisend sein.

Gleichzeitig habe Willy Praml diesen besonderen Ort für neue Generationen von Theatermacherinnen und Theatermachern geöffnet. Projekte mit Geflüchteten werden initiiert, generationsübergreifende Stücke entwickelt und die jüngere, teils grausame Vergangenheit mit Zeitzeuginnen und Zeitzeugen greifbarer gemacht. Das offene Konzept der Spielstätte Naxoshalle sei eine Einladung an alle Interessierten, sich einzubringen, teilzunehmen, aufzutreten und ihr Umfeld mitzugestalten. Die Kulturdezernentin kommt zu dem Schluss, dass hier ein öffentlicher Ort für Debatten entstanden sei, für das Theater und für das Leben mitten in der Stadt. Ich weiß nicht, was den jungen Willy Praml antrieb, aber ich ahne es; es war wohl die Begegnung mit der Kunst, die allen Menschen, und jungen ganz besonders, einen Weg aus der Konvention, aus Beklemmungen und Phrasen eröffnet. Fest steht, dass der Sohn eines oberbayerischen Metzgers schon früh das Vorhaben seines eigenen Theaters verfolgte – zu unserem Glück hier in Frankfurt. Und wir: Zuschauer, immer, überall Dem allen zugewandt und nie hinaus! Uns überfüllts. Wir ordnens. Es zerfällt. Wir ordnens wieder und zerfallen selbst. Wer hat uns also umgedreht, daß wir, 8 Ina Hartwig: Ein Leben ohne Theater ist möglich, aber sinnlos, 2022. 45

Wolfgang Schneider: Be- und Zuschreibungen von Willy Pramls Theater

söhnliche Spiel von Rollen auszuloten, um Erfahrungen auszutauschen und – wer weiß – Empathie zu üben.8


Prolog: Darstellende Kunst, ein ganzes Leben lang

was wir auch tun, in jener Haltung sind von einem, welcher fortgeht? Wie er auf dem letzten Hügel, der ihm ganz sein Tal noch einmal zeigt, sich wendet, anhält, weilt –, so leben wir und nehmen immer Abschied.9 Lieber Willy, dies immerhin wissen wir, dass Rilkes Verse immer, überall die allergrößte Aktualität besitzen, nicht wahr? Für viele Menschen dieser Stadt darf ich somit sagen, oder besser ausrufen: Deine Arbeit, die die Leidenschaft dieser anderen Sprache spricht, hat die Kulturlandschaft Frankfurts nachhaltig geprägt, und ihre Menschen. Du hast mit Deinem Schaffen Spuren gelegt, die sichtbar, spürbar bleiben, die überdauern werden. Dafür möchte ich mich ganz herzlich bei Dir bedanken. Deine Hingabe zum Theater, Dein Verständnis dafür, Deine Menschenliebe und Dein wacher Geist sind bewundernswert. Dein Leben zeigt uns allen eindrücklich, wie sehr Theater Ausdruck menschlicher Freiheit ist.10

Volksherausforderungstheater Auch Michael Quast, Schauspieler, Regisseur und Theaterleiter, hat sich anlässlich des 30-jährigen Theaterjubiläums und des 80. Geburtstages von Willy Praml hinreißen lassen, „etwas beizusteuern“. Denn es liege nahe, wenn man sich die Projekte ansehe, die dieser Theatermann auf die Beine gestellt habe, mit Laien, mit Gastarbeiterkindern, mit ganzen Dörfern, also unter 46

direkter Einbeziehung der Menschen, „die von Kulturschaffenden gelegentlich etwas von oben herab als das Volk bezeichnet werden (als gehörten die Künstler nicht dazu und als würden sie sich, als Außen- oder Drüberstehende, dem Volk zuwenden, um es zu beglücken)“11, so der künstlerische Kopf des Volkstheaters Frankfurt am Main. Wobei für ihn die „Einbeziehung von Menschen“ bei Praml so viel bedeute wie „Verführen, Begeisterung wecken, Herausfordern“. „Das Volkstheater ist ursprünglich das Gegenstück zum Hoftheater, zum Theater für die Großkopfeten, das Gegenstück zum erhabenen Bildungstheater für ein aristokratisches, später großbürgerliches Publikum.“12 Es gehe um Unterhaltung und, da Volkstheater ursprünglich eine privatwirtschaftliche Unternehmung gewesen sei, ums Geld verdienen. Es musste sich selbst finanzieren. „Dies wurde erreicht durch besonders lustige Unterhal­­tung, durch Aktualität der Stoffe, häufig durch den Einsatz der Mundart und überhaupt durch ein komödiantisches Spiel, das sich nicht in ästhetische Experimente hüllt, sondern sich ganz unmittelbar und körperlich dem Publikum zuwendet und verständlich sein will.“13 So würde er, der Komödien inszeniert und selbst ein großer Komödiant ist, das heute auch noch definieren. Willy Praml hat dieses Konzept erweitert in Richtung Herausforderung. Theater für und mit dem „Volk“ zu machen, hat er nie verstanden als ein Absenken des Niveaus oder des Anspruchs, um mehr Publikum zu


Ein Vorbild ist Ariane Mnouchkine und ihre Truppe in der Cartoucherie de Vincennes, wohin Willy Praml oft gepilgert ist. Hier macht ein Kollektiv politisch engagiertes, gesellschaftskritisches Theater, das „die Bedingungen, unter denen wir leben, verändern möchte“. Von der Metzgerei in Landshut über die Pariser Munitionsfabrik in die Frankfurter Fabrikhalle – wenn das mal keine guten Bedingungen für Volkstheater sind!14

Das Theater und das Feuilleton Ein Mitstreiter der ganz frühen Jahre meldet sich mit einer Polemik gegen die Presse zu Wort und kritisiert die Ignoranz des Feuilletons. Jürgen Flügge war viele

Jahrzehnte Intendant an unterschiedlichen Häusern, war Regisseur und Förderer und Festivalmacher des K ­ inderund Jugendtheaters, und weiß offensichtlich auch aus eigener Erfahrung, wie Theater kulturjournalistischer, selektiver Wahrnehmung unterliegt, was überregional Bedeutung haben soll und wie man auch mittels Theaterkritik Politik machen kann. Seit 30 Jahren mache das Theater Willy Praml vieles anders als die etablierten Bühnen, es sei fast immer auf der Höhe der Zeit mit seinen Produktionen und bekomme Kulturpreise und Auszeichnungen, Förderung und Anerken­ ­nung durch sein Publikum. Es spiele für alle Bevölkerungsschichten, mache ungewöhnliche Projekte an einem außergewöhnlichen Ort, mit und für Migrantinnen und Migranten. Es hab eine große Vergangenheit im „Lehrlingstheater“ und mit Dorftheater-Projekten, die Vorbild und beispielgebend für die damals erst entstehende Soziokultur gewesen sei. Es hat sich nie vordergründigen Theatermoden und modischen Themen angepasst, sondern eine eigene Spielweise und immer ein gründliches theoretisches Fundament entwickelt. Es hat nahezu immer große 9 Ein Ausschnitt aus Rainer Maria Rilkes Die achte Elegie der Duineser Elegien. 10 Ebd. 11 Michael Quast: Volksherausforderungstheater, 2021. 12 Ebd. 13 Ebd. 14 Ebd. 47

Wolfgang Schneider: Be- und Zuschreibungen von Willy Pramls Theater

erreichen. Im Gegenteil. Je widerborstiger, desto besser. Die sprachlichen Widerhaken, die zum genauen Hören zwingen, sind seine Spezialität. Er weiß, dass Widerstand den Genuss steigert. Die Erkenntnis sowieso. Pramls Volksherausforderungstheater ist meilenweit entfernt von einem vulgären Volkstheater oder einem harmlosen, das nur der Volksbelustigung dient, allen wohl und niemand weh, ich glaube, das verachtet er zutiefst. Wahrscheinlich ist er im Grunde eine romantische Seele und träumt von einem Volksbildungstheater, das ganz ohne „ich weiß es besser“, dafür aber viel mit einer geradezu erotischen Beziehung zur deutschen Sprache zu tun hat. Stichwort Verführung.


Stoffe gewählt, nicht um sie zu dekonstruieren, sondern um sich dem Leben und dem Alltag der Menschen zu nähern. Es wollte immer das Einfache, das schwierig zu machen ist!

Prolog: Darstellende Kunst, ein ganzes Leben lang

Und das alles ist offenbar für einige Damen und Herren in den überregionalen Zeitungen zu wenig. Ihnen ist es wichtiger, bei und von den „großen“ Theatern wahrgenommen zu werden. Die spektakulären Intendantenwechsel sind für den intellektuellen Klatsch und Tratsch offenbar bedeutender, man beweist ja seine eigene Wichtigkeit damit, dass man dazu eine (politische) Meinung hat. Manchmal wird sogar der eine Schreiber oder die andere Schreiberin selbst zum Intendanten. Das Theater Willy Praml hat seit 30 Jahren keinen Skandal produziert, wie uninteressant für die „Fachzeitschriften“ und „bedeutenden“ Kulturblätter. Wer will denn noch etwas entdecken, was nicht in Hamburg, München, Berlin, oder Wien spielt? Auch, wenn es die hundertste Wiederholung des gleichen Einfalles eines Regieberserkers ist, da müssen die Schreibenden hin!15

Bei einem so kontinuierlich reflektiert arbeitenden Theater wie dem Theater Willy Praml gebe es diese Neuigkeiten nicht, schreibt Jürgen Flügge unversöhnlich. Es hab seinen Spielstil gefunden, dieser verändere und erneuere sich seit seines Bestehens allmählich, erfinde 48

sich neu und bleibe sich selbst doch treu. Es gebe ein gewachsenes Ensemble, zu dem immer neue Spielerinnen und Spieler dazustoßen, je nach Projekt. An den großen Stadttheatern werden die Regiestars quer durch die Republik getauscht, jeder, der sie bezahlen kann, darf sie auch einmal verpflichten, denn dann kommen ja auch die großen Schreibenden wieder, man steht in den bedeutenden Blättern, das ist gut für die Karriere! Aber von wem? Ist es auch gut für das Theater? Für eine Idee von Theater, das an seiner eigenen Entwicklung und an seiner Bedeutung für sein Publikum interessiert ist? Weil sich das Theater Willy Praml an diesem „Marktmechanismus“ nie beteiligt hat, scheinen sich auch die meisten Schreibenden der überregionalen Blätter wenig dafür zu interessieren.16

Lobgesang auf einen, den zu ehren die Stadt sich entschlossen hat Soweit Be- und Zuschreibungen zum Theater Willy Praml nach drei Jahrzehnten und 80 Lebensjahren eines Theatermachers, der dem Kollektiv in der Naxoshalle seinen Namen gab. Dafür wurde er Ende 2022 ein weiteres Mal geehrt, dieses Mal mit der Ehrenplakette der Stadt, die zu seiner Heimat wurde. Es wurde eine heitere Feierstunde im Kaisersaal des Römers und eine lustige gleich zu Beginn. Die Kulturdezernentin hieß herzlich willkommen im „Kaiserreich“, das kann


Von besonderer Bedeutung ist der bisher letzte Festakt aber auch durch die Tatsache, dass mit Michael Weber der neue künstlerische Leiter die Laudatio hält. Er vollzieht damit nicht nur den Generationenwechsel, sondern lässt den bisherigen Prinzipal gleichzeitig eine sehr persönliche Wertschätzung erfahren. Sein Beitrag, ein „Lobgesang“, wie er ihn selbst tituliert hat, soll deshalb in voller Länge noch einmal Willy Praml als Mensch zeigen, der sein ganzes Leben dem Theater gewidmet hat: Wofür? Alle Anwesenden wissen wofür. Die Kulturdezernentin, das gesamte Kulturamt, die Vertreter*­ innen des Magistrats, die Mitglieder aller Parteien, aller demokratischen Parteien, die Presse, die Künstler und Zuschauerinnen, die Freundinnen, Freunde und die Familie und Willy, weiß es auch. Die Ehrungen häufen sich ja so kurz vorm Ende, wo jedem klar ist, dass sich da einer verdient gemacht hat. Da kommt die Anstecknadel ans Revers, die Urkunde in die Schublade, die Büste in die Walhalla. Die Persönlichkeit erhält Bedeutung und wird zu allen Veranstal-

tungen mit Häppchen eingeladen, die die Stadt ausrichtet, wenn die Ehrungen sich häufen, so kurz vorm Ende. Und immer hört man: METZGERMEISTERSSOHN und NIEDERBAYERN und LANDSHUT und MEIN KÖNIG LUDWIG und GEFIRMT VON RATZINGER und WEIßBIER und STUDIUM IN MÜNCHEN und KORTNER und PFADFINDER und BERLIN und 68 und JUGENDBILDUNGSSTÄTTE DIETZENBACH und WEIßBIER und DEUTSCH FRANZÖSICHES JUGENDWERK und EINEN SOHN und EINE TOCHTER und EINEN SAUERGESPRITZTEN und LEHRLINGSTHEATER und THEATER MIT ITALIENERN und THEATER MIT TÜRK*INNEN und THEATER MIT SYRER*INNEN und THEATER MIT HAUSFRAUEN und THEATER MIT BLASORCHESTERN und THEATER MIT MÄNNERGESANGSVEREINEN und FRAUENGESANGSVEREINEN und THEATER MIT GANZEN DÖRFERN und

Wolfgang Schneider: Be- und Zuschreibungen von Willy Pramls Theater

passieren; denn schließlich schauen Dutzende Kaiser auf alle Anwesenden. Laute Lacher. Und sie gleich hinterher: „Ein Kaiserreich für Willy Praml!“ Lauter Applaus. Praml zähle zu den Größen der Frankfurter Theaterszene, und eine soziale Instanz, sagt sie noch und lobt die kollektive Kunstform sowie Theater und Team, das die Naxoshalle kulturell in Besitz genommen habe.

15 Jürgen Flügge: Das Theater Willy Praml und das ­überregionale Feuilleton, 2021. 16 Ebd. 49


Prolog: Darstellende Kunst, ein ganzes Leben lang

THEATER MIT GANZEN STÄDTEN und DER GANZEN WELT und EINEN SAUERGESPRITZTEN und GOETHESCHILLERBRECHTKLEISTKLEI STKLEISTKLEISTKLEISTGOETHEMISHI MARACINEKOLTESGOETHENABOKOV ALTESTESTAMENTNEUESTESTAMENT GOETHEALBEEWALTWHITMANHOFFM ANNSTALHEINEGOETHEBÜCHNERKAF KAHÖLDERLINGOETHENOVALISLESSI NGOETHEMOLIEREGOETHE und jetzt mal ein Femininum: DIE NAXOSHALLE DIE NAXOSHALLE DIE NAXOSHALLE DIE NAXOSHALLE NAXOSHALLE NAXOSHALLE NAXOSHALLE HALLE HALLE HALLE HALLE LE LE LE LE LE LE LE LEEEEEEEEEEEEEE. Hört man. Bei jeder Ehrung. In der Paulskirche, im Kaisersaal, im Haus am Dom, wieder in der Paulskirche, wieder im Kaisersaal. Ein verdienter Mann. Und der passende Kopf dazu. Das schlohweiße Haar, der wache Blick, die Furchen der erfahrenen Zeit. Kein Leid, nichts Schlaffes ins Gesicht geschrieben. Alles Kraft und Tat. So kann man jede Falte deuten. Einreihen könnte er sich in die Kaiser hier im Saal, die KAISER DES HEILIGEN RÖMISCHEN REICHES DEUTSCHER NATION. Und die einnehmende warme Stimme, der manchmal 50

mühsame Atem, der das Sprechen bremst. Und das Sprechen anhält an eigentümlichen Stellen. SIE MÜSSEN UNBEDINGT EINMAL DIE DUINESER ELEGIEN SPRECHEN HERR PRAML. WER WENN ICH / SCHRIEE, HÖRTE / MICH DENN IN DER ENGEL ORDNUNGEN? UND GESETZT SELBST, ES / NÄHME EINER MICH PLÖTZLICH ANS / HERZ: ICH VERGINGE VOR SEINEM STÄRKEREN DASEIN. Der sprachliche Gestaltungswille. Der WILLE. WILLYS WILLE WILLE WILLE WILLE WILLE LE LE LE LE LE LE LE LE LE LE LEEEEEEEEEEEEEEEEEEEEEEE. Wie gesagt ein verdienter Mann, der geehrt gehört. Immer wieder geehrt gehört für das Alles, was wir Alle Alles wissen. Aber Schluss jetzt mit den Alten Bildern! Neue Bilder müssen her! Es ist nicht Schluss, nicht kurz vorm Ende. Die Gipsbüste darf noch nicht in Auftrag gegeben werden. Walhalla soll warten. Im Angesicht aller KAISER DES HEILIGEN RÖMISCHEN REICHES DEUTSCHER NATION: Neue Bilder! Ich lobsinge! Ich jubiliere! Ich laudiere Willy Praml für: Für alles bisher Unerwähnte. Für den politischen Akt, den ein 81-jähriger vollzieht, wenn er mit


Und dann macht er den Mund auf und sagt ICH BIN KONSERVATIV. Und macht den Typen in der Bahn auf dem Sitz ihm gegenüber an und bittet ihn, die dreckigen Schuhe vom Sitz zu nehmen. Willy riskiert überall eine blutige Nase. Aber er traut sich trotzdem und wird höchstens als ALTER NAZI beschimpft. Was vielleicht doch schlimmer ist als eine blutige Nase. Der Straßenbahnfahrer Willy. Das schafft die neuen Bilder, seit Willy nicht mehr Auto fahren kann. Die Neuen Bilder für die kommenden Ehrungen, z.B. für die EHRENPLAKETTE DER STADT.

Was gibt´s noch? Den GOETHE-PREIS den ­F RANKFURTER DIVERSITÄTS- UND INTE­ GRATIONSPREIS den INTERNATIONALEN HOCHHAUSPREIS die KRANZNIEDERLEGUNG ZU EHREN VERSTORBENER PERSÖNLICHKEITEN. Da kann noch einiges kommen. Manchmal scherzen wir, wenn wir im Schneeregen auf die ausgefallene Linie 14 warten und uns vorstellen, dass die Kulturdezernentin Willy ihren Dienstwagen mit Chauffeur auf Lebenszeit verehrt. Statt z.B. dieser hübschen Ehrenplakette. Aber dann gäbe es eben nicht diese Neuen Bilder. Im Dienstwagen gäbe es nicht diese alltäglichen politischen Akte der Schönheit. Denn Schönheit ist Willys Politikum seit jeher. Willy schwärmt davon, dass, wenn er in die volle Straßenbahn steigt, es meist ein sehr hübscher Jugendlicher migrantischer Herkunft, kein Blonder ist, der ihm seinen Platz anbietet. Und Willy genießt es vor allem, den entzückend angewärmten Platz einzunehmen. Und Willy denkt dann nicht großväterlich dankbar, wie freundlich die jungen Männer mit Migrationshintergrund im Enkelalter sind, sondern: Was für ein netter kleiner Arsch hier gerade platziert war, wo er jetzt seinen eigenen niedergelassen hat und dessen Wärme er jetzt auskostet. STRASSENBAHNFAHREN IST SEXY. Dafür sollten wir ihn heute unbedingt auch ehren. Dass er der SEXIEST OLD MAN der Stadt ist. 51

Wolfgang Schneider: Be- und Zuschreibungen von Willy Pramls Theater

lackierten Fingernägeln an der Galluswarte auf die Linie 14 wartet. Sehr oft vergeblich wartet, liebe Stadt Frankfurt. In einem Pulk Jugendlicher steht, an der Galluswarte steht man meist in einem Pulk Jugendlicher. Und Willy trägt die gleichen teuren OFF WHITE Turnschuhe wie die 65 Jahre jüngeren und setzt noch eins drauf JUNGS, LACKIERT EUCH DIE NÄGEL, DAS IST GEIL. Teure Turnschuhe können alle, auch die, die sich teure Turnschuhe nicht leisten können. ABER LACKIERTE NÄGEL JUNGS, DAZU GEHÖRT WAGEMUT. Den haben nur die Unangepassten. Manchmal kriegen die was auf die Schnauze, die Unangepassten. Willy nicht. Willy ist außerhalb der Ordnung. Nicht nur die Nägel, auch die goldenen Streifen an der Jogginghose, die Blumenhemden, den Teddyplüsch, die grellbunten Pullover, die Korallenkette, gelbe, orange, grüne Socken.


Prolog: Darstellende Kunst, ein ganzes Leben lang

Und noch ein neues Bild: Willy ist nicht weise. Willy umgibt sich mit lauter weisen jungen Leuten, mit denen er sich herumstreitet und sich von nichts überzeugen lässt, vor allem nicht von aktuellen gesellschaftlichen Strömungen, die dafür einstehen, dass z.B. Männer lackierte Fingernägel tragen sollten, um ... Willy hasst die Moden. Wenn alle sie sprechen. Wahrscheinlich lackiert sich Willy die Fingernägel, weil er konservativ ist. In Diskussionen um das Gegenwärtige überfällt ihn oft eine Wut und er argumentiert nicht wie ein Weiser Alter, sondern wie ein Weißer Alter und ich vermute: Er weiß insgeheim genau, was er tut, wenn er alle, die das Richtige denken, auf die Palme bringt. Insgeheim ist das für ihn wohl POLITISCHE BILDUNG. Das hat er ja sein Leben lang gemacht: POLITISCHE BILDUNG betrieben. Dazu gehörte auch schon immer die SCHÖNHEIT vom Wagemut lackierter Nägel und die SINNLICHKEIT eines von einem süßen Arsch angewärmten Straßenbahnplatzes. HERR PRAML, IHRE STIMME. BITTE NOCH EINEN LETZTEN RILKE. ALSO GUT: ICH KREISE UM / GOTT, UM / DEN URALTEN TURM, UND / ICH KREISE JAHRTAUSENDELANG; UND / ICH WEIß NOCH NICHT: BIN ICH EIN / FALKE, EIN / STURM ODER EIN / GROßER GESANG.

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Ehren wir Willy Praml für das viele Neue in seiner alten Hülle, für die Auf-Brüche im 81-jährigen Kokon. Anfangs sagte ich, dass sich die Ehrungen häufen, kurz vorm Ende. ES IST ABER NOCH NICHT KURZ VORM ENDE. Der Alte sitzt nicht nickend hinterm Ofen, blättert in Fotoalben oder sieht sich Aufzeichnungen seiner früheren Inszenierungen an und seufzt JAJA. Der Alte geht raus zur Haltestelle Galluswarte und verjüngt sich wie FAUST im Hexenkessel. DU MUSST VERSTEHEN, AUS EINS MACH ZEHN. Das ist manchmal sehr schwierig für alle anderen. Und Hoffmannsthals Stücktitel DER SCHWIERIGE ist ihm lieber als ein Dramatisches Gedicht mit dem Titel WILLY DER WEISE. Das im Übrigen noch geschrieben werden müsste. Und das wahrscheinlich überhaupt kein Publikum hätte. DER SCHWIERIGE. DAS ZIEHT. Wer meint, dass Willy Praml heute DAFÜR geehrt werden sollte, bestätige das bitte mit einem sehr langen Applaus.17

Post Scriptum Bei all den Be- und Zuschreibungen, bei all den subjektiven und objektiven Wahrheiten und Wahrnehmungen, bei aller Freundlichkeit und Kollegialität, bleibt nur noch, Willy Praml selbst auch einmal zu zitieren, um das Theater zu verstehen, das fünf Jahrzehnte mit ihm und durch ihn gelebt hat. Er kam zu Wort beim Empfang 2021 in der ehrwürdigen


In der Heimatstadt des Johann Wolfgang Goethes bemüht er den großen Theatermann, um die Quintessenz seines künstlerischen Tuns zu pointieren. Er zitiert aus einem Gespräch mit dem Schweizer Privatgelehrten Fredric Soret, das Goethe am 17. Februar 1832, also nur knapp einen Monat vor seinem Tod im Weimarer Haus am Frauenplan führte: „Ich sammelte und benutzte alles, was mir vor Augen, vor Ohren, vor die Sinne kam. Zu meinen Werken haben Tausende von Einzelwesen das ihrige beigetragen, Toren und Weise, geistreiche Leute und Dummköpfe, Kinder, Männer und Greise, sie alle kamen und brachten mir ihre Gedanken, ihr Können, ihre Erfahrungen, ihr Leben und ihr Sein; so erntereich oft, was andere gesäet; mein Lebenswerk ist das eines Kollektivwesens, und dies Werk trägt den Namen Goethe“. Diese kollektive Kontur seines Lebenswerks ist es, die sich wie ein roter Faden durch das künstlerische Schaffen des Willy Pramls zieht. Und so lässt er

uns an seiner Erkenntnis „vom Geiste des Theatermachens recht erleuchtet“ teilhaben: Das Theater ist die kollektivste Kunstform, und dies gehört zu den gesichertesten Erfahrungen eines 8o-jährigen Theaterlebens. Man braucht gute, auch große und möglichst kontinuierliche Mannschaften, kongeniale Mitarbeiter, die ich in meiner gesamten Lebens-Theater-Arbeits-Zeit immer wieder hatte und wie auch unser Theater dies hat in wechselnden Konstellationen: Schauspieler, Dramaturgen, ­Ko-Regisseure, Bühnenbildner, Kostümbildner, Musiker, Choreographen.18

Willy Praml wäre nicht der Protagonist einer Theaterarbeit, die sich immer wieder auch gesellschaftlicher Verantwortung verpflichtet, wenn er die Gunst der Stunde nicht genutzt hätte, in dem großen Rundbau, in dem Demokratie geübt, die Menschenrechte und die Kunstfreiheit propagiert wurde, auch sein kulturpolitisches Vermächtnis zu verkünden: Für die Zukunft insgesamt stehen große Pläne bei uns ins Haus, die Ausweitung des Spielbetriebes in der 17 Michael Weber: Lobgesang. Auf einen, den zu ehren die Stadt sich entschlossen hat. 18 Willy Praml: Rede anlässlich des Empfangs der Stadt Frankfurt am Main zu Ehren des 30-jährigen Bestehens des Theater Willy Praml und des 80. Geburtstages von Willy Praml am 21. Dezember 2021 in der Paulskirche. 53

Wolfgang Schneider: Be- und Zuschreibungen von Willy Pramls Theater

Paulskirche zu Frankfurt am Main, nach Oberbürgermeister und Kulturdezernentin, anlässlich des 30. des Theaters, das seinen Namen trägt, und seines 80. Geburtstages, oder umgekehrt. Er spricht von seinem Theater-Professor und einer Kleistvorlesung an der Ludwig-Maximilians-Universität in München „als das Reden über Theater selber noch zum Theater wurde“ und auch schon mal ein Zitherspieler oder eine Hackbrettspielerin, ein Sänger oder eine Jodlerin „zu den Texten hinzubestellt“ wurde.


Naxoshalle auf ein „Haus der Freien Szene“, das wir der Kulturdezernentin und der Kulturpolitik zur Förderung und Unterstützung vorgeschlagen haben und das die seit 2014 begonnene Kooperation mit dem StudioNaxos ausbauen will, wodurch sich ein gesteigerter Kultur- und Theaterbetrieb in die Stadt und ihre Umgebung einschreiben will und wird. Prolog: Darstellende Kunst, ein ganzes Leben lang

Nachwuchs allein wird dann aber für ein solches Zukunftshaus nicht ausreichen, ein solches Haus braucht auch kongeniale künstlerische Handschriften, einen eigenen ausgefeilten Spielplan, der zur Diskussion, auch zum Widerspruch anregt und gegebenenfalls Streit provoziert, der seine Inhalte aus dem Miteinander und in der Konfrontation generationenadäquater Auseinandersetzung und genreradikalisierender Bühnenproduktion gewinnt. In welchem Umfange solches gelingt, hängt vom Mut der Kulturpolitik ab, dies zu wollen und als beispielgebend zu fördern, und vom Binnenvermögen der an diesem Prozess beteiligten Akteure. Und so sei der Stadt Frankfurt am Main gedankt für die Behausung einer Theaterarbeit, wie hier dargestellt, und die hoffentlich auch weiterhin dazu beitragen kann und darf, den kulturellen Ruhm der Stadt zu mehren und zu vertiefen.19

19 Ebd. 54


Sein Blut komme über uns – Requiem im Schatten der bewältigten Nacht (1985), Foto: Friedhelm Fett

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Requiem im Schatten der bewältigten Nacht (1985), Foto: Friedhelm Fett


Requiem im Schatten der bewältigten Nacht (1985), Foto: Friedhelm Fett

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Requiem im Schatten der bewältigten Nacht (1985), Foto: Friedhelm Fett


Mellnau (1985), Foto: Friedhelm Fett

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Den Himmel für die Ruhelosen (1988), Foto: Ursula Königstein


Den Himmel für die Ruhelosen (1988), Foto: Ursula Königstein

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Faust 1 & 2, Proben in der Naxoshalle (1994), Foto: Holger Peters


Faust 1 & 2, Proben in der Naxoshalle (1994), Willy Praml, Foto: Holger Peters

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Faust 1 & 2, Willy Praml in der Paulskirche (1994), Foto: Holger Peters


Proben für Faust 1 & 2 (1994), Foto: Holger Peters

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Proben für Faust 1 & 2 (1994), Foto: Holger Peters


Erster Akt Darstellende Kunst mit Lehrlingen


Was mit Theater in politisch bewegten Zeiten1 Von Hanne Seitz


Ich wußte noch nicht und ich ahnte schon, daß man kein Indianer bleiben kann, wenn man mit Kunst etwas ausrichten will. (Heiner Müller, 1978)

Der Metzgersohn aus Landshut, dessen Vater später auch das traditionsreiche, gleich neben dem Theater gelegene Gasthaus Bernlochner betreibt, kommt schon früh mit dem Theatervolk in Berührung. Doch erst das Klosterinternat und der Besuch eines musischen Gymnasiums in Oberbayern führen den elfjährigen Willy Praml zur Begegnung mit dem Abendland: Klavier- und Orgelspiel, geistliches Liedgut, Barocktheater und humanistische Bildung. Er spielt den Herodes in der Aufführung der neobarocken Textsuada Tür zur Gnade, die den Kindermord zu Bethlehem behandelt, begibt sich in Thornton Wilders Unsere kleine Stadt in die Welt des Kleinbürgertums, inszeniert als Siebzehnjähriger Hymnen an die Nacht von Novalis und kann sich nach dem Abitur ein Leben ohne Theater nicht vorstellen. Für die Aufnahmeprüfung an der Otto Falckenberg Schule in München bereitet er eine Szene aus Hamlet vor, wird angenommen, doch der Vater verweigert die damals noch unerlässliche Unterschrift. Der Sohn soll nicht Schauspieler, sondern Pfarrer werden und man einigt sich wohl, dass der Lehrerberuf erst einmal keine schlechte Basis ist. Praml studiert

Germanistik, Geschichte und Geografie, doch das eigentliche Studium findet außerhalb der Universität statt – im Theater und beim Bund Deutscher Pfadfinder (BDP), den er schon früh durch einen Schulfreund kennengelernt hatte. Bei Moritz von Engelhardt, Referent für musische Bildung beim BDP, lernt er das sogenannte Laienspiel kennen, bei Fritz Kortner, dem kongenialen Regiemeister, die Welt des Profitheaters. Die Kammerspiele in München und ein Pfadfinder­stamm im Saarland – größer könnte der Unterschied nicht sein. Engelhardt wendet sich gegen den autoritär geführten, nicht selten paramilitärisch ausgerichteten Scoutismus und stärkt das am Musischen orientierte 1 Was hier zu heben war, gleicht einem Kellergeschäft. Willy Praml und sein Team haben im Monatsrhythmus Kurse gegeben und mindestens halbjährig darüber ­geschrieben. Die hier zu Rate gezogenen Dokumente, ­Artikel, Interviews, nicht zuletzt aktuell geführte ­Gespräche mit Praml und ehemals Beteiligten, dienten mir dazu,– ganz im Stil eines Essays – eine Zeit zu verlebendigen, in der sich Praml in der jugendpolitischen ­Bildungsarbeit den Mitteln des Theaters ‚bemächtigt‘, mit dieser ‚Laienkunst‘ aber auch das Theater um die proletarische Kultur bereichert hat. Wer zu Studienzwecken tiefer in diese frühe Ära einsteigen will, sei an das „­Deutsche Archiv für Theaterpädagogik“ (DATP) an der Hochschule Osnabrück verwiesen, wo Pramls Vorlass aus der Dietzenbacher Zeit liegt und Katharina Kolar im Rahmen ihrer Dissertation zum Lehrlingstheater derzeit auch Forschung betreibt (eprints.gla.ac. uk/258470/1/258470.pdf, Zugriff am 30.10.2023). 69

Hanne Seitz: Was mit Theater in politisch bewegten Zeiten

Zwischen München und dem Wald in Hintertupfing


Erster Akt: Darstellende Kunst mit Lehrlingen

Bündische, bringt auf dem Bundeslager des BDP in Forchheim im Jahre 1966 mit über hundert Beteiligten Shakespeares Der Sturm zur Aufführung. Praml, der in Salzburg regelmäßig Seminare von Carl Orff besucht und dessen Improvisationstechniken erlernt hatte, übernimmt für die Inszenierung die musikalische Bearbeitung für acht Spieler. Vorbild für die Theaterarbeit ist der große Reformpädagoge Martin Luserke, der Anfang des 20. Jahrhunderts die Laienspielbewegung mit ins Leben gerufen hat. Wegen seiner Nähe zum Nationalsozialismus ist er nach dem Krieg umstritten, doch seine Bauhüttenmethode – ein Verfahren zur Stückeentwicklung – trägt maßgeblich dazu bei, später das Fach Darstellendes Spiel in den Schulen zu begründen. Luserke hatte den Begriff den mittelalterlichen Dombauhütten entlehnt, in denen Künstler der verschiedenen Metiers ihr Handwerk zu einem einheitlichen Arbeitsvolumen zusammenfügen. Beim BDP spricht man daher von Bauhütten-Stücken – ein der Lagermentalität voll und ganz entgegenkommender Begriff. Als Gruppenleiter gründet Praml in München den Pfadfinderstamm „Huck Finn“. Stichworte wie Hexe und König oder Zauber und Versuchung laden zum Faxen-Spiel ein – kleine improvisierte Szenen, die gegenseitig vorgeführt, besprochen, weiterentwickelt, nach Luserkes mehrstufigem Bauplan dann zu einem Stück verwoben und schließlich vor Publikum aufgeführt werden. Mimisch-darstellerisches, sprachlich-poetisches, musikalisch-tänzerisches Potenzial, mit 70

Blick auf Raum, Kostüm und Requisite auch kreatives Gestalten soll die Persönlichkeit entfalten – eine ganzheitliche Herangehensweise zur Selbstfindung und Selbstverwirklichung. „Mit Erziehung hatte das nichts zu tun gehabt, sondern man war eingebunden in eine hochkreative Dynamik, die strenge Regeln hatte.“2 Mit dem Werkeln und Arbeiten, Improvisieren und Fantasieren geht für Praml ein Freiheitsempfinden einher, wie es ganz allgemein durch das Spiel hervorgerufen wird. Roger Caillois hat mit Agon, Alea, Mimikry und Ilinx vier unterschiedliche Spielstrategien bestimmt,3 die aus meiner Sicht allesamt in den Bauhütten herausgefordert sind: durch den Wettbewerb an Leistungsgrenzen gehen, mit dem Zufall spielen und sich dem Risiko aussetzen, Szenen improvisieren und Rollen fingieren, sich dem Rausch der Bewegung und dem Chorischen hingeben. Praml ist begeistert: Dieses Theater hat mit dem Theaterbetrieb, den er aus München kennt, wenig zu tun und es zieht ihn dort auch nicht mehr hin – zumal er, der längst sein Regietalent entdeckt hat, am Schauspiel noch einmal ganz von unten anfangen müsste. Das bestandene Staatsexamen im Jahre 1968 führt ihn, kaum überraschend, weder in die Schule noch über ein weiteres Studium in die Pfarrei; er bleibt bei der Pfadfinderei. Der 27jährige wird im selben Jahr hauptamtlicher Bundesreferent für musische Bildung beim BDP und tritt die Nachfolge von Engelhardt an, der an die Jugendbildungsstätte Wannseeheim (heute wannseeFORUM) gegangen war. Doch die Zeit war längst eine andere: Es geht nicht


Linke Protestbewegung und deutschfranzösische Annäherungen L’imagination au pouvoir (Parole, Mai 1968)

Die Wiederaufbauphase nach dem Krieg hatte Deutschland ein wahres Wirtschaftswunder beschert. Die Nazizeit ist schnell vergessen, der Holocaust verdrängt und man nähert sich auch wieder den Nachbarländern an – allen voran Frankreich. Unter der Oberfläche beginnt es zu brodeln, eine Außerparlamentarische Opposition fordert grundlegende Bildungsreformen und prangert die autoritären Verhältnisse an. Auf dem Parteitag der CDU im Jahr 1968 verpasst Beate Klarsfeld, Ehefrau eines Franzosen mit jüdischer Herkunft, dem damaligen Bundeskanzler Kurt Georg Kiesinger, dessen NSDAP-Mitgliedschaft kein Geheimnis war, eine Ohrfeige. Mit dem Slogan „Unter den Talaren Muff von 1000 Jahren“ – eine Anspielung auf das von Hitler angestrebte sogenannte Tausendjährige Reich – stellt die studentische Linke bald keine Fragen mehr, sondern schreitet zur Tat. Der Krieg in

Vietnam, die Notstandsgesetze, der Prager Frühling, die Erschießung von Benno Ohnesorg tun das Ihre dazu – der Protest beginnt sich zu radikalisieren. Man rüstet sich für den Klassenkampf und kümmert sich um den Nachwuchs: Kinderläden werden gegründet, keine Märchen mehr vorgelesen, sondern Lieder vom Baggerführer Willibald gesungen; in der Jugendarbeit pflegt man eine antikapitalistische Gesinnung, mit der das Proletariat zum ‚revolutionären Subjekt‘ erklärt wird, dem sich auch die Jugend aus privilegierten Schichten anzuschließen hat. Die autoritären Strukturen im Bund Deutscher Pfadfinder sind längst aufgebrochen – auf der einen Seite jene, die die alten Werte und Verhaltensregeln wie Fahnen, Kluft und Pfadfinderversprechen hochhalten, auf der anderen die, die gegen den autoritären Stil ankämpfen und den BDP zu einem sozialistischen, basisdemokratischen Jugendverband ausbauen wollen. 2 Willy Praml: „Für mich ist Theater mehr als das Leben“ [Interview mit H. Seitz], in: Marianne Streisand, u. a. (Hg.): Generationen im Gespräch. Archäologie der Theaterpädagogik I, Berlin/Milow/Strasburg 2005, S. 272. 3 Eine Erörterung der Spielkategorie und ihre Anwendung im zeitgenössischen Theater (z. B. Rimini Protokoll, Forced Entertainment, Jan Fabres Company Troubleyn) ist anderorts publiziert – vgl. Hanne Seitz: „Zur Theorie und Praxis des Spiels und die Rolle der Mimesis im Theater und anderswo“, in: Kulturelle Bildung Online, 2022 (non non fiction - Zur Theorie und Praxis des Spiels und die Rolle der Mimesis im Theater und anderswo | kubi-online, Zugriff am 30.10.2023). 71

Hanne Seitz: Was mit Theater in politisch bewegten Zeiten

mehr um Robinsonaden im Wald und auf der Flur, sondern um Protest auf den Straßen und Kritik am Bildungswesen; mythische Themen und fantastische Geschichten gehören der Vergangenheit an, die zu bestehenden Abenteuer sind nicht mehr musischer, sondern politischer Natur.


Erster Akt: Darstellende Kunst mit Lehrlingen

Die linke Fraktion gewinnt die Oberhand, die anderen spalten sich ab. Am Lagerfeuer wird über Demokratie diskutiert und die Theaterarbeit zielt auf politische Emanzipation. Hansjörg – alias Scotch – Maier, den Praml auf Empfehlung von Engelhardt bald kennenlernen wird, erinnert sich: „Unter der Bundesführerschaft von Moritz von Engelhardt verstand sich der BDP als linksliberale Vereinigung. Man diskutierte über Summerhill, las Texte der Frankfurter Schule, war fasziniert von Mao und der Kulturrevolution und plante, weil das Zeitgefühl so war, dass jetzt die Nachkriegs-­ Nazizeit zu Ende ging, befreiende, eben anti-autoritäre Pädagogik. Der BDP war sozusagen das gelungene Beispiel für die ‚Kulturrevolution‘ in einer Institution. Und der Jugendhof auf dem Dörnberg war der Ort dafür – eine staatliche Einrichtung der politischen Bildung, auf einem Berg in der Nähe von Kassel, wo früher Nazi-Schulungen stattfanden.“4 Zum Jahreswechsel 1968/69 steht dort ein vom BDP und dem Deutsch-Französischen Jugendwerk organisierter Zweiländer-Austausch bevor: Pfadfinder aus dem gesamten Bundesgebiet und Jugendliche von einem Gymnasium aus Nancy treffen aufeinander und sollen ihren Beitrag zur Aussöhnung der jahrhundertealten Erbfeindschaft zwischen Deutschland und Frankreich mit Mitteln des Theaters angehen. Neben Willy Praml vom BDP besteht das Team aus zwei Dolmetschern, einem Musiker, einem Pantomimen und einem Schauspieler. Das Vorgehen war erprobt: Brainstorming zu einem Thema, daraus kleine Szenen 72

improvisieren, sie gegenseitig vorstellen und auf der Basis genauer Beobachtung diskutieren, darüber hinaus auch die Beobachtungsregeln reflektieren. Neu ist, dass hier ‚Erbfeinde‘ einander gegenüberstehen, die praktisch nichts voneinander wissen, eine Menge Bilder im Kopf haben und massive Vorurteile mitbringen. Also lässt man die Franzosen Deutsche und die Deutschen Franzosen spielen: Die einen sitzen den ganzen Tag im Café am Boulevard, rauchen Gauloises, tragen Baskenmütze und einen roten Schal und pfeifen den Mädchen hinterher; die anderen hocken in der Eckkneipe, mampfen Sauerkraut und Haxe, sind dick vom vielen Bier, tragen speckige Lederhosen, sind etwas ungehobelt und laut. So oder so ähnlich hat es vermutlich angefangen und natürlich haben die Szenen nicht nur Lachen, sondern auch Empörung ausgelöst – das Selbstverständnis ist angekratzt. Auf der einen Seite die Deutschen, denen es um eine widerständige, antiautoritäre Haltung geht, die sie dann auch mit entsprechendem Ernst vertreten, auf der anderen Seite die Franzosen aus der nördlichen Provinz, an denen der Pariser Mai natürlich alles andere als spurlos vorbeigegangen war, die sich aber im Laissez-faire üben und zudem reichlich Theatererfahrung mitbringen. Auf den Straßen hören die einen Parolen, die mit „Kampf dem“, „nieder mit“ oder „keine Macht“ beginnen, während die anderen „alle Macht der Fantasie“ akklamieren. Die deutsche Linke brauchte zweifellos noch Zeit, dem Potenzial der Fantasie auf die Spur zu kommen. Auf dem Dörnberg prallen jedenfalls Welten aufeinander:


du Soleil, später auch die Filme von Hans-Jürgen Syberberg an.

Zwanzig Postjungboten spielen Theater Man braucht nie Angst zu haben, mit kühnen, ungewohnten Dingen vor das Proletariat zu treten, wenn sie nur mit seiner Wirklichkeit zu tun haben. (Bertolt Brecht, 1938)

An der Geburtsstunde dessen, was kurz darauf Lehrlingstheater genannt wird, sind zwanzig Auszu­bil­ ­dende, wie man sie heute nennt, von der Post beteiligt, die im Jahre 1971 auf dem Dörnberg ihren einwöchigen Bildungsurlaub antreten. Das Leitungsteam der Gewerkschaft war ausgefallen und Praml springt kurzfristig ein; ihm zur Seite steht Scotch Maier, der mit Commedia dell’Arte und Slapstick Erfahrungen gesammelt und in dem von ihm in Berlin mitgegründeten Theater Zentrifuge reichlich Avantgardistisches auf die Bühne gebracht hatte – beides erfahrene Theaterleute und 4 Scotch Maier: „Es waren Autoren! Es waren Geschichten! Wir haben nur nachgefragt“ [Interview mit H. Seitz], in: Marianne Streisand, u. a. (Hg.): Generationen im ­Gespräch. Archäologie der Theaterpädagogik I, Berlin/ Milow/Strasburg 2005, S. 391. 5 Willy Praml: „Theater als Erfahrung von Lebensraum und -zeit. Scotch (Hansjörg) Maier (1944-2021)“, in: Zeitschrift für Theaterpädagogik, Nr. 82/Oktober 2021, S. 49. 73

Hanne Seitz: Was mit Theater in politisch bewegten Zeiten

„die ‚provinziellen‘ Franzosen und die deutschen selbsternannten ‚Revolutionäre‘. Das hat sich gegenseitig angesteckt mit Ausbrüchen und Zusammenbrüchen, einem dramatischen Selbstmordversuch, weil Leben sich Ausdruck verschaffte und dann explodierte. – Ausgelöst und möglich gemacht durch Theater, d.h. durch das Bedürfnis, einen Kontrast zu schaffen zwischen dem gewohnten Leben und dem, was als unbegreiflich Plötzlich-Erlebtes in dieses einbricht.“5 Die Begegnung muss geradezu euphorisierend gewesen sein und wird mit allen Beteiligten noch zweimal wiederholt. Es entstehen Jahrzehnte andauernde Freundschaften, vor allem mit Marie-Françoise Lotte (heute Praml-Bode) und Didier Doumergue, der als Schüler von Lecoq Praml bis heute durch gelegentliche Regieassistenz unterstützt. Es ist der Anfang äußerst produktiver Arbeitszusammenhänge, hatten doch die Franzosen infolge des Algerienkriegs im Umgang mit ethnischen und sozialen Unterschieden reichlich Erfahrung gesammelt und die Animation Culturelle mit ihrem Leitspruch „Donner la parole“ bereits institutionell verankert. Auch Praml wird die Theaterarbeit mit sogenannten bildungsfernen Schichten und benachteiligten Bevölkerungsgruppen bald zu seinem Hauptanliegen machen. Man trifft sich regelmäßig, diskutiert Bertolt Brecht und Antonin Artaud, beschäftigt sich mit dem Poor Theatre von Jerzy Grotowski und dem Physical Theatre von Jacques Lecoq, schaut sich Ariane Mnouchkine und das Théâtre


Erster Akt: Darstellende Kunst mit Lehrlingen

Vermittler, die bis dahin allerdings nur mit jungen Leuten aus dem bürgerlichen Milieu der Oberschule und dem Gymnasium zu tun hatten. Nun aber stehen Berufsschüler vor ihnen – junge Kerle, die bereits das Arbeitsleben kennen und ihre Zukunft darin sehen, mit dem Fahrrad Briefe auszutragen oder hinterm Schalter zu stehen – in der Hoffnung, als Beamte irgendwann am Ärmelaufschlag der blauen Postuniform, wie damals noch üblich, ein Dienstgradabzeichen zu tragen. Sie erwarten einen langweiligen Gewerkschaftslehrgang mit immer denselben Fragen zu Problemen im Betrieb und Zuhause und sollen nun, so die Aufgabe, einem Außerirdischen erzählen, wie es so ist, ein Postjungbote zu sein und wie man sich dabei fühlt. Dass die beiden Teamer weder mit der Post noch mit der Gewerkschaft zu tun hatten, sondern es tatsächlich wissen wollen, ist vermutlich der Grund dafür, dass die jungen Leute zwar erst einmal lange schweigen, sich aber dann auf diese Verrücktheit einlassen – unter der Voraussetzung, dass betriebliche und häusliche Belange außen vor bleiben. Doch bereits das erste Brainstorming fördert zutage, dass sie fast ohne Ausnahme von ihrem Elternhaus zu diesem ‚sicheren‘ Beruf überredet wurden, dass sie die Arbeit dröge und langweilig finden und ihr fehlender Eifer natürlich zu Konflikten mit den Ausbildern führt – zudem würden die Mädchen sie sitzen lassen, wenn sie herausfinden, dass sie bei der Post lernen.6 Auf einigen Quadratmetern Wandzeitung breiten sich die Stichworte aus, die dann in Kleingruppen szenisch bearbeitet und gegenseitig gezeigt werden – ein 74

agonales Prinzip, das den Produktionsprozess enorm steigert. Man beginnt montags, zwei Tage wird improvisiert, mittwochs liegt eine Sammlung von zehn mehrfach bearbeiteten Szenen vor, die im Plenum besprochen und daraus ein roter Faden erarbeitet wird; die nächsten anderthalb Tage wird bis in die Nacht hinein geprobt und gewerkelt und am Freitag steht das Stück. Die Aufführung findet im vollbesetzen Theatersaal vor Publikum statt, in dem andere, im Jugendhof zeitgleich stattfindende Kurse sitzen und brausenden Applaus geben: „14 Szenen, vorwiegend realistisch mit einigen surrealistischen Einsprengseln und dem einzigen Toten, den es je beim Lehrlingstheater gegeben hat“.7 Das Team zeigt sich im Nachgang dann doch reichlich überrascht, ist doch Theater in diesen Schichten und erst recht bei männlichen Jugendlichen als ‚weibisch‘ verschrien, etwas für ‚ausgeflippte Schwule‘, aber nichts für Postjungboten, die sich in ihrem Berufsleben schon weitgehend, wenn auch ein wenig frustriert, eingerichtet haben – von Widerstand und politischem Bewusstsein, gar von Klassenkampf keine Spur. Auch wenn sie anfangs genau darüber nicht reden wollen, kommt alles ganz schnell auf den Tisch: die Enttäuschung darüber, dass die Lehrjahre alles andere als Lehrjahre sind und die Ausbildung das Gleiche von ihnen erwartet wie die Eltern zu Hause und die Lehrer in der Schule, nämlich Disziplin und Unterordnung – Ungehorsam oder Verweigerung wird mit Kopfnüssen und Raumfegen bestraft.


Jugendlichen nicht benutzt hat als Laiendarsteller, sondern – was entscheidend war – als Autoren. Es waren Autoren! Es waren ihre Geschichten! Wir haben nur nachgefragt, sie ermuntert zu erzählen und Querverbindungen zu sehen.“9 Im gegenseitigen Vorspielen dieser Geschichten überprüfen sie – im Wechsel zwischen Agieren und Zuschauen – ihre Erfahrungen und erleben, dass andere entweder auch so fühlen und denken oder aber dem widersprechen, sich aber in jedem Fall dazu verhalten und dies für den Selbstverständigungsprozess im eigenen sozialen Milieu fruchtbar wird. Das Spiel gründet auf Erfahrung und bringt sie zugleich hervor. Die Krux daran: Erfahrungen werden gemacht, man kann nachträglich davon berichten, aber meist weiß man erst davon, wenn sie im Verhalten und Handeln zum Ausdruck kommen.

6 Vgl. Hans Jörg Scotch Maier: „Lehrlingstheater – ein Nachruf?“ in: TheaterZeitSchrift, Schwerpunkt Zielgruppentheater, Heft 4 (1983), S. 21 ff. 7 Ebd., S. 24. 8 Ebd., S. 26. 9 Maier: „Es waren Autoren“, S. 393. 75

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„Im Theaterspiel regieren sie aber nicht nur als ‚Lehrlinge‘, sondern auch als Jugendliche, die Lust haben am Spielen, am Sich-produzieren, an kreativem Verhalten, am Verkleiden, am Endlos-über-Probleme-­Reden, am Saufen, an Liebesgeschichten.“8 Sie haben Flausen im Kopf und entwickeln beim Improvisieren eine soziale Fantasie, die nicht zuletzt die Lücken im System offenbart – ein großes Abenteuer, das eine politische Dimension hat: Die jungen Leute stellen sich öffentlich dar, ermächtigen sich – wie man heute sagt – und geben ihrer Sache eine Stimme, die zudem ihrem Sprachcode und ihrer Ausdrucksweise gerecht wird. Man folgt dem Zeitgeist, den Alexander Kluge und Oskar Negt in dem Buch Öffentlichkeit und Erfahrung (1972) zu Wort bringen, und weiß, dass der theoretische Blick auf den Produktionsprozess die realen Erfahrungen außen vor lässt, besonders aber, dass proletarische Lebens- und Arbeitszusammenhänge in der bürgerlichen Öffentlichkeit und den offiziellen Medien nicht zur Kenntnis genommen werden. Praml und Maier interessiert genau das: Theater als Organisationsform und Medium zur Herstellung proletarischer Öffentlichkeit, ein Theater, das auf den Erfahrungen der Jugendlichen aufbaut, es aber nicht dabei belässt, sondern nach den Gründen dieser Erfahrungen sucht, um ihnen mit Fantasie, Witz und dem Sinn für mögliche Welten zu begegnen. „Was sich da als eine Art von Pädagogik entwickelt hat“, so Maier, „die aber nicht – wie gesagt – als Pädagogik geplant war, war das Verfahren zur Herstellung von Theater, in dem man die


Erster Akt: Darstellende Kunst mit Lehrlingen

Vom Streik in den Bildungsurlaub und zuletzt auf die Bühne Er hatte [das Bild von Marx] schon einmal verkehrt herum aufgehängt. Um den Verstand abtropfen zu lassen. […] „Es kommt mir jetzt manchmal so vor“, erwiderte Lenz, „als hätte ich das richtige Tempo für […] die Verknüpfung meiner Wahrnehmungen mit meinen Erkenntnissen gefunden.“ (Peter Schneider, 1973)

Bereits Anfang der 1970er Jahre beginnt die linke Bewegung zu zerfallen; die einen gehen in den Untergrund, wollen als sogenannte Rote-Armee-­ Fraktion die bürgerliche Gesellschaft umstürzen, die anderen suchen sie zu verändern. Der Gang in die Institutionen hatte begonnen und der Protest mit seiner Forderung nach mehr Demokratie und Mitbestimmung längst Schulen, Berufsschulen und außerschulische Einrichtungen erreicht; soziokulturelle Zentren, selbstverwaltete Aktionsgruppen und Stadtteilinitiativen sprießen nur so aus dem Boden. Als sogenannte Rote Bastion schreitet Hessen voran, sucht mit der Bildungsreform dem Unmut der Jugend nicht nur entgegenzukommen, sondern ihn mit einem breitgefächerten Bildungsangebot auch einzubinden. Nicht zuletzt reagiert die Landesregierung auf die von den Gewerkschaften monierte Ausbildungssituation junger Proletarier. Die Theaterarbeit mit den Postjungboten 76

war ins Gespräch gekommen und Praml wird 1971 gefragt, ob er nicht an der nahe bei Frankfurt am Main gelegenen Hessischen Jugendbildungsstätte Dietzenbach die Stelle eines hauptamtlichen Dozenten für Theater und Kulturarbeit antreten wolle. Er soll Bildungsurlaube für Lehrlinge anbieten, was damals noch gar nicht gesetzlich verankert war, sondern auf unternehmerischen Sonderregelungen beruhte, wie sie etwa die LAW, die Lehrlingsausbildungswerkstatt der Stadt Frankfurt, ausgehandelt hatte. Das Zustandekommen des Bildungsurlaubsgesetzes erfolgte tatsächlich erst 1998 und war nicht zuletzt auch dem Erfolgsmodell der hessischen Bildungsstättenarbeit geschuldet.10 Im Unterschied zum Jugendhof auf dem Dörnberg, wo man lediglich zu Gast war, hatte Praml mit der Bildungsstätte nun planbare personelle, räumliche und finanzielle Ressourcen. Der Professionalisierung des Lehrlingstheaters stand nichts mehr im Weg, allerdings noch viel bevor: Netzwerke müssen geschaffen, Gewerkschaften ins Boot geholt, Berufsschulen gewonnen und wohlwollende Betriebe gefunden werden – denn wie anders kommt man an Jugendliche überhaupt ran? Die Projekte müssen vor- und nachbereitet, Berichte geschrieben, der Bildungserfolg nachgewiesen werden. Und wer die alten Berichte heute durchforstet, dem schlägt eine dem Zeitgeist entsprechende, nicht selten ideologisch gefärbte Sprache entgegen: Schon zwanzig Jahre später, in einem umfassenden Rückblick, ist man sich dessen bewusst,


An dem ersten Bildungsurlaub, den Praml in seiner neuen Funktion Anfang Dezember 1971 veranstaltet, nehmen siebzehn Junghandwerker teil. Sie tragen lange Haare, selbstgestrickte Pullover und Schlaghosen, lieben Rockmusik, rauchen, kiffen, feiern die Nächte durch und stehen am nächsten Morgen dann auch nicht immer pünktlich auf der Matte. Nach dem Motto ‚Lehrjahre sind keine Herrenjahre‘ haben sie Spaß am Ungehorsam gegenüber der Obrigkeit, aber vor allem an sich selbst. In den ersten Szenen werden rote Fahnen ausgerollt und ein Streik ausgerufen, doch Praml fragt nach dem Grund des über sich selbst hinauswachsenden Begehrens: „Wo kommt denn dieser Wunsch her, wo kommt diese Absicht her, etwas zu wollen, was innerhalb der eigenen Lebensumstände 10 Es ist bezeichnend, dass Roland Koch, der 1999 CDU-­ Ministerpräsident wird, das kurz zuvor noch durch die SPD verabschiedete Bildungsurlaubsgesetz mit der Schließung aller hessischen Bildungsstätten – im Jahre 2000 auch jene in Dietzenbach – mit den Worten quittiert, es sei nicht Aufgabe des Staates, seine Bürger politisch zu bilden, dies müsse den Aktivitäten der Subsidiarität überlassen bleiben. Bemerkenswert erscheint, dass 23 Jahre danach von allen Bundesländern einzig Brandenburg neben politischer und betrieblicher Weiterbildung explizit den Bereich Kulturelle Bildung anerkennt – Bayern und Sachsen haben diesbezüglich überhaupt keine gesetzliche Regelung. 11 Detlef Lecke/Willy Praml: Verortungen, Theaterexperimente & Spurensicherung, LandEntdeckung & Dorferneuerung, Fulda 1992, S. 48. 77

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„wie fremd heute Sprache und Begrifflichkeit des damals Formulierten erscheinen, obwohl die skizzierten Fragestellungen immer noch gültig sind“.11 Die ersten Lehrlingsstreiks hatten schon stattgefunden – nicht selten agitiert durch eine studentische, fundamentalistische Linke. Doch Praml will kein Agitproptheater machen, er will an den Erfahrungen anknüpfen, dort, wo sich die Verhältnisse im Denken niederschlagen, im Tun oder Lassen zeigen. Er geht zu den Streikwilligen, will herausfinden, warum sie sich überhaupt politisch engagieren. Er ist theoretisch bewandert, hat sich mit der Dialektik von Hegel und mit der Frankfurter Schule befasst, kennt die Buzzwords, die man in Projektanträgen und -auswertungen bedienen muss, aber er ist auch ein waschechter Niederbayer, der von seinem Vater gelernt hat, wie man Würstel macht und mit der schrägen hessischen Mundart ist er auch schon vertraut. Angesichts eines Spruchs wie „Der wo die Aaweid erfunne hot, muss nix zu duun gehabbd hawwe“ ist er alles andere als auf den Mund gefallen und kann, wenn es denn hilfreich ist, auch einen auf Bajuware machen: „Ah was! dees is ja koa Arbat nimmer! Dees is ja a Schinderei!“ Den Jungs von der LAW, die sich noch immer als Vorhut der bevorstehenden Revolution sehen, obwohl die Streikbereitschaft schon mächtig nachgelassen hat, ist jedenfalls wichtig, dass Praml dem ‚richtigen‘ Bewusstsein auf der Spur ist. Was mit Kunst, mit Theater? – damit war nichts zu holen, aber die Frage Kann man den Kapitalismus sehen, hören, fühlen? zündet.


Erster Akt: Darstellende Kunst mit Lehrlingen

nicht unbedingt vorgesehen ist?“12 Die Eigendynamik der Theaterarbeit nimmt ihren Lauf: Am Ende der Woche sind auf der Bühne der Bildungsstätte zwei Stücke zu sehen. In dem einen geht es um die aufgestaute Wut im Betrieb, die am falschen Ort, nämlich zu Hause, rausgelassen wird; in dem anderen um den Streik als Reaktion auf Arbeitsbedingungen, die durch die hohe Fließbandgeschwindigkeit unzumutbar geworden sind – alles angereichert mit Songs aus der Rockoper Profitgeier von Floh de Cologne und reichlich Fiktion, geht doch ein Streikender dem Arbeitgeber am Ende an die Gurgel. Man würde heute von Doku-Fiktion sprechen. Die Werbetrommel wird gerührt und es spricht sich herum, dass man in Dietzenbach Theater mit Lehrlingen macht. Eine Journalistin der Frankfurter Rundschau, die später eine hochlobende Rezension schreiben wird, ist anwesend, auch Hermann Treusch, der die Nachfolge von Claus Peymann am Frankfurter Theater am Turm (TAT) angetreten war – seinerzeit eines der avantgardistischsten Häuser der Republik. Er ist geradezu begeistert von dem aufmüpfigen und authentischen Spiel. Ein von jungen Proletariern auf der Bühne verhandelter wilder Streik, das könnte Menschen ins Theater locken, die sonst lieber Fußball spielen oder aber auf der Straße ihrem Unmut Ausdruck verleihen – das Theater als Kolloquium gesellschaftlicher Zustände, ganz so wie es sich Bertolt Brecht vorgestellt hatte. Auch Peter Palitzsch, unter dessen Leitung das Schauspiel Frankfurt zur wichtigsten Brecht-Spielstätte in Westdeutschland aufsteigen sollte, bekommt Wind 78

davon und fährt aus dienstlichen Gründen gleich mit seiner ganzen Mannschaft nach Dietzenbach – man wollte sehen, wie diese proletarischen Theateramateure spielen und was sie zu erzählen haben. Auch der unter Palitzsch arbeitende Thomas Reichert, damals noch Regieassistent, oder sein Dramaturg Helmut Postel lassen sich einen Besuch in Dietzenbach nicht nehmen. Die Dietzenbacher Truppe wird jedenfalls ins TAT eingeladen; die beiden Handlungsstränge werden verknüpft und die Premiere findet unter dem Titel Mensch Meier im März 1972 statt. Ton Steine Scherben – seinerzeit die angesagte Band der Gegenkultur – hatte davon Wind bekommen und rückte kurz vor Vorstellungsbeginn an, um die Lehrlinge mit einem musikalischen Vorprogramm zu unterstützen. Die überraschten Lehrlinge, wiewohl alle Fans von Rio Reisers Agitrock, bedanken sich, verbitten sich aber jeden noch so gutgemeinten Beistand, worauf die Instrumente wieder eingepackt werden. Der Saal ist randvoll: der Freundeskreis, viele Lehrlinge, ein paar Arbeitende, das übliche TAT-Publikum – vor allem aber ist die studentische Linke anwesend. Nach einer kurzen Ansprache von Praml meldet sich plötzlich Daniel Cohn-Bendit, der legendäre Studentenführer, zu Wort: Die ‚Sozialästheten‘ würden mit diesem bürgerlichen Unfug den Klassenkampf vereiteln; er ruft – einen Fußball hochhebend – dazu auf, ihm in den Grüneburgpark zu folgen, denn dort würde die Kultur des Proletariats stattfinden. Es hatte – dies nur am Rande bemerkt – noch Zeit ins Land gehen müssen, bis


war, ob so oder anders, ist letztendlich unerheblich. Wie jedes durchschlagende Ereignis hält man es in (Nach-)Erzählungen lebendig, nuanciert es mit jeder Wiederholung vielleicht ein wenig anders – bis es buchstäblich zu einer Legende wird.

Theater am laufenden Band und die europäische Zusammenarbeit Flaschenposten und kein Ende des Endes. (Susanne Komfort-Hein, 1968)

Willy Praml und Scotch Maier, der 1972 dann eine Stelle im Wannseeheim antritt, arbeiten praktisch im Minutentakt und fast immer zusammen. Man pendelt zwischen Berlin und Dietzenbach, das Team wird einige Jahre später noch um Michael Kelbling erweitert, der mit ähnlichen Ambitionen an den Jugendhof Dörnberg gerufen wird. Ihr Enthusiasmus für das Lehrlingstheater nimmt fast missionarische Züge an. Im Laufe des zehnjährigen Unterfangens entstehen Stücke mit Titeln wie Kinder seid schlau, lernt beim Bau oder Komödie der Unterdrückung – gut 100 Produktionen, die am

12 Willy Praml: „Mission oder Vision? Das soziale Engagement der Theaterkunst“, in: Wolfgang Schneider (Hg.): Theater und Jugendschutz. Aids, Sucht, Gewalt als Themen auf der Bühne, Weinheim 1993, S. 12. 13 Otmar Hitzelberger: Schritt für Schritt ins Paradies, Frankfurt am Main 2003, S. 122 ff. 79

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die Frankfurter Spontis sich gegenüber der bürgerlichen Kultur nicht mehr abgrenzen, sondern sie erobern und verändern, am Ende gar in die Politik gehen. Einer der Lehrlinge kommt jedenfalls hinterm Vorhang vor: Man hätte in Dietzenbach gelernt, dass man zuhören und andere ausreden lassen müsse, sie seien aber noch gar nicht zu Wort gekommen und das wollen und werden sie jetzt tun. Jemand beginnt leise Schritt für Schritt ins Paradies – ein damaliger Hit der ‚Scherben‘ – zu singen, worauf der ganze Saal einstimmt. Also dann doch ein Vorspiel, allerdings völlig ungeplant. Das Publikum ist mitgerissen. Der Vorhang öffnet sich und das Stück beginnt – begleitet von Szenenapplaus und begeisterten Zurufen aus dem Saal – und endet mit der Entlassung des Streikwortführers durch die Betriebsleitung: Die Darsteller verlassen mit ihren Transparenten die Bühne in Richtung Publikum und werfen Hunderte Flugblätter, auf denen die Wiedereinstellung gefordert wird. Frenetischer Applaus – die einen, weil es ihr Leben war, dass sie dort oben dargestellt sahen, die anderen erstaunt: So drastisch hatte man sich ein Arbeitsleben nicht vorgestellt, auch wenn es zwischendurch reichlich zu lachen gab. Die Aufführung ist legendär und hat sich fest in das Gedächtnis der Beteiligten eingenistet. Otmar Hitzelberger, einer der Lehrlinge, der Metallschlosser werden will, später Filmemacher wird und bei Praml hin und wieder die Dokumentation übernimmt, schreibt darüber in seiner 2003 erschienenen Autofiktion, die – kaum überraschend – Reisers Song zum Titel nimmt.13 Wie es genau


Erster Akt: Darstellende Kunst mit Lehrlingen

Entstehungsort, besonders gerne aber in den Kulturhäusern vor den Toren der großen Firmen zur Aufführung kommen, darüber hinaus auch im Grips Theater oder in der Westberliner Akademie der Künste. Die Dietzenbacher nehmen an diversen Festivals teil, das Stück Die Lehrjahre des Christian Schüler wird 1973 als westdeutscher Beitrag sogar zu den X. Weltfestspielen der Jugend und Studenten nach Ost-Berlin, in den Arbeiter- und Bauernstaat geschickt.14 Man war nicht allein, sondern Teil einer Bewegung. Das von dem Studenten Kurt Eichler gegründete Dortmunder Lehrlingstheater tritt mit dem Stück Der große Beschiss (1972) in einem Freizeitzentrum auf, versteht Theater als marxistische Schulung, will die politische Ökonomie unters Jungvolk bringen und über Betriebsrechte aufklären. Demgegenüber setzt sich das Proletarische Lehrlingstheater Rote Steine ohne theoretische Umwege sozusagen vom Fleck weg für den Klassenkampf ein. Das aus dem Hoffmann’s Comic Teater hervorgegangene autonome Kollektiv, zu dem auch Rio Reiser gehört, ist Teil der Berliner Anarcho-Szene und agitiert vor Betrieben, Berufsschulen, in Jugendzentren mit griffigen Parolen und deutschem Agitrock – die Leute sitzen quasi schon in den Startlöchern. Das Musiktalent hatte die Schule geschmissen und die Fotografenlehre an den Nagel gehängt, wird durch den Film Fünf Finger sind eine Faust (1970), eine ARD-Doku über die APO, bundesweit bekannt und gründet kurz darauf die Kultband Ton Steine Scherben. Das Dietzenbacher 80

Lehrlingstheater will dagegen weder Gesinnungstheater machen noch agitieren, sondern mit den Erfahrungen arbeiten – ein Anliegen, das den Kommunisten und Linksautonomen zweifellos reaktionär erscheinen, die Zusammenarbeit mit Gewerkschaft, Politik und Theaterhaus geradezu ein Dorn im Auge gewesen sein muss. Und selbstredend ist Praml die ‚Systemrelevanz‘ seiner Theaterarbeit auch bewusst: Rückblickend sei es gelungen, „die breitgefächerte Unmuts- und Aufbruchstimmung bei Jugendlichen und jungen Erwachsenen in gesellschaftlich produktive Handlungszusammenhänge zu binden“.15 Wo die ‚Revoluzzer‘ Lösungen in Form von Umsturzfantasien anbieten, suchen die Dietzenbacher den Problemen mit langem Atem und in geradezu detektivischer Manier auf die Spur zu kommen. Man ist arbeitswütig und produziert am laufenden Band. Der Dietzenbacher Kosmos reicht hinauf zum Dörnberg und bis an den Wannsee – von Rotterdam bis Regio Calabria trägt man zum europäischen Einigungswerk mit Mitteln des Theaters bei. Besonders die deutsch-französische Zusammenarbeit wird intensiviert, nicht zuletzt durch die Begegnung mit dem Theatermacher Jean Hurstel, der in Montbéliard – dem ehemaligen schwäbischen Mömpelgard, wo Peugeot produziert – ein von hochkarätigen europäischen Künstlern ausgeführtes Animationsprojekt betreibt, sich um ethnisch konzentrierte Stadtteile bemüht und im proletarischen Milieu angesiedelt ist. In Dietzenbach geschulte Lehrlinge aus den Farbwerken der


Von vermeintlichen Erfahrungen und einem Realismusproblem Das Motiv für Realismus ist nie Bestätigung der Wirklichkeit, sondern Protest. (Alexander Kluge, 1975)

Mit den Lehrlingen stehen junge Leute auf der Bühne, die normalerweise nicht ins Theater gehen, schon gar nicht selber Theater spielen, und genau das machen sie richtig gut: „Wir haben ihren (proletarischen) Gestus, ihre soziale Eigenart, ihren spezifischen Ausdruck, ihren Dialekt einfach so gelassen.“17 Man verstärkt und radikalisiert, was die Lehrlinge mitbringen und in ihnen angelegt ist. Es sei bisweilen urkomisch gewesen, entlarvend, karikierend, immer auf den Punkt gebracht – eine vergnügliche Seite des Erkennens, wovon Brecht immer geträumt habe. Das Lehrlingstheater konfrontiert das bürgerliche Publikum mit einer Welt, von der es bis dato keine Kenntnis hat, aber vor allem ist es an der 14 Mit über 25000 ausländischen Teilnehmern weht ein Hauch von weiter Welt in dem Arbeiter- und Bauernstaat, doch die SED hat das ‚rote Woodstock‘ fest im Griff: 24000 Volkspolizisten und 4000 MfS-Spitzel sind im Einsatz, die 300.000 Teilnehmenden aus der DDR waren auf Kurs gebracht, tausende ‚Störenfriede‘ vorab in Gewahrsam genommen, in Psychiatrien, Jugendwerkhöfen, Spezialkinderheimen untergebracht. 15 Lecke/Praml: Verortungen, S. 26. 16 Maier: „Lehrlingstheater“, S. 22. 17 Praml: „Mission“, S. 13 f. 81

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Hoechst AG in Frankfurt machen dort 1974 mit gleichaltrigen französischen Lehrlingen von den PeugeotWerken gemeinsam Theater. Später wird es auch Berliner Lehrlinge aus dem Umfeld des Wannseeheims nach Montbéliard ziehen, wo, so erzählt Praml, die französische Essenskultur von den Lehrlingen mit Naserümpfen goutiert wird, sie – an preußische Kost gewohnt – schon bei der Erwähnung von Lamm- oder Hammelfleisch und erst recht beim Anblick des auseinanderlaufenden Camemberts Brechreiz bekommen. So wie später beim Treffen in Dietzenbach auch die Franzosen angesichts der deutschen Leberknödel nur Degout haben. Ein ganzes Buch zur europäischen Völkerverständigung könnte man allein mit kulinarischen Geschichten füllen. Maier und Praml werden jedenfalls 1979 mit dem Brüder-Grimm-Preis des Landes Berlin für ihre innovative Theaterarbeit ausgezeichnet, was Maier in seiner süffisanten Art später wie ein Wunder vorkommt – es klänge doch nach so etwas Unmöglichem wie „Tankwarteballett“ oder „Metzgergesellensinfonieorchester“.16 Eines der letzten Stücke des Lehrlingstheaters kommt mit italienischen Jugendlichen unter dem Titel La Deutsche Vita (1979) dann nochmal im Theater am Turm zur Aufführung – auf jenen Brettern, die doch die Welt bedeuten wollen, nun aber von jungen Leuten ganz anders gedeutet werden.


Erster Akt: Darstellende Kunst mit Lehrlingen

proletarischen Öffentlichkeit interessiert, derentwegen Mensch Meier nach der Premiere im TAT auch gleich in der Stadthalle in Rüsselsheim gezeigt wird – dort, wo Opel zu Hause ist und im Publikum die sitzen, die die Welt auf der Bühne kennen. Sie achten darauf, ob alles richtig dargestellt ist, der Grund der Unzufriedenheit nachvollziehbar, der Druck und die Notwendigkeit sichtbar wird, dass sich die Verhältnisse ändern müssen – sozusagen „Quellen-Bohren“, wie Praml es nennt, „aus einem Überdruck heraus“.18 Das Theater kann zeigen, was ist, aber dem Druck auch Raum geben, die Flucht nach vorne antreten und das Reich der Fantasie, des Unwirklichen und Unmöglichen betreten. Insofern ist das Realistische am Theaterspiel, dass es gerade am Unrealistischen die Widersprüche und Antagonismen der realen Verhältnisse aufdecken und die Zwischenräume selbst mit dem Undenkbarsten füllen kann. Es geht um das, was ich „Räume im Dazwischen“19 nenne. Die Lehrbuben, wie man sie nannte, haben Spaß und spielen, was das Zeug hält und drücken es nicht selten in stereotypen Bildern aus: Zigarre rauchende Fabrikbesitzer, aber sie selbst dürfen nicht rauchen; Meister, die sich über zerknitterte Briefbögen oder nicht ordentlich aufgehängtes Werkzeug aufregen, die ihre Reden immer mit dem Wort „Männer!“ beginnen und man sofort weiß, nichts Gutes steht ins Haus. Die eigene Erfahrung, die solche Bilder unterfüttert, muss in diese Bilder erst einfließen, wird aber zunächst auf Distanz gehalten – als ob es ein fremder Stoff wäre und nicht 82

etwas, das sie ganz persönlich angeht. Es reicht daher nicht aus, zu sagen, die Alten sind blöde, weil sie alt sind. „Statt zu zeigen, dass die ‚Alten‘ auf die Lehrlinge schimpfen und sie schikanieren, muss man zeigen, wie es dazu gekommen ist.“20 Nicht das Erlebnis, sondern die Erfahrung ist das Lehrmittel, mit dem man politisches Bewusstsein fördern will, aber sie muss erst herausgearbeitet werden: „Eine erste, grobe Behauptung wäre die, daß die Spieler mitnichten von ‚ihren Erfahrungen‘ ausgehen, sondern daß sie Erfahrungen vielmehr während der Produktion des Stücks erst machen.“21 Praml und Maier begegnen den bisweilen plakativen, klischeehaften, oft auch ironischen Darstellungen nicht mit Geringschätzung, sondern verstehen sie als quasi rudimentäre Protestformen, denen man gemeinsam auf den Grund geht, dabei ins Konkrete, durchaus Naturalistische absteigt, um sich von dort aus ins abstrakte Allgemeine hochzuarbeiten – in den Realismus. In einer Improvisation während der ersten Proben zu Mensch Maier wird der unmenschliche Akkord und der notwendige Streik thematisiert: Der Arbeiter sagt am Abendbrottisch zu seiner Frau: „Du, ich glaub wir müssen streiken“, worauf diese sagt: „Ja, wenn Du meinst“ – ein absolut reduzierter Dialog, langweilig und blöd, wie auch die zuschauenden Lehrlinge meinen; man diskutiert und erkennt, worum es eigentlich gehen müsste: um die Probleme, nicht um die Lösung. Am Ende der Woche heißt es dann: „Gerda, ich muss streiken“, worauf sie sagt: „Nein, Du musst nicht streiken“ – und schon entsteht ein heftiger Streit, in


aufbereitet werden. Die Wirklichkeit im Spiel zeigt sich anders als sie dem naturalistischen Blick erscheint, aber nur dann, wenn sie über das Stegreifspiel hinauskommt – wenn nicht einfach nur gespielt wird, sondern gezeigt wird, dass man spielt. Aufs Ganze gesehen steht immer wieder die eine Frage im Raum: Wie kommt man vom Laienspiel weg hin zur Kunst? „Könnte man die Qualität der Widersprüche weniger dem Zufall überlassen und vielmehr in einer qualifizierten Vorlage so einbringen, daß die Spieler sich darüber anhand eigener Erlebnisse und Erfahrungen gegenseitig belehren, dann könnte darin eine qualitative Verbesserung der Lehrlingstheaterkurse stecken“.23 18 Ebd., S. 15. 19 Hanne Seitz: Räume im Dazwischen. Bewegung, Spiel und Inszenierung im Kontext ästhetischer Theorie und Praxis, Essen 2000 [1996]. 20 Hansjörg Maier/Willy Praml/Matthias Schüler: „­Theaterarbeit mit Lehrlingen. Bericht über einen Ansatz proletarischer Kulturarbeit“, in: Jürgen Fritz u. a. (Hg.): Interaktionspädagogik. Methoden und Modelle, München 1976, S. 184. 21 Hansjörg Maier/Willy Praml: Lehrlingstheater und proletarische Öffentlichkeit: Berichte, Texte, Materialien zur proletarischen Kulturarbeit. Materialien zur Theorie und Praxis demokratischer Jugendarbeit, Heft 10, (hrsg. v. Bund Deutscher Pfadfinder), Frankfurt am Main 1974, S. 35. 22 Vgl. ebd., S. 30 f. und S. 100. 23 Paul Binnerts u. a.: Die Ausnahme und die Regel. Ein Versuch mit dem Lehrstück von Bertolt Brecht, Berlin 1977, S. 18. 83

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dessen Verlauf deutlich wird, worunter genau die Arbeiter leiden, was eine drohende Entlassung für das Familienbudget bedeutet, warum ein Streik trotz aller Probleme dennoch unausweichlich und Solidarität angesagt ist.22 Der Konflikt und die Widersprüche, das damit verbundene Dilemma bringt sowohl das Innenleben zum Ausdruck als auch Körper und Text in die Szene, was nicht nur für die Lehrlinge, sondern am Ende auch für das Publikum spannend ist. Das Team hält es mit Hegel: Aus dem diffusen Negieren muss eine „bestimmte Negation“ wachsen. Doch das negative Gefühl, das die jungen Leute der Arbeit gegenüber hegen, ist mitunter so stark, dass sie kaum die Handgriffe erinnern, die sie tagtäglich ausführen – Routinearbeit, die ohne Bewusstsein ausgeführt und womöglich Raum für allerlei Tagträume bietet. So schleppt man Mörtel und Steine heran, einmal sogar einen VW-Motor, damit am konkreten Gegenstand gezeigt werden kann, wie der Arbeitsprozess genau verläuft, denn dem Team ist wichtig, dass die Arbeit selbst in der Kritik an ihr präsent ist. Der naturalistisch dargestellte, nachgeahmte Vorgang macht das negative Gefühl erst konkret, aus dem sich in der Folge dann auch der Sinn für Mögliches öffnen kann: zum Beispiel dem Chef eine Ohrfeige zu verpassen – etwas in ihrer Lebensrealität absolut Undenkbares. Das dem Besonderen innewohnende Allgemeine zielt auf die Widersprüche, die durch dramaturgische Zugriffe und Montagetechniken, durch Kostüm, Requisite und räumliche Anordnung verstärkt und ästhetisch


Selbstversuch: Der Knecht als Dummer August

Erster Akt: Darstellende Kunst mit Lehrlingen

Aber am meisten lernte er [der Stückschreiber] von dem Clown Valentin, der in einer Bierhalle auftrat. (Bertolt Brecht, um 1939)

Was die Lehrlinge in die Bildungsurlaube mitbringen, kreist zuvorderst um den Konflikt Vater/Sohn, Lehrer/ Schüler, Meister/Lehrling, Kapitalist/Arbeiter in einer von Männern dominierten Welt – der Geschlechterkampf, dies nur nebenbei bemerkt, ist kein Thema. Weibliche Lehrlinge gab es praktisch nicht und in den Dietzenbacher Improvisationen spielen Frauen höchstens als Ehefrau, Mutter oder Schwester eine Rolle. Das Herr-Knecht-Verhältnis ist vorherrschend und daher kaum überraschend, dass das Team in seiner Suchbewegung bei den Lehrstücken von Brecht landet. Für ihn erzeugt die Einnahme bestimmter Haltungen, das Nachspielen vorgege­bener Sätze, Gesten und Handlungen die nötige Distanz, die zu erkennen erlaubt, warum die Verhältnisse so sind, wie sie sind. Die Lehrstückpraxis versteht er als Labor, in dem Theaterlaien wie auch Profis sich selbst bilden und eigene Urteile fällen. Die Erkenntnis erfolgt durch Spielen, nicht durch Sehen, daher zielt das Lehrstück auch nicht wie das Schauspiel in erster Linie auf ein Publikum, sondern auf die Lernenden. Theatrale und ästhetische Mittel sind tabu. So startet das Team ab 1974 u. a. mit Brechts Die Maßnahme (1930) mehrere 84

Experimente, um mit Interessierten aus Gymnasien, Hochschulen, auch mit künstlerischen und pädagogischen Fachkräften herauszufinden, ob das Lehrstückmodell für das Lehrlingstheater brauchbar und unter welchen Umständen auch geeignet sei, vor Publikum zur Darstellung zu kommen. Man zeigt sich von der nicht psychologisch ausgerichteten Herangehensweise beeindruckt, konstatiert aber zugleich, dass die reduzierte, gleichsam spröde Textvorlage kaum die Fantasie anrege und das Spielen sich ausschließlich auf die Nachahmung beschränkt; das Spielen sei, so das Fazit, „in seiner Bedeutung für den Erkenntnisprozess innerhalb des Lernmodells Lehrstück noch gar nicht entdeckt.“24 Praml und seine künstlerischen Partner wollen erforschen, ob Spielen, gegenüber der Interpretation des Textes, etwas Neues hervorbringen kann und starten mit Brechts Die Aus­­­­­­­­nahme und die Regel (1929/30) einen Selbstversuch, der 1976 im Frankfurter Volksbildungs­­heim Premiere hat. Neben dem niederländischen Regisseur Paul Binnerts, der die Federführung über­­­­­nimmt, sind dabei: Praml, Maier, Kelbling und Engelhardt, die französischen Weggefährten Doumergue und Lotte, nebst einigen anderen noch die Dramaturgen Jürgen Flügge und Mathias Schüler, darüber hinaus der Musiker und Komponist Heiner Goebbels. Brechts Plot ist simpel: Mitten im gesetzlosen Nirgendwo erschießt ein Kaufmann seinen Kofferträger, weil er denkt, dieser werde sich früher oder später für die Schikane rächen. Doch nichts dergleichen hat der Kuli im Sinn, er


erschließen“.25 Man sucht einen Grundgestus, mit dem sich die gegenseitigen Abhängigkeiten transportieren lassen und die Protagonisten nicht von vornherein wie bei Brecht negative Figuren sind – der Kaufmann nicht nur der gierige Kapitalist ist, der sein Ölgeschäft im Kopf hat und sein Personal drangsaliert, der Kuli kein unterwürfiger Idiot, der sich alles gefallen lässt und nur Opfer der Verhältnisse ist. Sie führen den Clown als Stilprinzip ein: den Kaufmann als weißen Clown, der sich verfolgt fühlt, darum irrational handelt und alles relativiert; den Kofferträger als Dummer August, der die Situation abwägen kann, der weiß, dass Befehle auszuführen sind und der Tod immer über ihm schwebt. Er schickt sich an, den lebensgefährlichen Fluss als erster zu durchqueren – in der Szene durch einen Gummitwist dargestellt –, will seine Haut retten und verfängt sich mit den großen Schuhen, worauf das Gummi zurückflutscht und dem Kaufmann eins auswischt.26 Der Clown sollte aber nicht einer sein, der mit Einfällen und Tricks einzelne Szenen beherrscht, sondern als dramaturgisches Prinzip das gesamte Stück bestimmen. Am Ende wird in einer Manege gespielt, in 24 Hansjörg Maier/Willy Praml/Matthias Schüler: „Einfühlung und Nachahmung. Probleme einer Lehrstückübung mit dem Text der ‚Maßnahme‘“, in: Reiner Steinweg (Hg.): Brechts Modell der Lehrstücke. Zeugnisse, Diskussion, Erfahrungen, Frankfurt am Main 1976, S. 401. 25 Ebd., S. 38. 26 Vgl. Binnerts: Die Ausnahme und die Regel, S. 84. 85

Hanne Seitz: Was mit Theater in politisch bewegten Zeiten

unterwirft sich seiner Zwangslage. Sie verirren sich und die Hoffnung schwindet, die Ölquelle noch vor der nachfolgenden Karawane zu entdecken. Sie kämpfen um das nackte Überleben, doch selbst im Nirgendwo der Wüste setzt sich der Klassenkampf fort. Der Kuli reicht dem Kaufmann Wasser, weil er befürchtet, dieser könnte sterben und man würde ihn dann zur Rechenschaft ziehen. Der Kaufmann geht jedoch davon aus, dass der Kuli allen Grund hat, sich gegen ihn aufzulehnen und tötet ihn. Ein präventiver Akt, für den er vor Gericht freigesprochen wird, weil er zu Recht angenommen habe, der Kuli tut, was jeder in seiner Lage tun würde, nämlich sich des Unterdrückers zu entledigen. Man will also mit dem Lehrstück Theater machen, und darum gibt es in den Selbstversuchen mit der von Brecht immer wieder beschworenen Distanz anfangs auch die meisten Probleme. Die Textinterpretation war abgeschlossen und nun sollte es ans Improvisieren gehen, doch das Lehrstück wird viel zu realistisch gespielt – eben mit Einfühlung. So fühlt sich beispielsweise Praml, der die Rolle des Kaufmanns übernimmt, an seine klösterliche Laienspielzeit erinnert, wo er den mit Gewissensbissen gepeinigten Herodes zu spielen hatte – man kann es durchaus ‚Einfühlungsschmonzette‘ nennen. Bei dieser Herangehensweise ist der Text fast überflüssig, nurmehr Anlass für die Ausstellung von Gebärden und Gesten, jedenfalls alles andere als im Sinne Brechts, dem es doch gerade darum geht, „Gesten und Haltungen zum Zwecke der Interpretation der die Wirklichkeit bedeutenden Texte zu


Erster Akt: Darstellende Kunst mit Lehrlingen

der das Stück dann auch mit der Gerichtsverhandlung beginnt und die Wüstenszenen in der Art von Rückblenden dem Richter vorgespielt werden. Alle Figuren – Kuli, Kaufmann, Führer, Richter, Frau des Kulis, Wirt, Polizist und auch der Musiker – sind Clowns, deren Kostüme gleichsam modern und von Fellinis Film I Clowns (1970) inspiriert sind. Die Interpretation der Figur und deren Verhältnis zu den anderen geschieht nicht, wie bei Brecht, in der Wüste und dann im Gericht – die Manege wird vielmehr zu einer „zweiten Metapher“, innerhalb der man spielen und improvisieren kann, ohne ganz von der Interpretation abzukommen und doch eine Distanz zu ihr zu wahren. Der Clown erlaubt eine Distanz zur Interpretation, deren unmittelbare Verbindung mit dem Spiel die Truppe am Spielen gehindert hat: „Das erleichterte das Auffinden eigenen gestischen Materials, das nun auch eindeutig und kopierbar war.“27 Man führt ein Verfahren ein, wonach für eine Figur jeweils zwei Spieler Regie führen, man also wechselweise spielt und so an der Präzisierung der in den Improvisationen vorgebrachten Haltung arbeiten kann. Man kennt das mitunter böse Spiel aus dem Zirkus. Doch im Theater ist der Clown nicht der, der auf Kosten anderer Witze reißt, er ist auch der Melancholiker, der um die Problematik der Verhältnisse weiß – darum weiß, dass es keine Lösung gibt. Allerdings kann sein Verhalten die zugrundeliegenden Widersprüche zum Vorschein und auf den Punkt bringen. Der August als Prototyp des roten Clowns kann 86

sich nur darum alles erlauben, weil er den weißen Clown anerkennt, ihm also nicht widerständig begegnet, auch weil er in seiner Schläue, andere übers Ohr zu hauen, vor allem eines nicht ist: moralisch. Er braucht keinen Anlass für Streit, kann ohne logische Überleitung von einer Sache zur nächsten wechseln. Mit dem Clown bekommt das bei Brecht bis auf das Knochengerüst reduzierte Herr-Knecht-Verhältnis nun Körper, hat Fleisch, Blut und Nerven. Die Fantasie des Dummen August – so absurd und aussichtslos sie erscheinen mag – flieht vor dem, was unerträglich ist, und weist doch in ihrem Anderswo genau auf das hin, wovon sie Abstand nimmt – den unauflösbaren Widerspruch. Der Clown als Prinzip ist immer schon eine Form der Kritik. Mit ihm wird das Theater auf ganz andere Weise politisch: keine Aufklärung, sondern beißende Poesie und erkennendes Lachen. Der Trumpf, den der Clown in seinen Händen hält: Er bewertet nicht. Man könnte das Spielen in Gedanken sogar so weit treiben, dass das Lehrstück einen anderen Ausgang nimmt: Der rote Clown macht wie immer Dienst nach Vorschrift und stolpert bei der Wasserübergabe – ob zufällig oder absichtsvoll, er würde die Gelegenheit beim Schopf fassen und der weiße Clown von oben bis unten klatschnass und ganz schön dumm dastehen. Der rote Clown würde um den Gnadenschuss bitten, doch der Revolver funktioniert nicht mehr. Der Kampf ums Überleben würde für Augenblicke unterbrochen sein, die asoziale Grundhaltung – bei Brecht selbst in der Wüste zugegen – in die Schwebe kommen, der


Ein Lehrstück als Textvorlage kommt in der Praxis des Lehrlings­theater allerdings nicht zum Tragen. Man will an den Erfahrungen arbeiten, die Gesten herausschälen und dann die V-Effekte anwenden. Der Selbstversuch hat einmal mehr den Blick auf das Spielen als Grundlage der Theaterkunst geschärft. Zwar bringen die Lehrlinge immer wieder zum Ausdruck, wie sehr sie sich unterdrückt fühlen und darunter leiden. Dass sie aber gerade in der Anpassung eigensinniges Potenzial entwickeln, wird ihnen erst im Spielen so richtig bewusst: Sie passen sich an, weil sie müssen, aber ihre ‚Leistung‘, wenn man so will, besteht darin, die Schlupflöcher zu finden. „Diese Jugendlichen haben schon ihre Art gehabt, sich zu wehren – mit Verweigerung oder Nicht-Verstehen. Aber unauffällig. ‚Was machst Du denn da?‘ – ‚Ei, ich mach doch garnix.‘“29 Der Clown ist ihnen jedenfalls kein unbekannter Geselle.

27 Ebd., S. 121. 28 Ebd., S. 111. 29 Maier, „Es waren die Autoren“, S. 395. 87

Hanne Seitz: Was mit Theater in politisch bewegten Zeiten

Konflikt bis zum Ankommen der Rettung versprechenden Karawane ohne einen Toten zu überbrücken sein. Beide wüssten um ihr gegenseitiges Abhängigkeitsverhältnis und auch, dass sie bleiben, was sie sind: Kaufmann und Kuli. Das Ganze wäre allerdings mehr Zirkus als Theater, denn niemand müsste vor einem weltlichen Gericht erscheinen, bei dem die Ehefrau des Kulis Gerechtigkeit einklagt. Es gäbe keine Verhandlung darüber, ob der Kaufmann Schuld hat oder nicht – eine Entscheidung, in die man in einigen Aufführungen übrigens auch die Zuschau­­enden als Jury einbezieht. Das Stück wird in Frankfurt, Berlin und Rotterdam vor Hauptschul- und Sonderschulklassen, vor Lehrlingen und gewerkschaftlichen Jugendvertretern gespielt, auch Sozialarbeiter, Lehrer und sonstige Theaterinteressierte sind zugegen. Man betreibt Publikums­forschung, teilt Fragebögen aus, schreibt Aufführungsprotokolle, hält die Zwischenrufe und die regen Diskussionen im Anschluss an die Vorstellungen fest – auf diese Weise wird „das Publikum, das von den Spielern als Kontrollinstanz verwertet wird, zum Mitproduzenten der Lehrstückübung.“28 Was als Ausnahme und was als Regel zu verstehen ist, wird ganz unterschiedlich interpretiert – ein Lehrling fragt sich sogar, ob es etwas verändert hätte, wenn der Kuli in der Gewerkschaft gewesen wäre. Das Team nennt Brechts Reservoir an Techniken „Verfremdungskramladen“, und darin wird auch weiterhin gestöbert und reichlich Brauchbares gefunden.


Von ‚hoechster‘ Findigkeit oder die Kunst des Handelns

Erster Akt: Darstellende Kunst mit Lehrlingen

Nutzen aus dem Starken zu ziehen […], die Macht durch den Gebrauch der Umstände auf den Kopf zu stellen. (Michel de Certeau, 1980)

Hatte man am Anfang eher mit der ‚Lehrlingsavantgarde‘ zu tun – jungen Leuten, die also schon auf dem Weg zum ‚richtigen‘ Bewusstsein waren – so kommen zunehmend ganz normale, ihrem Alter entsprechend zwar aufsässige, aber kaum politisierte Lehrlinge in die Kurse. Hatte man zuvor mit hetero­ genen Gruppen der LAW Frankfurt gearbeitet, eröffnet eine längere Zusammenarbeit mit der IG Chemie bald neue Horizonte. Man beginnt, Bildungsurlaube für Auszubildende des Chemie- und Pharmaunternehmens Farbwerke Hoechst AG zu machen, jener sogenannten Rotfabrik, deren Weltruhm auf dem Fuchsin beruht, einem synthetisch hergestellten roten Farbstoff. Man lernt die Ausbildungsprobleme genauer kennen und erfährt werksinterne Geschichten. Maier erinnert sich: „Die Firmenleitung erfand mit dem Slogan ‚Hoechst Sozial‘ als fürsorglicher Familienbetrieb einen Lohn-Sondertarif für lernbehinderte Jugendliche, Kinder von Werksangehörigen. Sie waren billigere, für niedrige Arbeit universell einsetzbare Hilfsarbeiter, das war die Kritik der Gewerkschaft. Für uns aber wurden diese, mangels Status im Betrieb letztlich unsichtbaren 88

‚Idioten‘ vor allem interessant im Hinblick auf Öffentlichkeit. Sie kamen überall herum und wussten Sachen über die Firma, die ihnen niemand zugetraut hat. Wenn da einer von denen aufgetaucht ist, da hat sich dann niemand verstellt. Sie wussten auch vieles über die Subkultur, wo unerlaubterweise Geburtstage mit Alkohol gefeiert wurden, wer mit wem in der Mittags­pause vögelt, wie man an den Pförtnern vorbeikommt und bestimmte Waren oder Dienstleistungen gegen – sagen wir mal – Leberwurst aus dem Odenwald ausgetauscht wurden. Die hatten ein Spezialwissen und dieses Spezialwissen haben wir mit ihnen artikuliert und sie damit aufgewertet und das daraus entstandene Stück ‚Hoechst Asozial‘ war der erste richtige Skandal.“30 Es sind junge, auf der untersten Stufe der Betriebshierarchie stehende, billige Hilfskräfte, die in der Firma herumgeschickt werden und nur dann sichtbar werden, wenn sie Fehler machen. Sie haben ansonsten keinen Platz, durchstreifen Orte, an denen sozusagen immer schon jemand ist: der Meister, der Geselle, die körperlich oder sozial Benachteiligten stehen sogar noch unter dem ‚normalen‘ Lehrling. Man traut ihnen nichts zu, sie leisten entweder idiotensichere Dienste oder Drecksarbeit, die niemand interessiert. Wem man jedoch nichts zutraut – letztendlich allen Auszubildenden –, der kann sich manches leisten. Und manchmal geht dabei auch die Fantasie durch. Praml erzählt, wie einer der Lehrlinge aus Hoechst beim Abendessen in der Bildungsstätte – er ist gerade dabei, sich eine Blutwurststulle zu schmieren – zum Gelächter aller recht


sie Gelegenheiten auf, die eine unverrückbare Sachlage momentan verrückt – man wird davon kein Brot kaufen und auch keine Revolution machen können, aber doch einen kleinen Sieg davontragen. Certeau spricht in diesem Zusammenhang von uralten Intelligenzen, die als Camouflage auch im Tierreich vorkommen – eine Heuschrecke beispielsweise, die sich der Farbe des Astes anpasst, um ihre Haut vor Fressfeinden zu retten. Der Mensch hat sich dieses Phänomen buchstäblich zu eigen gemacht, die Fähigkeit, sich in einen anderen zu verwandeln, weiterentwickelt, was als Mimesis in der Theaterkunst natürlich zur Höchstform aufläuft.31 Solcherart Verstellungskunst bringen auch die Lehrlinge auf die Bühne, wenn sie beispielsweise ihre List und Findigkeit im Betriebsalltag zeigen und dabei – ganz ohne Rollenspiel – ihre ‚Alltagsexpertise‘ zum Besten geben. In seiner unnachahmlichen Art erzählt Scotch Maier in seinem „Nachruf“ auf das Lehrlings30 Ebd., S. 394 f. Es bleibt bei der Werkstattaufführung vor Jugendlichen, Lehrern, Gewerkschaftlern und Bildungsleuten in Dietzenbach, denn die Firmenleitung hatte Beschwerde beim hessischen Sozialminister Armin Clauss eingelegt, der dann – gegen den Protest der Dietzen­ bacher – auch anordnet, es dürfe keine öffentliche Aufführung und schon gar nicht mit einem Titel wie ­Hoechst-Asozial geben. Um das Hoechst-Projekt insgesamt nicht zu gefährden, verzichtet man darauf. Inhaltlich leicht verändert und unter dem Titel Die Hö(e)chst-­ Familie oder Es geht alles von oben nach unten ist es 1975 aber dann doch in Hoechst aufgeführt worden. 31 Vgl. Anmerkung 3. 89

Hanne Seitz: Was mit Theater in politisch bewegten Zeiten

vollmundig erzählt, wie er ein ausrangiertes, vom roten Farbstoff durchtränktes Laborschwein heimlich mit nach Hause in den Odenwald schleppt, um es in der Wurstküche zu verarbeiten und am nächsten Tag dann genüsslich zuzusehen, wie sich der Meister über die Hausmacher hermacht – selbstredend eine Blutwurst. Auch wenn sie es nicht auf die Bühne bringen wollen, zeigt die Geschichte, dass sich die jungen Leute den Verhältnissen nicht nur ausgeliefert fühlen. Den Auftrag, dem Meister selbst privat zu Diensten zu sein, können sie nicht verweigern, ihn aber mit ‚hoechster‘ Sorgfalt ausführen – ein subversives Gedankenexperiment, das die verseuchten Labortiere und damit jene chemischen Substanzen im Blick hat, mit denen das Pharmaunternehmen Milliarden verdient. Auf eine solche Fantasie muss man erst einmal kommen. Die Geschichte lässt an jene Würdigung denken, die Michel de Certeau in seinem Buch Die Kunst des Handelns (1988) dem ‚gemeinen Manne‘, wie man früher die einfachen Bevölkerungsschichten nannte, zukommen lässt. Er setzt den Praktiken der Machtlosen – nämlich der Arbeiterklasse – buchstäblich ein Denkmal. Im Unterschied zur Strategie der Mächtigen, die den Raum besetzen und feste Strukturen aufbauen, spricht er von der Taktik der Abhängigen, die in Ermanglung eines eigenen Ortes den Ort des Anderen aufsuchen. Sie wildern buchstäblich in den Zwischenräumen der Ordnung, ihr Handeln kann daher vom strategischen Denken auch nicht dingfest gemacht und vereinnahmt werden. Im Gebrauch der Umstände spüren


Erster Akt: Darstellende Kunst mit Lehrlingen

theater folgende Geschichte: Der Geselle hatte den Lehrling angeschnauzt, weil er zu langsam war, dieser aber nur deshalb langsam ist, weil ihn der Auftrag anödet und er eigentlich lernen will, wie man Zündung und Vergaser einstellt, aber nun zum hundertsten Mal den Ölwechsel machen muss – eine von allen gehasste Arbeit, weil man sich an der Blechkante der festsitzenden Ablassschraube leicht verletzen kann. „Wir sehen einen Tisch, der das Auto darstellt. Auf dem Tisch der Geselle, der im Motorraum fummelt, unter dem Tisch der Stift, der mit seinem geöffneten Werkzeugkasten dasitzt, einen Comic liest und schreit, er kriegt die Schraube nicht los, sie sitzt zu fest. Fluchend steigt der Geselle unter das Auto, reißt sich, wie erwartet, die Hände blutig, brüllt. Der Lehrling steht da, hat schon den Verbandskasten in der Hand und sagt: ‚Schwer, gell?‘ Der Geselle lässt sich die Hand verbinden und merkt plötzlich, daß er verarscht worden ist. Er will dem Stift, der grinst, eine Ohrfeige geben, aber der zeigt stumm auf die Arbeitskarte. Die Zeit drängt. Jetzt muss der Geselle, der seine Hand nicht mehr richtig bewegen kann, dem Stift beibringen, wie man Vergaser und Zündung einstellt.“32 Aus dem, was anfangs vielleicht unter dem Stichwort „Hierarchie im Betrieb“ eine Improvisation war, wird eine ausgefuchste, vom Publikum belachte und gewürdigte Szene – der Weg dahin ist für Maier das, was im Kern das Lehrlingstheater ausmacht. Es stellt sich natürlich die Frage, woher die Findigkeit eigentlich rührt, die am Arbeitsplatz zur Anwendung kommt. Sie kann ja nicht 90

allein dort ‚geschult‘ worden sein, sondern ist wie das gesamte Denk- und Handlungsvermögen – schlicht alles, was die Identität eines Menschen, seine Vorlieben, Abneigungen und Wünsche prägt – durch Herkunft, Familie, Peergroups und zunehmend auch durch die Medienkultur bestimmt. Man denke an die TV-Familienserie Acht Stunden sind kein Tag (1972/73) von Rainer Werner Fassbinder, die erstmals im proletarischen Milieu spielt und in Szene setzt, dass es noch ein Leben nach der Arbeit gibt, auch die Familie Probleme und Ärger verursacht und daher das Leben vorzugsweise den Kumpels, dem Fußball und der Kneipe gehört – im Ruhrpott dann natürlich auch gerne der Taubenzucht. Man interessiert sich in der Theaterarbeit mehr und mehr für das, was die jungen Leute außerhalb von Schule und Berufsausbildung im Alltag und im gewöhnlichen Leben tun, um auszubilden, was man zweifellos Arbeiterkultur, aber durchaus auch Klassenbewusstsein nennen kann – vielleicht nicht immer so bewusst, wie man es sich wünschen würde.

Gastierende Gastarbeiter oder Von der Straße auf die Bühne We don’t need no education, We don’t need no thought control. (Pink Floyd, 1979)

Von einer Recherchereise nach England bringt Scotch Maier Learning to Labour (1977) mit, ein gerade


Milieus der jungen Leute zum Ausgang nehmen. Eine Gelegenheit dazu gibt es schon bald, nämlich im nahe dem Frankfurter Hauptbahnhof gelegenen GallusViertel, das schon damals einen fast fünfzigprozentigen Ausländeranteil hatte. Dort hatte eine Studentengruppe in einer ehemaligen Autoglaserei in der Krifteler Straße ein offenes Zentrum gegründet, das überwiegend von ausländischen Jugendlichen besucht wird. Seit geraumer Zeit gibt es Konflikte mit einer Clique italienischer Jungen, die meist auf der Straße herumlungern, das Zentrum entdecken und wie eine zweite Heimat besetzen – eigentlich dritte, denn als Kinder der ersten Gastarbeitergeneration kennen sie ihre Heimat nur vom Urlaub und in der zweiten, nämlich in Deutschland, fühlen sie sich nicht zu Hause. Sie haben Probleme mit den Eltern, der Schule; wer Glück hat, schafft den Abschluss, wird Briefträger bei der Post und manch einer weiß auch, wie man ‚Geschäfte‘ macht. Sie waschen Teller in der Pizzeria und sind sicher, dass sie später einmal selber eine betreiben werden. Anders als vielleicht zu erwarten wäre, sind es keine verschüchterten ‚Weicheier‘, sondern schlagfertige, gut angezogene Kerle mit italienischen Mokassins an den Füßen und einer Goldkette mit Kreuz am Hals, die gerne deutsche Mädchen aufreißen und die eigene Schwester unter der Knute halten. Sie sind wie die Lads, machen reichlich Theater und nutzen jede Gelegenheit, um sich selber darzustellen und buchstäblich Theater zu 32 Maier: „Lehrlingstheater“, S. 32. 91

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erschienenes, aufsehenerregendes Buch von Paul Willis. Die breitangelegte Studie über männliche Arbeiterjugendliche in Birmingham bestätigt aus kulturwissenschaftlicher Perspektive, was man in Dietzenbach und Berlin seit geraumer Zeit beobachtet hat: ein oppositionelles Verhalten, das alles andere als auf den gesellschaftlichen Umsturz zielt, sondern Spaß am Widerstand hat – so lautet dann auch der deutsche Buchtitel. Die sogenannten Lads rebellieren im Klassenzimmer, widersetzen sich schulischen Autoritäten, verweigern das vorgeschriebene Lernpensum und bilden in ihrer Abgrenzung ein subkulturelles Verhalten aus, mit dem sie einen eigenen Lebensstil und eine besondere Form von Männlichkeit herausbilden: Sie legen ein oft überhebliches, rassistisches und sexistisches Verhalten an den Tag, üben sich in manuellen und technischen Geschicklichkeiten, im ‚Organisieren‘ von Dingen und im Gebrauch von sich bietenden Gelegenheiten. Man könnte es auch Rückeroberung der durch die Schule abgespaltenen Emotionalität und unterdrückten Fantasie nennen. Die Lads verweigern noch so gutgemeinte Bildungsangebote, bilden sich durch ‚learning by doing‘ quasi selbst und machen sich zu eigen, was sie im späteren Arbeitsleben brauchen. Es sind sinnstiftende, kollektive Praktiken einer autonomen Arbeiterkultur, in der sie sich positionieren und im späteren Arbeitsleben behaupten können, denn sie landen wie ihre Väter am Ende unweigerlich in unqualifizierten Jobs. Dies vor Augen will man in der Theaterarbeit nun mehr die alltäglichen Gewohnheiten und subkulturellen


Erster Akt: Darstellende Kunst mit Lehrlingen

spielen. „Als Sizilianer und Süditaliener verfügen die meisten über ein breites Repertoire von gestischen und pantomimischen Ausdrucksmöglichkeiten, die sie gerne benutzen.“33 Und so reisen fünfundzwanzig süditalienische Machos mit Brian Michaels, einem der Gruppenleiter, zu einem Theaterworkshop nach Dietzenbach, wo die Integrationsproblematik und die Tatsache, zwischen zwei Welten zu stehen, als Thema in das Stück Qui e La – Hier und Dort (1978) fließt, welches in der Jugendbildungsstätte Premiere feiert und mit einer Aufführung im legendären Saalbau Gallus – wo ehedem der epochale Auschwitz-Prozess stattgefunden hatte – in den angestammten Stadtteil der italienischen Akteure zurückkehrt. Die weiblichen Rollen übernehmen deutsche Mädchen, weil Italienerinnen in ihrer Gruppe gar nicht erst zugelassen sind. Die Tragik der Eltern, nach zwei Jahren in die Heimat zurückkehren zu wollen und stattdessen aber zu bleiben, wird ihnen erst in der Theaterarbeit deutlich, und doch gelingt es ihnen, das Ganze komödiantisch zu wenden. Die rebellische Mentalität, der ausdrucksstarke Gestus und das spielerische Talent dieser jungen Männer bringt eine neue Dynamik nach Dietzenbach. Sie nennen sich Il Teatro Siciliano, sind das erste Immigrationstheater Deutschlands und werden im gleichen Jahr zum Jugendtheaterfestival Interdrama nach Berlin eingeladen. Ihr Sprachstil ist Kult: „Isch – sto molto bene. Die Auto von meine Chefe fährte langsame alse die Onda von mire.“ Auf der Bühne führen sie dann beim Kurzurlaub auf 92

Sizilien mit stolzer Brust den staunenden Cousins, Onkeln, Tanten und Großeltern den nagelneuen Mercedes vor, doch es stellt sich schnell heraus, dass sie ihn kurz zuvor einem deutschen Touristen geklaut hatten. Es folgen weitere Stücke wie etwa Bienen-Strich (1979), eine szenische Studie über die Frankfurter Halbwelt und ihr Drogenmilieu. Das Zentrum wird bald Gallus Theater genannt und bietet auch anderen freien Gruppen eine Bühne. Mit Pramls Unterstützung professionalisieren sich einige und gründen I MACAP, seinerzeit eine der bekanntesten Theatergruppen der Republik. Wo sie auftreten, tobt der Saal, der Weg zur Volkskunst, zur Commedia dell’Arte ist gebahnt – typisierte Figuren mit festgelegten Eigenschaften, die aus dem Stegreif spielen und mit dem Publikum interagieren – allen voran die der Unterschicht zugehörigen Zanni. Und was ihre frühen Wünsche betrifft: Nicht wenige aus der alten Truppe betreiben heute eine Pizzeria oder ein italienisches Restaurant, sogar in städtischer Toplage mit angegliedertem Hotel – einer von ihnen hat es nicht im wirklichen Leben, dafür ins Fernsehen geschafft, wo er über viele Jahre hinweg den Restaurantchef in einer TV-Serie spielt. Mit den gegenwärtig weltweiten Migrationsströmen und Fluchtbewegungen steht die Frage nach Heimat dann erneut ins Haus. Praml greift das alte Thema in dem Stück zurückGEHEN oder hierBLEIBEN. HEIMAT? (2023) mit syrischen Geflüchteten abermals auf und bringt es in der Naxoshalle zur Premiere. Die Fremden kommen heute


sprechen mitunter schwerfällt. Die Dichterworte mögen fremd anmuten und dem Verstand nicht immer eingänglich sein, doch ihre poetische Ausdruckskraft – zumal szenisch gestaltet und musikalisch begleitet – generiert eine andere Art Verstehbarkeit. Sie hat weniger mit Bedeutungssuche als mit Sinnstiftung zu tun und erreicht dann sogar Menschen, die der deutschen Sprache nicht mächtig sind. Doch es wird noch dauern, bis Schubert oder Schönberg, Euripides oder Kleist als fremde Ebene in die Theaterprojekte eindringen, die jungen Leute – neben ihren eigenen Erzählungen – mit Stoffen angeregt werden, die sie nicht selbst hervorgebracht haben. Das Lehrlingstheater musste erst verabschiedet werden und zunächst der ‚Volks-(Kunst) Erkundung‘ auf dem Land den Weg bereiten.

33 Jutta Kessler-Stantzsch/Brian Michaels/Willy Praml: „Von der Straße auf die Bühne? Theaterprojekte mit ausländischen Jugendlichen“, in: Lothar Böhnisch u. a. (Hg.): Abhauen oder Dableiben. Berichte und Analysen aus der Jugendarbeit, München 1980, S. 218. 34 Michael Kelbling/Willy Praml: „Politische Bildung und Theaterarbeit“, in: Benno Hafeneger (Hg.): Handbuch politische Jugendbildung, Schwalbach 1997, S. 276. 93

Hanne Seitz: Was mit Theater in politisch bewegten Zeiten

allerdings nicht aus ärmlichen Verhältnissen und mit einer Zugfahrkarte in der Hand aus Sizilien angereist, sondern sind vor einem jahrelangen Krieg und unter lebensbedrohlichen Umständen auf einem teuer bezahlten Schlauchboot nach Deutschland geflohen, wo weder Willkommensgrüße noch Arbeit warten und der Besuch in der Heimat auf unabsehbare Zeit ausgeschlossen ist. Kein Stoff für eine Komödie, eine Tragödie eher, allerdings ohne Katharsis – ein Trauerspiel, in dem die Geflüchteten von ihren Erlebnissen Bericht erstatten. Doch Praml stellt ihren Worten romantisches Liedgut zur Seite – gesungene Melancholie, die auf tröstende Weise die Sinne befällt. Flüchtlingsdrama und deutsche Romantik – es geht tatsächlich zusammen. Schon zu Dietzenbacher Zeiten hatte man geahnt, dass mit den Integrationsproblemen der Zugewanderten auch „innergesellschaftliche Desintegrationsprobleme“ entstehen und die Gewaltbereitschaft zunehmen wird – die mangelnde Konfliktforschung vor Augen und sein Bücherregal im Blick bemerkt Maier, dass die „Dichter auf ihre unpraktische, aber anregende Art da manchmal weiter sind“.34 Man gedenkt, die Erfahrungswelt der jungen Leute mit den jahrtausendealten Geschichten von Medea oder Ödipus anzureichern, den Nibelungenstoff in den sozialen Brennpunkt von Frankfurt zu bringen – Grenzsituationen wie Gewalt und Tod, Ausgrenzung und Vereinsamung in welthaltige, universell gültige Bilder und Texte zu übersetzen, um auf diese Weise Themen zu bearbeiten, über die zu


Das Ende der wilden 1970er Jahre und was darauffolgt

Erster Akt: Darstellende Kunst mit Lehrlingen

Wir flaggen unsere Traumschiffe mit den buntesten Fahnen und segeln in den Süden davon – zum Strand von Tunix. Die Maulkörbe schmecken uns nicht mehr und auch nicht mehr die plastikverschnürte Wurst. (Aufruf zum Tunix-Kongress, 1978)

Pramls Theaterverständnis baut auf dem, was er bei den Pfadfindern gelernt und erprobt hatte: die Befreiung der Fantasie mittels des von Friedrich Schiller sogenannten Spieltriebs. Von Anbeginn geht es darum, die Experimente in der Bauhütte in eine Form zu bringen, dramaturgisch aufzubereiten, einem Publikum darzubieten und mit ihm in Dialog zu treten. Der Zufall will es, dass er und Maier als Leitungsteam einspringen und die Lehrlinge von der Post sie in ein unbekanntes Milieu führen – in die Welt der körperlichen Arbeit, wo das Theater der Emanzipation gleich einer ganzen Klasse dienen soll. Auch wenn an so manch skurriler Blüte des Lehrlingstheaters die ideologisch geprägte Wetterlage der 1970er Jahre abgefärbt hat, Praml ist der linksliberale Humanist geblieben, der er seit jenen Tagen im Klosterinternat zu werden begonnen hatte. Er spürt in der proletarischen Erfahrungswelt Potenziale auf, mit denen die Lehrlinge nicht nur ihre Lage reflektieren, sondern sich auch Räume der Fantasie und damit Freiheit erspielen. Auch wenn das Resultat künstlerisch nicht immer überzeugend gewesen sein mag, es hat 94

ihnen über das eigene Milieu hinausgehende öffentliche Aufmerksamkeit bereitet. Man musste einfach, so Praml, „diesen jungen Leuten zuhören, weil sie etwas zu sagen haben oder einfach nur, weil sie eine solche Ausstrahlung haben“.35 Doch am Ende des Jahrzehnts ist es um die Arbeiterklasse still geworden. Die zweite Ölkrise steht bevor, die wirtschaftliche Entwicklung stagniert, Arbeitslosigkeit steht ins Haus. Von schlechten Arbeitsbedingungen ist keine Rede mehr, man ist froh, überhaupt eine Lehrstelle zu finden beziehungsweise einen Arbeitsplatz zu haben. Der Stellenwert der Lohnarbeit schwindet, nicht wenige bemühen sich, auf dem zweiten Bildungsweg voranzukommen. Die Menschen suchen sich außerhalb fester Beschäftigungsverhältnisse sinnstiftend zu betätigen: Man verausgabt sich nicht mehr in der Arbeit, sondern von nun ab in der Freizeit: Wir amüsieren uns zu Tode (1985), wie es Neil Postman etwas sarkastisch formuliert. Mit dem technischen Fortschritt und der Automatisierung der Produktion geht der Arbeitsgesellschaft buchstäblich die Arbeit aus; ganze Industriezweige schließen, Dienstleistungsunternehmen sprießen aus dem Boden und mit ihnen – quasi als neues Proletariat – ‚Servicekräfte‘, denen allerdings das Selbstbewusstsein der alten Arbeiterklasse fehlt. Für Praml ist jedenfalls Schluss mit lustig und „proletarischem Vaudeville“. Der wider­­ ständige Geist ist dahin – von Arbeiteraufbruch keine Spur. Und nur am Rande sei erwähnt, dass etwas davon gegenwärtig auf ganz andere Weise aufzuflackern


sembles ihren Erinnerungen nach, blicken auf die Hoffnungen, die der technische Fortschritt ehedem geweckt hatte, um in der Kybernetik nurmehr ein arbeitsplatzfressendes Ungeheuer zu sehen – Desillusionierung pur. Die Öl-Raffinerie gleicht heute einer Smart-Factory, der – infolge des Ukraine-Kriegs und des Russlandembargos – nun das Schwarze Gold ausgeht. Kein Wunder, dass der Stoff in der Inszenierung Und jetzt? (2022) von René Pollesch an der Berliner Volksbühne mit Franz Beil, Milan Peschel und Martin Wuttke buchstäblich verbraten wird: Sie spielen die Spieler des Arbeitertheaters, die gerade Winterlichs Stück proben und bringen angesichts all der tragischen Irrtümer die irrwitzigsten Slapsticks und Wahrschein35 Praml: „Mission“, S. 15. 36 Heiner Müller will, so ist in seiner Biografie zu lesen, „aus Scheiße Gold“ machen, doch der Parteifunktionär meint, die „rauhe Wirklichkeit“ hätte in der Kunst nichts zu suchen. Die Szene, in der sich der Betriebsdirektor mit einem Kreislaufkollaps vor einer Entscheidung drückt, wird also gestrichen. Das Stück sei, so Müller, ein Flop gewesen – zudem ein gescheiterter „Versuch in Opportunismus“. Im Anschluss an eine Aufführung im Berliner Glühlampenwerk NARVA hätte der Vorsitzende des Freien Deutschen Gewerkschaftsbundes (FDGB) – quasi im Separee – zu Imbiss und Kognak eingeladen und der Generaldirektor einen Toast ausgesprochen: „Wir wissen ja alle, dass es ganz anders ist, aber ihr habt das wirklich sehr schön dargestellt“. Vgl. Heiner Müller: Krieg ohne Schlacht. Leben in zwei Diktaturen, Frankfurt am Main 2016 [1992], S. 188 ff. 95

Hanne Seitz: Was mit Theater in politisch bewegten Zeiten

scheint. Rechtsgesinnte, antidemokratische Protestbewegungen marschieren gegen ‚die da oben‘, selbst in der Mittelschicht, im akademischen Milieu wird Politikern der Garaus gemacht – Enttäuschung und Desillusionierung melden sich zu Wort. Vor diesem Hintergrund ist es höchst erstaunlich, dass ausgerechnet jetzt und noch dazu im Theaterbetrieb das proletarische Theater wiederentdeckt wird. Der Schauspieler und Autor Gerhard Winterlich hatte zu DDR-Zeiten sein Stück Horizonte (1968) nach dem Modell von Shakespeares Sommernachtstraum mit dem Arbeitertheater des Petrolchemischen Kombinats Schwedt auf die Bühne gebracht. Es geht um die neuen, selbstregulierenden Systeme in jener gigantischen Fabrikanlage, deren „Druschba“ als weltlängste Pipeline das Öl von Sibirien bis Schwedt befördert und deren EDV und Kybernetik die IG Farben geradezu alt aussehen lässt, den Werktätigen aber neue Horizonte eröffnet. Das Stück wird im DDR-Fernsehen ausgestrahlt und mit Preisen bedacht, die Textvorlage zur Eröffnung der Intendanz von Benno Besson an der Berliner Volksbühne von Heiner Müller neubearbeitet und unter der Regie von Besson als Waldstück (1969) dann von den Volksbühnenprofis zur Aufführung gebracht – zum Ärger von Winterlich und des Schwedter Theaterkollektivs.36 Gut ein halbes Jahrhundert später gehen in dem von der andcompany&co inszenierten Stück Neue Horizonte: Eternity für alle! (2020) die inzwischen altgewordenen Mitglieder des ehemaligen Arbeiteren-


Erster Akt: Darstellende Kunst mit Lehrlingen

lichkeitsrechnungen auf die Bühne. Wer weiß, vielleicht erlebt Mensch Meier auch ein Comeback: In die Jahre gekommene ehemalige Lehrlinge gehen ihren Erinnerungen an die mancherorts sogar Epochenwende genannte Umbruchszeit nach, um zu erforschen, was davon in die Gegenwart reicht – nach dem Motto ‚das Lehrlingstheater ist tot, es lebe das Lehrlingstheater‘. Die Zeiten dafür stehen derzeit nicht schlecht. Mit Auslauf der 1970er Jahre konnte man in Dietzenbach jedenfalls keinen Lehrling mehr hinterm Fließband hervorholen; die auf Betriebsarbeit ausgerichteten Bildungsurlaube drohen wegen mangelndem Interesse auszufallen. Klassenunterschiede sind kein Thema, das Bildungsanliegen sieht sich einem neugearteten Subjektivitätsempfinden ausgesetzt, welches querbeet alle Schichten erfasst. Es geht nicht mehr um die gesellschaftlichen Verhältnisse – die Selbstverwirklichung ist nun Gegenstand der Erfahrung. Heute weiß man, wohin es geführt hat: Andreas Reckwitz spricht von der Gesellschaft der Singularitäten (2017). Man hatte damals immer mehr auf Differenzierung, auf Die feinen Unterschiede (1979) gesetzt, wie sie Pierre Bourdieu herausgearbeitet hat. Auch in der Bildungsarbeit will man den unterschiedlichen Lebenswelten und den damit verbundenen Erfahrungen Rechnung tragen: Wer in der Fabrik im Akkord arbeitet, spielt im Dorf womöglich ‚erste Geige‘, steht der Jugendmannschaft als Fußballtrainer bevor oder hat es als Henna-Meisterin in der türkischen Community zu Ehren gebracht. Von den Lehrlingen, 96

die in Hoechst am gleichen Fließband stehen, kommen die einen aus der traditionsreichen Arbeitersiedlung in Zeilsheim, die anderen aus Apulien oder Anatolien und dann noch die aus dem Odenwald oder Hintertaunus, wo die ehemaligen Bauern nach Hoechst pendeln und nicht selten als ungelernte Hilfsarbeiter in den Farbwerken malochen – kein Wunder, dass sich Praml nun für den ländlichen Raum interessieren wird. Die Zeit, in der sich Lehrlinge unter quasi internatsähnlichen Bedingungen eine Woche lang im Theater betriebs- und ausbildungsbezogenen Bildungsurlaub machen, ist jedenfalls vorbei und macht den Weg frei für eine neue Theaterära – die Dorfkulturarbeit. Die Bildungsstätte dient Praml ab den 1980er Jahren weitgehend als Labor, wo die Eindrücke und Fundstücke vom Land unter die Lupe genommen werden oder bizarre Theaterexperimente mit Buffons stattfinden – jene von Lecoq geprägten, seltsamen Wesen, anarchische Familienbanden mit festgelegtem Interaktionscode, minimalem Gestus und grotesk deformierten Körpern, die den Maulwürfen näherstehen als der Menschenordnung. Anders als der Clown, über den wir lachen und der über sich selbst lacht, macht sich der Buffon als Teil einer verschworenen Clique über uns lustig. Damit ist dann auch nicht zu spaßen, vor allem, wenn die Französische Revolution wie in dem Stück Sich aber nicht zu fühlen ist der Tod (1984) zur Verhandlung ansteht. Praml zieht es jedenfalls ins Dorf, wo er im Goldenen Grund angewandte Ethnologie betreibt, die Geschichte und dazugehörigen Geschichten


Auf die zehnjährige Arbeit mit Lehrlingen folgt ein Jahrzehnt Dorfkulturarbeit. Danach wird Praml zusammen mit dem Schauspieler und Bühnenbildner Michael Weber das Ensemble Theater Willy Praml gründen und sich zehn Jahre lang – die Bildungsstätte noch bis zum Jahre 2000 in der Hinterhand – auf hohem Niveau ‚herumtreiben‘, bis er kurz vor Beginn des neuen Millenniums eine leere Fabrik entdeckt, die er, seiner linken Gesinnung folgend, quasi besetzt und zusammen mit Weber, Birgit Heuser und Ruth Schröfel vor dem Abriss bewahrt. Es ist jene Halle, die er nun schon bald ein Vierteljahrhundert bespielt und die kurioserweise Naxos heißt – der Name jener Insel, auf der, wie überall im antiken Griechenland, kultische Feste zu Ehren des Dionysos gefeiert wurden und später daraus die antiken Tragödien und Komödien hervorgegangen sind. Es ist aber auch die Insel, auf der jener Gott der Verwandlung im Liebesrausch die von Theseus verlassene Ariadne von ihrem Leid erlöst – nicht umsonst trägt er den Beinamen Lyaeus, der Sorgen-

brecher. Dionysos – meist mit lärmendem Gefolge unterwegs, weswegen man ihn auch Bacchus, den Rufer, nennt – hat Ariadnes Sorgen vermutlich in Wein getränkt. Ein solcher sprudelt nämlich aus dem Fels, wenn er und seine Mänaden mit dem Thyrsos darauf schlagen – jenem efeu- und weinblattumkränzten Fenchelstab mit Pinienzapfen an der Spitze. Auch Praml mit seinem umtriebigen Team ist so eine Art Sorgenbrecher; nur löst er die Probleme nicht, sondern bricht sie auf – den Räumen dazwischen auf der Spur – und geht dabei gelegentlich auch nicht gerade zimperlich vor. In den Proben werden manche, wie ehedem die Lehrlinge auch, mitunter kräftig angeraunzt: „Saglzement! Ah geh, soan Schmarrn, des is a nix. Wie komt’s auf sowas?“ Der Wind muss zuweilen in die Probleme fahren, damit sie sich neu setzen und man anders draufschauen kann. Das rauschende Fest gibt es jedenfalls erst nach der Premiere. Was Praml in Jahrzehntsprüngen zu immer neuen Horizonten treibt, ist ein Wunsch, den er insgeheim seit jenen Tagen hegt, als die verrückten Theaterleute im Bernlochner ein- und ausgingen: ein eigenes Theaterhaus. Er hat – nicht als Theaterpädagoge, sondern als Theatermacher, wie er nicht müde wird zu betonen – die politische Jugendbildungsarbeit vorangebracht, zweifellos ‚was mit Kunst‘ gemacht und damit auch dem Bildungsanliegen des Theaters neue Inhalte und Formen gebracht. In der Naxoshalle führt er nicht nur Schauspiele auf, die noch lange nicht zu Ende erzählt sind, er bringt immer noch und immer wieder – 97

Hanne Seitz: Was mit Theater in politisch bewegten Zeiten

ausgräbt und Sven Lindqvists „Gräv där du står“ gleichsam zu seinem Mantra macht. Grabe, wo du stehst. Statt Brainstorming gibt es Erzählcafés und monatelange Spurensuche, auf deren Funde wie immer die Improvisationen bauen – nur wird der Abstand von der Kunst des Schauspiels immer kleiner, die „Experten des Alltags“, wie man sie heute nennt, beginnen großes Theater zu machen. Praml nimmt gleich ein ganzes Dorf zur Bühne.


Erster Akt: Darstellende Kunst mit Lehrlingen

wie seinerzeit im Lehrlingstheater – Erzählungen auf die Bühne, von denen bis dato niemand gehört hat oder nicht hat hören wollen. Für Praml kann Theater mehr zeigen, als es das Leben kann: „Vom Leben weiß man vielleicht erst, wenn man es gelebt hat. Das Theater kann, schon bevor man das Leben vollendet hat, etwas hervorbringen, was man noch gar nicht weiß.“37

37 Praml: „Für mich ist Theater“, S. 282. 98


Faust 1 & 2 in der Paulskirche (1994), Foto: Holger Peters

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Faust 1 & 2 (1994), Foto: Holger Peters


Faust 1 & 2 (1994), Foto: Holger Peters

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Nibelungen (1996 Gallustheater), Foto: Marion Müller


Ursula Lillig und Reinhold Behling in Nibelungen (1996 Gallustheater), Foto: Katrin Schander

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Lolita-Park nach Vladimir Nabokovs Roman (1997 Tiefgarage Adlerwerke), Foto: Herbert Cybulska


Birgit Heuser in Yukio Mishimas Patriotismus in der Alten Hafenschmiede (1998 Honsellbrücke, Frankfurt am Main), Foto: ­Katrin Schander

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Yukio Mishimas Patriotismus in der Alten Hafenschmiede (1998 Mousonturm Honsellbrücke), Foto: Katrin Schander


Patriotismus (1998 Mousonturm Honsellbrücke), Foto: Katrin Schander

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Patriotismus (1998 Mousonturm Honsellbrücke), Foto: Katrin Schander


Zweiter Akt Darstellende Kunst mit dem Dorf


Politische und Kulturelle Bildung in ländlichen ­Räumen Von Kristin Westphal


So müssen wahrhafte Erinnerungen viel weniger berichtend verfahren als genau den Ort bezeichnen, an dem der Forscher ihrer habhaft wurde. (Walter Benjamin: Ausgraben und Erinnern)

Grabe, wo Du stehst – hinter dieser programmatischen Aussage, die anlässlich des 80. Geburtstags und 30 Jahre Theaterschaffens an der umkämpften Spiel­­ stätte Naxoshalle aufkam, dürfte mehr verborgen sein. Vorreiter war Willy Praml in vielerlei Hinsicht – im Besonderen, wenn es darum geht, mit den Mitteln des Theaters zu graben. Dazu gehört die Entwicklung in den 1980er Jahren, Theater in ländliche Räume zu tragen, Spurensuche zu betreiben, die Themen beziehungs­­­weise Spannungsverhältnisse an den Orten in historischer wie aktueller Perspektive für eine zeitgenössische Theaterarbeit aufzugreifen. Dorftheater trifft Welttheater! Oder anders ausgedrückt: Lokales und – heute würde man sagen – Globales, Stadt und Land, zusammen zu denken, findet hier erste Anfänge in einer Zeit der Umbrüche, wie sie für die Landwirtschaft bereits in den 1950er Jahren einbrach, sich zunehmend verschärfte und im Zuge einer Flurbereinigung Verlust an Autonomie und Mitbestimmung durch Zusammenschließung von Gemeinden, Landflucht und für etliche

Zurückgebliebene die Aufgabe von Selbstständigkeit und ein Pendler-Dasein zur Folge hatte. Willy Praml gehört zu jenen Theatermacher*­ ­innen, die Historisches, Politisches und Kulturelles im Dorf-Theater zusammenzubringen wussten. Zu erwähnen ist, dass diese Arbeit in eine Zeit (der Restauration und ökonomischen Funktionsentleerung des Dorfes) fiel, in der Jugendliche angesichts erstarrter Verhältnisse, so Detlef Lecke, „geschichtsfremd“ und verbunden mit einer Perspektiv- und Sprachlosigkeit aufwuchsen und auf eine ältere Generation stießen, denen es eher um die Bewahrung der Tradition und häufig auch der Verdrängung der Schattenseiten ihrer Erinnerung an die Dorfgeschichte ging.1 Eine Herausforderung für ein Dorf-Theater als Kulturarbeit lag dabei in der Beteiligung und Einbind­­­ung der Ortsansässigen, denen für eine Spurensicherung durch und mit Theater – begleitet von einem Erzählkreis – ermöglicht werden sollte, einen anderen Blick auf ihr Dorf, auf ihre Herkunft, auf ihre kulturellen Praktiken (Kirmes) und Lokalgeschichten (Die Nirrerländer) und auf die eigene gegenwärtige Situation zur Frage „Abhauen oder Bleiben?“2 zu erfahren. 1 Vgl. Detlef Lecke: „Abhauen oder bleiben? Stichworte zur Jugendarbeit auf dem Land“, in: Lothar Böhnisch/ Richard Münchmeier/Ekkehard Sander (Hg.): Abhauen oder bleiben? Berichte und Analysen aus der Jugendarbeit, München/Zürich 1980, S. 234 – 245, hier: S. 242 – 243. 111

Kristin Westphal: Politische und Kulturelle Bildung in ländlichen Räumen

Das Dorf-Theater als Ort des Erinnerns und der Wahrnehmung des Politischen


Zweiter Akt: Darstellende Kunst mit dem Dorf

Den Beteiligten und besonders den Jugendlichen wurde dabei ein großer Spielraum zur Teilhabe gegeben, eigene Erfahrungen mit Theater und deren Techniken zu machen. Manch eine*n hat diese Theaterarbeit derart inspiriert, eigene Wege in diesem Feld zu gehen. Nicht nur waren alle eingeladen, sich an der Beantwortung der Frage zu beteiligen, wie Theater als Situation insgesamt hervorgebracht, hergestellt und dargestellt wird, sondern auch wie darüber hinaus die eigene Situation als Bürger*in eines Dorfes – ehemals Bauern- und Handwerkerdorfes – mittels einer politischen Kulturund Theaterarbeit, wie sie Willy Praml zusammen mit seinem Team geprägt hat, öffentlich zur Sprache gelangen kann. Dazu gehörte der Probeprozess genauso wie die Arbeit und Recherche vor Ort, die Herstellung und Auseinandersetzung mit Texten aus den vielfältig recherchierten Materialien im Verhältnis zur ästhetischen Auseinandersetzung mit Theatertraditionen. Der besondere Reiz dieser Zugangsweise bestand vor allem in der Arbeit im und mit Raum im Dorf – Orten, die keine klassische Kunst-Bühne mehr bedeuten sollten. Bis heute ist der Aufführungsstil von Willy Praml u. a. davon geprägt, die Körper der Darsteller*innen in große bewegte Bilder zu überführen.3 Auch gehörte er zu jenen, die das Element des Chorischen, das im bürgerlichen (subjektzentrierten) Theater aus den Stadttheatern verdrängt wurde, in neuer Weise einzusetzen suchte.4 Im Zuge meiner freien Mitarbeit in der Zeit an zwei Produktionen und deren Vorbereitung (Narrentheater; Requiem) in Körperarbeit, Tanz und 112

Choreografie konnte ich unmittelbar beobachten, wie Praml mit einem außerordentlichen Gespür für Raum, Zeit, Körperlichkeit und Bildlichkeit arbeitet, um die Orte, Architekturen und Landschaften selbst zum Schauplatz zu machen, den „realen“ Raum zur Bühne zu machen beziehungsweise mit einem fiktiven Raum zu verschränken, die Verbindung des Verhältnisses von Stadt und Land herzustellen und einmalig mit dem Narrentheater und dem Stück Requiem umzukehren und dabei ganz nebenbei ein generationenübergreifendes Theater zu praktizieren. Verglichen mit einem heutigen, deutlich mehr an Effizienz ausgerichteten Theaterapparat gab es reichlich Zeit dafür – manchmal verbunden mit Leerlauf, dann wieder viel Spannung, auch Scheitern, mit dem Erfahren von Unbekanntem, Neuem, Überforderndem, Widerständigem oder Berührendem, Überraschendem und vor allem verbunden mit der Erfahrung, als Teil einer großen Theater-Gemeinschaft zu handeln und selbst herauszufinden, zu graben, wo man steht. Der Beitrag ist im Folgenden der Versuch, die Entwicklung eines Dorf-Theaters zu markieren, wie es von Willy Praml und seinen Mitstreiter*innen über 10 Jahre geprägt wurde. Dem schließt sich vor dem Hintergrund meiner universitären Perspektive einer kulturellen und ästhetischen Bildungsforschung ein Einblick zur Frage an, wie sich kulturelle Bildung in ländlichen Räumen auf den verschiedenen Ebenen 2023 darstellt und weitergehend ausdifferenziert hat. Er zeigt, dass Pramls Ansatz, Kulturarbeit vom


„Zwischen Weltfirma und Dorf“. Markierungen eines Theaters auf dem Lande 1979 wurde das Kulturprojekt unter dem Titel „Zwischen Weltfirma und Dorf. Eine Untersuchung über Leben im 19. Jahrhundert und Arbeiten im 20. Jahr­­­ hundert“ (gefördert vom Bundesministerium für Familie, Jugend und Gesundheit) als Modellprojekt für zwei Jahre in Niederbrechen etabliert. Die Idee war für die „Untersuchungs- und Animationsarbeit“ nach dem Bruch zu fragen zwischen der Arbeit in einer Weltfirma (Hoechst AG) und dem Leben im Dorf und wie die Menschen diesen Bruch erleben. Die Wahl fiel durch den Kontakt der vorhergehenden Lehrlingsarbeit auf Niederbrechen der Gemeinde Brechen, 65 km von Frankfurt entfernt, ehemals ein Bauerndorf, das sich zu einer Pendlergemeinde verändert hat. Das Team bestand unter der Leitung von Willy Praml (Jugendbildungsstätte Dietzenbach) aus einem Dramaturgen, Bühnenbildner, Ethnologen, Musiker und zwei Sozialarbeitern. Es verstand sich in der Weise, dass es sich selbst „als Lernende in die Gesamtheit der Lebensverhältnisse des Dorfes hineinzubegeben“5 hat. Mit dieser Haltung ging die Entscheidung und der

2 Vgl. Ebd. Gemeint ist eine Thematik, die sich Praml aktuell unter dem Titel zurückGEHEN oder hierBLEIBEN. HEIMAT? In Zeiten von Krieg, Flucht und Vertreibung in einem Theaterprojekt mit Syrern annimmt. 3 Mit der Theaterarbeit in der Naxoshalle bot sich ihm viel später als freischaffender Regisseur mit seinem Theater eine geeignete historisch anmutende Fabrik-Architektur an, Texte weiterhin in eine starke Verbindung mit Raum, Körper und Bewegung zu übersetzen. Mit jeder Inszenierung ermöglicht die Halle eine immer wieder neu zu entdeckende Perspektive, ohne dass die Architektur verhüllt wird. Genutzt werden natürliche Lichtquellen, die durch die Tore und vielen Fenster an den Seiten und von oben die Atmosphäre des Raums bestimmen, wie demgegenüber künstliche Lichtquellen Räume zu schaffen vermögen. Die besonderen Geräusche, die in der und durch die Halle hervorgerufen werden können, erlauben wiederum mit den Differenzen, die demgegenüber mit dem Einsatz von Live-Musik und Stimme oder technisch vermittelten Klangraum zu spielen. Vgl. Wolfgang Schneider: „‚Abbruch – Umbruch – Aufbruch‘. Das Theater Willy Pramls als Reanimierung alter Industriekultur“, in: Kristin Westphal (Hg.): Theater als Unterbrechung. Theater. Performance. Pädagogik, Oberhausen 2012, S. 281 – 290. Vgl. auch Kristin Westphal: „Theater und Wirklichkeit. Ein Gespräch mit Willy Praml und Michael Weber“, in: Dies. (Hg.): Theater als Unterbrechung. Theater. Performance. Pädagogi, Oberhausen 2021, S. 291 – 306. 4 Inspiriert durch die zu dieser Zeit diskutierten Theatermodelle zum Chorischen z.B. von Einar Schleef oder Peter Stein. 5 Willy Praml: „Theater im Dorf. Ein Beispiel von Kulturarbeit in der Provinz“, in: Albert Herrenknecht/Detlef Lecke (Hg.): Jahrbuch Provinzarbeit, Siegen 1983, S. 46 – 61, hier: S. 46. 113

Kristin Westphal: Politische und Kulturelle Bildung in ländlichen Räumen

Ästhetischen her zu denken, etwas vorweggenommen hat, das ab 2000 die kulturelle Bildung prägen sollte: die grundlegende Einbindung der Künste in die kulturelle Bildung.


Zweiter Akt: Darstellende Kunst mit dem Dorf

Anspruch einher, nicht als Städter und Fremde für oder gar über ein Dorf Kulturarbeit zu betreiben, sondern mit und im Dorf eine gemeinsame Theaterproduktion zu entwickeln. Dahinter zeichnet sich ein Verständnis von politischer Bildung ab, dass entgegen gewerkschaftlicher Positionen dieser Zeit, das Politische nicht verstanden wissen wollte im Sinne einer Kulturpolitik „aus dem Präsentationskoffer“6, der es um Programme und Problemlösungsstrategien für einen besseren Vorschlag geht. Vielmehr wird in diesem Ansatz ein Verständnis vom „Politischen“ als Widerständiges erkennbar: das von der Kulturpolitik Ausgeschlossene, das Liegengelassene, Unaufhebbare, also all das, was nicht aufgeht und von daher einen Anspruch darstellt – geschichtlich an die Erinnerung, gegenwärtig an das, was abweicht. In dieser Perspektive ist die Kulturarbeit nicht dem Vergangenen als Geschichtszeit zugewandt, sondern dem Ort und den Einzelnen in Hinblick auf das Vergangene.7 Aus den Schriften, Berichten und Interviews lässt sich herauslesen, dass es bei dieser Theaterarbeit nicht um ein Bewahren des Vergangenen ging, sondern das historisch gewachsene Spannungs­ verhältnis vom Leben und Arbeiten auf dem Dorf auf Zukünftiges auszurichten, das im Gegenwärtigen aufscheint. Welche Schwierigkeiten sich in Probeprozessen dahingehend stellten, beschreibt Praml aus seiner Perspektive wie folgt: So standen sich die Absichten des Dokumentierens der Alten und die einfach draufloslegende Lust am 114

Machen der Jungen immer wieder im Wege, wenn es um die stoffliche Definition einer Szene ging. Denn: Die Haltung, zeigen zu wollen, wie es damals war, enthob sich nicht der Notwendigkeit, bei aller politischen Differenzierung auf die dramatische Zuspitzung hinzuarbeiten, also in der historischen Genauigkeit die Bedeutung des Vergangenen für das heutige nicht untergehen zu lassen. Und das geschah immer da, wo vor lauter historischer Objektivierung die subjektive Einzelheit der darzustellenden Figuren aus dem Blickwinkel geriet. Wie auch umgekehrt die pure Theatralik bei aller Begeisterung vor Seichtheit nicht schützte oder weltanschauliche Prinzipien die praktische Bewältbarkeit verstellten.8

Bis es zu drei großen Aufführungen kam, bestand die Arbeit neben einer regen Recherche von Traditionen der Dorfgeschichte zunächst darin, auf den verschiedenen Ebenen Kontakte herzustellen, vertrauensbildende Maßnahmen und Zugänge zu Bürger*innen, also „Türöffner“ für eine aktive Teilnahme, zu finden und nicht zuletzt einen Raum anzumieten. Ein erster Einstieg ergab sich über die örtliche Kirmes als Rahmung und der zunächst nur von Jugendlichen und wenigen Erwachsenen ausgehenden Bereitschaft, sich trotz anfänglicher Bedenken, der Öffentlichkeit Preis zu geben, auf das Theaterspielen einzulassen. In Gestalt einer Ton-Dia-Schau mit dem Titel „Und es hat sich doch etwas verändert…!“ stand ein Streitgespräch zwischen einem Jungen und einem


vier älteren Einwohner*innen über die Zeit, als ­Niederbrechen noch ein Bauerndorf war, zur Aufführung. Grundlage waren Erzählungen älterer Bewohner*innen des Dorfes über das Leben bäuerlicher Arbeits- und Kommunikationszusammenhänge – neben Recherchen des Teams über Hintergründe der Flurbereinigung und unter Einbeziehung regionaler Sagen.12 Um den archaischen Charakter zum Ausdruck zu bringen, bediente man sich für die Charakterisierung

6 Lecke: „Abhauen oder bleiben?“, S. 241. 7 Vgl. Kristin Westphal: „Kulturelle Praktiken des Erinnerns als Wahrnehmung des Politischen. An Beispielen künstlerischer Residenzen in ländlichen Räumen“, in: Birgit Engel/Kerstin Hallmann/Tobias Loemke u. a. (Hg.): Politik der Erfahrung? Zur aktuellen bildungspolitischen Brisanz von Erfahrung in Kunst, Bildung und Professionalisierungsprozessen, München 2024. Kristin Westphal: „Un/ Doing Local History“, in: Wiebke Waburg/Micha Kranixfeld/Barbara Sterzenbach/dies. (Hg.): Künstlerische Residenzen in ländlichen Räumen, Weinheim/Basel 2024. 8 Willy Praml: „Schaustellungen – in Sachen eigener Geschichte“, in: Gerhard Paul/Bernhard Schoßig (Hg.): Die andere Geschichte. Geschichte von unten. Spuren­ sicherung. Ökologische Geschichte. Geschichtswerkstätten, Köln 1986, S. 142 – 165, hier: S. 162. 9 Vgl. Praml: „Theater im Dorf“, S. 46. 10 Ebd., S. 53. 11 Ebd. 12 Vgl. Alfred Handl/Willy Praml: „Dorfgeschichte als Kulturarbeit. Stichpunkte zu einem Kultur- und ­Forschungsprojekt“, in: SOW Jg. 10, H. 4, Siegen 1981, 238 – 241, hier: S. 239. 115

Kristin Westphal: Politische und Kulturelle Bildung in ländlichen Räumen

Alten im Zentrum – über die Kirmes früher und heute, wie sie sich verändert hat, wie der ganze Ort sich verändert hat.9 Die Vorstellungen für ein Theaterprojekt zur Wandlung Niederbrechens vom Bauern- und Handwerkerdorf zur Arbeiterpendlergemeinde entstanden über Gespräche an einem Stammtisch. Vertreter der organisierten Öffentlichkeit/Vereinsvorsitzende etc. wurden eingeladen und das Vorhaben vorgestellt. Diesem Anliegen wurde zwar mit Wohlwollen begegnet, jedoch mit dem Ergebnis: „Schreiben Sie erstmal Ihr Stück, wir sagen dann, wer welche Rolle übernehmen kann.“10 Vor dieser niederschmetternden Erwartungshaltung einer Dienstleistung und klassischen Vorstellung einer Rollenvergabe und einem „richtigen Theater“, wie wir sie bis heute in vielen der auch von uns wissenschaftlich begleiteten Theaterprojekte immer wieder begegnen, wurden nichtsdestotrotz Wege gesucht, mit Überzeugungsarbeit dem eigentlichen Anliegen nachzukommen. Im Rahmen eines Erzählkreises hatte sich eine stattliche Ansammlung von Anekdoten, Erzählungen und Erinnertem angehäuft, die bei genauerem Hinsehen „die Dorfentwicklung als ein vielfältiges Geflecht widersprüchlicher ökonomischer und sozio-kultureller Prozesse“11 sichtbar machte. Es stellte sich angesichts der Materialfülle die Frage, wie aus einer Durchdringung und Aneignung eigener örtlicher Erfahrungen eine Theaterproduktion zu machen ist. Im Frühsommer 1980 kam ein großes Straßen-Theaterspektakel unter Mitwirkung von 35 Jugendlichen und


Zweiter Akt: Darstellende Kunst mit dem Dorf

von Typen und Tieren den Mitteln des venezianischen Maskenbaus und dem Moritatenspiel mit Unterstützung von Sänger*innen aus dem Gesangsverein. Ungewohnt und für viele Beteiligte neu daran war, dass das Ganze – von 1000 (!) Zuschauer*innen aufgesucht – an mehreren Plätzen des alten Dorfkerns von der Dämmerung bis zur Dunkelheit stattfand. Heute würde man es unter dem Sammelbegriff „ortsspezifisches Theater“ fassen, das sich in den Folgejahren zunehmend als eine neue Theaterform ausdifferenziert hat: Theater als einen Ort der Versammlung und Teilhabe im öffentlichen Raum – mit dem Karneval zu vergleichen – jenseits einer klassischen Guckkastenbühne zu begreifen.13 Ein Jahr später folgte 1981 ein Theaterstück mit 30 Jugendlichen über „Jugend, Liebe, Gewohnheit und Tod“ unter dem Titel Dau host dich doch hej ins gemochte Nest gesetzt – eine Arbeit über Jugend, Verwandtschaftsbeziehungen und Kommunikationsstrukturen heute, vor dem Hintergrund von Erzählungen der Jugendlichen des Ortes. Es kamen vier Aufführungen in der alten Turnhalle mit 1200 Zuschauer*innen zustande. Den Abschluss des Projekts bildete im Herbst 1981 das erfolgreichste Stück über die „Nedderländer“, in der Aussprache der Dorfbevölkerung die „­Nirrerländer“ genannt, unter Mitwirkung von 30 erwachsenen Bewohner*innen und einigen Jugendlichen. „Der Bogen von dem gewachsenen bäuerlichen Lebenszusammenhang und den ersten kollektiven Erfahrungen des In-die-Fremde-gehens“14 konnte Pramls und Handls Aussage zufolge gespannt werden. 116

Deutlich wurde zu diesem Zeitpunkt, dass sich ein eigenständiger Ansatz von politischer Kulturarbeit – Dorfgeschichte als Kulturarbeit – entwickeln konnte und auf vielfache Beachtung und Aufmerksamkeit in der Öffentlichkeit wie Presse, Fernsehen und bundesweit unter Kollegen und Mitstreitern stieß. Konkret zeichnet sich dieser Zugang dahingehend aus, dass mit der Figur des ,Niederbrechener Maurers‘ ein einzig positiv besetzter „Ansatzpunkt der Niederbrechener für eine Identifikation mit der nicht nur bäuerlichen Geschichte ihres Ortes gefunden zu haben“15. Diese Figur wird als Einstieg für die Auseinandersetzung mit ihrem spezifischen Anteil an der Industriegeschichte Deutschlands genommen. Es geht um die Zeit, in der „die Nedderländer“ vor über hundert Jahren mit ihren Stoßkärren über den Westerwald ins Rheinland – auch Nedderland genannt – zum Arbeiten in die Fremde gezogen sind und als heroische Helden in den Mythos des Dorfes eingegangen sind, was in der weiteren Entwicklung als Abstieg und Verlust von eigenständiger Arbeit/Produktion am Ort und zuletzt in der Banalität des modernen Pendelns endete. Zentrales Anliegen bestand im subjektiven Anteil der Beteiligten, die Teilnahme an dieser Auseinandersetzung mit dem Ziel „in der Mythenkritik neue Formen theatralischer (Selbst-)Darstellung entwickeln zu können“16. Ging es ja gerade nicht um eine Verklärung einer Dorfgeschichte als Idylle, Musealisierung – wie es traditionell auf dem Dorf bis heute vorzufinden ist. Auch ging es nicht darum, bevormundend in der Rolle eines Aufklärers zu


So realisierte in dieser Zwischenzeit Willy Praml in Mellnau bei Marburg erfolgreich ein Stück mit dem Mellnauer Theater Das rote Dorf (UA im Juni 1984 auf einem Dorfplatz). Zu diesem Zeitpunkt lud mich Willy Praml zu einer Aufführung ein, um seine Arbeit kennenzulernen. Beeindruckt war ich insbesondere von der o­ rtspezifischen Arbeit mit Raum und wie sich deutsche Geschichte in einer Dorfgeschichte konkretisiert – in eine theatrale Wirklichkeit übersetzen lässt. So kamen symbolisch aufgeladene Bilder, hervor13 Vgl. Kristin Westphal: Ortsbezogene Performance als raumbildender Prozess. Am Beispiel Vogelsbergstudio, unter kubi-online: (https://www.kubi-online.de/artikel/ ortsbezogene-performance-raumbildender-­prozessbeispiel-kuenstlerischen-flux-residenz, Zugriff am 23.07.2023); Dies.: Teilhabe und Kritik als ästhetische Praxis in Theater und Schule: (https://forschung-im-kjt. net/beitraege/, Zugriff am 23.07.2023); Dies./Micha Kranixfeld: „Landschaft als Mitspielerin? Ortsbezogene Performance in ländlichen Räumen“, in: Jens Oliver Krüger/Wiebke Waburg/Kristin Westphal/Micha Kranixfeld/Barbara Sterzenbach (Hg.): Landschaft. Performance. Teilhabe. Künstlerische Praxen und kulturelle Bildung in ländlichen Räumen, Bielefeld 2023, S. 35 – 64. 14 Alfred Handl/Willy Praml: „Dorfgeschichte als Kulturarbeit. Stichpunkte zu einem Kultur- und Forschungs­ projekt“, in: SOW, Jg. 10, H. 4, Siegen 1981, S. 238 – 241, hier: S. 239. 15 Ebd., S. 240. 16 Ebd., S. 241. 17 Jan Siebenbrock: Nach der Vorstellung. Theaterarbeit im Dorf und ihre Wirkung am Beispiel Brechen (Hessen) 1979 – 1990, Unv. Manuskript, Osnabrück 2011, S. 23. 117

Kristin Westphal: Politische und Kulturelle Bildung in ländlichen Räumen

wirken, sondern vielmehr darum, mittels kultureller Praktiken eine Erinnerungsarbeit zu setzen, die zur Ver-ort-ung der eigenen Position im Spannungsgefüge der gesellschaftlichen und kulturellen Veränderungen im Verhältnis von Stadt und Land sowie von Arbeit und Leben beiträgt. Mit dem Thema Abwanderung ins „Nirrerland“ konnte sich eine ganze Region über Niederbrechen hinaus verbinden: „Plötzlich merkt man, das ist ja die Identität der ganzen Region, die alle Väter, Großväter hatten, die ins Ruhrgebiet gegangen sind (…). Das wurde der größte Mythos der ganzen Region.“17 Mit dem Abschluss dieses über Niederbrechen hinaus bekannt gewordenen Projekts stellte sich schnell die Frage, wie weitergehen – wollte man nicht nur hinausgehen mit der Erfahrung, als Fremder und Städter gekommen zu sein, im Bewusstsein, als solcher letztlich auch wieder gehen zu müssen.18 Denn ein Fazit aus dieser Arbeit war, dass am Ort selbst keine Strukturen vorhanden sind, diesen erworbenen Zugang aus eigenen Ressourcen weiterzutragen. Kein Einzelfall! Eine Erkenntnis, die wir im Rahmen unserer wissenschaftlichen Untersuchung von künstlerischen Residenzen in ländlichen Räumen (gefördert vom Bundesministerium für Bildung und Forschung) aktuell ebenfalls beobachtet haben. Dass diese Arbeit noch weitere acht Jahre unter neuen Vorzeichen währen würde, war zu diesem Zeitpunkt noch nicht denkbar. Während einer zweijährigen Pause ging die Arbeit in Dietzenbach jedoch weiter.


gehend aus der Mellnauer Geschichte, wie sie aus historischen Quellen und den Erinnerungen der Bürger*innen überliefert sind, zur Aufführung. Der Anspruch Pramls war:

Zweiter Akt: Darstellende Kunst mit dem Dorf

dass wenn von Mellnauer Geschichte geredet wird, immer auch deutsche Geschichte gemeint ist, sozusagen Dorftheater im Welttheater. Außerdem sollen diese Geschichten Aufforderungscharakter haben. Sie sollen zeigen, wie die Theatergruppe arbeitet und was an möglichen Themen aus dem Mellnauer Leben in die weitere Theaterarbeit fließen könnte. Da kein Theaterraum vorhanden ist, muß die Aufführung im Freien stattfinden. Vorgesehen ist der große Platz an der Dorfkreuzung, wobei die Kirche, das Schulhaus und das ehemalige Backhaus die „Kulisse“ bilden. Dies kommt unserer Theaterarbeit entgegen, weil so der „reale“ Raum zur „Bühne“ werden kann. Denn dort spielte sich und spielt sich noch heute ein großer Teil des Mellnauer Lebens ab. Die tatsächliche Architektur (Kirche, Schule, Backhaus, Bauernhof etc.) wird so zum Hintergrund der Aufführung – nur wenige künstliche Kulissen werden notwendig sein. Auch kann die jeweils spezifische Akustik dieses Raumes (Alltagsgeräusche, Glocken, Lärm der Schulkinder, Stille etc.) verwendet werden.19

Fernerhin arbeitete Praml an der Jugendbildungsstätte Dietzenbach wieder vornehmlich mit Jugendlichen aus 118

dem Dorf in Vorbereitung für ein Stück, das u. a. finanziert durch die Frankfurter Feste und in Kalabrien im Rahmen einer Bildungsreise erarbeitet in Frankfurt am Main aufgeführt werden sollte: Sich aber nicht zu fühlen ist der Tod (UA 1984 Karmeliterkloster Frankfurt am Main, damals noch eine Ruine). Neu daran war, dass professionelle Künstler*innen verstärkt eingesetzt wurden und einige auch als Mitspieler*innen mitwirkten. Da es sich um ein Narrenspiel handelte, wurden die Mitspieler*innen in der Schauspiel- und Narrenspiel-Technik nach Jacques Lecoq trainiert und neben einer intensiven Körper-, Tanz- und Stimmarbeit in chorisches Arbeiten eingeführt. Die Idee: Die Narren bereiten einen tragischen Raum vor, eigens für das Ereignis des Chores der Tragödie und seiner Organisation. Sie brechen in den heute von den Göttern verlassenen Bereich des Mysteriums ein und bringen von neuem die großen Fragen der Menschen ins Spiel, der Menschen angesichts ihrer Leidenschaften, ihres Schicksals, ihrer Geburt, ihres Todes.20

Entsprechend wurde mit Texten von Friedrich Hölderlin, Gottfried Benn, Heiner Müller u. a. gearbeitet. Auch das von Rainer Werner Fassbinder 1975 verfasste und als antisemitisch empfundene Skandal-Theaterstück Der Müll, die Stadt und der Tod, das zu diesem Zeitpunkt im Rahmen der ,Frankfurter Feste 84‘ von Mitgliedern der Jüdischen Gemeinde verhindert wurde, war inspirierend für die Auseinandersetzung mit der Figur des Narren.


Das Dorf-Theater geht in die Welt-Stadt Unter neuen Voraussetzungen für die Finanzierung und Trägerschaft eines weiteren Projekts21 konnte an der bisherigen Entwicklung des Dorf-Theaters angeknüpft und diese mit dem neuen Thema, die Nazizeit aufzuarbeiten, erweitert werden. Der Kreis der Beteiligten weitete sich auf die gesamte Gemeinde Brechen aus und wuchs zum Ende hin auf 120 Mitspieler*innen jeden Alters, davon 50 Sänger*innen und 20 Musiker*innen: eine gewagte Größenordnung angesichts einer schweren

Problematik. Der Stab der künstlerischen Mitarbeiter*­ ­innen aus dem Narrenspielprojekt konnte übernommen und auf 20 Mitarbeiter*innen erweitert werden. Ein Orchester mit Musiker*innen aus Nieder- und Oberbrechen war zuständig für die Musik unter der Koordination von Manfred Schiffer. Angesichts der Größenordnung wurde das Stück in Oberbrechen in der 18 Vgl. zu dieser Frage unsere Erkenntnisse und Schlussfolgerungen zum Status des Forschenden und Künstlers und was es bedeutet, teilnehmend zu beobachten und künstlerisch im Feld zu intervenieren: Kristin Westphal/ Teresa Bogerts: „Reflexion der wissenschaftlichen Begleitforschung“, in: Dies./Mareike Uhl/Ilona Sauer (Hg.): Zwischen Kunst und Bildung. Theorie, Vermittlung, Forschung in der zeitgenössischen Theater-, Tanz- und Performancekunst (= Tanz. Theater. Performance), Oberhausen 2018, 471 – 485, hier: S. 474f.; Wiebke Waburg/Micha Kranixfeld/Barbara Sterzenbach/Kristin Westphal/Ilona Sauer: „Kritische Raben. Zur Rolle der Forschenden in künstlerischen Residenzen in ländlichen Räumen“, in: Nina Kolleck/Luise Fischer (Hg.): Forschung zu kultureller Bildung in ländlichen Räumen. Transfer, Ko-Konstruktion und Interaktion zwischen Wissenschaft und Praxis, Weinheim/Basel 2023, S. 188 – 199. 19 Praml: „Schaustellungen“, S. 152. 20 Jacques Lecoq, zitiert im Programmheft einer Aufführung an der Jugendbildungsstätte Dietzenbach 1985, o. S. 21 Träger: Kulturelle Erziehung, Verein zur Förderung regionaler Kulturarbeit in der Jugend- und Erwachsenenbildung in Hessen e.V., Dietzenbach, Hessische Jugendbildungsstätte Dietzenbach, Stiftung Deutsche Jugendmarke e.V. Bonn, Alte Oper Frankfurt für die „Frankfurt Feste 85“. 119

Kristin Westphal: Politische und Kulturelle Bildung in ländlichen Räumen

Narren, die im Sinne von Leqoc die festgefügten Werte, den falschen Schein und die falsche Macht ans Licht treten lassen durch Parodie der Gesellschaft, ihrer Moral und ihren Gesetzen. An diesem Stück zeigte sich bereits die weitere Theaterentwicklung des Dorfes. In den Vordergrund gelangte Willy Pramls künstlerisches Interesse für eine Theaterarbeit mit dem Dorf, die mit einer Professionalisierung einhergehen sollte. So wollte Praml sich in einem weiteren Projekt dem schweren Thema einer Aufarbeit der NS-Zeit vor und nach ’45 im Dorf widmen: Die Stunde Null wurde das zunächst genannt. Das ergab eine deutlich andere Wendung und Dimension: Das Dorftheater geht in die Weltstadt. Bemerkenswert ist dies allein schon deswegen, weil normalerweise eher das Stadttheater auf das Land getragen wird. Mit dieser Produktion sollte sich einmalig das Verhältnis verkehren!


Zweiter Akt: Darstellende Kunst mit dem Dorf

Emstalhalle geprobt und uraufgeführt. 1000 Zuschauer*­ ­­­­­­­innen konnte diese Halle fassen. Die Uraufführung fand in Oberbrechen am 7. Juli 1985 unter dem Titel Sein Blut komme über uns … – Requiem im Schatten der Nacht. Der Erzählkreis mit vornehmlich älteren Frauen konnte in Oberbrechen fortgesetzt werden und trug ent­schei­­­dend zur vertiefenden Recherche der Dorfgeschichten in dieser Zeit bei. Als Aufhänger wurde die Geschichte herangezogen, in der das Dorf 1945 zum Ende des Krieges vor der Befreiung durch die Amerikaner gemeinsam ein Wehrmachtsdepot geplündert hatte. Wohl wissend, dass auf diese Handlung jenseits von Recht und Ordnung die Todesstrafe stand. Das Anliegen von Praml war erneut, das Thema unter erhöhten ästhetischen Ansprüchen zu bearbeiten, das im Orts­­­spezifischem nicht nur für die Region, sondern für Deutschland insgesamt von Bedeutung ist. Dass das im Rahmen der ‚Frankfurter Feste 85‘ auch angenommen wurde, zeigten mehrfach erfolgreich besuchte Aufführungen in einem eigens für diese Inszenierung aufgebauten Zelt im Frankfurter Grüneburgpark.22 Die Resonanz der Frank­­furter war sehr euphorisch, kritische Stimmen äußerten jedoch, dass die Inszenierung sich zu weit vom Dorf­­­theater entfernt habe.23 In der Folge wurde das Großprojekt mit drei Darstellern qua Video-Installation für eine Tournee durch Deutschland transportabel gemacht. Auch kam die Idee auf, mit dem Kern der Theatergruppe in Niederbrechen ein freies Nassauisches Volkstheater zu gründen, das zwar eng mit der Region verwurzelt sein 120

sollte, aber nicht nur die eigene Geschichte thematisiert, sondern auch fremde Texte inszenieren sollte.24 Doch es sollte anders kommen. 1988 wurde im Rahmen eines von Praml neu begrün­deten Festivals „Brecher Sommer“ der Schwank: „Den Himmel für die Ruhelosen – Ein Weltschwank“ in der Jahnturnhalle Niederbrechen aufgeführt, zu dem auch ein Gastspiel aus dem Elsass sowie der Posaunist Albert Mangelsdorff gemeinsam mit einer Brechener Jazzband eingeladen wurden.25 Erstmals wurde der Text nicht selbst erstellt, sondern als Grundlage dienten Texte aus der deutschen Schwanktradition und vergleichbar japanischen Vorlagen: Fastnachtsspiele von Hans Sachs, überlieferte Schwänke aus dem europäischen Raum, japanische NO-Dramen und vor allem die Kyogen-­ Zwischenspiele. Mit Ei-ichi-Kikuya fand sich ein kundiger japanischer Schauspiellehrer und Ko-­Regisseur. Idee dieses Stücks war, diese unterschiedlichen Traditionen zu verknüpfen und dadurch zu verfremden. Mit diesem interkulturellen Vorhaben, das aus heutiger Sicht relevanter für eine kulturelle Bildung nicht sein kann, tauchte Berichten zufolge zu diesem Zeitpunkt erneut die Frage auf, wie das Verhältnis vom Dorftheater und Pramls künstlerischen Interessen sich weiterentwickeln könnten. Wie vom Bürgermeister Niederbrechens vorweggenommen zum Beispiel in Gestalt einer Kulturscheune? Oder war die Grenze schon erreicht? Wie sich zeigen sollte, wird das 1990 von Praml inszenierte Stück, anlässlich des 2. Brecher Sommer­


Das Stück beschreibt den Weg der Geschwister Reithmaringer vom Land in die Stadt, und, weil die Stadt sie abweist, ihre Stadtflucht, ihre unmögliche Rückkehr nach Hause. Der Alte hat den Hof nicht übergeben wollen. Da sind die Jungen mit dem Traktor abgehauen, optimistisch, zukunftsfroh, dass ihnen bald zuteil wird, was sie vergebens ersehnten: Freiheit und Reichtum der ersehnten Zivilisation. Aber die Stadt hat keine Arbeit für sie, die Stadt gibt ihnen nichts, die Stadt macht sie krank. Die neue Heimat ist also keine, und daheim ist der Tod.26

Kroetz, der auch zur Premiere kam, war bereits bekannt für seine provokante sozial- und religionskritische Haltung und Polarisierung unter Verwendung einer sehr derben Sprache. Trotz Kürzung solcher Stellen ließ sich diese Provokation auch unter den Bewohner*innen im Dorf schon im Vorfeld an und steigerte zugleich die Aufmerksamkeit, auch im negativen Sinne: Der Pfarrer predigte gegen die Theaterarbeit, in Leserbriefen empörte man sich und im Dorf wurden die kopierten gestrichenen Textstellen verteilt, eine Atmosphäre der Anfeindungen breitete sich aus.27 Zugleich wurde von einigen Beteiligten mitgeteilt, dass sie sich nicht mehr angesprochen fühlten durch die Bilder, mit denen Praml arbeite.28 Ohne hier weiter auszuholen: Es war das Ende eines Dorftheaters für Willy Praml, die ihn einerseits an

eine Grenze stoßen ließ hinsichtlich dessen, wofür das Dorf künstlerisch und thematisch offen sein konnte, und andererseits sicherlich hinsichtlich der infrastrukturellen Gegebenheiten. Er ging dann andere Wege, die sich in den weiteren Beiträgen dieses Bandes spiegeln. Und auch Brechen hat seinen Weg für eine kulturelle Arbeit heute gefunden, auch wenn sie nicht so spektakulär daher kommt wie in den Zeiten mit Willy Praml.

Kulturelle Bildung in ländlichen Räumen 2023 Mit dem Versuch, wesentliche Markierungen auf dem Weg von 10 Jahren Theaterarbeit im Dorf zu skizzieren, – mit dem heutigen theaterpädagogischen Vokabular in Schlagworte wie Teilhabe, gener­ations­ über­­greifende Theaterarbeit, Herstellung von ­Öffent­­­­­lichkeit, Verschränkung von traditionellen und neuen Theaterformen, Bezugnahmen von Realem und Fiktivem, ortsspezifisches Theater, Stadt-Land-­Verhält­ ­nisse etc. zu fassen – zeigen sich all jene Momente, 22 Vgl. Siebenbrock: Nach der Vorstellung, S. 23ff. 23 Vgl. Ebd., S. 27. 24 Vgl. Ebd. 25 Eingebunden in das vom Hessischen Ministerium für Landesentwicklung, Umwelt, Landwirtschaft und Forsten geförderte Programm der Dorferneuerung. 26 Siebenbrock: Nach der Vorstellung, S. 31. 27 Vgl. Ebd., S. 33. 28 Vgl. Ebd., S. 34. 121

Kristin Westphal: Politische und Kulturelle Bildung in ländlichen Räumen

festivals: „Bauern sterben“ nach Franz Xaver Kroetz, die letzte Inszenierung in Brechen sein.


Zweiter Akt: Darstellende Kunst mit dem Dorf

wie sie in den 1980er Jahren für eine Dorf-Kulturarbeit und darüber hinaus impulsgebend und innovativ waren. Verändert haben sich seither die Darstellungsformen, die stärker von performativen und postdramatischen bezie­­hungsweise genreübergreifenden Formaten geprägt sind. Zentral erscheint mir aus Sicht der kulturellen Bildung in ländlichen Räumen 2023, dass Praml das Potenzial vorhandener kultureller Ressourcen erkannt hat, um über das Erzählen eine Erinnerungsarbeit und über Darstellungsformen des Theaters Bildungsprozesse – auch im Sinne einer Wahrnehmung des Politischen – anzustoßen. Aus der Beschäftigung mit der Dorfgeschichte folgt, die Entwicklung der Landwirtschaft vor dem Hintergrund von Stadtgründungen und später Industrialisierung zu vergegenwärtigen. Die besondere Brisanz und Relevanz dieser Theaterarbeit im Dorf liegt zum einen darin, eine Verbindung zwischen lokalen Geschichten und nationaler Geschichte herzustellen, und zum anderen theatrale Darstellungsformen einzusetzen, die eben diese Verbindung kommentieren (Commedia del Arte, Narrenspiel, Schwanktraditionen, Moritat: alles Formen, die in der Renaissance aus dem bürgerlichen Theater verdrängt worden sind!). Und nicht zuletzt zeichnet sich der Weg darüber hinaus durch eine interkulturelle Vorgehens­weise aus – wie zum Beispiel in der Zusammenarbeit von japanischen und europäischen Schwank-Traditionen geschehen. Aus einer pädagogischen Perspektive sei hervorgehoben, dass Praml verstand, die Beteiligten 122

dort abzuholen, wo sie standen – heute würde man sagen, sie als Experten des Alltags einzusetzen. Dabei ist diese Arbeit einem bis heute gängigen Missverständnis begegnet: „zu glauben, man könne Authentizität auf die Bühne bringen, so als wäre Theater keine eigene Wirklichkeit“29. Theater nicht als Abbildung einer vermeintlichen Wirklichkeit, sondern als Möglichkeitsraum zu verstehen, bedeutet so gesehen, andere Perspektiven auf Selbst- und Weltverhältnisse zu erproben, die darauf abzielen, den Akteur*innen wie Zuschauer*innen Bewusstes wie Unbewusstes vor Augen zu führen – sie dazu zu bringen, das vermeintlich Bekannte anders und neu zu erkennen, das Erkannte neuerlich zu befragen. Ein Merkmal von Pramls professionellem Theater­­­­­ verständnis zeigt sich nicht zuletzt darin, die Bedeutung einer Körperarbeit für die kollektive Präsenz auf der Bühne erkannt zu haben sowie Theaterarbeit vom Chorischen her anzugehen. Sie ist als Voraussetzung zu sehen, um den (in einer Figur) zur Schau gestellten Körper als ein vielfach dimensionierten zu erfahren: als realer in seiner Sichtbarkeit und virtueller in seiner Unsichtbarkeit; als spielender, der er selbst ist; als ein anderer und als ein fremder Körper, der Gegenstand der Blicke der Zuschauer*innen ist, zu denen er sich zugleich, darum wissend, verhält. Verändert hat sich aus der Perspektive von 2023 die Komplexität gesamtgesellschaftlicher Verhältnisse, von denen auch der ländliche Raum nicht verschont ist: Dazu gehören die Folgen der Migrationspolitik, ein


Künste als flächendeckende Maßnahme in Angriff genommen werden sollte („Kultur macht stark“, „Tanz und Theater machen stark“ etc. sind entsprechende Programme). Ein starker Förderer war in diesem Zusammenhang unter anderem die Mercatorstiftung über 20 Jahre. Begleitet wurde diese Entwicklung ausgehend von der Universität Erlangen (UNESCOLehrstuhl Pädagogik) bis heute im Rahmen von Forschungen zur kulturellen Bildung, in nationaler wie auch internationaler Perspektive.33 2019 war eine der Förderrichtlinien des Bundesministeriums auf die Beforschung des ländlichen Raums ausgerichtet – ein bislang im wissenschaftlichen Diskurs vernachlässigter Bereich. 20 Einzelprojekte und 29 Emanuel Bohn/Siegmar Schröder (Hg.): Theater des Zorns und der Zärtlichkeit, Bielefeld 1988, S. 157. 30 Vgl. Kristin Westphal: „Bauen nach Katastrophen. Theater und Anthropozän am Beispiel einer Performance mit Kindern“, in: Thomas Senkbeil/Oktay Bilgi/Dieter Mersch/ Christoph Wulf (Hg.): Der Mensch als Faktizität. ­Pädagogisch-anthropologische Zugänge, Bielefeld 2022, S. 247 – 264. 31 Jens Oliver Krüger/Wiebke Waburg/Kristin Westphal/ Micha Kranixfeld/Barbara Sterzenbach (Hg.): Landschaft. Performance. Teilhabe. Künstlerische Praxen und kulturelle Bildung in ländlichen Räumen, Bielefeld 2023. Vgl. Detlev Lecke/Willy Praml (Hg.): VerORTungen, Fulda 1992. 32 Vgl. Kristin Westphal/Birgit Althans/Matthias Dreyer/ Melanie Hinz (Hg.): KIDS ON STAGE. Andere Spielweisen in der Performancekunst. transgenerational. transkulturell. transdisziplinär (= Tanz. Theater. Performance), Bielefeld 2022. 123

Kristin Westphal: Politische und Kulturelle Bildung in ländlichen Räumen

hoher Anteil an Alten und AfD-Wähler*innen, Auswirkungen der Klimakrise, Probleme mit Mobilität, Gesundheitsversorgung und Digitalisierung – um nur einige Punkte zu nennen. An unsere Auseinandersetzung mit dem Thema Landschaft im Kontext kultureller Bildung und künstlerischer Praxis anlässlich einer Tagung an der Universität Koblenz (2022) hat sich gezeigt, wie sehr der ländliche Raum mittlerweile Spiegel dieser Komplexität und der Widersprüchlichkeiten innerhalb gesellschaftlicher, ökologischer, ökonomischer und politischer Verhältnisse ist, Dauer-Krisen zeitigt und wie Kunst und Kultur dazu herausgefordert sind, unter Teilhabe der Bewohner*­ ­innen, besonders von Kindern und Jugendlichen, das Verhältnis von Stadt/Land, Lokalem/Globalem und Kultur/Natur neu zu denken ist.30 Vor dieser Komplexi­ ­­tät erscheint es dringlicher denn je, eine kulturelle Bildung der Ver-ort-ung durch künstlerische Praktiken anzustreben, wie sie Pramls Dorftheater bereits angestrebt hat.31 Dabei scheint unweigerlich das Generationenthema auf – in dem Versuch, zu sagen, dass sich die Gegenwart und Zukunft nur mit Kindern zusammen und nicht über sie hinweg gestalten lassen kann.32 Kulturelle Bildung in ländlichen Räumen hat in den letzten Jahren auf verschiedenen Ebenen zunehmend an Aufmerksamkeit gewonnen. Und das, was in den 1980er Jahren noch als politische Bildung im Sinne eines Emanzipationsprojektes verstanden wurde, hat 2000 mit dem Pisa-Schock dazu geführt, dass bundesweit kulturelle Bildung unter Einbezug der


Zweiter Akt: Darstellende Kunst mit dem Dorf

Verbundvorhaben gingen bundesweit der Frage und den Perspektiven für ein transformatives Potenzial der kulturellen Bildung in ländlichen Räumen nach, die von einem Metavorhaben der Universität Leipzig zusammengetragen und moderiert wurden.34 Allgemeine Erkenntnisse werden von dem begleitenden Metavorhaben vornehmlich auf struktureller Ebene dahingehend festgehalten, dass in ländlichen Räumen oft die Voraussetzungen dafür noch gestärkt oder gar geschaffen werden müssen. Dies betrifft besonders Infra-Strukturen, die Unterstützung von Eltern, die Nutzung dritter Orte, den Ausbau digitaler und hybrider Formate, die Vernetzungsunterstützung in strukturschwachen Regionen wie auch die Unterstützung personeller und finanzieller Ressourcen zur Durchführung kultureller Aktivitäten.35

Positiv hervorgehoben wird, dass alle Projekte auf­­­­­zei­­­­­­gen, dass die kulturelle Bildung auf die Bedürfnisse der Region ausgerichtet sei und als gemeinschaftsstiftend wahrgenommen werde.36 Das Anliegen unseres Koblenzer Forschungsprojekts Der Dritte Ort? Künstlerische Residenzen in ländlichen Regionen, Grundlagenforschung kultureller Bildung (gefördert vom Bundesministerium für Bildung und Forschung) bestand darin, ausgewählte künstlerische Residenzen (zum Beispiel in Hessen im Kontext des FLUX Theaters unterwegs; in Brandenburg im 124

Kontext von Schloss Bröll und in Sachsen im Kontext des Schlosstheaters Augustusburg) daraufhin zu untersuchen, in welcher Weise sie vorhandene ländliche Strukturen und die damit verbundenen sozialen, ökonomischen, demografischen, intergenerationalen, historischen oder politischen Themen unter besonderer Berücksichtigung der aktuellen migrationsgesellschaftlichen Realität aufgreifen und bespielen.37 Ein entscheidend struktureller Unterschied zu heute ist, dass die Dorfkulturarbeit in Brechen keine systematische Aufarbeitung, keine wissenschaftliche Begleitung etc. zur Seite gestellt wurde.38 Alle Aktivitäten waren von daher sehr stark auf eine Leitfigur ausgerichtet. Für 2023 lässt sich konstatieren, dass künstlerische Praxen und kulturelle Bildung tendenziell stärker verwoben sind und empirische Erhebungen, qualitative wissenschaftliche Forschungen wie auch Weiterbildungen zur Professionalisierung für die mitwirkenden freischaffenden Künstler*innen in außer/schulischen Kontexten dazu beitragen, dem komplexen Feld der kulturellen Bildung zu begegnen. Vernetzungen, ein Zusammenspiel verschiedener Akteure auf semi/formeller und informeller Ebene sind mittlerweile eine Selbstverständlichkeit. Entwicklungspotential: sehr viel Luft nach oben!


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33 Begründet wurde zudem der Rat für Kulturelle Bildung, der diese Entwicklung über geplante drei Jahre hinaus 10 Jahre begleitet hat; ebenso die Professur für Kulturelle Bildung, die in der Universität Hildesheim eingerichtet wurde. Zahlreiche Publikationen finden sich unter: https://www.stiftung-mercator.de/de/publikationen/ alles-immer-gut-mythen-kultureller-bildung/. Regelmäßig finden seither an wechselnden Hochschulen Tagungen und Symposien zu Schwerpunktthemen kultureller Bildungs-Forschung statt. Vgl. Kristin Westphal/Ulrike Stadler-Altmann/Susanne Schittler/Wiebke Lohfeld: Räume kultureller Bildung. Nationale und transnationale Perspektiven (= Räume in der Pädagogik), Weinheim/ Basel 2014.

34 Ein Überblick findet sich bei Martin Büdel/ Nina Kolleck (Hg.): Forschung zu ländlichen Räumen in der kulturellen Bildung, Weinheim/Basel 2021, S. 263 – 178. 35 Nina Kolleck/Luise Fischer (Hg.): Forschung zu kultureller Bildung in ländlichen Räumen. Transfer, Ko-Konstruktion und Interaktion zwischen Wissenschaft und Praxis, Weinheim/Basel 2023, S. 21. 36 Vgl. Ebd. 37 Zu den umfassenden Ergebnissen dieser Forschung siehe: Wiebke Waburg u. a. (Hg.): Künstlerische Residenzen in ländlichen Räumen, Weinheim/Basel 2024. Dem ging ein Verbundvorhaben mit dem Künstlerhaus Mousonturm/ tanzlabor_21 voraus: KUNST_RHEIN_MAIN (BMBF 2014 – 2017), bei dem zwei Teilprojekte, die wissenschaftliche Begleitung und die Entwicklung eines Weiterbildungsprogramms für Kunstschaffende, miteinander verzahnt zusammenwirken konnten (Vgl. Westphal u. a. (Hg.): Zwischen Kunst und Bildung; außerdem: Vgl. Wiebke Waburg/Kristin Westphal/Micha Kranixfeld/ Barbara Sterzenbach: „Künstlerische Residenzen als Impulse in ländlichen Räumen? Theoretische und empirische Annäherungen“, in: Martin Büdel/Nina Kolleck (Hg.): Forschung zu ländlichen Räumen in der kulturellen Bildung, Weinheim/Basel 2021, S. 263 – 178; Vgl. Kristin Westphal: „Atopien. Ortsbezogene Performance als raumbildender Prozess“, in: Dies./Johannes Bilstein/ Ursula Stenger (Hg.): Körper denken. Erfahrungen nachschreiben, (= Räume der Pädagogik), Weinheim/ Basel 2021, S. 76 – 85. 38 Relativierend muss man an dieser Stelle sagen, dass auch die ethnografische Forschung, wie sie sich erst heute als anerkannte Methode etablieren konnte, zu der Zeit auch erst – umstritten gegenüber Objektivierungsmethoden – im Kommen war: eine Methode, die dem sogenannten künstlerischen Forschen zwar ähnlich, aber mit der Zielsetzung verbunden ist, theoriebildend zu wirken.



Vatermord (1997), Foto: Katrin Schander

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Britannicus (1997 Mousonturm), Foto: Katrin Schander

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Im weißen Rössl (1998 Bad Vilbel), Foto: Katrin Schander

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Im weißen Rössl (1998 Bad Vilbel), Foto: Katrin Schander


Tarzan. Kein Weg zurück in den Urwald (2000), Foto: Katrin Schander

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Tarzan. Kein Weg zurück in den Urwald (2000), Foto: Katrin Schander

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Liebesbriefe an Adolf Hitler (2001), Foto: Katrin Schander

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Liebesbriefe an Adolf Hitler (2001), Foto: Katrin Schander

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Zwischenspiel Ein Blick hinter die Kulissen


Requiem im Schatten der bewältigten Nacht Von Hanne Seitz


Frankfurt am Main, 11. September 1985: Durch die zum Grüneburgpark hin geöffnete Vorderseite eines großen Zeltes sieht man – anfänglich kaum sichtbar, in fahles Licht getaucht und von Schönbergs Verklärte Nacht ge­tragen – dunkle Gestalten von weit hinten im Gelände langsamen Schrittes nach vorne schreiten. Gleich einer Prozession erinnert der schweigende Aufmarsch an jene von Kopf bis Fuß schwarzgewandeten Bruderschaften, die alljährlich in der Karwoche im italienischen Sorrent das österliche Ritual begehen. Nur leuchten hier keine Fackeln, sondern die allmählich sichtbarwerdenden Gesichter. Es dauert eine gefühlte Ewigkeit, bis der Zug die Bühne im Zelt erreicht. Was hier, wie alsbald zu hören ist, zu Fronleichnam begangen wird, mutet an wie ein Trauerzug, der auf geschehenes Unheil verweist. Es ist das Vorspiel zu dem Theaterstück Sein Blut komme über uns. Requiem im Schatten der bewältigten Nacht, welches sich den zwölf Jahren Naziherrschaft in einem hessischen Dorf widmet. Ein wahrhaft mühseliges Unterfangen, das mit Kunst gegen das Vergessen in die Gegenwart hineinspielt.

Es folgen Szenen aus den Anfangsjahren, in denen die neue Zeit noch mit Hoffnung verbunden ist, die Aussicht auf ein ‚Tausendjähriges Reich‘ die Dorfbe­ völkerung aber zunehmend in Zwietracht treibt – die einen ahnungsvoll wegschauend, die anderen sich zu großen Taten berufen fühlend. In kleinen Familienszenen wird die atmosphärisch aufgeladene Gemengelage dargestellt, die sich unter der Blut- und Bodenideologie allmählich zuspitzt und Opfer fordert. Da ist die von einem Polen geschwängerte junge Frau, die Gebrandmarkte, der arbeitslose, aufwiegelnde Kommunist, der ins KZ verschleppt wird und nicht zuletzt das lernbehinderte Kind, das im nahegelegenen Hadamar der Euthanasie anheimfällt. Da ist der Bürgermeister mit seiner bibel­­festen Mutter, der als Nazigegner zum Ortsgruppenleiter gewählt wird, am Ende aber doch vor der Obrigkeit einknickt – den Schwanz einzieht, wie man sich hinter vorgehaltener Hand zuflüstert. Dem Kaleidoskop kleiner, fragmentierter, mitunter ins Melodramatische gleitender Szenen stehen große Tableaus gegenüber. Ein furioser Totentanz schwarzgekleideter Gestalten begleitet die drei Ausgestoßenen in ihr Martyrium – ein gleißend helles Verlies, aus dem blutrote Nebel­­schwaden kriechen, bevor es sich für immer verschließt. Ein monumentaler Chor singt Wenn wir schreiten Seit’ an Seit’. Ein Veteran, dem der Erste Weltkrieg ein Bein genommen und eine Mundverletzung beschert hat, nimmt die Parade der neuen Helden ab, während Trauerweiber mit vorausschauendem Gespür das Ereignis beweinen: 137

Hanne Seitz: Requiem im Schatten der bewältigten Nacht

Wozu darauf zurückkommen? Warum nicht da reinen Tischen machen? Warum nicht von heute reden? Aber der den großen Sprung machen will, muß einige Schritte zurückgehen. Das Heute geht gespeist durch das Gestern in das Morgen. Die Geschichte macht vielleicht einen reinen Tisch, aber sie scheut den leeren. (Bertolt Brecht, 1953)


Zwischenspiel: Ein Blick hinter die Kulissen

Vorüber, ach vorüber, geh wilder Knochenmann. Tapfere junge Frauen, die kurzerhand den Aufbau einer Peilstation zu verhindern suchen, sehen das Ende am Horizont dann schon nahen. Doch für einige ist die Kapitulation nurmehr ein düsteres Randphänomen, Alltagssorgen und die ungewisse Zukunft beherrschen das Leben, was mit Hilfe von Ödön von Horvath recht übellaunig zu Wort gebracht wird: „Also meinem Herrn Gemahl hätt ich ruhig ein bisserl Trommelfeuer vergönnt, aber der hat Plattfüß und ist während der ganzen großen Zeit hinterm Ofen gehockt, und wenn ich nur aufmuck, dann haut er mir eine hin – Ob Krieg, ob Frieden: Das ist mir wurscht!“ Alles andere als eine nächtliche Heimsuchung hat hier wie auch anderswo stattgefunden, Der Wahnsinn hat Körper, Seele und Verstand fest im Griff. Am Ende öffnet sich die Zeltrückwand wieder. Im Park leuchten hunderte brennende Feuerschalen – keine Erlösung in Sicht, nirgends. Ein hölzerner Leiterwagen mit unzähligen Kreuzen wird ins Dunkel der weiten Nacht gefahren. Dies sind meine noch heute lebendigen Erinnerungsbilder an ein eindrückliches Theaterereignis des Regisseurs Willy Praml, in dessen künstlerischem Team ich für Tanz und Bewegung zuständig war. Was die Frankfurt Feste 1985 der Alten Oper als zweistündiges Theaterstück in dem dicht besetzten Zelt gleich siebenmal zur Aufführung bringen, hatte in der riesigen Emstalhalle in Oberbrechen vor einheimischem Publikum vierzehn Tage zuvor Premiere. Alle vier 138

Abende des hier noch vierstündigen Stücks waren ausverkauft. Über 120 Leute sind beteiligt, die meisten kommen aus Niederbrechen, einer kleinen mittelhessischen Gemeinde nahe Limburg an der Lahn, inmitten einer Landschaft gelegen, die wegen ihres fruchtbaren Ackerbodens und den vielen mineralhaltigen Quellen von alters her Goldener Grund genannt wird. Das Dorf lag ehedem an einer wichtigen Fernhandelsstraße, war im Mittelalter zeitweise mit Stadtrechten bedacht, wurde dann im 19. Jahrhundert selbständige Gemeinde im Herzogtum Nassau und nach dem Krieg – zum Leidwesen vieler – in den Landkreis Limburg-Weilburg eingemeindet. In jenem christlich geprägten ‚schwarzen Nest‘ hatten die Nationalsozialisten 1933 mit unter 6 Prozent ihr schlechtestes Ergebnis eingefahren. Grund genug, das traditionell gefeierte katholische Brauchtum – die Aufführung der Passionsspiele oder die Pfingstritt genannte Wallfahrt per Ross zur nahegelegenen Berger Kirche – alsbald zu verbieten. In Erzählkreisen und einer Geschichtswerkstatt wird die Nazizeit aufgearbeitet – Fotoalben durchforstet, Material gesammelt, Spuren gesichert, das individuelle und kollektive Gedächtnis befragt und das Gemeindearchiv durchforstet. Man will herausfinden, wie es damals wirklich war, um der bisweilen schwer ertragbaren Wahrheit auf die Spur zu kommen, wohlwissend, dass eine solche niemals aufzuspüren ist – zu verschieden sind die Erfahrungen, die Schicksal, die Lebenseinstellungen. Es wird lebhaft diskutiert und


Bei den ersten episodenhaften Erzählungen tritt nicht annähernd zu Tage, was die Leute insgeheim mit dieser Zeit verbunden haben und noch heute verbinden. Erst die leibliche Aneignung und theatrale Verdichtung, das Spiel mit Rollen, Requisiten, der Einbezug von Liedern fördert Schichten zu Tage, in denen auch das Unaussprechliche zum Ausdruck kommt. Dorfkulturarbeit nennt sich das kühne Experiment, dem es zuletzt nicht so sehr um die Rekonstruktion des Gewesenen geht – weder um antifaschistische Heldentaten noch um

die Entlarvung beiseitegeschobener Verfehlungen –, sondern darum, herauszufinden, was echoartig noch in der Gegenwart widerhallt. Im Modus des Theaters, im nachspürenden Erleben der ins Fanatische drängenden nationalsozialistischen Machenschaften – dort fängt das Verstehen an, das sich zuletzt auch im Publikum als Wissensgrund niederschlägt. So erzählt die junge Frau, die im Stück als BDM-Führerin alles daransetzt, die Reifengymnastik der Mädchen beim Festakt in vollendeter Präzision und Schönheit zur Aufführung zu bringen, und beim Aufmarsch des Jungvolks das Arbeiterlied Wenn wir schreiten Seit an Seit voller Inbrunst mitsingt: „Als ich das erste Mal die Marschmelodie hörte, war das ein richtig erhebendes Gefühl, das in mir aufgekommen ist – als wir dann so aufrecht in der Masse marschiert sind, das hatte was mit Stolz und Überzeugung zu tun gehabt, das war wirklich echt. Oder, wenn wir, also die von der Partei, kamen, dann hatten alle anderen zu kuschen, ich hab’ das richtig gefühlt. Oder, wie die Heroen ihre Rede gehalten haben – ich war richtig begeistert und hab’ gleichzeitig ’n absoluten Schreck bekommen, dass solche Gefühle überhaupt aufgekommen sind, und dass ich sie auch noch genossen habe. Vom Kopf her fand ich das schlecht, aber ich hab’ einfach so empfunden“.1 1 Hanne Seitz: Räume im Dazwischen. Bewegung, Spiel und Inszenierung im Kontext ästhetischer Theorie und Praxis [dort das Kapitel »Spiele mit dem Bestand: Transformative Wege«], Essen 2000 [1996], S. 266. 139

Hanne Seitz: Requiem im Schatten der bewältigten Nacht

heftig gestritten – auch über Kleinigkeiten. Besonders eine Geschichte wird immer wieder erzählt. Sie rankt um ein Ereignis in der Osternacht 1945, wo kurz nach Ankunft der Amerikaner die Kirchenfahne schnell wieder gehisst und in einem ‚Akt des Ungehorsams‘ das in der Gemarkung gelegene Wehrmachtsdepot geplündert wird. Man nimmt sich, woran Mangel war: Brot, Reis, Salz, Fett, Kleidung. Am Ende ist nicht auszumachen, ob es wirklich zigtausend Doppelzentner waren und der Reis tatsächlich zentimeterdick auf dem Hallenboden verstreut war, weil die leeren Säcke als Transportbehältnis für andere Dinge gebraucht wurden. Eine Plünderung, auf der noch die Todesstrafe stand, droht als heldenhafte Widerstandshandlung die zwölf dunklen Jahre zu überstrahlen. Dies mag nicht zuletzt jenem Tabula-rasa-Denken zugearbeitet haben, das den Topos ‚Stunde Null‘ von Anbeginn genährt hat – ein radikaler Schnitt, der hier wie auch anderswo dem schuldentlastenden Neubeginn den Weg ebnen sollte.


Zwischenspiel: Ein Blick hinter die Kulissen

Die Identifikation mit der Rolle geht bei dieser Darstellerin so weit, dass sie das für sie vorgesehene Kleid mit der Bemerkung ablehnt, eine alte Schneiderin habe ihr gesagt, es hätte damals keine Röcke gegeben, deren Länge derart weit über das Knie hinausreichen. Andere wiederum, vor allem die Älteren im Ensemble, haben Angst, dass sie mit der Rolle in eins gesetzt werden: „Die denke, weiß Gott, am End’ noch: Ei guck emol do, die so und so – jetzt kimmts raus.“2 Da die Befürchtung um sich greift, dass noch Lebende oder deren Angehörige bloßgestellt werden könnten, muss die Mitwirkung am Stück gegenüber Freunden oder in der Familie oftmals energisch verteidigt werden, was nicht immer gelingt – ein Darsteller steigt sogar noch kurz vor der Premiere aus. Zwischenzeitlich macht ein Gerücht die Runde und landet als warnende Sonntagspredigt sogar auf der Kanzel des Pfarrers. Jemand hatte bei einer Probe aufgeschnappt, dass die Regie am Folgetag noch an der Bettszene arbeiten wolle – ein Stichwort, das der Fantasie freien Lauf ließ. Dabei ging es um ein Mädchen, das aus Protest mit seinem Bettzeug aus dem Haus stürmte, weil die Mutter sein Zimmer an einen Autobahnbauarbeiter vermietet hatte. Die Erzählungen – vor allem der Alten, die den ganzen Spuk, wie sie sagen, noch miterlebt haben – oder die auf dem Dachboden längst eingestaubten Erinnerungsstücke bereiten den Darstellerinnen und Darstellern erste Spielanlässe: Figuren und Konstellationen werden erfunden, Bilder gestellt, Szenen improvisiert, Dialoge 140

entwickelt, die die Dramaturgie hier und da mit Zitaten aus Literatur und Philosophie anreichert und bisweilen auch ‚gegenbürstet‘. Zu den kleinen, eher naturalistisch dargestellten Familienszenen kommen breitangelegte Tableaus, die die naturalistische Darstellungsweise verlassen und eine Bild- und Lichtregie darbieten, die die Singularität der Erzählungen in ein Allgemeines transformiert. Ohne Klischees zu bedienen oder eine Enthistorisierung zu leisten, wird der Aufbruch in die ‚neuen Zeit‘ mit ästhetischen Mitteln dem konkreten Erleben zugeführt und abstrahiert. Die Geschichte eines Dorfes erscheint als Weltgeschichte, die alles verändert hat und in ihrer Unmenschlichkeit bis heute unfassbar bleibt. Ein Regieeinfall löst zunächst helle Empörung aus – wie so oft, wenn etwas allzu nahe rückt und das Angestammte bedrängt. Die Kirmes als Sinnbild katholischer Tradition, zudem im Dritten Reich verboten, soll szenisch mit dem Einrücken der Soldaten in den Krieg verknüpft werden. Die gesamte Einwohnerschaft – zwischen Dorfgemeinschaft und Volksgemeinschaft längst zerrissen – ist zur Kirchweih versammelt und die Kirmesburschen geben lauthals den altüberlieferten, wechselseitigen Schlachtruf zum Besten: „Wem es de Kermes? – Us! Wem? – Us! Un se werd ge – halle. Bis mer im – falle. Was sein mer? – Lumbe. Was raache mer? – Stumbe. Was saufe mer? – Humbe. De Brecher Kermes soll lewe – Hoch! Soll lewe – Hoch! Soll lewe – Hoch! Zicke zacke, zicke


Einige Alte, deren Kinder und Kindeskinder, Neuzugezogene und Interessierte aus den Nachbardörfern haben in einem mehrmonatigen Probenprozess ganz wesentlich zum Inhalt und zur Gestaltung des Stückes beitragen, sich auf ein das ganze Dorf aufwühlendes Abenteuer eingelassen. Die gemeinsame Stückeentwicklung wird gelegentlich von einem Enthusiasmus getragen, der noch jede künstlerische Suchbewegung erfassen kann. Bis zur Erschöpfung wird improvisiert, wiederholt, nochmal geprobt und manches auch wieder verworfen. Mal herrscht Euphorie vor, dann wieder Verzweiflung, mitunter kommt Ärger, auch Widerstand auf, wie jene Idee, die Begeisterung für die Kirmes in

soldatischen Eifer zu überführen. Während keifende Frauen die Abfolge ihrer Worte gerade in einen frenetischen Rhythmus zu bringen versuchen, probt das Polenmädchen, auf das die Boshaftigkeiten zielt, gerade eine andere Szene: Umringt von johlenden jungen Männern, wird es begrabscht, muss obszöne Kommentare und sexuelle Erniedrigungen über sich ergehen lassen. In einer anderen Ecke der Halle geht es derweil um die Feinjustierung eines Bildes, in dem sich drei Soldaten mit nacktem, goldglänzendem Oberkörper – das Haar streng gescheitelt und mit reichlich Pomade in Form gebracht – als heroisches Denkmal inszenieren. Über vierzig Einheimische stehen auf der Bühne, nebst den vielen, die hinter und vor der Bühne gewaltige Arbeit zu leisten haben. Hinzu kommen ein Streichquartett, ein Blasorchester und ein großer Chor – Musikerinnen und Musiker, deren Vereine normaler­weise miteinander konkurrieren und die hier zum ersten Mal gemeinsam auftreten. Auch Passagen von Franz Schubert, Arnold Schönberg oder Hans Eisler begleiten das bleierne Geschehen; Textfragmente von George Tabori oder Sätze von Ödön von Horváth geben dem manchmal abflauenden Probenelan neuen Schwung: „Der intelligente Mensch gibt seinen Denkfehler zu, ich denk heut auch etwas anders, obwohl ich immer recht gehabt hab, aber es war alles durcheinander. Ich habe 2 Ebd., S. 256. 141

Hanne Seitz: Requiem im Schatten der bewältigten Nacht

zacke – Hoi, hoi, hoi!“ Der Bürgermeister hält seine Ansprache und zur Musik Es dröhnt der Marsch der Kolonnen tauschen die Frischgebackenen ihre Kirmeshüte gegen Stahlhelme aus und leisten den Fahneneid mit derselben Kraft wie zuvor den Kirmesspruch. „Ich schwöre bei Gott diesen heiligen Eid, daß ich dem Führer des Deutschen Reiches und Volkes, Adolf Hitler, dem Obersten Befehlshaber der Wehrmacht, unbedingten Gehorsam leisten und als tapferer Soldat bereit sein will, jederzeit für diesen Eid mein Leben einzusetzen.“ Gegen das gestochene Hochdeutsch kommt die nassauische Mundart der Frauen still, aber unmissverständlich zu Gehör: „Dumme Bouwe! Aich hob jo gleich gesosch met Begeisterung wät do metgange. Gott stieh mer bai – et kunn nit gout gehn.“


Zwischenspiel: Ein Blick hinter die Kulissen

mich mit dem Vaterland verwechselt.“ Das Ensemble lässt sich von Praml zu wahrhaft großem, durchaus professionellem Theater hinreißen. Zwei Jahre Vorarbeit und eine dreimonatige Endphase, in der für das Team – dem u. a. auch die Weggefährten aus den frühen 1970er Jahren, der Lecoq-Schüler Didier Doumergue und der Dramaturg Mathias Schüler angehören – im alten Ortskern dann auch ein leerstehendes Haus angemietet wird. Man tauscht sich am Abend beim Bier oder Ebbelwoi in der Dorfkneipe aus, erfährt von Gerüchten, hört sich Beschwerden an, versucht Konflikte zu schlichten. Für die oftmals hölzerne Darstellungsweise nichtprofessioneller Spielerinnen und Spieler, die durchaus Expertise für das eigene Leben, aber nicht für Aufführungssituationen haben, muss ein Umgang gefunden werden. Was in der Improvisation energiereich dargeboten wird und geradewegs ins Staunen versetzt, flaut in der Wiederholung ab, verliert an Schärfe und spontaner Lebendigkeit. Plötzlich muss jeder Satz, der auf den nächsten folgt, einen Grund haben, wo doch die Menschen in der Kneipe, zu Hause oder eben in den spontan improvisierten Szenen reden, wie ihnen der Schnabel wächst, handeln, wie es dem Körper gerade sinnfällig erscheint. Um diese Spontanität und Kreativität zu erhalten, wird unter Umständen erst kurz vor der Aufführung eine Änderung vorgenommen, eine Szene umgestellt oder ein neuer Satz gegeben und auf diese Weise der gewohnte Ablauf gestört. Die dem 142

‚Laienspiel‘ bisweilen innewohnende Falltiefe wird durch solche Konzentration einfordernden Interventionen weitgehend nivelliert, die Überidentifikation mit der Rolle verhindert, aber auch die durch Wiederholung sinnentleerten Sätze erneut der spielerischen Erkundung übereignet. Derlei Irritationen erzeugen jene spannungsreiche Interaktion zwischen Selbst und Figur, die für gelingende Theaterhandlungen unabdingbar ist und die darüber hinaus mannigfaches Identifikationspotenzial für das Publikum bereitet. Wortstockungen oder körperliche Steifheit werden zu einem Stilmittel, bringen nicht nur die Hohlheit und Scheinheiligkeit des Inhalts zum Vorschein, sondern auch, um Nietzsche zu bemühen, „Menschliches, Allzumenschliches“. Es sind ganz und gar authentische Theatermomente, wie sie so manch ein der performativen Theaterästhetik zuge­­­ wandter Bühnenprofi durch Verlernen der klassischen Schauspieltechnik zu finden hofft. Jene Nacht, die dem Stück seinen Namen gab, war alles andere als bewältigt, sie hat vielmehr allerlei Unbewältigtes aufgedeckt – vor allem mit Blick auf jenen historischen Nullpunkt, der im Dorf mit der Depotplünderung in eins gesetzt wird. Solcherart Erinnerungskultur mitsamt der darin verwobenen komplexen – gewachsenen wie auch gebrochenen – Verhältnisse sind nur zu erforschen „mit den Mitteln des ‚Grabens vor Ort‘, des ständigen Machens, des Produzierens, um den richtigen Ausdruck für die aus der Erinnerung rekonstruierten Geschichte, für die erzählten eigenen


Begonnen hat alles mit der Kirmes, derentwegen einige das Bildungsurlaubsseminar in Dietzenbach vorzeitig verlassen müssen, weil sie zu Hause, wie man so sagt, ihren Mann zu stehen und als Kerweburschen der Tradition nachzugehen hatten. Praml begleitet die Festivitäten und spürt die Veränderungen in der dörflichen Kultur auf, denen die gelebte Tradition standhalten will, auch um das kollektive Gedächtnis in bewährter Weise zu erhalten. Mit der Ton-Dia-Schau … und es hat sich doch was verändert! (1979) gelingt dem skeptisch beäugten Team aus der Stadt, das einfach daherkommt und in Brechen Theater machen will, der Durchbruch, auch wenn man anfangs lieber eine Stückvorlage gehabt hätte, statt der eigenen Dorfgeschichte nachzugehen. Das Graben findet nun tatsächlich ‚vor Ort‘ statt und bringt insgesamt sechs Produktionen zur Aufführung, zu denen auch das

Requiem gehört. Mit Bauern sterben (1990), das dann tatsächlich eine Vorlage von Franz Xaver Kroetz adaptiert hat, endet die Zusammenarbeit. Die eigene Wahrheit sollte sich an fremder Wahrheit reiben, Ausgegrabenes auch mit Stoffen und Darstellungsweisen konfrontiert werden, die von woanders herkommen. Die darin beschriebenen Veränderungen der bäuerlichen Kultur und der zuweilen antichristliche Ton sind einem Teil der Dorfgemeinschaft suspekt. Die Meinungsmacher im Ort, alles Erzkatholiken, hatten Recherchen zu Kroetz angestellt und schon vor Probenbeginn ihr Urteil über den Autor gefällt – der Titel des Stücks tat das seinige. Kruzifixschändung, Inzest und Prostitution – die Aktionsgemeinschaft Brecher Landwirte und auch das Bistum Limburg schreiten ein, die Kirche sollte, wie man so sagt, im Dorf bleiben.4 Das Stück kommt in Niederbrechen dennoch zur Aufführung, etwas abgespeckt und nicht mehr an verschiedenen Stationen im Dorf, sondern in einer alten 3 Willy Praml: »Für mich ist Theater mehr als das Leben« [Interview mit H. Seitz], in: Marianne Streisand, u. a. (Hg.): Generationen im Gespräch. Archäologie der Theaterpädagogik I, Berlin/Milow/Strasburg 2005, S. 277. 4 Diese Empörung mutet vor dem Hintergrund, dass die Kirche bald darauf geradezu skandalumwittert ist, beinahe grotesk an. Auch in dieser Diözese gab es über achtzig Fälle von sexuellem Missbrauch, über die kein Gras wachsen will; erst im Jahr 2022, nach jahrelangen Verhandlungen, wird ein ehemaliger Priester der Diözese vom Kirchengericht verurteilt. 143

Hanne Seitz: Requiem im Schatten der bewältigten Nacht

Geschichten zu finden“.3 Das Graben hatte schon mit dem Lehrlingstheater begonnen, das dann auch etwas zutage gefördert hat, was dem Blick auf die Betriebsarbeit lange entgangen war und die durch die Industrialisierung erzwungene Trennung zwischen Arbeits- und Lebenswelt ausmacht. Jemand, der in den Farbwerken Hoechst einer stupiden Arbeit nachgehen muss, ist im Dorf womöglich Vorsitzender des Gesangvereins. Der Weg in die ländliche Lebenswelt schien unausweichlich und so beginnt sich Praml mit dem Modellprojekt Zwischen Weltfirma und Dorf der Dorfkultur zuzuwenden.


Zwischenspiel: Ein Blick hinter die Kulissen

Scheune – Hilfe aus der Stadt eilt herbei, der Schauspieler Michael Weber etwa, der die vakante Hauptrolle übernimmt. Die zehn Vorstellungen sind gut besucht – selbst Kroetz reist eigens aus Bayern an –, aber das Zerwürfnis ist nach über zehnjähriger Zusammenarbeit nicht zu kitten. Zuvor hatte Praml noch mit dem Gedanken gespielt, in eben jener Scheune in der Rathausstraße ein Nassauisches Volkstheater zu gründen, um weiter dem nachzugehen, was an traditioneller Lebens- und Denkweise noch „unbewältigt, unbearbeitet herumliegt“.5 Weder sollte der christliche Glaube geschändet noch die sogenannte Volkskunst zugunsten großstädtischer Theaterästhetik disqualifiziert werden. Ganz im Gegenteil: Die bemerkenswerte Bühnenpräsenz der Menschen, ihr souveräner Theatergestus sollte weiterhin im Vordergrund stehen und die dörfliche Potenz eine praktische Kritik an der Verstädterung der Lebens- und Arbeitsbedingungen sein. Man mag in Brechen bedauert haben, dass Praml sein Theater am Ende in der Großstadt gegründet hat. Gut möglich, dass sich seitdem so manche aus dem Ort – schon aus Neugier – verstohlen unters Frankfurter Publikum gemischt haben. Gründe für diesen Verdacht gibt das vom Theaterpädagogischen Institut in Lingen im Rahmen eines Forschungsprojekts organisierte Wiedersehen im Jahre 2011. Neben dem Regisseur sind auch solche dabei, die Niederbrechen längst verlassen haben und sich eigens zu diesem Treffen in der alten Heimat einfinden. Manche erzählen in einer Weise von 144

der Vergangenheit, als ob sie gerade gestern gewesen wäre. Das zu diesem Anlass vorgestellte Forschungsergebnis ist dann auch kaum erstaunlich, künden doch die einundzwanzig durchgeführten Interviews – trotz der Konflikte am Schluss – von einer nachhaltig positiven Wirkung der langjährigen Kulturarbeit, sowohl was die persönliche Entwicklung, die lokale Identifikation als auch den Zugang zur Kunst betrifft.6 Manche mögen das abrupte Ende jener Ära insgeheim bedauert haben, auch wenn dies, womöglich aus verwegenem Stolz, so nicht geäußert wird – ganz nach Karl Valentins Bonmot „Mögen hätten wir schon gewollt, aber dürfen haben wir uns nicht getraut“. Jedenfalls sind einige der jungen Leute aus dem ehemaligen Ensemble – inzwischen alles erwachsene Männer und Frauen – dem Theater Willy Praml bis heute, bald vierzig Jahre danach, noch immer verbunden. Was mit Lehrlingen begann und im Dorf weiterentwickelt wurde, findet mit visionärer Idee und bemerkenswertem Engagement in der Frankfurter Naxoshalle seinen Fortgang – einem Theater, dessen Leitung inzwischen Michael Weber übernommen hat. Mittels Intervention in der Stadt wie auf dem Land Menschen zu ermuntern, ihre Angelegenheiten auf die Bühne der Öffentlichkeit zu bringen, diesem Anliegen folgt, was sich heutzutage Kulturelle Bildung nennt.7 Sie sollte sich den außerordentlichen Mut und die politische Radikalität dieser frühen, wegweisenden Praxis vor Augen führen, vor allem aber – und im besten aller Fälle – auf die Kraft der Kunst bauen.


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Hanne Seitz: Requiem im Schatten der bewältigten Nacht

5 Ebd., S. 278. 6 Vgl. Jan Siebenbrock: »Ein Dorf nach dem Theater. 20 Jahre nach der letzten Theaterarbeit in Niederbrechen«, in: Zeitschrift für Theaterpädagogik, Nr. 60/2012, S. 72. 7 Vgl. Hanne Seitz: »Rahmen geben. Sich inmitten der Kunst versammeln«, in: Tom Braun & Kirsten Witt (Hg.): Illusion Partizipation – Zukunft Partizipation. (Wie) Macht Kulturelle Bildung unsere Gesellschaft jugendgerechter? München 2017; Hanne Seitz: »In der Praxis das Denken auf den Kopf stellen. Streifzüge entlang unterschiedlicher Modi performativer Intervention im öffentlichen Raum« [Vortrag], in: Interventionale Eins: Performative Kunst im öffentlichen Raum, Wuppertal 2023 (https://interventionale.org/, Zugriff am 27.02.2024).



Nibelungen II / Rache – Hebbel (2002), Foto: Seweryn Żelazny

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Birgit Heuser und Michael Weber in Der Parasit (2003), Foto: Seweryn Żelazny

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Maria Stuart (2003), Foto: Seweryn Żelazny

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Wilhelm Meister (2004), Foto: Seweryn Żelazny


Jesus d’Amour (2005), Foto: Seweryn Żelazny

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Ariadnes Faden. Arthurs Schwester Marie & der „ächte“ Naxosschmirgel (2007), Foto: Seweryn Żelazny


Die 1002. Nacht – Schwarze Jungfrauen (2009), Foto: Seweryn Żelazny

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Aischylos/Müller. Prometheus (2010), Foto: Seweryn Żelazny


Dritter Akt Darstellende Kunst mit Geflüchteten


Geschichten der Migration zwischen den Welten Von Matthias Bischoff


Solche Fragen zu erwidern, Fand ich wohl den rechten Sinn: Fühlst du nicht an meinen Liedern, Daß ich eins und doppelt bin? (Johann Wolfgang Goethe, 1819)

Ein junger Mann liegt auf dem Boden vor einem Flügel, daran sitzt ein anderer Mann und spielt eine getragene Melodie. Es ist das letzte von vier Liedern aus Gustav Mahlers Zyklus „Lieder eines fahrenden Gesellen“, es handelt von vergeblicher Liebe, von Erinnerungen an Heimat, Kindheit und Jugend. Der junge Mann singt es mit leiser, nicht ausgebildeter Stimme, doch obwohl sicher nicht alle Töne sauber getroffen werden, ist die Wirkung kaum weniger intensiv als bei einem ausgebildeten Tenor. Dies hat gewiss auch mit dem Hintergrund zu tun, denn dort sieht man traumschöne Bilder aus der Heimat dieses jungen Mannes. Er ist Syrer und die Fotos zeigen ein traumschönes,

unzerstörtes Damaskus, das er aller Wahrscheinlichkeit nach in seinem Leben nicht mehr betreten wird. In seiner Regiearbeit zurückGEHEN ODER hierBLEIBEN. HEIMAT?, uraufgeführt im August 2023, hat Willy Praml seine Arbeit mit Migranten, jungen Deutschen mit Migrationshintergrund und Geflüchteten auf eine neue Stufe gehoben. Dreißig Jahre nach dem Beginn seiner Arbeit mit migrantischen Laiendarstellern. In mehr als einem Vierteljahrhundert hat sich nicht nur die Welt dramatisch verändert, auch die gesellschaftliche Wahrnehmung von Migration – das konnte auch an der Theaterarbeit nicht spurlos vorübergehen. War Willy Praml ein früher Exponent des postmi­ grantischen Theaters avant la lettre? Oder entzieht sich seine Theaterarbeit den genaueren Festlegungen und Positionen, die sich in den 2010er Jahren in der deutschen Theaterszene nachhaltig durchsetzen konnten und aus der Nische heraus unübersehbar wurden? Hier gilt es in kurzen Schlaglichtern die Entwicklung aufzuzeigen, die das Theater Willy Praml seit den mittleren 1990er Jahren durchlaufen hat und wird an den einschlägigen Produktionen Die Nibelungen (1996), Das Erdbeben in Chili (2016), Nathan der Weise (2017), Im arabischen Rössl ehemals Im weißen Rössl (2019) und schließlich zurückGEHEN ODER hierBLEIBEN. HEIMAT? (2023) zeigen, wie sich infolge der gesellschaftlichen und politischen Veränderungen die Fragestellungen, die Zielsetzungen und Herangehensweisen verändert haben. 157

Matthias Bischoff: Geschichten der Migration zwischen den Welten

Gingo biloba Dieses Baums Blatt, der von Osten Meinem Garten anvertraut, Gibt geheimen Sinn zu kosten, Wie’s den Wissenden erbaut. Ist es ein lebendig Wesen, Das sich in sich selbst getrennt? Sind es zwei, die sich erlesen, Daß man sie als eines kennt?


Dritter Akt: Darstellende Kunst mit Geflüchteten

Arbeit mit Migranten, für Migranten? Ein Abriss verschiedener Positionen zum Postmigrantischen Theater Um das Besondere, aber auch das in einem größeren Zusammenhang stehende an der Theaterarbeit Willy Pramls mit Migranten einzuordnen, erscheint ein kursorischer Abriss dessen, was mit dem Schlagwort „postmigrantisches Theater“ umrissen wird, hilfreich. Problemstellungen rund um das Thema Migration haben lange Zeit auf deutschen Bühnen so gut wie keine Rolle gespielt. Zu groß war die Notwendigkeit, sich mit dem Nationalsozialismus, dem Holocaust, der deutschen Teilung, aber auch den großen Themen des Überbaus Kapitalismus versus Kommunismus in Zeiten des Kalten Krieges auseinanderzusetzen. Bezeichnenderweise haben auch die allermeisten Theaterautoren, ganz analog zu den bundesdeutschen Parteien, bis weit in die 1980er Jahre hinein in den nach Westdeutschland als Arbeitsemigranten eingewanderten Menschen kein Bühnenthema gesehen; die sogenannten „Gastarbeiter“ waren lange Zeit kein Sujet, das jenseits sozialtherapeutischer und lokaler Projekte umgesetzt wurde. Und Stimmen aus der migrantischen Community gab es erst recht keine. Dies änderte sich allmählich erst nach der Wiedervereinigung, nicht zuletzt wegen der ausländerfeindlichen Krawalle Anfang der 1990er Jahre, aber auch wegen einer ganz schlichten statistischen Größe: 1990 7,5 Prozent, 2000 8,8 Prozent, 2022 14,6 Prozent. 158

Menschen ohne deutsche Staatsangehörigkeit, überdies hatten im Jahr 2023 über 30 Prozent der Deutschen einen Migrationshintergrund.1 Die Frage nach dem Status der Migranten geriet nun geradezu zwangsläufig häufiger in den Blick. Und damit immer auch die Frage nach Identitäten, nach kulturellen Zugehörigkeiten, nach parallelen Gesellschaften und gelingender oder gescheiterter Integration. Was genau das ist, wurde nun seinerseits zum Thema: in den gesellschaftlichen Debatten, in der Politik und auch auf den Bühnen. Debatten um deutsche „Leitkultur“, um einfache oder doppelte Staatsbürgerschaften kochten spätestens mit der rot-grünen Koalition nach 1998 hoch und spiegelten sich dementsprechend auch im deutschen Theater. In den 1990er Jahren haben etwa Elfriede Jelinek (Stecken, Stab und Stangl, 1996) oder Emine Sevgi Özdamar (Keloğlan in Alamania, die Versöhnung von Schwein und Lamm, 1991) die Diskriminierung und gesellschaftliche Marginalisierung von Migranten behandelt. Auch Christoph Schlingensief oder Feridun Zaimoglu haben den Blick auf das geschärft, was die Gesellschaft als Ganze gerne totgeschwiegen hätte; dazu gehört auch das Spannungsverhältnis zwischen dem „Wir“ und den „Anderen“. Einer wachsenden Zahl Migranten stand nun (da nebenbei auch die Lebenslüge der eher konservativen Seite von den bald wieder in ihre Heimatländer zurückkehrenden „Gastarbeitern“ nach 1990 als solche erkannt wurde und, wenngleich sehr langsam, korrigiert wurde) auch eine wachsende Skepsis innerhalb eines


und emotionalen Aushandlungsprozess über Rechte, Zugehörigkeiten und Teilhabe“ (Naika Foroutan)3 sind typische Merkmale aller postmigrantischen Gesellschaften, selbst wenn sie sich, wie die Bundesrepublik Deutschland, lange sehr schwer damit getan haben, sich als Einwanderungsgesellschaft zu sehen. Auch darauf reagiert das Theater, das wiederum die postmigrantische Gesellschaft als faktisch gegeben betrachtet und größtenteils begrüßt. Besonders Shermin Langhoff hat, indem sie ihrem Theater Ballhaus Naunynstraße den Namen „Postmigrantisches Theater“ gab und später als Intendantin des Berliner Maxim Gorki Theater diese Entwicklung konsequent weiterverfolgte, maßgeblich das Bewusstsein im theateraffinen Milieu geprägt. Langhoff geht es in ihrer Arbeit um die Perspektiven derer, die als Nachfahren der Migranten die Erfahrungen dieser als kollektive Erinnerung mitbringen. Damit reagiert Langhoff auch auf Forderungen nach Integration, da damit häufig eine letztlich hegemoniale Haltung einhergeht, die als 1 Zahlen nach: Demographieportal.de (https://www.bib. bund.de/DE/Fakten/Fakt/B47-Bevoelkerung-mit-­ Migrationshintergrund-ab-2005.html, Zugriff am 14.02.2024). 2 o. N.: Postmigrantische Gesellschaft, in: Wikipedia (https://de.wikipedia.org/wiki/Postmigrantische_­ Gesellschaft, Zugriff am 05.01.2024). 3 Naika Foroutan: „Die Postmigrantische Gesellschaft“, in: Bundeszentrale für Politische Bildung (Hg.): Thema: Migration und Integration, Dossier vom 20.04.2015. 159

Matthias Bischoff: Geschichten der Migration zwischen den Welten

sich ausweitenden Teils der Bevölkerung entgegen. Angesichts der deutschen Vergangenheit wurde diese, tendenziell völkisch-nationalistische Haltung („Überfremdung“, später auch „Umvolkung“) von vielen Theatermachern mit eher links-progressiver Meinung heftig attackiert. Wenn, wie die einschlägige Definition lautet, eine postmigrantische Gesellschaft „durch die Erfahrung der Migration geprägt ist“2, lässt sich diese Prägung in der deutschen Kultur erst um die Jahrtausendwende manifest behaupten. Und selbst danach haben Teile der Gesellschaft in ihren konkreten Alltagserfahrungen wenig bis gar nichts mit realen Migranten zu tun. Nicht zuletzt lässt sich unter anderem aus dem Umstand, dass gerade das Bürgertum beziehungsweise die Mittelschicht – und damit jene, die zu einem großen Teil kulturelle Veranstaltungen jeder Art konsumieren – wenig Berührungspunkte mit migrantischen Milieus besaß und besitzt, das in den letzten zehn Jahren häufig kritisierte Fehlen von Diversität an deutschen Theatern und deutschen Spielplänen erklären. Die politischen, kulturellen und sozialen Veränderungen infolge von Einwanderung sind längst nicht in der gesamten Breite der Gesellschaft – und mit erheblichen regionalen Unterschieden, Ost-West, Stadt-Land – angekommen. Und: Migration als ein Prozess, der zur Gestaltung der Gesellschaft beiträgt, wird, wie die politische Entwicklung der Jahre besonders nach 2015 zeigt, von Teilen der Gesellschaft negiert und heftig bekämpft. Doch eben diese „sozialen, kulturellen, strukturellen


Dritter Akt: Darstellende Kunst mit Geflüchteten

gelungene Integration in allerletzter Konsequenz als eine Art von Verschmelzung und Unsichtbarwerden der Herkunftskultur gemeint ist. Als Langhoff 2013 ans Maxim Gorki Theater berufen wurde, wurde das scheinbar Marginale – die von Migranten bestimmte Praxis des Kulturzentrums im Bezirk Kreuzberg 36 – buchstäblich in die Mitte Berlins versetzt. Am Maxim Gorki Theater, das unter Langhoffs Intendanz paradigmatisch für diverses und innovatives Theater steht, bezeichnete „postmigrantisch“ die Suche nach Inhalten und Formen, die die Erfahrung geteilter oder fluider Identitäten zur Debatte stellten, sowie die Tatsache, dass die Darstellung dieser Inhalte und Formen fast ausschließlich Schauspielern mit Migrationshintergrund überlassen wurde, sodass neben dem, was gezeigt wurde, auch die, die es zeigten, in den Vordergrund traten: „Ein diverses Ensemble zu gründen, das mühelos auf der Bühne vom Deutschen ins Englische, Türkische, Russisch, Hebräische und Arabische wechselt und oft gemeinsam mit den Regisseur*innen die Stücke entwickelt, stand am Beginn dieser Möglichkeitsräume.“4 Rückblickend lässt sich feststellen, dass in den ersten zwei Dekaden des 21. Jahrhunderts, auch bereits vor dem Eskalieren der sogenannten „Flüchtlingskrise“ im Herbst 2015, eine nahezu flächendeckende Auseinandersetzung mit dem Thema Migration auf den Bühnen im deutschsprachigen Raum existiert. Neben Shermin Langhoff am Gorki untersuchten beispielsweise die Münchner Kammerspiele unter 160

Frank Baumbauer in der Spielzeit 2007/08 unter dem Motto „Da kann ja jeder kommen“ das Thema in verschiedenen Stücken und unter verschiedenen Aspekten. Allerdings, und eben darauf zielt ja die Kritik Shermin Langhoffs, fand und findet dies zu einem sehr großen Teil aus deutscher Perspektive statt. Es gilt ganz nüchtern festzustellen, dass es hier noch immer eine deutsche Hegemonie gibt, wie immer man dies bewerten mag. Die Theaterarbeit Willy Pramls dagegen hat bereits vor der Jahrtausendwende, und dies ohne einen großen programmatischen Überbau, Migranten oder Jugendliche mit Migrationshintergrund zu aktiven Protagonisten gemacht. Ebenfalls in Frankfurt hatte Alexander Brill, der Leiter zunächst des Schüler- später „Laien-Clubs“ des Schauspiels Frankfurts (1984–2009), bereits in den 1990er Jahren (noch weit bevor Langhoff und andere den theoretisch-proklamativen Überbau lieferten) auf die durch Migration veränderte Kultur, hier insbesondere die Jugendkultur, reagiert. Mit der Gründung seiner eigenen Schauspielgruppe „theaterperipherie“ brachte Brill nach 2009 seine Erfahrungen rund um das Leben von Einwanderern ein. Theater von Eingewanderten für Eingewanderte, so lässt sich die Grundidee umreißen. Das bedeutet, dass es auch die Darsteller selbst sind, die Zuschauer anziehen. Durch die Identifikation des Publikums mit den Menschen auf der Bühne wurden Zielgruppen erreicht, die nicht zu den üblichen Theatergängern (der deutschen Mittelschicht) gezählt werden.


Die Nibelungen (1996) – Jugendarbeit und Mythos Bereits in den 1970er Jahren hatte Willy Praml als Dozent an der Hessischen Jugendbildungsstätte in Dietzenbach mit Jugendlichen aus dem damaligen „Gastarbeiter“-Milieu und Lehrlingen gearbeitet. Auch bei seinem Stück Vatermord des expressionistischen Dichters Arnolt Bronnen hatte Praml mit Jugendlichen aus sozialen Brennpunkten in Bockenheim und Gallus gearbeitet. Das Skandal-Stück aus dem Jahr 1922, das im Februar 1996 im Gallus Theater aufgeführt wurde,

kann als direkter Vorläufer der großen Produktion Die Nibelungen gelten. Was mit ungemein körperlicher Intensität in dem Inzest-Drama Vatermord auf der individuellen Ebene (pubertierende Ich-Bildung) gezeigt wird, vergrößert sich, nicht minder schockierend körperlich-gewalttätig in den Nibelungen, untersucht einerseits die nationale Identität (anhand des deutschen Mythos schlechthin), andererseits auch (größtenteils männliche) Machtstrukturen und Gewaltekstasen. Auch diese ganz bewusst mit jugendlichen Migranten arbeitende Produktion Willy Pramls ergab sich gleichsam organisch aus seinen Arbeiten in den 70er und 1980er Jahren, und ist doch ganz vor dem Hintergrund der immer größer werdenden Aufmerksamkeit, die das Thema Migration in den 1990er Jahren erhielt, zu sehen. Darin durchaus vergleichbar – wenngleich mit anderen Schwerpunkten – mit den ersten Projekten Alexander Brills. Auch bei Willy Praml stand in dieser Zeit die sozialtherapeutische Arbeit zumindest gleichberechtigt neben den künstlerischen Interessen. Dies zeigt sich bereits in den verschiedenen Anträgen auf Förderung des Projekts bei staatlichen und privaten Förderinstitutionen und Stiftungen. Bereits die Betitelung des Projekts ist unmissverständlich auf diesen Schwerpunkt gerichtet:

4 Interview mit Shermin Langhoff, in: Edition F (Online-­ Magazin), 2019. 161

Matthias Bischoff: Geschichten der Migration zwischen den Welten

In Produktionen wie Ehrensache, der Liebesgeschichte Leyla und Medschnun oder eine Aktualisierung der Hebbel-Tragödie Maria Magdalena im migrantischen Milieu zeigte Brill als Pionier, wie es gelingen kann, Jugendliche mit Migrationsgeschichte für die Theaterarbeit zu begeistern und die dargestellten Geschichten zu ihren zu machen. Alexander Brills „theaterperipherie“, das sich mit dem Freien Schauspiel Ensemble das Bockenheimer Theaterhaus Titania (ein ehemaliges Kino mit fast 100 Sitzplätzen) teilt, existiert 2023 seit 15 Jahren und hat sich als dezidiert postmigrantisches Theater, das sich an Menschen mit wenig Vorerfahrung richtet, etabliert. Die Produktionen werden häufig von Menschen ohne Schauspielausbildung gespielt und behandeln größtenteils Themen aus dem konkreten Lebensumfeld von Migranten.


Dritter Akt: Darstellende Kunst mit Geflüchteten

Die Nibelungen Eine Theaterproduktion zum Thema Mythos und Gewalt. Ein Beitrag zur Auseinandersetzung über Gewalt­­ tendenzen in unserer Zeit Eine Kooperation verschiedener Träger zur Überwindung der Trennung zwischen Sozialarbeit und Kunst Mai-Juli 1996, 8 Schauspieler, 20 – 30 Jugendliche aus sozialen Brennpunkten in Frankfurt (Gallus, Griesheim u. a.)5

Die „Überwindung der Trennung zwischen der Sozialarbeit und Kunst“ – das Anliegen unterscheidet sich kaum von den über zehn Jahre später geäußerten Zielsetzungen der Arbeit von Shermin Langhoff und anderen. Weiter heißt es im Antragstext über die Zielsetzung: Im Mittelpunkt des Projekts (…) steht die Erarbeitung einer Theaterproduktion, die sich mit dem ‚Nibelungen‘-Stoff auseinandersetzt. In dieses Projekt sollen auch Jugendliche aus sozialen Brennpunkten in Frankfurt am Main einbezogen werden. In Auseinandersetzung zwischen (professionellen) Theaterleuten und (theaterunkundigen) Jugendlichen aus Frankfurter Stadtteilen soll der Versuch unternommen werden, mit einer aus dem Alltag der Beteiligten herausgehobenen Kunstproduktion neue Möglichkeiten der Jugendkulturarbeit zu erforschen und zu erproben.6 162

Sieht man einmal davon ab, dass die Usancen dieser Anträge den sozialen Ansatz überbetonen, bleibt doch auffällig, wie wenig die Projektbeschreibung die künstlerischen Implikationen in den Blick rückt, wie stark dagegen die jugendpolitischen Aspekte: In einer für bestimmte Schichten von unterprivilegierten Jugendlichen wenig aussichtsreichen Situation, in welcher eine gesicherte Ausbildungsund Berufsperspektive, welche aber nicht unbedingt realistisch ist, die einzige Alternative darstellen würde zu einem aktionistischen Leben an den Rändern der Gesellschaft, scheint uns das künstlerische Experiment eine sinnvolle Möglichkeit zu sein, neue Identitäten zu stiften. Neben der ästhetischen, also inhaltlichen Dimension scheint dabei wichtig zu sein, dass die Jugendlichen mit der Eigendynamik Theater als professionelle Arbeitsstruktur und soziales Kommunikationsfeld konfrontiert werden. Die damit verbundenen Erwartungen sind, Jugendlichen, die nicht gewohnt sind, in definierten Strukturen verbindliche Haltungen zu entwickeln und kontinuierlich einzuhalten, Leistungen und Verantwortlichkeiten abzuverlangen, die sie in ihren frustrierten Erwartungen an gesellschaftliche Objektivitäten und an eigene Lebensperspektiven verloren haben. Die auf diese Weise gemachten Erfahrungen sollen auch auf ihre sozialen Lebenszusammenhänge insgesamt übertragbar sein.7


…vor dem Hintergrund der Erfahrungen des/der Träger(s) in Sachen politisch-kultureller Theaterarbeit und im Kontext der Prävention von Gewalt, Fremdenfeindlichkeit und Rechtsradikalismus sind

Jugendliche aus Frankfurter Stadtteilen in das Blickfeld des hier dargestellten und geplanten Projekts gerückt, die aufgrund ihrer öffentlichen Auffälligkeit, ihrer Gewaltbereitschaft und ihres Außenseitertums zu Schlagzeilen in den großen Zeitungen Anlass gegeben hatten.8

Der eigentlichen Probenarbeit in den Räumen der Frankfurter Adlerwerke gingen neben der Arbeit an Vatermord verschiedene Workshops voraus. Die zweimonatige Zusammenarbeit der beteiligten Jugendlichen mit den Theaterprofis im Winter 95/96 sowie der Erfolg der Produktion waren eine Voraussetzung dafür, nun mit sehr viel mehr Darstellern ein komplexes Werk zu erarbeiten. Die in den seminaristischen Vorarbeitsphasen gemachten Erfahrungen mit Texten sowie der Aspekt einer Zusammenarbeit zwischen (professionellen) Theaterleuten und (theaterunkundigen) Jugendlichen flossen nun in ein dreimonatiges Projekt ein. Am Ende bildete sich ein fester Kern von ca. 20 jugendlichen Darstellern, mit denen intensiv geprobt wurde. Die Produktion fand bei Presse und Publikum großen Anklang. Ob das Gelingen dieser Theater-Arbeit ansteckend wirkte für das „Wagnis eines gesellschaft5 Projektantrag, Brief des Theaters an Stiftungen, Kulturamt und Kultusministerium. 6 Ebd. 7 Ebd. 8 Ebd. 163

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Der Nibelungen-Stoff, der hier aus Hebbels monumentalem Drama Die Nibelungen und Emanuel Geibels Brunhild kompiliert wurde, eignete sich wegen seiner teils sehr blutigen und affirmativen Darstellung von Gewalt besonders, um gemeinsam mit migran­ tischen Jugendlichen aus den Frankfurter Stadtteilen Griesheim und Gallus, die in ihrem Alltag passiv und aktiv mit Gewalt konfrontiert sind, zu arbeiten. Werden darin doch Handlungsmotive wie Hass, Rache, Überlegenheit und Erniedrigung, Macht und Zerstörung als überzeitlicher und überpersönlicher Mythos erzählt, am Ende von Teil 2 gipfelnd im alle Ordnungen zerstörenden Chaos des Mordens und Sterbens. Das Recht des Stärkeren im Gegensatz zu den Gesetzen der Gemeinschaft (Familie, Sippe, ethnischer oder religiöser Gruppen) durchzieht die gesamte Handlung, und verkörpert damit den Urkonflikt zwischen Individuum und Gesellschaft. Dem gesamten Projekt lag mithin die Annahme zugrunde, dass es eine gleichsam vorgängige Verbundenheit oder Nähe der Jugendlichen zum gewaltfundierten mythologischen Stoff geben könnte – eine Nähe, die sich auf der Bühne im authentischen Spiel äußern sollte. Auch dies wurde in der Projektskizze klar umschrieben:


Dritter Akt: Darstellende Kunst mit Geflüchteten

lichen Aufbruchs ethnischer, kultureller und milieuübergreifender Toleranz, Kooperation und zur Gewinnung von Zukunftsperspektiven für unsere sich rapide verändernde heutige Wirklichkeit“9, ist schwer messbar. Angesichts der gesellschaftlichen Friktionen in den Jahrzehnten seit der Jahrtausendwende, angesichts von parallelen Gesellschaften, Brennpunktschulen, Gentrifizierung einerseits und prekären Milieus andererseits haben die Hoffnungen jener, die in den letzten Dekaden des 20. Jahrhunderts auf die gesellschaftsverändernde, bewusstseinsfördernde Kraft ihrer Theaterarbeit setzten, einige Dämpfer erlitten. Dass sich Willy Praml sowohl in den Jahren im Gallus Theater wie dann auch später in der Naxoshalle ganz anderen Theater-Projekten widmete und der sozialtherapeutische Ansatz zugunsten eines eher künstlerischen Primats in den Hintergrund trat, mag etwas mit dieser Ernüchterung zu tun gehabt haben. Dies änderte sich dann aber in den Jahren nach 2015 aus offensichtlichem Anlass entscheidend. Nibelungen Text nach Hebbel, Geibel, Edda und Nibelungenlied Premiere 2. Oktober 1996 Regie: Willy Praml Bühne, Texteinrichtung: Michael Weber

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Nibelungen II / Rache Text nach Hebbel, Nibelungenlied, Edda Premiere 15. August 2002 Regie: Willy Praml Bühne und Kostüme: Michael Weber

Kleist: Das Erdbeben in Chili (2016) – Kunstprojekt oder Therapie? Kann das gutgehen? Kann man den Katastrophentext der deutschen Literatur schlechthin, Kleists vor keiner Gewaltdarstellung zurückschreckende Schilderung zunächst der Rettung und schließlich der brutalen Ermordung eines unverheirateten Liebespaars durch einen fanatischen Mob, geschrieben in einer zugleich atemlosen wie gewundenen Prosa, in drei verschiedenen Sprachen (Arabisch, Farsi, Deutsch) sprechen lassen – gleichzeitig, ineinander übergehend, gleichberechtigt nebeneinander? Denn eben dies ist das Wagnis, das das Theater Willy Praml mit dieser ersten bahnbrechenden Produktion einging. Hier ging es anders als zuvor in den Nibelungen nicht um deutschsprechende Jugendliche aus Frankfurt, hier standen Menschen auf der Bühne, die wenige Monate zuvor noch in Syrien waren, die Terror und Krieg erleben mussten und die nicht selten eine äußerst gefährliche Flucht über Monate und viele Stationen hinter sich hatten. Daher auch der vollständige Titel der Produktion: Ein Theaterprojekt zwischen den Welten. Von Beheimateten und Geflüchteten.


In der ersten Woche des Monats September 2015 kamen tausende und abertausende von Flüchtlingen nach Deutschland, ein Vorgang, der in die Geschichte unseres Jahrhunderts eingehen wird. Wir Theaterleute sagten uns, dass wir unseren künstlerischen und staatsbürgerlichen Beitrag mit einer literarischen

Vorlage machen wollten. Wir, die deutschen Theatermacher, machten ein Stück mit den Flüchtigen – auf Augenhöhe! Wir laden Künstler ein, die vor ihrer Flucht schon auf der Bühne gestanden haben und die nach ihrer Flucht wieder auf einer Bühne stehen werden – entweder bei uns, oder wieder bei sich zu Hause – und bieten ihnen zu diesem Zweck ein gemeinsames Projekt an. (…) Und weil wir mit unserem Projektangebot Zukunft schöpfen wollten, akzeptierten wir die Zusammensetzung der Teilnehmer, so wie sie nun einmal zusammengekommen war.10

Am Ende blieben 21 Männer und Frauen, mit denen das Stück erarbeitet wurde. Ihre mangelnde Professionalität und Bühnenerfahrung machen die Darsteller wett, indem sie ihre existentiellen Erfahrungen einbrachten und zeigten. Das ging im Fall eines jungen kurdischen Mannes so weit, dass er in Kleists Text seine eigene traurige Liebesgeschichte geschildert fand: Das Mädchen, das er liebte, wurde einem anderen Mann zwangsverheiratet, eine gemeinsame Flucht war wegen der Familienehre undenkbar. An diesem kleinen Detail lässt sich etwas anderes ablesen, was für die in der bundesdeutschen Mittelklassegesellschaft sozialisierten Theatergänger in Vergessenheit geraten ist: Unsere durch und durch säkulari9 Programmblatt: Nibelungen I, Frankfurt 1996. 10 Programmheft: Das Erdbeben in Chili, Frankfurt 2016. 165

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Besonders gewagt nicht nur wegen der für das Publikum durchaus anspruchsvollen Rezeption eines dreisprachigen Handlungsablaufs (was jedoch verblüffenderweise in der Praxis überhaupt kein Hindernis darstellte), sondern vor allem, weil das Thema der Novelle ja eben jener religiöse Fanatismus ist, vor dem viele Syrer geflüchtet sind, zumindest jene, die den islamistischen Terror erlebten. Offenbar aber führte, wie Berichte über die intensiven Probearbeiten belegen, dies keinesfalls zu Retraumatisierungen; vielmehr erwies sich die gemeinsame Arbeit als fast schon therapeutische Maßnahme. Die nahezu fünfzig Teilnehmer, die zu den ersten Treffen kamen, zeigten sich als zurückhaltende, oft sehr stille und verunsichert wirkende Personen. Sie waren kaum in der Lage, über sich und ihre Situation zu sprechen, und wenn, dann leise, beinahe ängstlich. Nach drei intensiven Monaten (mit fast täglichen, acht Stunden langen Proben) lösten sich die Blockaden auf. Vor allem das bewegungsorientierte chorische Sprechen erwies sich als Hemmungen abbauende Praxis, die auch das Sprechen außerhalb des Theaterraums veränderte. Im ebenfalls dreisprachigen Programmheft hieß es dazu:


Dritter Akt: Darstellende Kunst mit Geflüchteten

sierte, hyperindividualisierte und liberale Gesellschaft ist die Ausnahme; weltweit existieren die meisten Gesellschaften mit grundsätzlich anderen Werten (nicht besser, nicht schlechter, nicht rückständiger), die häufig jenen ähneln, die im 18. und 19. Jahrhundert auch hier in Europa noch galten und an denen sich die europäische Literatur abgearbeitet hat. So entsteht tatsächlich durch die Beteiligung von Migranten an Projekten wie Bronnens Vatermord, Hebbels Nibelungen oder Maria Magdalena und Kleists Erdbeben in Chili ein neuer, überraschender Blick auf die Stücke: Sie sind, von ihrer sprachlichen Form einmal abgesehen, keinesfalls alt, verstaubt, überholt – ihre Inhalte werden von Menschen eines anderen Kulturkreises unter Umständen als aufwühlend gegenwärtig wahrgenommen. Erwähnenswert ist, dass das Projekt von einer Kooperation mit dem Frankfurter Psychoanalytischen Institut begleitet wurde, das die Frage untersuchte, ob und auf welche Weise künstlerische Prozesse bei der Bewältigung traumatisierter Erfahrungen helfen können. Auf der Bühne freilich konnte das Publikum von diesem langwierigen Emanzipationsprozess nichts ahnen. Es sah aber ein perfekt choreographiertes Stück, in dem sich Einzelauftritte, mehrsprachige Dialogszenen und große Sprechchöre mit vielen Beteiligten mischten, in dem die einzelnen Sprachen einander ablösten, durchdrangen und immer wieder in konsekutiver Abfolge aufeinander folgten. Dabei war keineswegs Deutsch die alles beherrschende Sprache. Für das 166

Publikum ergab sich durch den Sprachmix die ungewohnte Situation, dass jeder, der eine der drei gesprochenen Sprachen verstand, genau dasselbe hörte wie der Nachbar – alle waren gleichberechtigt. Die Darsteller kamen (und blieben) ohne Kostüme. Sie trugen Alltagsgegenstände bei sich, ganz so, als hätten sie nur dieses eine Ding retten können. Dabei sprechen sie den Text in ihrer Muttersprache, manchmal allein, oft auch chorisch. Über allem schwebt an der Decke der Naxoshalle ein riesiger Steinbrocken, sein Zerbersten ist zugleich Naturereignis (Erdbeben) wie menschengemachte Katastrophe (Lynchmord). Dazwischen gibt es einen paradiesischen Ruheraum, der zumindest andeutet, wie Menschen auch sein könnten. Hier ruhen sie sich aus, bauen Camping-Tische auf, machen Picknick. Publikum und Kritik waren begeistert, lobten vor allem den gelungenen Versuch, Kleists allgemeingültige Aussagen über Menschen und Menschlichkeit in Bezug auf den syrischen Bürgerkrieg darzustellen. Judith von Sternburg brachte es in der Frankfurter Rundschau auf den Punkt: Kleists Novelle ‚Das Erdbeben in Chili‘ bringt die Gleichgültigkeit der Natur und die Grausamkeit des Menschen sowie die immer noch vorhandene Alternative – Schönheit, Güte – sensationell auf den Punkt. Das Theater kann einem solchen Stoff nicht widerstehen, der jederzeit etwas zu erzählen hat und jedem Menschen mit seinen Erfahrungen. An diesem


Die Frage, ob es sich beim ersten Projekt Willy Pramls, das nicht mit in Deutschland lebenden Migranten der zweiten oder dritten Generation arbeitet, sondern mit gerade eben erst Geflüchteten, mehr um ein Kunstprojekt oder um Therapie handelt, ist eindeutig zu beantworten. Beides. Kleist. Das Erdbeben in Chili. Ein Theaterprojekt zwischen den Welten. Von Beheimateten und Geflüchteten. Premiere 10. Juni 2016 Regie: Willy Praml Dramaturgie/Bühne/Kostümbild: Michael Weber

Lessing: Nathan der Weise (2017) – Theater als Zuflucht auf Zeit Schon ein Jahr nach dem erfolgreichen Kleist-Projekt, in dem erstmals syrische Geflüchtete auf der Bühne standen, erarbeitete das Theater Willy Praml mit Nathan der Weise nach Gotthold Ephraim Lessing gleich einen weiteren Klassiker des deutschen Theaterkanons, und

zwar wiederum einen, der sich um Feindschaft zwischen Religionen dreht und wie kaum ein anderes Drama die Notwendigkeit von Toleranz postuliert. Wenn, wie es im Fördermittelantrag für Nathan der Weise heißt, das Theater eine Heimat ist, dann wurde das Theater Willy Praml in den Jahren nach 2016 zu einer neuen Heimat, zumindest zu einer Zuflucht, „wenigstens für eine Zeit des Übergangs.“12 „ZU-FLUCHT. Das Theater ist eine Heimat“ lautet deshalb treffend auch die Überschrift über den gesamten „theatrale[n] Intervention[n] im Transitraum Rhein-Main“. Das Gesamtprojekt wurde so umrissen: In einem dreijährigen, schrittweise aufeinander aufbauenden Projekt (2017/2018/2019) sollen Möglichkeiten für eine nachhaltige Integrationspolitik praktisch erprobt, methodisch erforscht und modellartig umgesetzt werden, beginnend mit Lessing. Nathan der Weise. Ob tatsächlich die Theaterarbeit als gesamtgesellschaftliche Blaupause für eine humane und nachhaltige Integrationspolitik tauglich ist und so „Chancen von Theaterarbeit für die Gestaltung des Zusammenlebens einer interkulturellen Gesellschaft“13 aufgezeigt werden können, lässt sich am Ende ebenso wenig belegen und nachmessen, wie die möglichen Impulse für die „Minderung von Schrecken und Elend auf dieser Erde“. 11 Frankfurter Rundschau, 13.06.2016. 12 Projektantrag für Nathan der Weise an Kulturamt, Stiftungen (Förderantrag). 13 Ebd. 167

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insgesamt großartigen Abend in der Frankfurter Naxoshalle gibt es Momente, in denen das besonders deutlich wird: Wenn der kleine Menschenschwarm zagt und wabert und vergeblich sucht angesichts des Erdbebens, das sich für den Einzelnen nicht grundsätzlich anders darstellen wird als ein Bombeneinschlag, sagen wir im syrischen Aleppo.11


Dritter Akt: Darstellende Kunst mit Geflüchteten

Möglicherweise bedarf das Theater der aus dieser utopischen Hoffnung gespeisten Energie, um die Kraft zum Weitermachen aufzubringen. Sehr deutlich überprüfbar dagegen ist der auf der Bühne zu besichtigende theatralische Mehrwert. Denn mit den aus Syrien Geflüchteten konnten dem Schlüsseldrama der deutschen Aufklärung, das in der berühmten „Ring“-Erzählung über die Gleichwertigkeit der drei großen monotheistischen Religionen – Judentum, Christentum, Islam – gipfelt, neue Fragen im Lichte ihrer Erfahrungen gestellt werden. Vor allem natürlich die, ob sich die hochfliegend-idealistischen Leitbilder des 18. Jahrhunderts noch auf die Welt über zweihundert Jahre später anwenden lassen, ob sie für die Auseinandersetzungen unserer von immer größerer Polarisierung geprägten Gegenwart tauglich sind. „Kann Humanität, Toleranz, Glauben – ja welcher, wenn schon alle drei monotheistischen von sich behaupten, er sei der jeweils richtige? – zur Verständigung beitragen, ja aufzeigen, wie die Schrecken und das Elend dieser Erde gemindert werden können?“14 Das Theater ist eine Heimat. Im Programmheft hat die Rabbinerin Dr. Elisa Klapheck die Schwierigkeiten einer Nathan-Aufführung konkret benannt. Zum einen ist da die aus jüdischer Sicht problematische Figur des „weisen Juden“, die nicht nur etwas naiv-kitschig wirkt, sondern nach dem Holocaust auch einen extrem bitteren Nachgeschmack hat. Aber die unübersichtliche Gemengelage zwischen den drei Religionen, die zugleich unterschiedlichen 168

Macht- und Kulturblöcken angehören, macht die Lage in der Gegenwart noch komplizierter: Das Stück, in dem sich Lessing im 18. Jahrhundert gegen antijüdische Vorurteile in Deutschland richtete, zeigt sich im 21. Jahrhundert jedoch in einem ganz anderen Weltszenario. Heute ist es die Konfrontation mit dem radikalen Islam und dem Westen, verknüpft mit der politischen Funktion des Judenhasses, nunmehr jedoch gegen Israel gerichtet. Dass ausgerechnet Flüchtlinge aus der arabischen Welt Rollen in Lessings Nathan der Weise spielen, verlagert die Aussage des Stücks. Lessing trieb ein Verwirrspiel mit den Identitäten anhand der unverhofften Verwandtschaftsbeziehungen zwischen den Protagonisten. Willy Pramls Inszenierung tut dies zusätzlich mit Ankömmlingen aus der arabischen Welt, die nunmehr als Muslime in einem klassischen deutschen Drama ein weiteres Fragezeichen an die Zuschreibungen setzen.15

Der islamische Theologe Saber Ben Neticha stellt ebenfalls im Programmheft fest, dass Nathans Botschaft keinesfalls an Relevanz eingebüßt hat. Werte wie „Toleranz, Großzügigkeit, Nächstenliebe und Barmherzigkeit“ sind für Muslime wie Juden wie Christen „erstrebenswerte Tugenden“. Und Dr. Stefan Scholz (Dompfarrei Frankfurt) wagt sogar die Frage, die sich angesichts der zahllosen gegen und durch Religion getöteten Menschen und angesichts der aktuellen islamis-


auf der schauspiel-praktischen Ebene die Darsteller erst einmal zueinander und zum Spiel finden mussten, geht nun der Lessing-Abend einen Schritt weiter und untersucht – ohne zu einer abschließenden Antwort zu kommen – die Möglichkeiten, zu einer Überwindung dieses atavistischen Naturzustand zu gelangen, zur Möglichkeit von Menschlichkeit überhaupt. Es deutet sich hier bereits an, was wenige Jahre später in Heimat noch expliziter erkennbar wird: Das Theater von Willy Praml und Michael Weber sucht (und findet) im Kanon der deutschen Kultur, in Theatertexten, Prosa, Lyrik und Musik nach Anschlussmöglichkeiten an eine postmigrantische Wirklichkeit, ohne sie zu negieren. Denn es zeigt sich, dass die deutsche Kultur über ein breites Spektrum an Öffnungs- und Anschlussmöglichkeiten verfügt, dass sie die Fähigkeit zur Veränderung, zur Amalgamierung bereits in sich trägt und weitaus weniger homogen rein „deutsch“ ist, wie es jene, die sich auf das Deutschsein berufen, gerne hätten. Die Stellung in der Mitte Europas hat für eine erhöhte Durchlässigkeit gesorgt, und nicht zuletzt die großen kulturellen Leistungen der jüdischen Deutschen im 18., 19. und frühen 20. Jahrhundert haben den Boden dafür bereitet. Die Projekte Willy Pramls zeigen dies wie nebenbei, ohne Widersprüchliches und Problematisches zuzukleistern. 14 Ebd. 15 Programmheft: Nathan der Weise, Frankfurt 2017. 16 Ebd. 169

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tischen Fanatismen viele Menschen, nicht nur Atheisten, stellen: „Befriedet sich der Mensch leichter ohne Religion? Vernünftiger Glaube, übergegangen in einen Glauben an die Vernunft – die Lösung aller Probleme? Muss der Mensch Gott die Kehle durch­­schneiden, um sich selbst nicht mehr an die Gurgel zu gehen? Hört mit dem Mord Gottes das Menschenmorden auf?“16 Tatsächlich ist es nach dem optimistischen Zwischenspiel, nach dem Ende des Kalten Krieges 1989/90, zwanzig Jahre später, wieder Wirklichkeit ge­­­­worden, dass ein friedliches, gleichberechtigtes Zusam­­­menleben von Christen, Juden und Muslimen in Deutschland und Europa, und am wenigsten noch in Israel selbst, nahezu unvorstellbar geworden ist. Lessings Vision eines Miteinanders ist von der Wirk­­­ lichkeit allzu oft dementiert worden; die Aufführung Pramls zeigt, dass man sich dennoch nicht von ihrer aufrüttelnden Kraft verabschieden sollte. Doch geht Praml, anders als viele Exponenten des postmigrantischen Theaters, nicht in Frontstellung zu deutschen Theatertradition, zum deutschen Kanon, zu den positiven (wenngleich natürlich hinterfragbaren) Theorien und Errungenschaften des deutschen Humanismus und der Aufklärung. Seine Dekonstruktion nimmt das Stück und seinen emphatischen Toleranzaufruf durchaus ernst, überdeckt aber Fragwürdiges nicht unter einer gutmeinenden Stadttheater-Attitüde. Während der Kleist-Abend erst einmal die pure Gewalterfahrung, auch die Anklage gegen die sinnlos-­ fanatische Gewalt gleichsam als gegeben hinstellte und


Lessing: Nathan der Weise Premiere: 28. April 2017 Regie: Willy Praml Dramaturgie, Text, Bühne: Michael Weber

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Im arabischen Rössl ehemals im weißen Rössl (2019) – Integration als intelligenter Jux Im Hotel „Zum weißen Rössl“ am schönen Wolfgangsee im Salzkammergut ist Hochsaison. Das Personal ist überfordert, der Kellner Leopold beruhigt die unzufriedenen Gäste. Mit seinem Schmäh versucht er bei seiner Chefin Josepha Vogelhuber zu landen, jedoch vergeblich. Denn sie ist verliebt in den Rechtsanwalt und langjährigen Stammgast Otto Siedler. Der Fabrikant Wilhelm Giesecke, der nur seiner Tochter Ottilie zuliebe in Österreich Urlaub macht, hat noch ein Hühnchen mit Anwalt Siedler zu rupfen, denn er hat einen wichtigen Prozess gegen ihn und seinen Erzkonkurrenten verloren. Töchterchen Ottilie gibt allerdings den Avancen Siedlers umstandslos nach. Zum Abschluss des ersten Aktes gießt es wie aus Eimern, aber alle singen im Chor. So herzzerreißend und zuckersüß kitschig geht es auch in den weiteren Akten des 1930 uraufgeführten Singspiels Im weißen Rössl von Ralph Benatzky (Musik und Text, zusammen mit Hans Müller-Einigen und Erik Charell). Das Stück mit seinen zahlreichen Gassenhauern („Im weißen Rössl am Wolfgangsee, da steht das Glück vor der Tür“, „Im Salzkammergut, da kann man 170

gut lustig sein!“, „Die ganze Welt ist himmelblau, wenn ich in deine Augen schau“, „Was kann der Sigismund dafür, dass er so schön ist?“ und viele weitere) zählt zu den Bühnenhits der späten Weimarer Republik, wurde erfolgreich verfilmt und steht seit nun bald 100 Jahren immer wieder auf den Spielplänen deutscher Bühnen. Was aber macht nun das Theater Willy Praml aus diesem deutschen Trivial-Klassiker, diesem im zwiespältigsten Sinne volkstümlichen Unterhaltungsschmarrn? Die Grundidee ist so einfach wie hinreißend: Nicht reiche Piefkes aus Berlin fallen ins alpine Idyll ein, nein, nun sind es zahlungskräftige arabische Touristen, die für einen gehörigen Kulturclash sorgen. Leopold ist zwar noch immer der patente österreichische Oberkellner, aber die angebetete Wirtin stammt aus Dubai (oder tut wenigstens, ihren Gästen entgegenkommend, so). Die Speisekarte klingt zwar österreichisch, aber der Schweinebraten ist aus! Die Stamm­­­­­­­­­­­­­­­­­­­gäste sind auch keine Piefkes mehr, sondern Orientalen in Loden, und das Klärchen heißt jetzt Jamila und ist im Burkini ebenso süß wie ehemals im Bikini. Und statt des österreichischen Kaisers kündigt sich die deutsche Kanzlerin zum Schützenfest an. Auch musikalisch ist es eine überaus intelligente und gelungene Operetten-Travestie, denn die bekannten Schlager werden mit Schlagzeug, Violine und Akkordeon, aber auch mit ungewöhnlichen Instrumenten aus dem arabischen Kulturraum (Oud sowie die arabische Zither Kanun) gespielt – vertraut und wundersam fremd zugleich.


Im arabischen Rössl ehemals im weißen Rössl ist letztlich ein Theaterexperiment, aber eines, das ganz im Gewand eines Unterhaltungs- und Revueabends daherkommt und seine subversiven Botschaften zuckrig ummantelt. In gewisser Weise aber ist das „Arabische Rössl“ bereits ein Vorbote für das bisher letzte, sich mit dem Thema Flucht und Migration befassende Projekte. Während Praml mit Im Arabischen Rössl einen deutschen Trivial-Mythos als Material für das Wagnis Kultur-Mix nimmt, macht er in Heimat musikalisch und lyrisch die deutsche Romantik fruchtbar und hebt das Thema abermals auf eine neue Stufe. Im arabischen Rössl ehemals Im weißen Rössl Nach der Operette von Ralph Benatzky u.a. Premiere: 4. Januar 2019 Regie: Willy Praml Textfassung, Dramaturgie, Bühne: Michael Weber

zurückGEHEN oder hierBLEIBEN. HEIMAT? (2023) – In Zeiten von Krieg, Flucht und Vertreibung In Damaskus Schließt die Fremde sich der Karawane an. Nie wieder werde ich zu meinem Lager gehen, nie wieder Nach dieser Nacht meine Gitarre Aufhängen am Feigenbaum meiner Ahnen. 171

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Das Verblüffendste an diesem Abend, der seit 2019 immer wieder vor ausverkauftem Haus gespielt wird, ist die unverkrampfte, auch vor höherem und niederem Blödsinn nicht zurückschreckende Mischung der angeblich doch so unvereinbaren Kulturen. Gewiss geht dies in der trivialen Komödie, wo über manchen Graben hinweggelacht werden kann, leichter als in Stücken, die sich ernsthaft und kritisch mit Migration, Fremdenfeindlichkeit, Antiislamismus und Rassismus befassen. Im Arabischen Rössl wird auch die Forderung nach bestmöglicher Integration köstlich veräppelt, denn so wie die Araber mustergültige Deutsche (Derwische mit Fez tragen Lederhosen und tanzen Schuhplattler – auf derlei muss man erst einmal kommen!) werden wollen, kommen ebenso die Deutschen ihnen mit größtmöglicher Adaption arabischer Sitten entgegen, mit diesem Paradox spielt das Stück durchgehend. Mit Im Arabischen Rössl ehemals im weißen Rössl hat die Auseinandersetzung mit dem Thema Migration (und wiederum die prominente Beteiligung der Geflüchteten) eine neue Dimension erreicht: Hier wird kein Culture Clash gezeigt, sondern ein poppiges Festival gegenseitiger Integration, komisch, ironisch. Praml zeigt, dass man Migration nicht immer bierernst verhandeln muss, dass sich auch ein urdeutscher Unter­­ haltungskitsch (der sich nicht zuletzt durch einen Nach­­­­ kriegssuperstar wie Peter Alexander tief ins Bewusstsein der Bundesbürger gegraben hat) post-migrantisch dekonstruieren lässt, aber ganz ohne erhobenen Zeige­­ finger, immer wieder köstlich blödsinnig dadaistisch.


Dritter Akt: Darstellende Kunst mit Geflüchteten

In Damaskus Vertrocknet die Wolke und gräbt einen Brunnen Für die Liebenden am Fuße des Berges Qasioun. Und die Flöte spielt ihr altes Lied: Sie sehnt sich nach Vergangenem, Doch weint sich umsonst.17 (Mahmud Darwish, Deutsch von Muawia Harb und Florian Schongar)

Mit diesem Gedicht des syrischen Dichters Mahmud Darwisch beginnt die bislang letzte Produktion, die Willy Praml für und gemeinsam mit syrischen Geflüchteten erarbeitet hat. Auf Arabisch sprechen die Darsteller den Text, im Hintergrund in der Naxoshalle sind Bilder von Damaskus zu sehen. Dazu hört man irritierenderweise das strahlende C-Dur aus Franz Schuberts 9. Sinfonie. Der Kontrast ist in diesem Stück konstitutiv, denn es kreist immer wieder um die Fragen nach Heimat, um die alte sowohl wie um die neue. Knapp zehn Jahre nach der großen Fluchtwelle aus dem syrischen Bürgerkrieg stellt sich die Frage, wie nah oder fern die verlorene Heimat ist, ob sie bereits vergessen ist und die Erinnerungen verblasst sind? Gleichzeitig ist man aber in der neuen Heimat Deutschland immer noch ein Fremder: Kann Deutschland überhaupt je so etwas wie Heimat sein, mit der ja immer mehr gemeint ist als der bloße Wohnort? Bereits die Szenenfolge lässt erkennen, dass all diese Fragen niemals eindeutig zu beantworten sind. Das ganze Stück, das zwar als chronologisches Statio172

nendrama mit vielen kleinen Einzelszenen angelegt ist, beschreibt insgesamt eher eine kreisende Bewegung, ist ein Vor- und Zurück, ein Erinnern, ein Fragenstellen, ein Verdrängen, ein Trauern und immer wieder auch die bange Frage nach den in Syrien zurückgelassenen Verwandten und Freunden und: Wird man das Land, das ja nach wie vor nicht befriedet ist beziehungsweise unter der brutalen Diktatur des Assad-Regimes leidet, jemals wiedersehen? Szenenfolge: 1. Prolog Eine Vision von Syrien 2. Straßen von Damaskus 3. Vorahnung (Vom Säugling zum Soldaten) 4. Revolution 5. Bombenhagel auf die syrischen Städte 6. Hak Awati: Die Schauspieler erzählen dem Publikum ihre Lebensgeschichte bis zur Flucht 7. Ein Streit auf Arabisch 8. Ich will nicht über Politik reden 9. Der Engel des Todes wird geschaffen 10. Todesgasse 11. Der Moment der Entscheidung 12. Über schwarze Wogen 13. Der Einsiedler 14. Reise durch Europa 15. Ankunft in Frankfurt am Main 16. Epilog


arbeit mit Migranten am weitesten voran. Paradox deshalb, weil ja in Wirklichkeit niemals eine vollkommene Symbiose etwa der arabischen und der deutschen Kultur angestrebt, geschweige denn erreicht werden kann. Und doch stoßen sich die disparaten Teile keineswegs ab, sondern bilden trotz der Gegensätze eine neue Einheit, sie heben sich – in bester Hegelscher Dialektik – auf. zurückGEHEN oder hierBLEIBEN. HEIMAT? Premiere: 22. September 2023 Regie, Dramaturgie, Textfassung: Willy Praml, Florian Schongar, Tobias Winter Von Beginn an war es die Besonderheit des Theaters von Willy Praml, dass er neugierig war auf das, was die Konfrontation mit Künstlern und Laien migrantischer Herkunft aus den fest im deutschen Kanon verankerten Stoffen und Mythen macht. Nicht also die realistische, ja oft auch dokumentarische und zur Identifikation einladende Darstellung von Problemen in migrantischen Milieus (Deklassierung, Armut, Ausgrenzung, kulturelle und religiöse Konflikte), wie sie in vielen Theaterprojekten rund um das Schlagwort „postmigrantische Gesellschaft“ entwickelt wurden, stehen im Mittelpunkt des Interesses, sondern die Hoffnung auf einen Gewinn 17 Programmheft: zurückGEHEN oder hierBLEIBEN. HEIMAT?, Frankfurt 2023. 18 Ebd. 173

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zurückGEHEN oder hierBLEIBEN. HEIMAT? basiert auf ausführlichen Recherchen und den sehr persönlichen Erlebnissen und Erfahrungen der syrischen Darsteller. Es ist aber, wie es im Programmheft sehr deutlich hervorgehoben wird, eben nicht nur ein aufklärerisches Dokumentartheater, sondern ist „mit seinem Anspruch auf Überhöhung oder Verzauberung? – ein – oder auch ein – Romantisches Theater, ein von romantischer Weltsicht, Welterfahrung inspiriertes.“18 Kontraste und Nebeneinanderstellungen, ineinander übergehendes, gegenseitiges Bespiegeln – das ist das Strukturprinzip dieses Projekts. Wenn etwa die grauenvolle Erfahrung der Mittelmeer-Überfahrt mit dem Schlauchboot unterlegt wird mit der Rezitation von Eichendorffs Gedicht „Komm Trost der Welt, du stille Nacht“, zeigt sich dieses Prinzip in Reinform. Der Schrecken der Todeserfahrung wird durch die scheinbare Idyllik des Gedichts verstärkt, wobei auch bei Eichendorff das Abgründige immer spürbar bleibt, Tod, Verlust, Einsamkeit unübersehbar sind. So kommentiert deutsche Romantik eine ganz aktuelle Leidenserfahrung: Die große Kunst besteht darin, zwar zu rühren und die Bedrückung spürbar zu machen, jedoch nicht in eine kitschige, sentimentale Stimmung abzugleiten. Auch in der bereits eingangs erwähnten Schlusssequenz, in der Muawia Harb Gustav Mahlers Lied „Die zwei blauen Augen …“ singt, kommt dieses Verfahren überaus wirkungsvoll zum Einsatz. zurückGEHEN oder hierBLEIBEN. HEIMAT? treibt somit die paradoxe Symbiose in Pramls Theater-


Dritter Akt: Darstellende Kunst mit Geflüchteten

für beide Seiten, wenn in bekannten Texten neue Aspekte entdeckt werden, wenn sie, nicht selten überraschend, eine strahlende Aktualität wieder erlangen und Konfrontation, Spiegelung oder Dekonstruktion die Texte nicht einfach in Frage stellt, sondern ergänzt und erweitert und erneuert. Dabei ist das Theater Willy Praml auch stückweise von den hochfliegenden Hoffnungen der 1990er Jahre abgerückt, das Theater könne in der Breite der Gesellschaft die Integration der Migranten, die Haltung der Mehrheitsbevölkerung gegenüber zugewanderten Minderheiten maßgeblich beeinflussen. Doch im Theater selbst, auf der Bühne, in der Arbeit, im Spiel und bei einem dafür offenen Publikum sind die Effekte unübersehbar, längst ist das vormals Fremde hier zu einer Selbstverständlichkeit geworden. Mag auch der sozialtherapeutische Ansatz in den Hintergrund getreten sein (allerdings: Für die an den Praml-Produktionen beteiligten Geflüchteten ist die therapeutische Wirkung der Theater-Arbeit gar nicht hoch genug zu schätzen!), so ist der künstlerische Gewinn besonders bei Kleist und Lessing immens. Hier ist es gelungen, vollkommen vergessen zu machen, dass Laiendarsteller beteiligt sind. Hier sind vollwertige Interpretationen entstanden, die maßgeblich eben von der Beteiligung der Geflüchteten und ihrem spezifischen Blick auf („unsere“) deutsche Literatur leben. Und nicht zuletzt für das Publikum, zugezogenes wie schon länger hier beheimatetes, ist dieser Ansatz immer wieder ein Gewinn. 174


Verleihung des Binding-Kultur-Preises im Frankfurter Römer (2011), Foto: Theater Willy Praml

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Der zerbrochne Krug (2011), Foto: Seweryn Żelazny

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Willy Praml bei den Proben für Der Frankfurter Jedermann (2011), Foto: Volker Muth

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Der Frankfurter Jedermann (2011), Foto: Seweryn Żelazny


Heine wacht auf (2013 Frankfurt), Foto: Seweryn Żelazny

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Heine wacht auf (2013 Frankfurt), Foto: Seweryn Żelazny


Heine wacht auf (2013 Frankfurt), Foto: Seweryn Żelazny

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Die Zoogeschichte (2014), Foto: Seweryn Żelazny


Vierter Akt Darstellende Kunst als Gesamtkunstwerk


Inszenieren in Raum und Zeit Von Julia Cloot


dessen Aura in jeder Produktion mitspielt. Wie dabei die einzelnen Parameter der Arbeit zusammenwirken, wird im Folgenden an ausgewählten Beispielen untersucht. Einleitend sei die These gewagt, dass sich die wechselseitige Permeabilität von Kunstproduktion und Alltagswirklichkeit, die sich in der Naxoshalle als Spielstätte auf Grund ihrer Vergangenheit als Produktionshalle zwangsläufig manifestiert, auch in den Inszenierungen des Theater Willy Praml in jeweils verschiedener Weise einlöst. Sie sind multiperspektivische Erzählungen, Wanderungen zwischen den Welten, deren Umrisse für jede Inszenierung neu entworfen werden.

Erzählhaltungen I: Arbeit mit dem Raum Lange bevor der Unort nicht nur zur anerkannten, sondern zur bestens erforschten Lokalität für Theaterprojekte unterschiedlicher Couleur wurde3, existierte die 1 Kito Nedo: „Urbane Verwicklungen. Kunst im öffentlichen Raum seit den Siebzigern“, in: Katja Aßmann/Lukas Crepaz/Florian Heilmeyer (Hg.): Urbane Künste Ruhr. 2012, 2013, 2014, Berlin 2014, S. 64. 2 „Kunst und Kultur können aus kleinen Orten, aus wenig attraktiven Orten oder gar ‚Unorten’, attraktive, begehrliche und ‚große’ Orte und sie dadurch zu Destinationen und ‚Ziel-Orten’ machen. Künstler und Kulturschaffende können Werke entstehen lassen, die Orten Identitäten geben und das Interesse der Menschen wecken.“ Elisa Innerhofer u. a.: „Vorwort“, in: Elisa Innerhofer/Harald Pechlaner/Gerhard Glüher (Hg.): Orte und Räume. Perspektiven für Kunst und Kultur, Bozen 2016, S. 8. 185

Julia Cloot: Inszenieren in Raum und Zeit

Das Verhältnis von Kunst zu dem Raum, in dem sie sich ereignet, gehört zu den ästhetisch interessantesten Relationen im Gefüge von Konzeption, Kunstschaffenden, Rezipientinnen und Rezipienten. In musikalischen Werken wird der Raum seit Jahrhunderten immer wieder mitgedacht oder ist sogar Teil der Werkidee – ein Prinzip, das sich inzwischen in allen Künsten finden lässt. Dabei wirkt nicht das Kunstprojekt bestimmend auf den Ort, sondern der Ort selbst, „mit all seinen Geschichts- und Gegenwarts-Konnotationen wird Teil des künstlerischen Materials“.1 Ähnlich wie das klassische Konzert seit Jahrzehnten aus den geschlossenen Konzerträumen herausdrängt, suchen sich Theaterschaffende neue Räume außerhalb der angestammten Theatersäle für ihre Arbeiten. Insbesondere Marc Augés im Zuge von Urbanisierung und globaler Mobilisierung entstandene „Nicht-Orte“, Basis für seine Theorie des Un-Orts, an dem der Mensch eigentlich ungern verweilt, werden zu kostbaren Schätzen für die künstlerische – ortsbezogene – Arbeit. Diese Un-Orte können als Zeugnisse einer verloren gegangenen Verortung ebenso interpretiert werden wie als besondere Plätze von verborgener Schönheit, die der Wiederentdeckung – etwa durch ortsbezogene Kunstprojekte oder theatrale Arbeiten – harren.2 Das Theater Willy Praml produziert seit mehr als 20 Jahren seine Inszenierungen an einem solchen kostbar gewordenen Un-Ort, in der Frankfurter Naxoshalle, in einem eigentlich kunstfremden Raum,


Vierter Akt: Darstellende Kunst als Gesamtkunstwerk

Naxoshalle als inoffizielle Spielstätte eines Theaters, das sich um Regeln wenig zu scheren schien und auf seine Institutionalisierung als genehmigte Spielstätte bis zum Jahr 2010 warten musste. Vieles läuft hier zusammen: die Industrie-­ Geschichte der Halle als ehemalige Schleifmittelfabrik, ihre Lage inmitten eines ruhigen Wohngebiets, die fußläufige Entfernung zum schräg gegenüberliegenden Mousonturm, der als freies Produktionshaus für Theaterarbeit neben den Staatstheatern steht, die rechtwinklige Nachbarschaft zum Kabarett „Die Käs“, der Spielstätte für deutschsprachiges Kabarett aus türkischer Hand. Alles in allem ein heterogenes und lebendiges Umfeld, prädestiniert für theatrale Konzepte, die mit einem fluiden, sich situativ immer wieder neu ausformenden Raum arbeiten. Das Zusammenspiel szenischen Materials mit dem Raum der Industriehalle4 unterscheidet sich dabei frappant von demjenigen in einem Theater, dessen räumliche Bedingungen kaum verändert werden können. Schier unmöglich erscheint es, Theater auf Naxos ohne die Naxoshalle auch nur zu denken. Der riesige Bau ermöglicht eine Vielfalt von räumlichen Konstellationen. Dass hier Publikum an allen vier Seiten des großen Rechtecks, zweimal längs, zweimal quer, oder auch mittig und sogar verteilt in der Halle, platziert werden kann, mag eine Binsenwahrheit sein, ist aber zwangsläufig bei jeder Produktion Teil des künstlerischen Konzepts. Ab und zu wird die Halle verkleinert, nur ein Teil der riesigen Fläche genutzt, etwa der 186

abtrennbare, deutlich kleinere Raum links von der Haupthalle, der auch als Spielstätte für diverse Produktionen des Studio Naxos’ dient. In einigen Produktionen wird der Außenraum um die Halle als zusätzliche Spielfläche genutzt. Die „Industriebasilika“5 in der Waldschmidtstraße lädt dazu ein, mehrere szenische Ebenen gleichzeitig in den Raum hineinzudenken: einen Menschen im Vorder­grund zu platzieren, dahinter tableauartige Szenen mit mehreren Darstellenden anzuordnen, vielleicht mit einer Videoprojektion als Hintergrund. Das riesige Mittelschiff wird flankiert von zwei Seitenschiffen, die ähnlich wie die Seitengassen eines klassischen Theaterraums genutzt werden können und eine Fülle von Auf- und Abgangsmöglichkeiten zwischen den Eisenträgern der Halle bieten. Eine Dramaturgie, die in der Blackbox des geschlossenen Raums buchstäblich klein anfängt, frontal vor Operafolie oder Vorhang, Glasfront oder anderweitiger Abtrennung spielt – das Publikum gegenüber auf der kleinen Tribüne – und sich dann allmählich in den Raum öffnet, die ganze Tiefe der Halle in grandiosen Bildern freigibt, bietet sich an, muss aber keineswegs Leitfaden der räumlichen Disposition sein. Genauso gut kann der Weg ein umgekehrter sein: Das Publikum sitzt zunächst in der Halle verteilt auf Papp-Hockern und wandert mit den Darstellenden in den kleineren Raum der Zuschauertribüne. Oder man verzichtet bewusst auf den Wechsel der Positionen von Darstellenden und Zuschauenden im Raum und behält


Jahr aufgezwungene Hin und Her von Innenraum und Außenraum in der Bespielung aller zur Verfügung stehenden Fenster durch die hinein- und herauskletternden Darstellenden. Hatte Willy Praml in der nomadischen Anfangs­ ­zeit seiner Theaterarbeit wechselnde Spielstätten gefunden, so ist die Naxoshalle nun schon seit über zwei Jahrzehnten das Stammhaus. Das hält die Verantwortlichen selbstverständlich nicht davon ab, Produktionen für den öffentlichen Raum zu konzipieren. Dazu gehören die Stückentwicklung Heine wacht auf …6

3 Vgl. dazu Matthias Däumer/Annette Gerok-Reiter/ Friedemann Kreuter (Hg.): Unorte. Spielarte einer verlorenen Verortung. Kulturwissenschaftliche Perspektiven, Bielefeld 2010. Im Vorwort wird ein Überblick über die wichtigsten Theoriemodelle gegeben. 4 Vgl. dazu Anna Zimmer: „Raumkonzepte. Ein Reisebericht über den Weg vom Thema hin zur Aufführung“, in: Kristin Westphal (Hg.): Räume der Unterbrechung. Theater, Performance, Pädagogik, Oberhausen 2021, S. 269 f. 5 Michael Weber über die Naxoshalle im Porträtfilm: Das 25. Jahr, eine Theater Willy Praml und Open Lens Produktion, Frankfurt am Main 2018. 6 Der vollständige Titel lautet: „Heine wacht auf und erzählt seinem Freund Karl Marx, wie er im Traum in einem Kahn die Kurt-Schumacher-Straße rauf und runter fuhr. Stationen eines Traumas.“ Vgl. dazu ausführlich Matthias Däumer: „Vom Unort zur Verunortung“, in: Günter Jeschonnek (Hg.): Darstellende Künste im öffentlichen Raum, Berlin 2017, S. 18 ff. und der anschließende Kommentar zur Produktion, S. 22 ff. 187

Julia Cloot: Inszenieren in Raum und Zeit

eine einzige Situation bei, nutzt die Rückseite der Blackbox als Videoprojektionsfläche und öffnet am Ende zum umgedrehten Zuschauerraum, der den finalen Aufstieg der Darstellenden über die Stühle des Zuschauerraums nach oben zeigt, wie in der Inszenierung von Anton Tschechows Kirschgarten (2023). Die Verantwortlichen für die Produktionen, Willy Praml und Michael Weber, beweisen dabei immer wieder ein besonderes Gespür für Blickachsen, Raumwirkungen und tableauartige Dispositionen des Ensembles, nicht nur in der Adaption des Alten Testaments Genesis (2016) oder klassischer Stoffe aus dem 18. und frühen 19. Jahrhundert. Naturgemäß können oder müssen Requisiten in der Weite der Halle einen holzschnittartigen, dabei jedoch sparsamen und manchmal sogar hochsymbolischen Charakter haben, wie der asteroidartige Gesteinsbrocken, steingewordenes Damoklesschwert in Das Erdbeben in Chili (2016), oder die unter dem Dach der Halle gekreuzten antiken Säulen in Nathan der Weise (2017/2019). 2021, im Jahr eins nach der Pandemie und in einer Phase frisch gelockerter Maßnahmen, nutzt das Theater Willy Praml den Außenraum vor der Halle für die Produktion: Heine. Ich rede von der Cholera!. Aus der Not heraus, Theater mit möglichst wenig haptischen Berührungspunkten, Einschränkungen für Darstellende und Publikum, zu produzieren, entsteht ein farbenreiches Vexierspiel mit Innen- und Außenraum, in dem die dicken Mauern der Halle als Membran dienen. Sinnfällig wird das pandemiebedingt schon im zweiten


Vierter Akt: Darstellende Kunst als Gesamtkunstwerk

in Frankfurt und – darauf fußend – das Stationentheater Der Rabbi von Bacharach. Stationen eines Traumas (ab 2015, ab 2019 im Rahmen des Festivals „An den Ufern der Poesie“) in Rheinland-Pfalz, bei dem sich die Zuschauenden mit den Darstellenden durch das Städtchen Bacharach am Rhein bewegen. Nacheinander sitzen oder stehen sie auf dem Rasen am Rheinufer, an der Wernerkapelle hoch über dem Rhein, in der Peterskirche oder im Innenhof des historischen Rathauses, oder sie laufen mit dem Ensemble durch die kleinen Straßen der Stadt. Trotzdem handelt es sich niemals um ein partizipatives Theater, bei dem ein Bühnengeschehen in Teilen oder vollständig von der Reaktion des Publikums abhinge – das wäre nicht Willy Pramls und Michael Webers Sache.

Erzählhaltungen II: Arbeit mit dem Material Ein freies Produktionshaus wie die Naxoshalle ist prädestiniert für Stückentwicklungen, wie sie etwa in Gießen am Institut für Angewandte Theaterwissenschaft gelehrt und mit nachhaltigem Erfolg in die Welt getragen werden. Das Studio Naxos, ein Verein junger Theatermenschen, hat sich in den letzten Jahren zu einem Ort für solche Arbeiten entwickelt und bietet in Selbstverwaltung Plattform und Sprungbrett für Theaterschaffende aus der Region. Mit Festivals wie „Implantieren auf Naxos“ haben die Mitglieder für zeitgemäße Formate gesorgt, die im Verbund mit den Produktionen des Theater Willy Praml über das Jahr 188

einen vielfältigen Spielplan bieten. Häufig handelt es sich dabei um Stückentwicklungen: Auf der Basis einer Recherche werden zuvor gesetzte Themen anhand verschiedenster Materialien textbasiert oder multimedial erschlossen. Die Produktionen des Theater Willy Praml sind in der Regel keine solchen Stückentwicklungen, wenn man von späten Arbeiten wie zurückGEHEN ODER hierBLEIBEN. HEIMAT? (2023) oder partiell auch Tschaikowski. SCHWANENSEE (2019), die auch autopoietisch-selbstreflexive, beschreibend-analytische und biographisch-dokumentarische Passagen enthalten, einmal absieht. Meist bildet ein Werk aus der klassischen Theater- oder Erzählliteratur den Kern und Ausgangs­punkt einer Theaterarbeit des Theater Willy Praml. Stets lautet der Anspruch, aus den Stücken des klassischen Repertoires eine Grundfrage herauszudestillieren, die zum Leitstern für den Umgang mit dem Text, für die inszenatorischen Mittel und die Wahl der Bühnenmusik(en) wird und von der aus die Fäden in die Halle gesponnen werden. Die literarischen Vorlagen werden in ihrem Verlauf und in ihrer Sprache kaum angetastet und nur leicht modernisiert. Die Theaterwissenschaft hat sich in den letzten 25 Jahren um vielfältige Forschungsansätze zu postdramatischen und performativen Theaterformen erweitert. Wegmarken waren das Erscheinen von Hans-Thies Lehmanns Buch Postdramatisches Theater (1999) und Erika Fischer-Lichtes Suhrkamp-Band Ästhetik des Performativen7 (2004). Ein Merkmal performativer


Performance aber die Präsenz im Jetzt zu, so kommt man hier ins Stocken. Ein Beispiel mag zur Erläuterung dienen: In Willy Pramls Inszenierung von Nathan der Weise wird die Ringparabel, jene Schlüsselszene aus dem Dritten Aufzug des Dramas, in der Nathan die Frage des Sultans nach der wahren Religion mit einer Fabel beantwortet, prologartig der Inszenierung vorangestellt. Der in ein Nachthemd gewandete Nathan trägt sie allein vor, bei den letzten Versen flankiert von orientalisch anmuten­­­­­­den Hintergrundgesängen. Wir sehen auf diese Weise, wovon der erste Aufzug des Dramas nur aus der Rückschau berichtet: einem nächtlichen Brand in Nathans Haus. Rauchentwicklung bedrängt Nathan zusehends und seine Erzählung der Parabel mündet schließlich in einen Feueralarm. Mit der eintreffenden Feuerwehr und den Anweisungen der Intendanz an das Publikum verschwimmen Spiel und Alltag und es entsteht Unsicherheit darüber, ob die Rauchwolken zum Stück gehören oder nicht. Die Zuschauenden werden aufgefordert, ihren Platz auf der Zuschauertribüne zu verlassen und sich an den Seitenlinien einer länglichen Spielfläche aufzureihen. Kurz

7 Erika Fischer-Lichte: Ästhetik des Performativen, Frankfurt am Main 2004. 8 Hans-Thies Lehmann: Postdramatisches Theater, Frankfurt am Main 1999. 9 Vgl. dazu Nina Tecklenburg: Performing Stories. Erzählen in Theater und Performance, Bielefeld 2014, S. 14. f. 189

Julia Cloot: Inszenieren in Raum und Zeit

theatraler Ansätze ist, dass die Zuschauenden im Unklaren gelassen werden, ob sie (noch) Zuschauende einer Theateraufführung sind oder (bereits) Teil einer Alltagshandlung. Hans-Thies Lehmann wiederum stellt dem klassischen Theater ein „Postdramatisches Theater“ gegenüber.8 Lebt das eine von der Repräsentanz vorhandener Geschichten, so zeichnet sich das andere durch eine Abkehr von der dramatischen Fabel aus.9 Unschwer lässt sich feststellen, dass Willy Pramls und Michael Webers Arbeiten weder dem einen noch dem anderen eindeutig zuzuordnen sind. Das hat unter anderem zu tun mit dem Vexierspiel der Rollenzuordnung, bei dem die Darstellenden während einer Inszenierung in verschiedene Rollen schlüpfen können. Jede und jeder kann prinzipiell alles sein, Antigone auch von einem Mann dargestellt werden, die alttestamentarischen Texte in Genesis auch im Dialog zwischen Mann und Frau gesprochen werden, die jahrtausendealten Texte durch diese Personenführung einen individuellen Charakter erhalten. Das Oszillieren zwischen Präsenz und Repräsentanz hat auch zu tun mit der Einbindung nicht deutschsprachiger Darstellenden, die zwischen Rollen-Ich und personalem Ich changieren und damit eine theatrale Schwellensituation personifizieren, die für ein Leben zwischen den Welten stehen mag. Sprechen sie in gebrochenem Deutsch einen klassischen Text, so schwingt ihre persönliche Geschichte für die Zuschauenden immer mit. Ordnet man dem klassischen Theater eher die Repräsentanz vergangener Stücke, der


Vierter Akt: Darstellende Kunst als Gesamtkunstwerk

wird der Hintergrund des Dramas erläutert. Erst danach beginnt das Stück, eine Strichfassung von Gotthold Ephraim Lessings fünfaktigem Dramatischen Gedicht, die der Handlung mit wenigen Auslassungen von Nebenszenen folgt. Die Passage im dritten Aufzug, die in die Ringparabel mündet, endet mit der Aufforderung des Sultans an Nathan: „Erzähle!“ und den ersten Worten der Ringparabel. Die eigentlich mit nur wenigen dialogischen Einsprengseln monologische Erzählung wird aufgelöst in von jeweils einem Warnton einge­­ leitete Sequenzen aus kurzen Wortwechseln zwischen Nathan und Sultan und Sprechchören mit dem Parabeltext. Statt des Nathan’schen Monologs beginnen arabische Gesänge, die Szene wird verdunkelt und der erste Teil des Parabeltextes von Fackelträgern in Feuerwehruniformen gesprochen, versweise unter­­ brochen von arabischen Gesängen.10 Die folgenden Verse werden zunächst vom gesamten Ensemble chorisch gesprochen, nach einem kurzen Wortwechsel zwischen Sultan und Nathan sprechen alle Darstellenden die zweite Hälfte der Ringparabel one to one zu den Zuschauenden. Der darauf abermals folgende Wechsel zwischen Nathan und dem Sultan wird wiederum abgelöst von einem Sprechchor. Nach dem von Nathan gesprochenen Schlüsselsatz: „Der rechte Ring war nicht erweislich“ folgen der Richterspruch als arabisch-deutsche Wechselrede des Ensembles und das von Nathan gesprochene Ende der Parabel, begleitet von einem Hintergrund-Sprechgesang des Ensembles. 190

Mit dieser Aufsplittung der zentralen Ringparabel wendet sich die Regie vom Eindeutigen ebenso ab wie vom Monologischen, ebenso wie von einem auf wenige Protagonistinnen und Protagonisten bezogenen Theater, im Dienste einer Verdeutlichung der Aktualität der Texte. In der Nachfolge von Bertolt Brechts epischem Theater will dieses Theater weg von der Darstellung von Einzelschicksalen und dafür große gesellschaftliche Konflikte der Gegenwart auf die Bühne bringen.11

Erzählhaltungen III: Arbeit mit den Mitwirkenden Ein Theater der Gegenwart rekurriert zwangsläufig auf die Themen und Fragen, die sich aus unserer aktuellen Situation herausstellen lassen. Das Theater Willy Praml geht einen Schritt weiter und bindet seit 2015 in seine Inszenierungen geflüchtete Darstellende unterschiedlicher Herkünfte ein, und zwar sowohl professionelle Schauspielerinnen und Schauspieler als auch Laiendarstellende. Willy Pramls berufsbedingte historische Verbindung zur kulturellen Erziehung und Sozialarbeit12 findet sich hier auf anderer Ebene wieder. Eine Bühnenfassung von Anna Seghers Roman Transit ist 2015 die erste Produktion, in der Willy Praml in Kooperation mit dem WuWei Theater mit geflüchteten Darstellenden arbeitet. In die darauffolgende Bühnenfassung von Heinrich von Kleists Erdbeben in Chili (2016) bindet das Ensemble 27 Darstellende aus verschiedenen


Halle ablegen. Im Kontrast dazu werden die Mitwirkenden unmittelbar vor dem Erdbeben als Gruppe choreografiert, dem Erdbeben geht ein Sprechchor nacheinander in allen drei Sprachen voran. Damit werden die im Theater Willy Praml häufig aufzufindenden phalanxartigen, an Einar Schleef erinnernden Sprechchöre völlig neu akzentuiert, als Wechselgesänge in mehreren Sprachen. Nach dem Erdbeben wird die dreisprachige Erzählweise auf drei Sprecher verteilt und wie in der Musik diminuiert, die einzelnen Verse in verschiedenen Sprachen folgen einander in schnellerem Tempo. Schließlich erzählt eine im Vordergrund der Halle sitzende Gruppe von fünf Sprechenden – vier Frauen, ein Mann – während der Rest des Ensembles als stumme Darstellende im Hintergrund der Halle fungiert. Am Ende des ersten Teils wird deutsche Willkommens­kultur umgekehrt, indem die Zuschauenden mit einem Schild 10 Eher in den Horizont eines Comic Relief gehören die Reaktionen der omnipräsenten Feuerwehrleute, die vom Alarm aufgescheucht werden, wenn der Patriarch „Scheiterhaufen“ sagt. 11 Im Porträtfilm zum 25-jährigen des Theaters lautet eine Einblendung: „In den Worten der Vergangenheit den Hall für die Gegenwart suchen.“ (14'30"). 12 Nachzulesen ist die Genese von Willy Pramls Theaterarbeit in seinem Beitrag: „Mission oder Vision? Das soziale Engagement der Theaterkunst“, in: Wolfgang Schneider (Hg.): Theater und Jugendschutz. Aids, Sucht, Gewalt als Themen auf der Bühne, Weinheim und München 1993, S. 9 ff. 191

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Ländern ein: unter anderem aus Afghanistan, Irak und Syrien. Kleists Erzählung von 1806 wird dreisprachig auf die Bühne gebracht, auf Farsi, Arabisch und Deutsch. Die Zuordnung der Sprachen zu den Darstellenden kann dabei wechseln, auch Darstellende nicht-deutscher Herkünfte sprechen deutsche Texte und umgekehrt. Auf eine Dramatisierung der Erzählung wird verzichtet, stattdessen wird der Text auf verschiedene Erzählstimmen – einheimische und geflüchtete − verteilt. Dies korrespondiert sinnfällig mit der Darstellungsweise Kleists, der die Geschichte aus verschieden­en Perspektiven erzählt, so dass offen bleibt, ob das Erdbeben eine willkürliche Naturgewalt ist oder von Gott über die Menschen gebracht wurde. Kleists Novelle ist dreiteilig: ein im Zeichen von Gewalt stehender erster Teil mit der bevorstehenden und durch das Erdbeben vereitelten Hinrichtung und der grausame Kulminationspunkt der Handlung im dritten Teil, die Lynchmorde in der Dominikanerkirche, rahmen einen idyllischen Mittelteil. Die Inszenierung behält die dreiteilige Struktur bei und wählt dafür drei ver­­schie­­dene Spiel- und Publikumssituationen: Zunächst wirkt der Kleist-Text in der leer und dekorationslos belassenen Halle. Der Menschenstrom, der 2015 Deutschland erreichte, wird augenfällig gemacht als nahtlose Abfolge von Einzelnen, die durch einen jeweils auf die Flucht mitgenommenen Gegenstand individualisiert werden und sich schließlich zum lebenden Bild ordnen, wobei sie die mitgebrachten Objekte (ein Teppich, ein Fußball, ein Schachspiel, ein Stofftier etc.) im Proszenium der


Vierter Akt: Darstellende Kunst als Gesamtkunstwerk

„Welcome to Garden Eden“ willkommen geheißen und gebeten werden, in der Halle Platz zu nehmen. Die Teppiche, die statt fester Stühle als Sitzgelegenheiten für das Publikum dienen, spielen dabei auf die unwägbare und wechselhafte Situation Geflüchteter an. In der Idylle im Garten, die den Mittelteil der Erzählung bildet, wird nur noch Deutsch gesprochen, vielleicht um herauszuarbeiten, dass Kleist in dieser Post-Katastrophensituation eine Utopie zeigt, in der alle Menschen, unabhängig von ihrem Stand, gleich sind. Für den dritten Teil der Erzählung hat die Regie ein grandioses Konzept entwickelt. Der Schluss der Erzählung wird nacheinander in drei Sprachen gespielt, erst Farsi, dann Arabisch, dann Deutsch. Dass Kleists Text wörtliche Rede enthält, kommt der dramatischen Wirkung entgegen. Die beschreibenden Passagen hingegen werden nicht vom Ensemble gesprochen, sondern stumm dargestellt, wodurch die beispiellose Grausamkeit des Geschehens mit Wucht vermittelt wird. Der feste Stab von Darstellenden, mit dem das Theater Willy Praml arbeitet, kann je nach Produktion flexibel erweitert werden und umfasst seit 2015 Darstellende aus dem arabischen Raum. ZurückGEHEN ODER hierBLEIBEN. HEIMAT? (2023), die jüngste Produktion, steht ganz im Zeichen der geflüchteten Darstellenden und wurde mit ihnen gemeinsam erarbeitet. Die individuellen Geschichten der acht mitwirkenden Frauen und Männer dienen als Basis für eine Stückentwicklung in verschiedenen Bühnensituationen. Eine Videoprojektion des unzerstörten Syriens 192

und eine lyrische Beschreibung dieses Idealzustandes eröffnen das Stück. Weiße Steinblöcke, die eine idyllische Szenerie des antiken Damaskus verdecken und schließlich von den Darstellenden abgetragen werden, dienen dem Publikum als Sitzgelegenheiten in der nachfolgenden Szene. An acht Stationen nehmen die Darstellenden die Tradition der Hakawati auf, der syrischen Geschichtenerzähler, und laden die Zuschau­enden zum Lauschen ein. Ohne jegliches Pathos berichten sie von ihrer Wohnsituation in der Heimat, von ihrer Flucht nach Deutschland, vom Ankommen in einem fremden Land. Die folgenden Diskussionen über die Situation in Syrien, die Flucht und die Ankunft in Frankfurt führen mit intertextuellen Referenzen zu den Produktionen Erdbeben in Chili, Nathan der Weise und Im arabischen Rössl ehemals im weißen Rössl direkt in die Gegenwart. Willy Praml rezitiert ein Gedicht von Joseph von Eichendorff (Komm Trost der Welt), einer der Darstellenden singt zu Klavierbegleitung Gustav Mahlers Die zwei blauen Augen von meinem Schatz aus den Liedern eines fahrenden Gesellen – es sind diese nahtlos ineinandergreifenden Inszenierungsmomente, die den Eindruck eines Gesamtkunstwerks hervorrufen.

Gesamtkunst ohne Werk Ebenso wie jener des Musiktheaters ist der Terminus des Gesamtkunstwerks allerdings definitionsabhängig13 Beide Begriffe werden zwar im dezidierten Widerspruch zur überkommenen Oper verwendet, sind jedoch durch


die Verknüpfung eine assoziative, wie das Irrlichtern des Vorspiels zum dritten Akt aus La Traviata in Heine. Ich rede von der Cholera! (2021). In den letzten Stücken des Theater Willy Praml ist eine Affinität zu späten Werken oder zu solchen, die durch ihr Thema für Abschied stehen, zu beobachten. Ikonische Musiken wie Franz Schuberts Große C-Dur-­ Sinfonie, erst 1839 postum uraufgeführt und mit 60 Minuten eine der längsten Sinfonien überhaupt, sorgen für den überzeitlichen Charakter der bedrückend aktuellen Erzählungen der Geflüchteten in zurück­ GEHEN ODER hierBLEIBEN. HEIMAT?. Werke von Franz Schubert dienen auch als Taktgeber für die Inszenierung Antigone. Nicht von ungefähr wurde die von Martin Walser und Edgar Selge bearbeitete Fassung des von Friedrich Hölderlin übersetzten Sophokleischen Dramas gewählt, die mit einer analytischen Einleitung der Herausgeber beginnt.15 Sie wird rezitiert, danach

13 Vgl. dazu Julia Cloot: „Gesamtkunstwerk und multimediales Musiktheater“, in: Udo Bermbach/Dieter ­Borchmeyer/Hermann Danuser/Sven Friedrich/Ulrike Kienzle/Hans R. Vaget u. a. (Hg.): Wagner und die Neue Musik, Würzburg 2010, S. 121 ff. 14 Zum Begriff des Gesamtkunstwerks vgl. Anno Mungen: „Gesamtkunstwerk“, in: Daniel Brandenburg/Rainer Francke/Anno Mungen (Hg.): Das Wagner-Handbuch, Laaber 2012, S. 255 ff. 15 Sophokles: Antigone. Übersetzt von Hölderlin. Bearbeitet von Martin Walser und Edgar Selge, Frankfurt am Main 1989. 193

Julia Cloot: Inszenieren in Raum und Zeit

inflationären Gebrauch inzwischen terminologisch verwaschen. Während der Begriff Gesamtkunstwerk inzwischen häufig synonym für künstlerische Großprojekte steht, bezeichnet der Begriff Musiktheater musikalisch-szenische Verbindungen des 20. Jahrhunderts und im 21. Jahrhundert insbesondere experimentelle Mischformen. Die Produktionen des Theater Willy Praml sind Gesamtkunstwerke in einem ursprünglichen Sinn, nämlich dem, Werke zu schaffen, in denen alle künstlerischen Parameter integrale Bestandteile der theatralen Arbeit sind: Text, Musik, Tanz, Bühne, Licht … Sie sind allerdings keine Gesamtkunstwerke in dem Sinn, der Richard Wagner dazu veranlasste, den akustisch perfekten Orchestergraben für seine Musik entwerfen zu lassen − und damit doch klare Prioritäten zu setzen als Komponist. Beabsichtigte Wagner, sich in den Dienst eines Kunstwerks der Zukunft14 zu stellen, so sind die auf Naxos aufgeführten Arbeiten ganz entschieden Kunstwerke der Gegenwart. An ihrem Anfang steht immer das Wort, eine konzentrierte und ausgedehnte Arbeit am literarischen Text, flankiert von einer hohen Affinität zur Musik. Musik spielt in fast allen Produktionen des Theaters eine große Rolle, sei sie live aufgeführt oder zugespielt. Dabei können diese Schauspielmusiken verschiedene Funktionen übernehmen, zum Beispiel ähnlich wie Richard Wagners redendes Orchester eine Kommentarfunktion, dezente Hinweise auf Ungesagtes oder Unsagbares geben, wie der „Frère-Jacques“-Chor in Nathan der Weise. Oft ist


Vierter Akt: Darstellende Kunst als Gesamtkunstwerk

setzt Franz Schuberts C-Dur-Streichquintett ein, das die Inszenierung strukturell mitträgt. Im Verlauf der Arbeit tritt ein zweites Werk hinzu, der 3. Satz Andante aus dem Klaviertrio Es-Dur op. 100 von Schubert, dessen einleitende Klaviertakte auch als Metrum für das Bühnengeschehen wirken können. Beide Stücke sind Spätwerke von Schubert, das Streichquintett entstand zwei Monate vor seinem Tod 1828. Die Werke werden von CD zugespielt, vor einer blutbesudelten weißen Tribüne sind nur fünf Stühle und Notenständer zu sehen. In einer der stärksten Szenen nehmen die Darstellenden auf diesen Stühlen Platz, lauschen der Musik des Streichquintetts und treten damit aus ihrer Rolle heraus neben die ebenfalls Zuhörenden. Der Eindruck des Melodramatischen soll hier nicht nur nicht vermieden werden, sondern bildet ein wesentliches Element der Inszenierungspraxis. Das Theater Willy Praml bezieht seine dramaturgische Spannung ganz wesentlich aus einer Kombina­ ­tion von visuellen und akustischen Materialien, die auf den ersten Blick disparat erscheinen. Die Leichtfüßig­­keit einer scheinbar assoziativen Verknüpfung verbindet sich mit dem zwingend sinnfälligen Charakter einer auf den zweiten Blick absolut naheliegenden Kop­plung. In der Produktion Tschaikowski. SCHWANENSEE (2021) werden ähnlich wie bei einer Stückentwicklung um das zentrale Moment herum weitere Materialien aus verschiedenen Epochen mosaikartig angelagert, so gegen Ende der Inszenierung der Schlussmonolog des King Lear: „Blast, Wind’, und sprengt die Backen!“ 194

Tschaikowski. SCHWANENSEE ist gattungsmäßig ein Melodram: Willy Praml paraphrasiert als Erzähler die Handlung des 1877 uraufgeführten Balletts von Peter Tschaikowsky aus der Partitur, während der Pianist Leonhard Dering aus dem Klavierauszug des Balletts spielt. Dazu erkundet die männliche Hauptfigur im Kostüm Frankfurt − diese dritte Ebene der Inszenierung ist als Videoproduktion zugespielt und fällt im letzten Drittel der Inszenierung, die den Blick in den Raum freigibt und das Geschehen aus Schwanensee von Tänzerinnen und Tänzern auf der Bühne darstellen lässt – sogar ein Pas de deux –, weg. Auch hier findet sich eine fluide Rollengestaltung: Im Verlauf der Schwanensee-Erzählung schlüpft Willy Praml in die Rolle des Prinzen, aber auch in die der weiblichen Hauptfigur Odette oder der Königin. Als eine der wenigen Inszenierungen des Theater Willy Praml macht diese zudem das Theater selbst zum Thema, indem die sinnbildliche Funktion des Schwans reflektiert wird: Der Schwan taucht immer dann auf, wenn Übergänge veranschaulicht werden sollen, zwischen dem Diesseits und dem Jenseits, zwischen dieser Welt und der anderen Welt bestehen, er ist verbunden mit jenen Prozessen, die nur wortreich beschrieben, und doch nicht benannt werden können, jenem gestaltlosen Dazwischen, des Nicht mehr und Noch nicht.16

Wie in vielen Produktionen des Theaters Willy Praml wird das Überzeitliche mit dem Gegenwärtigen, das


Mitteln entstehen. Die Aufsplittung oder Vervielfältigung von Texten und das chorische Sprechen gehören ebenso dazu wie die vielen unmittelbar sinnfälligen visuellen Situationen in der Halle oder die Verwendung musikalischer Werke. Deutlich geworden ist, dass eine Steigerungsdramaturgie immer wieder durchbrochen wird vom Hereinbrechen des Alltäglichen und der Charakter des unantastbaren „Werks“ damit auf sympathische Weise hinterfragt wird. Julia Cloot: Inszenieren in Raum und Zeit

Artifizielle mit dem Alltäglichen kombiniert, die Gralserzählung aus Richard Wagners Lohengrin, die in seine schicksalhafte Aufforderung an Elsa mündet: „Nie sollst Du mich befragen“ mit einer Videoprojektion des Prinzen vor einer Litfaßsäule in Frankfurt. Typisch ist die Kombination von mehreren szenischen Ebenen als Zeichen einer multiperspektivischen Erzählhaltung, wie sie in der Bühnen-Adaption von Anna Seghers’ Transit (2015) mit einer geteilten Video-Projektion und einer ebenfalls zweiteiligen Miniaturspielfläche links und rechts der Bühne womöglich ihre avancierteste Form findet. Pathos wird dabei immer wieder durch Alltagshandlungen oder -gegenstände konterkariert oder durch visuelle Verdopplung aufgelöst – hierzu zählen die Kunststoffschwäne in Tschaikowski. SCHWANENSEE oder das Ensemble von Stühlen, das auf einer Sackkarre gestapelt dem Derwisch in Nathan der Weise als Thron dient. Auch das Buchstäbliche, die Symbolisierung des Schwanenweißen durch zwei Eimer mit weißer Farbe im ersten Teil scheut die Inszenierung nicht. Die in den Raum hinein links und rechts versetzt aufgereihten weißen Gummistiefelpaare im zweiten Akt sind dagegen dramaturgische Wegmarken einer mehrfach wie in Zickzackfalz nach hinten gestaffelten Bühne – Sinnbilder eines mehrschichtigen Geschehens, das die Mitwirkenden schließlich in sich aufnimmt, indem sie in die Stiefel hineinsteigen. Die analytischen Bemerkungen haben gezeigt, wie ein eigener Groove und eine spezielle Sogwirkung der Produktionen aus verschiedenen inszenatorischen

16 Videoaufzeichnung der Inszenierung, ab ca. 20'30". 195



Von Mogadischu an den Main (2014), Foto: Seweryn Żelazny

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Carl Sternheim. Die Hose / Der Snob / 1913 (2015), Foto: Seweryn Żelazny


Genesis. Altes Testament (2016), Foto: Seweryn Żelazny

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Das Erdbeben in Chili (2016), Foto: Seweryn Żelazny


Das Erdbeben in Chili (2016), Foto: Seweryn Żelazny

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Iphigenie auf Tauris (2016), Foto: Seweryn Żelazny


Nathan der Weise (2017), Foto: Seweryn Żelazny

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Walpurgisnacht. Eine deutsche Höllenfahrt (2018), Foto: Seweryn Żelazny


Walpurgisnacht. Eine deutsche Höllenfahrt (2018), Foto: Seweryn Żelazny

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Walpurgisnacht. Eine deutsche Höllenfahrt (2018), Foto: Seweryn Żelazny


Im arabischen Rössl ehemals Im weißen Rössl (2019), Foto: Seweryn Żelazny

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Heine. Ich rede von der Cholera in der Regie von Michael Weber (2022), Foto: Rebekka Waitz


Fünfter Akt Darstellende Kunst als Literatur


Über das Erzählen und ­Deklamieren, vom ­Sinnlichen und ­Pathetischen Von Judith von Sternburg


Das Theater Willy Praml strahlt eine Sicherheit aus, die nicht mit Selbstgewissheit verwechselt werden sollte. Diese Sicherheit mag damit zu tun haben, dass man sie nach all den Jahrzehnten entweder hat oder längst den Beruf wechseln musste. Auf jeden Fall aber wird sie damit zusammenhängen, dass hier meistens sogenannte große Literatur auf den Spielplan kommt, und Literatur wird normalerweise dann groß genannt, wenn die Beschäftigung mit ihr auch wieder und wieder und Jahrhunderte später noch immer lohnt. Praml kann sich das leisten, könnte man jetzt einwenden, weil er nicht zehn bis fünfzehn Premieren in der Spielzeit runterreißen muss. Das ist wahr, und doch ist etwas in seinem Umgang mit den Texten von Johann Wolfgang von Goethe und Heinrich von Kleist, von Friedrich Hölderlin und Heinrich Heine, aus der Bibel und aus der Antike, von dem aus sich Schlussfolgerungen für das Theater insgesamt ziehen lassen. Und für das Publikum und die Welt hier draußen. Schmal ist nämlich der Grat zwischen der verbreiteten heftigen Verausgabung und der ebenso verbreiteten konservativen Bräsigkeit – um zwei Pole zu nennen, zwischen denen sich Stadt- wie Privattheater im Umgang mit klassischen Texten austoben beziehungs­weise ausruhen und oft auch beides zugleich. Auf ihm, dem schmalen Grat, spaziert das Theater Willy Praml mit einer traumwandlerischen Sicherheit: ist offenherzig und theatralisch, erzählt und deklamiert, riskiert

Sinnlichkeit und Pathos, ohne einer ironischen Brechung abhold zu sein; erlaubt der Ironie aber nie, die Deutungshoheit über einen Text und einen Theater­abend zu übernehmen; hält Anschluss an Welt und Stadt – was die Mitwirkenden betrifft, was die Diskussionsbereitschaft betrifft –, aber der ausgewählte Text wird davon nicht über- oder weggerollt. Meistens, fast immer geht das gut. In der gelegentlich aufflammenden Debatte über die Frage, ob sich Theater zu weit vom Publikum entferne oder sich zu sehr beim Publikum anbiedere, weist Willy Praml lässig einen Weg. Viele seiner so sinnlichen wie durch­­ dachten, so direkten wie zarten Inszenierungen dürften ausgezeichnete frühe Theatererlebnisse bescheren – und wiederkommen wird man auch.

Theater der geruhsamen Durchdringung Das Theater von Willy Praml hat ein gutes Gedächtnis. Es kommt von der Literatur her, die ihrerseits ein gutes Gedächtnis hat – jedenfalls selbst immer wieder einbezieht, was vor ihr da war. Literatur aus dem Nichts: keine Unmöglichkeit, aber fast. Und es kommt von einem langen Leserleben her, in dem die Klassik eine initiierende Rolle gespielt haben muss – gespielt hat, wie das Publikum des Theaters Willy Praml mittlerweile aus erster Hand weiß. 2016 kam Praml auf ein frühes Erlebnis mit Novalis’ Hymnen an die Nacht zurück und machte daraus eine anrührende Stunde Bühnenkunst. Wie sich das Autobiografische und das Literarische 211

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Theater der Literatur


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dabei verschränkten, darf als typisch gelten. Das Auto­­­ biografische hat in den Arbeiten von Willy Praml nämlich eine immense, grundlegende, alles womöglich überhaupt erst in Gang setzende Präsenz und drängelt sich trotzdem nicht vor den Text. Ein Deutschlehrer war es, der dem 15-jährigen Klosterschüler Willy vorgeschlagen hatte, den Novalis-Text zu lernen – wie selten spielt die Schule ihre Macht so klug und gegen die traurige Logik von Lebensläufen aus. Der Auftritt in der Aula, berichtete Praml im Programmheft zu Novalis. Hymnen an die Nacht, sei ein großer, in der Erinnerung riesiger Erfolg gewesen. 60 Jahre später tauchte aus dem pech­­­ schwarzen Dunkel in der Naxoshalle das Praml’sche Zuhause von einst auf. Einmal bloß ein Spiegel, in dem der rezitierende 75-Jährige zu sehen war, dann ein gutbürgerlich geschwungenes Sofa, auf dem er lagerte, dann ein Holztisch, unter dem er kauerte, dann eine Leiter, die er hochstieg. Dazwischen immer wieder ein totales Schwarz, manchmal belebt durch ein Stirnlämpchen, mit dem Praml sich im Bergwerk des Textes zurechtfand. Denn das Herabsteigen in die Erinnerung – eine andere Zeit, eine andere Welt – und Novalis’ Dunkellust fügten sich ganz zwanglos ineinander. Geisterhaft fand sich nun Pramls Mutter Amalie (gespielt von Maria Niesen) ein; Mutter und Sohn dabei in einer nur im Traum möglichen Gleichaltrigkeit. Amalie ließ den unverdrossen weiter rezitierenden Willy Teller ab­­­­trocknen, las selbst staunend ein paar Sätze aus dem 212

dicken Buch vor. Friedfertig bauten Mutter und Sohn die Krippe auf, offenkundig nicht zum ersten Mal – alle Teile und alle Figuren haben ihren festen Platz. Das vermutlich Prosaische einer niederbayerischen Metzgerei und das Zukunftsträumerische eines ganz anderen Lebens zeigten sich ohne Denunziation. Wenn eine Zusatznote im Spiel war, dann war es gutwilliger Spott. Präsentiert wurde eine Künstlerwerdung aus dem Geist der Romantik, deren Auflehnung durch ihre Traumverlorenheit im Novalis-Text nicht lärmig war, aber nachhaltig. Der lange Atem des Theaters Willy Praml zeigt sich im Praml’schen Langzeitgedächtnis, er zeigt sich in der Geduld, mit der er immer wieder klassische Texte umkreist, sie abklopft und testet. Er zeigt sich auch in der schieren Ausdauer von Aufführungen. Legendär der Wilhelm Meister von Goethe, der in Teilstücken allmählich anwuchs und dabei alleine beim „Lehrjahre“-­ ­Roman blieb (also nicht zu den „Wanderjahren“ vor­­­­­­­­­­stieß). Im Interview in der Frankfurter Rundschau sprach Praml davon, dass der Roman „ein einziges Lebenstheater“1 sei – beides, Leben und Theater, ausdrücklich ineinanderfließend, so dass „dieser sonst so unüberbrückbare Konflikt zwischen Kunst und Leben entschärft, ja einfach ausgehebelt“ werde. Das exerzierte der Theatermacher dann seinerseits durch, indem er die Stücke schließlich auf eine 13-stündige Aufführung brachte. Theater als ein Stück Leben. Das war im Herbst 2004, hören wir rein.


ausdachte. „Der Graf bezeigte sich vollkommen zufrieden.“ Goethes Roman ist verrückt, aber kaum verrückter als das Leben. 16 Uhr. Endlich ein Kaffee. Und an Tröpfe ohne Picknickkörbe werden Lebensmittel verkauft, darunter belegte Brötchenkringel. Einen Stock tiefer beginnt der zweite Teil. 17 Uhr. Ernst und Koketterie. Schon längere Zeit dreht sich alles um Hamlet, die Schauspielkunst und Deutschland. Der Kurzweil tut das keinen Abbruch. „Es kann doch kein Deutscher einen Schuh zuschnallen, der es nicht von einer fremden Nation gelernt hätte.“ Beethovens 5. klingt kokett wie nie. 18 Uhr. Mehr Ernst und Koketterie. Eben war die Hamlet-Premiere, und was waren sie froh, dass alles gut ging. Natürlich interessiert sich der Frankfurter „Wilhelm Meister“ besonders fürs Leben kleinerer Schauspieltruppen. Die fidele Philine ließ ihre Schuhe (Stelzchen) beim baffen Wilhelm. Nun aber gibt’s noch einen Kaffee. 19 Uhr. Elegie und Markt. Die Wendung ins Elegische verlief diskret. Ausgerechnet jetzt holen Marktfragen die Truppe ein: Kann man mit schlechteren, schlechter bezahlten Schauspielern effizienter produzieren? 20 Uhr. Höchste Zeit, Kürbissuppe zu essen. 1 ,Das ist Lebenstheater‘. Willy Praml bringt ,Wilhelm Meisters Lehrjahre‘ auf die Bühne, Interview mit Jutta Baier, in: Frankfurter Rundschau, 9. Juni 2004. 213

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11 Uhr. Was für ein Kasperletheater. Prinzessin P. liebt nicht Kasper, sondern Fernando. Kasper ersticht sie mit einem stumpfen Messer, brutal. Wilhelm Meister schwärmt für Puppenspiele aller Art, auch bei seinem Auftritt in der Frankfurter Naxoshalle. 12 Uhr. Große Posen. Eine Dame und ein windiger Schauspieler, der sie entführte, wurden eingefangen und präsentieren sich als Märtyrer. Gleich schreibt Wilhelm einer der Frauen, die er liebt, einen wunderschönen Brief. Agathe, die aus dem „Freischütz“ kurz hinzustößt, singt eine noch wunderschönere Arie. Wenn Willy Praml Theater macht, macht er Theater, aber hallo. 13 Uhr. Halligalli. Eine Zirkustruppe stolziert durch den Saal. Es zeigt sich, dass der bisherige Wilhelm prima im Bodenturnen ist. Darum spielt er jetzt einen Artisten. Man weiß nicht, wo man zuerst hinsehen soll: zur bärtigen Frau, zur Schlangenmaid, zum unheimlichen Stelzenkerl. 14 Uhr. Zu wenig Zeit. Wilhelm lässt sich in die eigenartige Geschichte mit dem eigenen Theater (a) und dem Besuch auf einem Schloss (b) verwickeln. Auch wenn 13 Stunden lang sind, sind sie kurz für einen Roman. Aber Wesentliches wird klipp und klar ausgesprochen: Wie zum Beispiel verbirgt man seine schwache Seite im Gespräch mit potenziellen Auftraggebern. 15 Uhr. Psychologie. Im Schloss, einem schrägen Ort mit starkgrün bezogenen Betten, wird dem Chef ein Stück untergejubelt, das er sich angeblich selbst


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21 Uhr. Keine Sorge. Das Publikum wird während des dritten Teils in fünf Gruppen aufgeteilt. Die Urpanik, übrig zu bleiben, erweist sich als Unfug. Alles ist toll organisiert. Während es anderswo für andere wispert und musiziert, erzählt Wilhelms Ex Mariane von ihrem Schicksal. Erneut erklingt Agathens Arie. Das Theaterkoloss, vor Überfüllung fast geschlossen, schafft es auch noch, Konsequenz an den Tag zu legen. 22 Uhr. Mignon. Marianes Schrei ist bis hier oben zu hören, wo Mignon im Gestänge unter der Hallendecke hockt. Wäre ihr die Gießkanne nicht heruntergefallen, ein erschreckender Moment, hätte sie bestimmt den Grashügel unter sich gewässert. Während es anfängt, saukalt zu werden, werden die Bilder nicht weniger, sondern mehr. 23 Uhr. Sportlichkeit. In der letzten Pause ist es schwer zu beurteilen, wie fit die anderen noch sind. Sportlich betrachtet ist es eine Schande, dass der Zuschauerin die Puste ausgeht, den Darstellern aber nicht. Nur die Mikrofone fangen an, gelegentlich zu scheppern. Fast ist das eine Erleichterung. 24 Uhr. Abschluss. Es geht um und nach Amerika. Ist das ein zu billiges Ende? Nee. Nach manchen Tagen darf das Theater um Mitternacht sogar mit Micky Maus und Präsident Bush anfangen, ohne dass das Publikum mit den Augen rollt. Manchmal gelingt dem Theater praktisch alles, ein paar Stunden lang, meinetwegen auch 13.2

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Soweit die Chronik der Ereignisse in der Frankfurter Rundschau vom 5. Oktober 2004. Wenn die Stunde Novalis. Hymnen an die Nacht ein gutes Beispiel für Praml’sche Reduktion und Zartheit ist, so sind die 13 Stunden Wilhelm Meister – in der Länge zwar kaum mehr eingeholt, aber ebenfalls eine typische Praml-Unternehmung – die opulente Variante. Verspielte Züge haben sie beide, die Tiefenbohrung wie das Ausdauertraining mit einem gemeinsamen Gang durch einen Tag im Leben aller Beteiligten. Kein Zufall, dass beides keine originären Theatertexte, sondern Lesetexte sind: Willy Praml demonstriert, dass er vom Lesen kommt, nicht vom Spielen. Er gebraucht die Bücher aber nicht als Textmaterial, um auf der Bühne sein Ding zu drehen. Merkwürdig: Ohne andächtig zu sein oder nur mit ein klein wenig Andacht vermittelt er stattdessen den Eindruck, dass es am Ende ausschließlich um den Text selbst geht. Dabei zerschellt ein geschäftiger Begriff wie „Werktreue“ an diesem Theater. Sein Ding dreht Willy Praml außerdem – das tut er immer. Willy Pramls dauerhafte Liebe zu Goethe ist ein gutes Beispiel für seinen langen Atem. Es ist eine undemütige, aber ihr Objekt nicht zwiebelnde, nicht vom Obenherab des 21. Jahrhunderts betrachtende Liebe. Nichts Rückwärtsgewandtes ist daran, alles lebt auf vor unserer Nase. Letzteres ist ein Kunststück für sich, indem Praml mit Aktualitäten zwar spielt und triftig mit ihnen umgeht, sie aber im Text nachweist und nicht gegen den Text richtet. Man könnte es auf diesen


Denn natürlich waren es auch diesmal keine Tiere, die sich so unlogische wie zutiefst vertraute Auseinandersetzungen liefern, sondern brave Bürger. Bei Praml waren sie dick bebrillt, in silbergrauen Gangsteranzügen zu grasgrünen Hemden. Nobel, der Löwe und König, sah Baudouin I. von Belgien ähnlich. Er hing hinten an der Wand und wurde vom Darstellerquartett mitgesprochen, das sich ohnehin alle Rollen teilte – ein eingespieltes Praml-Team mit Weber, Birgit Heuser, Tim Stegemann und Reinhold Behling. Ein Vierer-­Ensemble? Opulenz ist bei Willy Praml immer ein relativer Begriff. Ein geschmeidiger Ablauf entwickelte sich, ungetrübt rollten die Hexameter, auf die Goethe zu Recht stolz war; Praml brauchte auch kein besonders rasantes Tempo, um die Sache in Schwung zu bringen. Der Bär landete im Einkaufswagen, der Kater klemmte in der Mülltonne, Reineke Fuchs zog bloß seine Melone noch etwas tiefer und ging seiner Wege. Musik gab es auch: von Wagner, Rossini oder auch den gebratenen Schwan aus Orffs Carmina Burana. Pramls musikalisches Langzeitgedächtnis ist so klassisch orientiert wie sein literarisches. Eine SchubertSonate war es, die in Novalis. Hymnen an die Nacht nach und nach eingespielt wurde. Ein viertes, ganz anders geartetes Beispiel für den langen Atem des Willy Praml ist im Übrigen sein immer 2 Judith von Sternburg: „13 Stunden Willy Pramls ,Wilhelm Meister’-Trilogie‘ – lang, aber prächtig“, in: Frankfurter Rundschau, 5. Oktober 2004. 215

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Nenner bringen: Goethe braucht Willy Praml nicht, um seine zeitlose Güte unter Beweis zu stellen, und Praml maßt sich das auch nicht an. Aber er stellt die Texte selbstverständlich in unsere Welt hinein. Darin liegt eine beneidenswerte Mühelosigkeit. Reineke Fuchs wurde 2007 zu Goethes 175. Todes­­­­­­­­­­tag erstmals aufgeführt, eine insofern krasse und trotzige Entscheidung, dass es lausekalt war in der damals noch nicht beheizbaren Naxoshalle. Auch hier hatte er nicht zu einem Theaterstück gegriffen, sondern zu „Gesängen“ in Hexametern, einem Lesetext, einem Lautlesetext. Goethe wetteiferte darin mit dem Kollegen Johann Heinrich Voß, dessen Ilias-Übertragung just im Jahre 1793 herauskam, dem Reineke Fuchs-Jahr. Ein genialischer Schlagabtausch um die elegantesten Hexameter-Verse bei brutalstmöglichem Inhalt. Schlagen sich bei Homer Griechen und Trojaner die Köpfe ein – und zwar nicht im übertragenen Sinne –, so schlägt der Fuchs den Wolf in einer nicht minder rabiaten Keilerei mit unsportlichen, aber effizienten Mitteln. Michael Weber war in der Naxoshalle der Fuchs, ein Fuchs wie Mackie Messer, nur dass er den Kopf noch selbstständiger aus der Schlinge ziehen konnte (und keinen reitenden Boten brauchte). Praml zeigte den Text so, wie er gemeint ist: keck, zeitgenössisch, dabei ein Kunststück durch und durch. Man braucht keinen zusätzlichen Fingerzeig, um zu begreifen, dass es der Mensch an sich ist, der sich da in seiner traurigsten und schäbigsten Grob- und Verschlagenheit präsentiert.


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wieder aufgelegtes, variiertes, überarbeitetes, weitergedachtes und jedenfalls weitergespieltes Weihnachts- und bald auch Osterstück Jesus d’Amour – Jesus d’Amour, geb. 0 und Jesus d’Amour, geb./auferst. Es ist seit 2005 beziehungsweise 2006 im Programm, auch mendelten sich weitere Stücke heraus, etwa der Abend Unverhofft von 2011. In diesem Zusammenhang: Wie hält es das Theater von Willy Praml eigentlich mit der Religion? Mit dem unaggressiven Spott des belesenen Menschen, dem klar ist, dass Religion und Kultur kaum zu trennen sind, dass die Kirche ein Elend und doch selbst ein kritikwürdiges Stück Kultur ist, dass die Kirche niemals das Sagen über die Kultur haben darf. Das wirkt so klar an Praml-Abenden, es vermittelt sich ohne Aufregung. Auch Jesus d’Amour ist bei allem Spieltrieb, aller Unverschämtheit und aller comichaften Grellheit keine Verhohnepipelung. Verhohnepipelung wäre Willy Praml immer zu wenig.

Theater der durchdringenden Schönheit Das Theater von Willy Praml hat einen ausgeprägten Sinn für Schönheit. Schönheit ist bei Willy Praml keine Entscheidung für die Oberfläche, im Gegenteil. Weil am Anfang immer das Wort ist und nicht das Bild, will, soll und wird das Bild zum Wort passen und sich aller Schönheit zum Trotz ihm unterordnen. Das ist der springende Punkt und verhindert den Eindruck einer schieren Dekoration, die in der Naxoshalle als spekta216

kulärem Spielort leicht herzustellen wäre. Die Praml-Bilder – hergestellt meist im Verbund mit dem Ausstatter und Schauspieler Michael Weber, der inzwischen auch Regie führt – sind stattdessen pathetisch ausgeleuchtet und hemmungslos effektvoll. Die Naxoshalle spielt in ihrer Länge, Höhe und auch Breite immer eine Hauptrolle. Die ehemalige Fabrikhalle ist zugleich so unorthodox als Theaterraum, dass hier vielleicht Dinge überzeugend sind, die in einem herkömmlichen Schauspiel- (oder Festspiel-)haus banal wirken würden. Umgekehrt kann man sich fragen, warum andere Theater ihre meistens ebenfalls nicht unbeträchtliche Bühnenlänge so selten ausspielen. Es liegt eine bezaubernde, scheinbar bedenkenlose Freiheit über Pramls und Michael Webers Theaterbildern, die sich aus dem vertrauten Umgang mit den Texten speist und insofern eben das Gegenteil von Bedenkenlosigkeit ist. Sie hält sich an die Sinnlichkeit, nicht an die zusätzlichen Lesefrüchte einer Dramaturgie, die bei Willy Praml konsequent im Programmheft bleiben. Dabei bricht auch er die Texte auf, arbeitet mit Einschüben, Unterbrechungen. Ein Balanceakt, zweifellos. Im Ergebnis: ein Theater, das herausfordert und trotzdem keinen zurücklassen will – eine Formulierung aus einer ganz anderen Welt, aber sie passt. Zum Beispiel in Hugo von Hofmannsthals Jedermann von 2011: Das Spiel vom Sterben des reichen Mannes gestaltete sich klassisch, aber (verblüffenderweise) ohne tradiertes Salzburger Mysterien-


und eigenwillig Texte ineinandersteckt. Hier lief die Kombination auf einen Abend über das Unglücklichsein hinaus, aber nicht auf einen deprimierenden. Es durfte gelacht werden, so sind wir halt, wir Menschen in dieser ‚drittbesten aller möglichen Welten‘. Auf Erläuterungen über das Glück von Charles Darwin – Glück hilft dem Menschen beim Vorankommen, ist also evolutionär zweckmäßig und begrüßenswert – und auf das murrige Infragestellen dieses Glücks folgte Justine del Cortes geschichtenreicher Theatertext Der Alptraum vom Glück. Praml hatte ihn vornehmlich für eine einzige Darstellerin zubereitet – Birgit Heuser, die sich dafür eine geradezu lähmende Erdenschwere gab. So wie sie auf einem Stuhl in einer Ecke saß (mehr nicht), konnte man sich nicht vorstellen, dass sie jemals wieder würde aufstehen können. Wie sie als Virtuosin des Unfrohen zum Einkaufen loszog, die Gewaltfantasien gegen Perlzwiebeln zelebrierte, ein Pfund Butter gegen die Scheibe haute (eine Scheibe, die Publikum und eisige Hallenlänge trennen kann). Heuser spielte auch eine Frau, deren Männer alle sieben Jahre wechseln und die sich in der gespenstisch veränderten Situation immer wieder neu zurechtfinden muss. Einem sozialen Tier ist das freilich möglich. Es war ebenso ein Abend, an dem ein Auto Schlangenlinien durch die Halle fuhr – eine durchgeknallte Möglichkeit, von der die meisten Bühnen bloß träumen können. Der großformatige Titel fand in der Länge und Weite des Raums seinen Widerhall in drei großen roten X-en und einem großen schwarzen L. 217

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spiel-Dekor. Keine Blumengirlanden, keine Weintrauben und gebratenen Hühner, keine sackleinenden Arme-­ Leute-Kostüme. Auf der Bühne stattdessen eine fabelhaft ausgeleuchtete Schickeria-Runde: Quiekende Damen, animierte Herren in Abendgarderobe, eine bei näherer Hinsicht skurrile, handverlesene Runde. Auf Leinwänden war zu sehen, was der Jedermann (Weber hier als Schauspieler, ganz wunderbar munter, lebenszugewandt und arglos) an Statussymbolen so zur Verfügung hat: sein Kuppelbau, sein Porsche, seine Schweizer Uhren. Da schau her, auch Willy Praml arbeitet also mit Foto und Film, aber darauf fußt das Ganze nicht. Es dient dem Ganzen, stellt zügig klar, was für einer das ist, der Jedermann, einer, der es wirklich geschafft hat. Im Anschluss konnte sich die Inszenierung ganz in ihre verspielten Details verwickeln: Willy Praml selbst mit einem Auftritt als Teufel, der aus dem Geschimpfe gar nicht mehr heraus kam. Dass die Leinwände für die Fotos die Bühne vorerst verkürzten, war sogar eher betrüblich, wurde nachher aber wettgemacht: Das plötzliche oder allmähliche Sichtbarmachen der Länge und Tiefe des Raums gehört zu den immer wieder trefflichen Effekten. Diese Halle will in Szene gesetzt werden, und Willy Praml setzt sie in Szene. Zum Beispiel Der Mensch ist ein soziales Tier, 2014 – Ein Monolog über die Welt im XXXL-Format und der zweite Teil eines dreiteiligen Zyklus. Es klingt wie ein totaler Widerspruch zu seinem grundlegenden Respekt dem Werk gegenüber, dass Praml sehr gerne


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Der junge (Laien-)Schauspieler Baroon A. Mohamud, der den Darwin-Text mit der Überzeugung eines Menschen sprach, der an das Glück glaubt, war jung, stark, leicht und geschickt genug, um an einem Seil nach Belieben unter die Decke der Halle zu klettern und wieder hinunter. Das sind nicht nur Gags, das ist das pure Theaterleben. Man kann etwas, man tut es. Man kann etwas Schönes zeigen, man zeigt es. Überhaupt das Theater als Zeigekunst, Her­­­­­­­z­­­ei­ gekunst: Praml vermittelt, dass das nicht peinlich oder überkommen oder ein reiner Zirkus ist. Es hat bei ihm eine solche Selbstverständlichkeit, dass es ein Rest­­ geheimnis bleibt, warum das sonst oft so schlecht funktioniert. Ja, noch einmal: Zum Balanceakt gehört, die Halle in Szene zu setzen, aber stets ebenso den Text und die Akteurinnen und Akteure. Im Praml-Theater wird lebhaft und ernsthaft und zweifellos gespielt, und die Menschen auf der Bühne sind doch auch immer sie selbst. Zum Beispiel Carl Sternheims Die Hose, 2015: Oben wieder eine Leinwand, auf der das Meer wogte und manche Klippe drohte, drunten aber flog im Kämmerchen des Ehepaares Maske bloß lautstark Geschirr (weil Luise auf offener Straße ihre Unterhose verloren hat). Das Kämmerchen war eng, ein dunkles Puppenheimchen, und das höchste der Gefühle gehörte einigen schwungvoll dargebotenen Flohwalzer-­ Variationen. Ein Mieter brachte nachher noch Richard Wagner ins Haus, das war den Maskes bei aller deutschen Gesinnung im Grunde schon zu heftig. Das 218

Ensemble, mit Weber und Katarina Schmidt als goldiggrausliges Ehepaar, Heuser als biegsame Nachbarin, Sam Michelson und Behling als mannigfaltig gierige Mieter, entwickelte eine fesselnde, präzise Verbindung aus reduzierter und schlenkernder Bewegung. Irrsinn und auch Schamlosigkeit herrschten vor, aber es bleibt fies und leis’. Denn der ganzen alerten Überanstrengung, der eine Sternheim-Komödie auf der Bühne oft anheimfallen wird – entweder wird sie in ein rasend boulevardeskes Tür-auf-Tür-zu-Spiel oder ins maßlos Exaltierte getrieben –, setzte Praml Entspannung und eine vor sich hin schnurrende unangenehme Behaglichkeit entgegen. Typisch: Als man sich halbwegs arrangiert hatte – auf beiden Seiten der Bühne –, klappte das Puppenhaus auseinander. Der Blick öffnete sich zur Halle. Zwischen korinthischen Säulen spielte Jakob Gail am Flügel Tschaikowsky. Völlig verrückt, außerdem, huch, hatte er keine Hose an. Das Pathetische und das Lachhafte, das Grandiose und Peinliche in direkter Nachbarschaft. Zum Beispiel Heinrich von Kleists Erdbeben in Chili, 2016: Winzig fern der Zug der Menschen zunächst, die weit hinten ihre Kreise zogen. Sie hatten die Dinge des Lebens dabei, eine Pflanze, ein Schachspiel, eine Tür, Bücher, Fernseher, viel war es nicht (das Gegenteil der Jedermann-Bilder, aber die gleiche einfache, wirkungsvolle Methode: kurz einmal hergezeigt, was die Grundlage und Situation ist). Oben – und oben will in der Naxoshalle etwas heißen – hing ein Findling, der sich zum Erdbeben herabsenkte, ein klug


Theater der schönen Unverbissenheit Das Theater von Willy Praml hat nach der Maßgabe unserer und vermutlich aller Tage skandalös wenig Interesse an Schulen und Theorien. Wobei das spekulativ gesagt ist. Vielleicht hat es daran sogar ein großes Interesse, aber das lässt es sich während der Vorstellung nicht anmerken. Weil es darum nicht geht. Was es sich anmerken lässt, ist ein Respekt vor Texten; an dieser Stelle nicht zu verwechseln mit „Werktreue“, einem der unschärfsten der polemisch eingesetzten Begriffe, die die Branche der Darstellenden Kunst zu bieten hat. Der Respekt des Willy-Praml-Theaters vor Texten ist Respekt vor ihrer Lebendigkeit. Was lebendig ist, wird nicht konserviert (das wäre tödlich). Willy Pramls Theater ist außerdem, wenn der Begriff überhaupt sinnvoll eingesetzt werden kann, seine eigene Schule, eine in dieser Branche nicht so häufig zu erlebende Schule der Unverbissenheit. 2010 demonstrierte die Inszenierung eines besonders heilig-nüchternen Textes, Friedrich Hölderlins Briefroman Hyperion, was für eine saloppe, aber keineswegs unbedarfte Lesart daraus entstehen kann: kurzweilig über immerhin dreieinhalb Stunden, mit Liebe zu den gleichwohl auch ironisch kommentierten Hölderlin-Worten. Praml und Ausstatter Weber ließen hierfür weit hinten in der Naxoshalle abgewrackte korinthische Säulen drapieren. Dazu Musik von Brahms und Theodorakis. Dann kamen in dichter Folge sechs agile Hyperions ins Rennen (das waren damals Manuele 219

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stilisiertes Drohszenario. Allein Kleists Text loderte, auch das gehört dazu: nicht überdecken, sondern flankieren, nicht zu Ende bebildern, sondern andeuten. Praml-Theater kann auf mehr als einer Ebene wahrgenommen werden, das trifft sich übrigens gut mit einem Publikum, das sich auch nicht einfach auf einen Nenner bringen lässt. Zum Beispiel Der Kirschgarten, 2023, unter der in Praml-Tradition stehenden Regie Webers: Die Halle, bis Ende der 1980er Jahre in Benutzung der Naxos-­ Union, die hier Schleifmittel produzierte, und danach ein gefährdetes, inzwischen geschütztes Industriedenkmal, ist schon in ihrer bloßen Existenz ein Beleg dafür, dass Orte wesentlich sein können, auch wenn sie ihre ursprüngliche Funktion längst nicht mehr erfüllen. Auch Der Kirschgarten, nur noch durch seine Entfernung gewinnversprechend, wurde hier nicht so fix abgeschrieben und der Wunsch nach seinem Verbleib nicht lediglich als bürgerlich dekadente Marotte abgetan. Frankfurt ist ja ein Ort, an dem jedes Inne­halten und Zögern in städteplanerischen Fragen an sich schon ein origineller Akt ist. Noch dazu gönnte Weber sich und uns ein kleines Wunder: Praml selbst spielte hier den uralten Diener Firs. Er bleibt am Ende einfach zurück. Aus seiner Hand keimt ein zartes, neues Bäumchen. So sanft trotzen Kunst und Natur – beide nicht die schnellsten – einer flotten Neunutzung. So rührend attraktive Bilder kann man aufbieten, wenn man bis dahin herb genug war.


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Saccaro, Sören Messing, Jakob Gail, Claudio Vilardo, Reinhold Behling und Weber selbst), nicht bildlich gesprochen. Denn Hyperion trieb tatsächlich intensiv Sport, joggte, boxte – und das alles zu sechst. Die Frau seiner Träume, Diotima (das waren Gala Winter, Nadja Dankers, Birgit Heuser), schälte Kartoffeln, raspelte Karotten, benutzte bequemere Gartenstühle als Hyperion – und das alles zu dritt. Mag sein, dass diese Tätigkeiten putzig und pütscherig aussahen. Aber, und daran ließ Praml keinen Zweifel, sie waren in jedem Falle nützlicher als jener Ausdauersport, der zudem bald eine Wendung ins Soldatische bekam. Hyperion und Diotima sprachen zu neunt von der Liebe und verlorenen Schönheit der Antike. Sie erklommen aber doch selbst bloß eine Leiter. So ist der Mensch. Und so ist Willy Praml – verbindet Boden­­ haftung und Theatralik, das Schillernde mit dem Eindeutigen, und verzichtet nicht auf Pathos, versimpelt nicht den zuneigungsvoll rezitierten Hölderlin-Text. Es ist (fast) nie die Idee lächerlich, öfter einmal aber der Mensch, der mit ihr gefühlvoll hantiert. Selbst das kann immerhin noch sympathisch sein. Selbstironie hilft Praml beim Inszenieren von Texten, die, nun ja, größer sind als wir. Selbstironie wird aber nie zum wesentlichen Punkt seines Theaters. Praml-Inszenierungen kreiseln verhältnismäßig selten um sich selbst. Das Hyperion-Publikum durfte zwischendurch selbst nach Athen laufen, dorthin, wo die Säulen liegen. Dann wurde es in drei Gruppen geteilt, mit Praml als sanftem Dirigenten (Hyperionsche Spontaneität hin oder 220

her). Nun betrachtete es Teile der Handlung zum Beispiel rückwärts und hörte sie aus anderen Saalecken synchron, sehr raffiniert gemacht: Hyperion, wie er am puffenden Ätna trauert; Diotima, wie sie sich ihr eigenes Grab schaufelt; Hyperion, wie er, obgleich im begeistert begrüßten Krieg schwer verletzt, vor Liebesbrunst aus dem Fenster stürzen will, Diotima entgegen. Die berühmte Tirade wider die Deutschen war eine Art Coda. Alle Neune irrten obdachlos mit Aldi-Tüten und antikem Stückwerk im Einkaufswagen umher. Das letzte Wort aber hatte der Eremit (und siebte Hyperion) im Rollstuhl. Aus dem übermäßig gutaussehenden Zivi an der Seite war ein junger Gott geworden. So ließ der Regisseur den Träumer triumphieren. Fünf Jahre später, 2015, schlenderte und sauste das Theater Willy Praml durch Carl Sternheims schon erwähnte Maske-Trilogie Die Hose, Der Snob, 1913 – nicht Teil seines Kerngeschäfts, diese Art von zeitgebunden wirkenden Stücken, hier rund um die wilhelminische Doppelt- und Dreifachmoral. In Frankfurt im März 2015 fiel das Projekt noch dazu mitten in die Blockupy-Proteste anlässlich der EZB-Eröffnung. Praml verschob die Premiere zunächst, um das Gelände zu öffnen (das wie das Bankengebäude im Ostend liegt). Nach Diskussionen und Begegnungen mit Aktivisten und Aktivistinnen kam dem Theater der dritte Teil, 1913, dann nach eigenem Bekunden nicht mehr angemessen vor – es „funktionierte“ nicht mehr, so Praml – woraufhin er vorläufig gekippt beziehungsweise nur noch kurz angespielt wurde. Auch das ein Fall von


von einst, 1920 uraufgeführt. Praml machte nämlich sichtbar, wie es hier nicht nur darum geht, dass Pärchen ihre Promiskuität ausstellen und alle dabei zuschauen dürfen. Vielmehr geht es auch um eine erhebliche Lebenszugewandtheit, allen Kränkungen und betrüblichen Missverständnissen zum Trotz. Und es war diese prosaisch fidele Seite, die hier zur Geltung kam wie selten. In der Tiefgarage kokettierte der rüstige Hoteldiener (Tim Stegemann) so heftig mit der bodenständigen Dirne (Katarina Schmidt), dass es zu Sex im VIP-Wagen des Hessischen Hofs kam. Im Fitness-Studio im 7. Stock traf das rasch hinsinkende Süße Mädel (Lisa Zanaboni) auf den trainierenden Gatten (Reinhold Behling), und schon die Wahl der Kostüme (Weber) muss eine Freude gewesen sein. Kaum war das Süße Mädel aus dem Studio, trat die junge Frau (Juliana-Rachel Fuhrmann) hinzu, die sich nach einem Quickie mit dem eigenen Gemahl im Wintergarten mit dem jungen Herrn (Jakob Gail) traf. Zwei Meter entfernt flanierten die Hotelgäste, und die Panik der so skrupellosen wie auf Diskretion bedachten jungen Frau war noch weit begreiflicher als sonst. Der junge Herr nahm sich im Anschluss Zeit für das erotisierend staubsaugende Stubenmädchen (Petra Fehrmann). Die gemütliche Dirne erwachte unterdessen in Zimmer 12 neben dem lackaffigen, aber wohlerzogenen Grafen (Sam Michelson), der hier von der mit allen Wassern der Erfahrung gewaschenen Schauspielerin (Birgit Heuser) empfangen wurde, 221

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Unverbissenheit. Dieses Ensemble verfolgte seine Agenda und präsentiert durchaus geschlossene Kunstwerke, ist sich aber im Klaren darüber, dass das nicht im luftleeren Raum geschieht. Die Hose – auch dem Boulevardesken wendet sich das Theater gut gelaunt zu, wenn die Wahl nun einmal darauf gefallen ist – fing gemütlich kleinkariert an. Danach war Gail nun Maske Junior, Teil 2, „Der Snob“: Christian Maske ist elastischer als sein Vater, die Gesten wurden größer, wie der Raum und die Ambitionen größer geworden waren. Das schaurig Sentimentalische des Bürgerlichen aber blieb, kontrastiert mit dem Adel, in den Jung-Maske partout einheiraten muss, um sein Glück zu machen: lächelnde Nullen im Wolfspelz (gefährliche Leute, wenn sie Macht haben, das darf man nie vergessen, und das vergisst Praml nie). Praml stresst und unterläuft damit nicht seine klassischen Abende. Literatur ist über das Kleinbürgerliche im Leben erhaben. Wenn er das zeigen will, das Spießige, Bigotte, aus klapprigen Verhältnissen nach oben Strebende, sucht er sich einen entsprechenden Text aus. 2014 war das Arthur Schnitzlers Reigen gewesen, eine Inszenierung, die auch aus der ungewöhnlichen Gelegenheit geboren war, dass Praml kurzzeitig im seinerzeit frisch sanierten (inzwischen geschlossenen) Frankfurter Grandhotel Hessischer Hof spielen konnte. Es gab ihm aber – Stichwort Unverbissenheit – nicht nur die Gelegenheit zu einem Buhei, sondern auch zu einem eher ungewohnten Blick auf Schnitzlers Skandalstück


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welche im wohlgestalteten Atrium den Dichter (Weber) besuchte, so dass auch die Kulturszene einmal aufeinandertraf. Und trotzdem lief es auf dasselbe raus wie gleich darauf mit dem Süßen Mädel (bloß kannte es die Dichtungen des Dichters nicht, der Dichter war außer Fassung). Wieder zurück in der Tiefgarage lachte sich der Hoteldiener das Stubenmädchen an. Wir immer dicht dran. Wenn man sich einen Begriff von der Unverbissenheit des Praml’schen Theaters machen möchte, lohnt natürlich auch der Blick auf den Umgang mit der Corona-Krise. Mit Weber als Regisseur und Praml im Ensemble stellte sich die Truppe dem so früh, wie es wieder möglich war: Anfang Juni 2021, als die Theater gerade wieder aufmachen durften und Weber zu Texten griff, die Heinrich Heine zum Pariser Choleraausbruch von 1832 geschrieben hatte. Dabei war die Frage gar nicht so sehr, ob sich Geschichte wiederholt. Der Mensch selbst, zeigte sich bei Heine und in der Inszenierung – aus Sicherheitsgründen noch vor dem Gebäude –, ist es, dessen Arsenal an Einfällen und Haltungen trotz gewaltiger Fortschritte technischer Art dann auch wieder auf rührende Art begrenzt zu sein scheint. Das Herunterspielen und die Wellen der Angst, der Schuldzuweisung und des Hasses; der bizarre Aberglaube und die Hausmittel, die immerhin aus der empirischen Beobachtung entstanden sind; das Nutznießertum und die Anpassungsfähigkeit: Vorgeführt wurde, wie die Corona-Welt auch den globalisierten Menschen wieder zum Anfänger degradiert hat. 222

Regisseur Weber und das Ensemble mussten keine größeren Aktualisierungen vornehmen, um mit Heine zusammen auf uns und unser Heute zu sprechen zu kommen. Der Satz „Die Theater sind wie ausgestorben“ erklang wie Donnerhall. Die enorme Dehnung, die Jakob Gail dem Wort „schleunigst“ angedeihen ließ – denn schleunigst sollte auch in Paris 1832 die Verordnung zum Gesundheitsschutz „in Wirksamkeit treten“ –, war ein Spaß und ein Graus. Das Publikum mit den Masken, Testergebnissen und rücksichtsvollen Hüsterchen in die Armbeuge war Teil einer großen Menschheitserfahrung, während das Theater seinen besonderen Vorzug zeigte, einen Raum zum Weiterdenken anzubieten, aber nicht zu offenkundig auszustatten. Die Ausstattung war stattdessen anheimelnd theatralisch und zugleich so munter improvisiert, wie Theaterkunst auch jenseits pandemischer Lagen immer war. Während das Preludio zum 3. Akt von La Traviata erklang – einer Oper über eine tödlich Lungenkranke –, knallte eine Tür, eilte eine Dame in großer Garderobe vorüber und schrie bald ein Mensch ganz fürchterlich. In den sich öffnenden Fenstern tauchten nach und nach Praml und das Ensemble auf. Sie hörten dem Schreien zu, mit jener unverbindlichen Mischung aus Melan­­ cho­­lie und Neugier, die Menschen häufig zu eigen ist, wenn es gerade einem anderen an den Kragen geht. Weiße Frotteebademäntel waren ein trefflicher roter Faden zwischen Homeoffice-Verschlampung, klinischer Problematik und den von Heine erwähnten Pariser Cholera-Schutzschichten aus Flanell.


das sich nicht zu oberflächlichen Klagen und womöglich bloß Minuten lang haltbarer Kritik verführen ließ. Wer den richtigen Text wählt, kann auch durch den Text sagen, was zu sagen ist.

Theater der unverbissenen Offenheit Das Theater von Willy Praml findet immer hier und jetzt und in dieser Welt und in diesem Frankfurt statt. Es ist auf entspannte Weise durchlässig und offenherzig. Im schon erwähnten Erdbeben von Chili musste dabei kein besonderer Aufwand betrieben werden, oder umgekehrt: Der Aufwand war erheblich, aber daraufhin ergab sich dann auch alles wie von selbst. Gut zwanzig Menschen diesmal auf der Bühne, neben den vertrauten Ensemblemitgliedern Weber, Heuser und Gail spielen Migranten und Deutsche mit ausländischen Wurzeln, vor allem aber Geflüchtete aus Syrien und Afghanistan mit, von denen die meisten erst einige Monate zuvor nach Deutschland gekommen waren. Der Dank an Übersetzerinnen und Übersetzer (aus den genannten Sprachen und aus dem Kurdischen) vermittelte einen Eindruck davon, was für eine Aktion die Probenarbeiten waren. Auch damit spielte Praml aber: Indem praktisch alles dreisprachig geschah, war das Verständigungsdebakel auf vorbabylonischen Zustand gebracht. Jeder verstand jeden. Die Inszenierung war dabei kein biografisches Projekt. Die Menschen auf der Bühne hatten ihre Geschichten gewiss dabei, und das Publikum erfuhr im 223

Judith von Sternburg: Über das Erzählen und Deklamieren, vom Sinnlichen und Pathetischen

Das Schreien kam von Heines Nachbarn, der an Cholera starb, denn nun ging es sanft und soghaft hinein in den Text aus den „Französischen Umständen“. Der erste Satz des Abschnitts zur Epidemie, „Ich rede von der Cholera“, gab dem Abend den Titel. Der Text wurde von Schauspieler zu Schauspielerin und immer weiter gereicht, die Sequenzen hatten unterschiedliche Temperaturen, zwischen denen auch Platz für Ironie, Spott und Zweifel war. Die Cholera-Leugner bekamen ihr Fett weg, die Cholera-Paniker ebenfalls. Ein Krankenbett erinnerte daran, dass der Tod keine Einbildung ist, außerdem ließ sich allerlei anstellen damit – auch Unfug. Das Runterknallen der Seitenbretter klang wie ein Fallbeil. Denn der Tod, der die Bademantelträgerinnen und -träger zwischendurch heimsuchte und rasch niederstreckte – es war zum Glück vorübergehend –, erschien in verschiedenen Ausformungen. Neben der Cholera war es die Tuberkulose, an der Violetta Valéry im 3. Akt der Traviata (eigentlich vom ersten Ton von Verdis Oper an) stirbt: Dem massenweisen Sterben auf der Straße, das bei Heine auch eine groteske Seite hat (wie übermäßiger Schrecken oft zum entsetzten Auflachen geeignet ist), stellte das Theater Willy Praml den einsamen Tod gegenüber, der dem Corona-Ende womöglich weit ähnlicher sieht. Nachher noch Gesang, Maria Callas und Francesco Albanese (auf der Aufnahme von 1953) und drei Frankfurter Tenöre. Der Tod besiegte die Schönheit nicht. Corona besiegte das Theater Willy Praml nicht,


Fünfter Akt: Darstellende Kunst als Literatur

Programmheft auch ein paar Details. Aber gezeigt und gesprochen wurde Kleist. Wenn Praml ein biografisches Projekt machen will, macht er ein biografisches Projekt. Wenn er einen literarischen Text auf die Bühne bringen will, bringt er einen literarischen Text auf die Bühne. Eine starke Entschiedenheit und Klarheit ist im Spiel. Nach der Katastrophe des Bebens in der Kleist-Erzählung ein kurzzeitiges Paradies – eine Schocksituation natürlich, aber Kleist will, dass der Mensch eben auch gut sein könnte, wenn man ihm die Freiheit dafür gäbe. Das Publikum lagerte sich auf Teppichen und Hockern an den Rändern der Halle. In der Mitte waren auch die Mitwirkenden ruhig und mit dem Leben befasst. Umarmungen, Kinderspiele, der Aufbau eines Campingtisches. Der Text kam über Kopfhörer, es war ansonsten ganz still. Das Paradies ist nichts Gewaltiges und ohnehin bloß ein Intermezzo. Schon waren wir in der Kirche, in der der übel verdreifachte Prediger donnerte und die Überlebenden wie zuvor ihrem schändlichen Betragen nachgingen. Es war quälend, aber konsequent, dass auch dreimal das Mordszenario abrollte, dreimal der gesamte Schluss in allen drei Sprachen, dreimal das zufriedene Hände-Abklopfen danach. Wer den Kleist-Text kannte, konnte sich für den Augenblick vorstellen, er verstünde Arabisch und Farsi. Auf Deutsch gab es dann die Auflösung für alle. Menschen können in jeder Sprache das Böse tun. Willy Pramls Offenheit, eine Art von sanfter, wirklich offener, abwartender, neugieriger Offenheit, ist keine Verharmlosung. 224

Praml beherrscht das Spiel mit fließenden Identitäten, kombiniert das Authentische (Dokumentarische) mit dem Künstlichen. Letzteres ist vielleicht das umso Wahrhaftigere, ließe sich fürs Theater behaupten, jedenfalls wird hier ernst damit gemacht, dass Grenzen ungewiss und die äußeren Erscheinungsbilder nicht verlässlich sind. Das Fluide der Sprachen spiegelte sich 2014 im Fluiden des Geschlechts. Federico García Lorcas Bernarda Albas Haus von Männern spielen zu lassen, ist nicht abwegig, auch wenn der Schriftsteller 1936 vorschrieb, dass nur Frauen auf der Bühne sprechen sollten. Und auch wenn die Enge des Lebens von Bernarda Albas Töchtern auf diese Weise etwas von ihrem strengen, entsetzlichen Realismus verliert und ein paar Schauwerte gewinnt. Häufiger zu sehen ist, dass die rigide Mutter und Witwe Bernarda, die ihre fünf unverheirateten Kinder in eine überlange Trauerzeit zwingt, von einem Schauspieler dargestellt wird. Willy Praml machte es umgekehrt. Birgit Heuser war eine straffe Bernarda. Kalt und aufmerksam war sie der verlängerte Arm eines patriarchalischen Systems. Die Töchter hingegen, Jakob Gail, Demjan Duran, Andreas Bach, Michael Weber und Sam Michelson, zeigten einiges von sich, zarte Männerbeine, schmale Männerbrüste im mittelkleinen Schwarzen. Die Travestie soll und kann auch ihre possierliche Monsterchenhaftigkeit präsentieren: Menschen, die in einen Lebenslauf eingepresst werden, der ihnen nicht passt, nicht nur im offensiven Sinne einer Verärgerung.


das eine solche Produktion komplett unterlief und gewissermaßen beendete. Und dessen komplette Beendigung es so vergnügt und entspannt ausmalte. Ohne tiefen Sinn diesmal, aber mit tiefem Unsinn. Kurzum: Die Wirtin vom Weißen Rössl ist konvertiert und empfängt liquide Gäste aus Saudi-­ Arabien am Wolfgangsee. Selbst die Namen der Bergzipfel sind hier halal, während der reiche Opec (hier natürlich: von Opec) sich auf ein Schnitzel Wiener Art gefreut hatte. Der verliebte Kellner Leopold hat den Eindruck, als letzter Österreicher im eigenen Land nicht mehr erwünscht zu sein. In Kara-Ben-Nemsi-Montur tritt er zum letzten großen Abenteuer an – dem Empfang für Bundeskanzlerin Merkel sowie die Eroberung Laila Bint Aladins, vormals Josepha Vogelhuber –, bevor sich alles in Wohlgefallen auflöst. War nur eine Operette, wollte nichts anderes sein, erzählte trotzdem etwas über uns. Im arabischen Rössl ehemals im weißen Rössl zeigte sich als durchgeknallte Parodie auf Islamisierungsängste, mindestens so sehr aber als liebevolle Parodie auf den Zauber der ShowbizOperette, dazu kam eine selbstironische Vorführung der eigenen Möglichkeiten, eine solche mit allem Pipapo in Szene zu setzen. Und vor allem feierte das Theater Willy Praml, normalerweise keine Jux-Stube, die Option, sich gemeinsam über alles Mögliche lustig zu machen. Ausdrücklich erinnerte es daran, wie es 20 Jahre zuvor das Original-Rössl in Bad Vilbel gezeigt hatte, in einer Zeit, als „die Deutschen allerhöchstens mit sich selbst beschäftigt waren“. Die neue Version 225

Judith von Sternburg: Über das Erzählen und Deklamieren, vom Sinnlichen und Pathetischen

Dass den aus Sicht der Zeit bereits ins Altjüngferliche gehenden jungen Frauen damit ihre Weiblichkeit abgesprochen wurde, ja, dass eine lächerliche Note nicht gerade vermieden wurde: Nun, darüber konnte man streiten, aber man war auch interessiert. Zumal dann das übliche Wunder eintrat (kein spezielles Praml-Wunder, aber er kennt sich damit aus): Man bemerkte es nach kurzer Zeit kaum mehr. Behauptet ein dunkler, bärtiger Mann nur mehrfach, er sei Magdalena, dann ist er Magdalena. So funktioniert Theater. Pramls zurückhaltende Inszenierung suchte darüber hinaus große Bilder, arbeitete aber auch Details heraus. Choreografiert wurde die stupide Stickarbeit der fünf, der Tänzer Andreas Bach wurde zwischendurch zum brünstigen Hengst, der als erregtes männliches Wesen fremd, interessant, gefährlich war. Und wenn die Magd (Reinhold Behling) ihrem Hass gegen die penible Herrin Lauf ließ, so war ihre Spuckefantasie doch bloß wieder ein Spritzerchen Putzmittel (rhythmisch zum Bach-Orgeldonner platziert), um die Scheiben noch glänzender zu machen. Macht und Machtlosigkeit. Jetzt aber noch ein drastischeres Projekt. Gehört das Weiße Rössl, ja, genau, Ralph Benatzkys Singspiel Im weißen Rössl, in ein Kapitel über Pramls Theater der Literatur? Wenn Praml es macht, schon. Eine unge­­­ wöhn­­­liche Praml-Inszenierung war das im Jahr 2019, greller, frecher, übergriffiger und wohl auch respektloser der Vorlage gegenüber als gewohnt. Es war dabei vielleicht vor allem dieses rammdösig machende, im Theater aber noch immer verbreitete Unter-uns-Bleiben,


Fünfter Akt: Darstellende Kunst als Literatur

brachte das Ensemble wiederum zusammen mit Ge­­­­­­ flüch­teten aus Syrien auf die Bühne. Der Mummenschanz, der neben Lederhose und Dirndl nun auch Fez und Schleier umfasste, wurde noch größer, die sprachliche Vielfalt ebenfalls, und am großartigsten war es für die Musik – Martin Lejeune mit einer west-östlichen Combo, für die er arabisierende Musiken aus den bekanntesten Rössl-Songs vorbereitet hatte. Keine Einladung, sich übereinander kaputtzulachen, aber ein Angebot, gemeinsam über sich zu lächeln, den Kopf zu schütteln und ins Gespräch zu kommen. Als Willy Praml 2004 im eingangs erwähnten Interview über das „Lebenstheater“ im Wilhelm Meister sprach, spielte er auf Wilhelms Schimpftirade gegen Schauspieler und Schauspielerinnen an, ihre Charakterschwächen, ihre Dummheit und Eitelkeit, ihren Schlendrian, ihre Unruhe, ihre Habgier, ihr Unwissen und ihr Schandmaul bei gleichzeitiger Überempfindlichkeit in eigenen Belangen. Da lacht Wilhelms Gegenüber ausdauernd. „,Wissen Sie denn, mein Freund‘, fuhr er fort, nachdem er sich einigermaßen wieder erholt hatte, ,dass Sie nicht das Theater, sondern die Welt beschrieben haben (…)?‘“3 Wilhelm staunt und ärgert sich noch mehr, solchem Menschenhass oder – wenn der Mann tatsächlich recht habe, was Wilhelm nicht glauben mag – solch nonchalantem Großmut zu begegnen. Der Mann darauf: „Alle Fehler des Menschen verzeih ich dem Schauspieler, keine Fehler des Schauspielers verzeih ich dem Menschen.“4 226

Menschliche Schwäche ist verzeihbar, professionelle nicht. Das Theater ist ein ernstes Geschäft. Seit Jahrzehnten nimmt Willy Praml es ernst als großes Spiel, zu dem – auch hier läuft alles auf den Wilhelm Meister hin – das Lesen als tiefes Durchdringen von Gedanken und Ideen gehört. Wilhelm selbst liebt, lobt und fordert die Leseproben, was die Truppe eher als Pflichtübung nimmt. Wilhelm aber: „Alles Memorieren helfe nichts, wenn der Schauspieler nicht vorher in den Geist und Sinn des guten Schriftstellers eingedrungen sei.“5 Theater aus dem Geist der Literatur, das probiert Willy Praml und steckt so viel Leben hinein, dass alles am Ende unmittelbar wirken und das Publikum seine Freude haben kann. Das Theater hat seine Arbeit getan.

3 Johann Wolfgang von Goethe: „Wilhelm Meisters Lehrjahre“, in: Hamburger Ausgabe, Band 7, München 1981, S. 434. 4 Ebd., S. 435. 5 Ebd., S. 308f.


Michael Weber bei der Verleihung der Ehrenplakette der Stadt Frankfurt an Willy Praml (2022), Foto: Holger Menzel

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Willy Praml erhält die Ehrenplakette der Stadt Frankfurt (2022), Foto: Holger Menzel


Schwarz/Weiß. Die Verlobung in St. Domingo in der Regie von Michael Weber (2022), Foto: Seweryn Żelazny

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Schwarz/Weiß. Die Verlobung in St. Domingo in der Regie von Michael Weber (2022), Foto: Seweryn Żelazny


zurückGEHEN ODER hierBLEIBEN. HEIMAT? (2023), Foto: Seweryn Żelazny

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Willy Praml in Kirschgarten von Cechov, in der Regie von Michael Weber (2023), Foto: Seweryn Żelazny


Willy Praml liest Auszüge aus Navid Kermanis Rede im deutschen Bundestag 2014 anlässlich des 65. Jahrestages der Unterzeichnung des deutschen Grundgesetzes – musikalisch umrahmt von Gregor Praml (2024), Foto: Helmut Fricke

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Produktionshaus Naxos – Gründungsmitglieder: Jan-Philipp Stange, Simon Möllendorf, Carolin Millner, Birgit Heuser, Michael Weber, Willy Praml, Nils Wildegans, Maylin Habig, Ruth Schröfel (2020), Foto: Seweryn Żelazny


Epilog Darstellende Kunst, eine Probe-Bühne


Produktionshaus Naxos mit vielen Wohnungen Von Eva-Maria Magel


anderen auszuhandeln. Die Begehrlichkeiten waren allerdings immer größer als das, was dann tatsächlich umgesetzt worden ist. Viele hatten die Halle, eiskalt im Winter, kochend heiß im Sommer, nutzen wollen und die Bedingungen unterschätzt. Dazu gehört auch das Zusammenspiel aller Beteiligten auf dem Naxos-Gelände. Die eiserne Regel der Graffitikunst geht so: Wenn du etwas übermalst, dann nur, wenn du es besser kannst. Bis die Bagger kamen, um rings um die Naxos­­­­­­­­halle neuen Wohnraum und eine Kindertagesstätte zu schaffen, galt das Gesetz auch unter den verschie­denen Künstler:innen auf dem Gelände der Naxoshalle. Im Grunde ist es das Gesetz der Naxoshalle selber: Solange das gilt, was da gemacht wird, bleibt es unüberschrieben. Es scheint eine Basis zu sein, auf der man miteinander auskommt – zumindest innen, in der Industriekathedrale selbst. Außen herum sind die Sprayer­wände von einst längst neu errichtetem urbanem Wohnen gewichen, das seit 2012 entstanden ist. Die Interaktion mit jenen, die als Jüngste und nicht als Künstler:innen auf das Gelände gekommen sind, um dort zentral zu wohnen, war nicht immer konfliktfrei, auch wenn alle Neu-Anwohner:innen gewusst haben, dass sie auf ein kulturell genutztes Gelände ziehen. Zumal die Künstler:innen, allen voran Willy Praml, sich sicher sind: Hätten sie nicht seit Jahrzehnten auf der Naxoshalle als Ort für Kunst, Soziokultur, Begegnung, beharrt – die Industriekathedrale wäre wohl weg. Oder 237

Eva-Maria Magel: Produktionshaus Naxos mit vielen Wohnungen

Als sie im Jahr 2000 dort angefangen haben, sind sie mehr oder weniger eingestiegen in das Gebäude. Proben mit einer provisorischen Kaffeemaschine gab es noch auf der anderen Seite – dort, wo heute im Nebenflügel das Kabarett Die Käs seinen Platz hat, brandschutzfest verbaut. Darüber das Atelier Naxos, der Jugendladen, der einst jede Ecke des aufgelassenen Fabrikgeländes als Träger für Graffiti genutzt hat. Nicht nur das Theater Willy Praml hatte um die Jahrtausendwende das Potential der Frankfurter Naxoshalle entdeckt. 1988 hatte der Immobilienunternehmer Josef Buchmann die Halle gekauft, seit 1991 ist die Stadt Mieterin gewesen, ein Industriemuseum hatte darin errichtet werden sollen. Bis heute ist die denkmalgeschützte Halle ein Objekt der Begierde, immer mal wieder flackert auf, man könne diesen ungeheuren Raum doch auch anders verwerten. Doch längst hat er sich als Kulturort etabliert, gerade so, wie er ist. Mit Besucher:innen, die wissen, dass sie sich im Winter warm anziehen und Decken mitbringen müssen – und solchen, die das rasch lernen. Und damit beginnt ein neues Kapitel – das des „Produktionshauses Naxos“. Nach vorsichtigen Anfängen wird seit etwa 2017 an tragfähigen Strukturen gebaut. Allein ist das Theater Willy Praml, das im Jahr 2000 in der Naxoshalle ansässig wurde, nie gewesen auf dem Areal. Wer sich darauf einlässt, zwischen scharf nach Industrieöl riechendem Hirnholzboden und Resten großer Industriemaschinen Theater zu machen, muss wohl auch geeignet dafür sein, Bedingungen mit


Epilog: Darstellende Kunst, eine Probe-Bühne

eine der vielen schicken Supermarkt-plus-Restaurant-­ Immobilien geworden, wie es sie in jeder größeren Stadt gibt. Die urbane Attraktion eines Kunsthauses inmitten alter Industriekultur ist ein Pfund, mit dem gerade Willy Praml selbst noch stets zu wuchern gewusst hat – und die Jüngeren stehen ihm in nichts nach. Als sicherer Ort ist die Naxoshalle allerdings nach wie vor nicht zu betrachten: Die riesige Halle ist ein fragiler Ort, der zugleich Schutzraum ist und selbst geschützt werden muss, obwohl er unter Denkmalschutz steht. Viele der Sprayer aus den frühen Zeiten des Jugendladens leben heute hauptberuflich von dem Talent, das sie dort entwickelt haben. Der Leiter des Jugendladens Bornheim und des Ateliers Naxos, Stefan Mohr, und das Team der kommunalen Jugendarbeit sind immer noch genauso in der Naxoshalle wie Willy Praml. Neben dem Jugendladen befindet sich bis heute das Atelier der Bildhauerin E.R. Nele, Jahrgang 1932, die dort ihre Großskulpturen anfertigt. Sie haben alle früh eine friedliche Koexistenz etabliert – nicht immer einfach. Immer wieder hat es gemeinsame Projekte gegeben, ansonsten arrangiert man sich.

Vom „Theater Willy Praml“ zum „Produktionshaus Naxos“ Ungefähr so funktioniert das jetzt auch mit der Darstellenden Kunst in der großen Naxoshalle. Nur ist mit dem „Produktionshaus Naxos“ ein entschiedener Schritt in die Zukunft getan worden. Die treuen Besucher:innen, 238

die schon seit der Jahrtausendwende das Theater Willy Praml besuchen, das seit diesem Zeitpunkt einen festen Spielplan samt Frostpause hat, könnten glatt übersehen, was sich sonst alles tut „auf Naxos“. Dabei ist die Veränderung buchstäblich mit Händen zu greifen: Das angerostete Schild, das viele Jahre über der schweren Eingangstür hing, ist weg: „Theater Willy Praml“. An der Fassade steht nun „Produktionshaus Naxos“. Ein Banner, weiß-schwarz, ein geschwungener Pfeil, wie er früher bei Kinos oder Friseurgeschäften zur Eingangstür führte. Das ist keine große Geste. Aber eine, die signalisiert: Hier ist von vielen die Rede, nicht mehr nur von einem freien Theater. Seit im Jahr 2000 Willy Praml und das damalige Ensemble – im Kern bestehend aus Birgit Heuser, Michael Weber und Reinhold Behling – mit mehr Schneid und Anspruch als Verträgen in der damals noch baufälligen Naxoshalle angesiedelt hat, war das Schild mit dem Schriftzug „Theater Willy Praml“ zu einer Art Piratenflagge geworden. Jetzt gibt es eine neue Piratenflagge. Unter dem schwarz-weißen Logo „Produktionshaus Naxos“ geht ein Kollektiv, eine Art pragmatische Kunstgemeinschaft, in ein neues Kapitel freier Theater in Frankfurt. Entwickelt hat sich das langsam, aber stetig – ein Prozess, der jetzt mehr und mehr auch nach außen sichtbar wird. Zwei Häuser, auch ein paar Häuschen, unter einem großen Dach. „Wir sind in einem Prozess, der vor etwa drei Jahren angefangen hat“, erläutert Simon Möllendorf, der mittlerweile zusammen mit


nun unter dem Dach „Produktionshaus Naxos“ ver­­­­­ sammeln, nicht. Aber eine wöchentliche Team­­­sitzung und Verständnis füreinander. Sie seien alle „Ü 20“, witzeln sie – die „Alten“ alle jenseits der 60, mit Willy Praml, Jahrgang 1941, an der Spitze; die „Jungen“ alle Mitte, Ende der 1980er Jahre geboren. Simon Möllendorf ist derzeit der Jüngste im Team, Praml der Älteste. Das ist einer der Unterschiede. Trotzdem hat sich das „­Produktionshaus Naxos“ mit gerade diesen beiden als Geschäftsführern zusammengerauft und tut es noch. Selbstverständlich ist diese Entwicklung nicht – und sie begann mit einem unsanften Schubs. Im Sommer 2012 hatte ein vom damaligen Kulturdezernenten Felix Semmelroth (CDU) in Auftrag gegebenes Gutachten über die freie Theaterszene in Frankfurt ein teilweise vernichtendes Urteil über die freien Gruppen gefällt. Dass der Befund, wenige Ältere hielten die Produktionsmittel in den Händen, während die Jungen keinen Zugang hätten, dort nicht ganz so apodiktisch stand, wie er empfunden wurde – geschenkt. Gefuchst hat es Willy Praml sehr wohl. „Dass sich viele gefragt haben, wie das kommt, dass nur eine Gruppe eine so große Halle hat“1 Erst recht, weil damals schon längst mit dem auf Dokumentarfilme zu politischen und gesellschaftlichen Fragen spezialisierten Naxos Kino, einem ehrenamtlich organisierten Filmverein, und 1 Alle wörtlichen Zitate der Naxos-Künstler:innen stammen aus einem Gespräch der Verfasserin am 28. September 2023 in der Naxoshalle Frankfurt. 239

Eva-Maria Magel: Produktionshaus Naxos mit vielen Wohnungen

Willy Praml die Geschäftsführung des Produktionshauses innehat. Einen Intendanten oder Direktor des Produktionshauses gibt es nicht. „Bloß nicht“, hatte Praml einmal gesagt – obwohl er, jenseits der Schwelle der Naxoshalle, gerne „Intendant“ genannt wird. Oder „Prinzipal“. Und obwohl das Theater Willy Praml ihn sogar selbst im Impressum als „Intendant“ führt. Die Leute brauchten solche Begriffe und Titel, sagt dazu lapidar Michael Weber, Pramls Kunst- und Lebenspartner. Der in der freien Szene mittlerweile inflationäre Gebrauch des Titels „Intendant“ tut allerdings auch in der Naxoshalle der Tatsache keinen Abbruch, dass im Theater Willy Praml der Führungswechsel hin zu Michael Weber als hauptsächlich agierendem Regisseur und in Doppelspitze mit Birgit Heuser geschäftsführend Verantwortlichem vollzogen ist. Praml, Jahrgang 1941, arbeitet mit und an den Folgen eines Schlaganfalls. Das hat ihn nicht nur dazu bewogen, seine Rolle als Künstler neu zu bestimmen. Seither wurden auch Aufgaben und Verantwortlichkeiten neu verteilt. Nachdem er einige Zeit nur als Darsteller aufgetreten ist, was er als anstrengender empfand als das Insze­­nie­­ ­ren, hat Praml mit zurückGEHEN oder hierBLEIBEN. HEIMAT? im Herbst 2023 das erste Mal seit Jahren wieder Regie geführt. Der Intendant des privaten Theaters Willy Praml bestellt sein Haus. Dazu gehört auch der Neuanfang in einem Kollektiv, in dem der Titel „Intendant“ nichts zu suchen hat. Solche Begriffe brauchen die Gruppen, die sich


Epilog: Darstellende Kunst, eine Probe-Bühne

weiteren Nebenlinien weit mehr als das Repertoire des Theaters Willy Praml die riesige Halle bespielt hatte. Das Naxos Kino, eine Initiative, die nur wenige Spielzeiten nach dem Einzug des Theaters begonnen hatte, die Halle zu bespielen, ist seit 2008 ein Verein, dessen Mitglieder ehrenamtlich das Filmprogramm zusammenstellen, das jeden Dienstag stattfindet, wenn nicht die Kälte das Kino in die Winterpause zwingt. Viele, die sich im Verein engagieren, sind auch begeistertes Publikum beim Theater Willy Praml. Man darf aber davon ausgehen, dass die Bedrohung, das Heft in diesem einzigartigen Industriedenkmal und Theaterort aus der Hand geben zu müssen, den man doch erst selbst dazu gemacht hatte, den reformerischen Geist hin zum jetzigen Produktionshaus beflügelt hat. Dass er, und das ist auch schon wieder zehn Jahre her, von einer Gutachterkommission der Frankfurter Theaterszene zu den weißen alten Männern gezählt wurde, die ästhetisch nichts Neues zu bieten hätten und auf großen Räumen säßen – „während die Jungen draußen hungern und frieren“, wie er schnaubt – hat Praml empört und tut es noch. Aber Praml, der nicht nur Reineke Fuchs inszeniert hat, sondern auch selbst ein alter Fuchs ist, hat einen neuen Weg gefunden, um die Arbeitsweise seines Ensembles zu erhalten und zugleich den immensen und auch immens schwer bespielbaren Raum zu öffnen. Dass die Konstante im Wandel liegt, hat das Theater Willy Praml sehr wohl gesehen. Das gibt auch Praml durchaus zu, wenn er von 2012 als „eigentlichem Gründungsdatum“ des Produktionshauses 240

spricht. Seither arbeiten die „Alten“ mit den „Jungen“ und das Theater Willy Praml ist, wie Praml sagt, „ein Label in einem Produktionshaus für fünf Labels“.

Förderung junger Kunst und freier Szene Neben seinem eigenen Theater ist das vor allem, schon seit 2014, das Studio Naxos. Das Studio, selbst wiederum geleitet von einem Team aus derzeit Maylin Habig, Carolin Millner, Simon Möllendorf, Jan Philipp Stange und Nils Wildgans, ist Mitglied der Hessischen Theaterakademie und Mitglied im deutschen Netzwerk freier Theaterhäuser. Getragen wird es durch den Naxos-Bund zur Förderung junger Künstler:innen aus Hessen, gefördert von der Stadt Frankfurt und anderen. Vor allem jungen Künstler:innen und der freien Szene, in Kooperation mit der Hessischen Theaterakademie Abschlussarbeiten und Debüts schafft das Studio Raum. Einmalige Bespielungen, etwa für Abschlussarbeiten, fallen ebenso darunter wie längerfristige Kooperationen. Tanzproduktionen, wie es sie vereinzelt auch gegeben hatte, sind allerdings aufgrund der räumlichen Bedingungen mit dem von der Industrieproduktion geprägten Holzboden eher selten zu sehen. Dazu kommen die Ensembles „Eleganz aus Reflex“ mit Carolin Millner, „Stange Produktionen“ von Jan Philipp Stange und „Dorfproduct“, das Label Simon Möllendorfs. Nicht zu vergessen die „Naxos Hallenkonzerte“, künstlerisch geleitet von Leonhard Dering


liegende Text wurde auch da durch Recherche, weitere Literatur, Verweise und Bezüge in Text, Raum, Klang erweitert. So entstand ein dichtes Bild des aufziehenden Nationalsozialismus, durchaus mit Blick auf derzeitige gesellschaftliche Kräfteverhältnisse. Eine Möglichkeit für das heutige Publikum zu bieten, lange politische Entwicklungen durch einen theatralen Blick in die Geschichte zu überblicken und daraus Schlüsse für die Gegenwart zu ziehen, ist bislang stets das Anliegen Millners gewesen. Etwa auch in The Word At Large Barely Moves Me über die Künstler­ freundschaft der Keramikerin Marguerite Friedlaenders und des Bildhauers Gerhard Marcks’. Aus dem Briefwechsel nach dem Zweiten Weltkrieg tritt subtil zutage, wie, „das Gift des Antisemitismus selbst in jenen wirkte, die vorgeblich keine Vorurteile und jüdische Freunde hatten.“2 Charakteristisch sind für Millners Arbeitsweise auch die theatralen Mittel, die sich vom „Verkörpern“ einer Rolle absetzen, Bewegung, Pantomime, Rezitation und zumal die Nutzung des Raums mit markenten Bühnen-Installationen, teilweise ganzen Bauten sind charakteristisch für die Gruppe „Eleganz aus Reflex“. Ebenso experimentell geht auch Jan Philipp Stange mit Raum um. Auch er ist als Gründungsmitglied von Studio Naxos seit 2014 in der Naxoshalle tätig und mittlerweile mit Gastspielen und Festivaleinladungen 2 Frankfurter Allgemeine Zeitung, Rhein-Main-Zeitung, 6. Juli 2022, S. 40. 241

Eva-Maria Magel: Produktionshaus Naxos mit vielen Wohnungen

und Raphael Languillat, die seit 2018 ein breites Repertoire zwischen Klassik, Jazz, neuer Musik und Pop abdecken und ein sehr gemischtes Publikum in die Halle ziehen. Zu Stimmen weit über Frankfurt hinaus haben sich Millner und Stange, von Anfang an bei Studio Naxos engagiert, mittlerweile entwickelt: Carolin Millner, geboren in Halle an der Saale, aufgewachsen in Berlin und Stuttgart, hat in München und Frankfurt Dramaturgie und Regie studiert. Sie schreibt ihre Stücke selbst, denen akribische Recherche zugrunde liegt. So entstehen ausgesprochen formbewusste und durch­­ choreographierte Produktionen, die politische Erinnerungsarbeit und aktuelle gesellschaftliche Fragen verbinden, oft mit Blick auf die DDR wie in der Serie Rot oder tot, in Wir liebten nicht alle (2022) über die Familie des Leiters des Auslandsnachrichtendienstes der DDR Markus Wolf, oder jüngst Es ist quasi Liebe (2023). Die Männerfreundschaft des Schauspielers Manfred Krug und des Autors Jurek Becker wird darin anhand der Postkarten der beiden aufgefaltet, die als Buch erschienen sind. Entlang der Freundschaft, die 1997 mit Beckers Tod endete, werden aber auch die gesellschaftlichen Verhältnisse in der DDR, die Bedingungen künstlerischer Produktion, die Ausbürgerung von Wolf Biermann zum Thema. 2020 bis 2021 hatte Millner mit einer Trilogie den Roman „Erfolg“ von Lion Feuchtwanger adaptiert, die drei Teile stellten jeweils eine andere Person außer den Museumsdirektor Martin Krüger in den Vordergrund; der zugrunde


Epilog: Darstellende Kunst, eine Probe-Bühne

unterwegs. Charakteristisch sind für ihn, ähnlich wie bei Millner, serielle Arbeiten, die in der Themenwahl, der Technologie oder den Räumen aneinander anknüpfen. So ist eine ganze Serie von Experimenten mit 3D-Technik, Avataren und Motion-Capture-­ Verfahren entstanden, etwa in Great Depressions (2018), wo er in einer bespielbaren Höhle inszenierte, die in Teilen 2020 in Hard Feelings weiter bearbeitet worden ist. Immer wieder arbeitet Stange an klassischen Stoffen, bezieht sich auf traditionsreiche Texte, wie Titus Andronicus oder Kafkas Ein Bericht für eine Akademie, um neue Zugangsweisen zu erproben. Diese können mit neuen, digitalen Technologien, mit räumlichen Installationen einhergehen – vor allem aber wird in den Aufführungen selbst der Produktions- und Reflexionsprozess mit gezeigt. Dies hat auch seriellen Charakter, beginnend mit Stanges Abschlussarbeit namens Graduation Piece, in dem er 2016 als sein eigenes Abschlussstück die Palette all dessen vorführte, was ein Regiestudent können sollte und zeigen wollte. Eine satirische Leistungsschau, zugleich aber thematisierte Graduation Piece die Bedingungen des Künstlerwerdens. Ein roter Faden, der zu Szenario (2022) führt: Auch in dieser Produktion sind wie in einer mise en abyme die Entstehung des Stücks, die Bedingungen, die Gründe zugleich Inhalt und Vorgehensweise. Wo Graduation Piece alles sammelte, was der Absolvent eines Regiestudiums im Moment des Examens können sollte, zeigt Szenario die Verbiegungen, die freie Künstler:innen zwischen eigenem Streben und den 242

Worthülsen der Förderpolitik unternehmen müssen, in einer Art Musical. Wie in sehr vielen seiner Inszenierungen hat Stange auch hier mit dem Musiker Jacob Bußmann zusammengearbeitet. In Chören und Solopassagen legt Szenario dar, warum Geldgeber es finanzieren sollten, bedient sich des floskelhaften Deutschs und des Jargons der Kulturförderung und lässt zugleich Raum für das, was die Künstler in Gestalt der Performer gar nicht so genau erläutern können, wie es die vorgefertigten Formulare mit Kostenprognosen und Ziel der künstlerischen Produktion verlangen. Das Fortsetzungsstück entstand im Herbst 2023 mit Sachbericht, das auch noch den „zahlenmäßigen Verwendungsnachweis“, die Schlussrechnung nach einer künstlerischen Produktion, zum theatralen Ereignis gemacht. Diesmal hat Stange zwar wieder ein Musiktheaterformat inszeniert – aber mitsamt einer Dinnerparty für das Publikum, das Speisen serviert bekommt, während die Künstler beschreiben, wie die kargen Mittel eingesetzt worden sind. Erfahrungen, die alle Theaterschaffenden auf Naxos teilen. Für das Konstrukt aus Spielstätte, Studio Naxos und einzelnen Ensembles gibt es jeweils einzeln Förderung der Stadt für Gruppen und Projekte. Das Studio Naxos erhält Stand 2023 50.000 Euro Produktionsstättenförderung, sozusagen für den Überbau, das Theater Willy Praml bekommt jährliche Zuschüsse in Höhe von 85.000 Euro, Philipp Stange 51.000, Carolin Millner 30.000 Euro und „Dorfproduct“ 25.000 Euro. Dazu kommen 188.000 Euro für den Betrieb der gemeinsamen Spielstätte Naxos­­


Performaces und Klassisches: „Harmonie mit Konflikten“ Die Produktionen fallen sehr unterschiedlich aus, von der einmaligen Performance über Kleinserien bis hin zu Pramls mittlerweile regelrecht klassischer Theaterarbeit, die nicht aus einzelnen Pop-up-Produktionen oder Projekten besteht, sondern in einem Spielplan aus Neuproduktionen und Repertoire, wie an festen und

großen Häusern. All das war gerade in den Anfangssaisons nicht ohne Reibungsverluste zu haben, denn es bedeutet einen großen Zeitraum, in dem Tribüne und Haupthalle vom Theater Willy Praml belegt sind. Damals hatten die äußerst experimentierfreudigen „Jungen“ sich noch mehrheitlich auf das Seitenschiff der „Industriekathedrale“ verlegt; das Praml-Theater spielte meist in der eigens eingebauten Konstruktion aus Publikumstribüne, Bühnenfläche und Halle, die auch das Kino nutzt. Man hielt sich gegenseitig eher auf Abstand, das hat sich merklich geändert in den vergangenen Jahren. „Seit 2017 sind wir das Modell für das, was es jetzt gibt. Vom Kulturamt haben wir viel Zuspruch bekommen“, sagt Birgit Heuser. Da war es schon fünf Jahre her, dass das Theater Willy Praml überlegen musste, wie es in die Zukunft geht. Dass die so unterschiedlichen Gruppen künstlerisch zusammenpassen, könnte man bis heute nicht behaupten – das will auch niemand: Vielfalt ist Prinzip, Toleranz offenkundig auch. Auch wenn Praml durchaus bissig anmerken kann, die textorientierte Arbeit seines Theaters sei dann doch etwas völlig anderes als die performativen Produktionen der Jüngeren. Als das Studio Naxos 2021 die ganze Halle in „Sumpffestspiele“ umwandelte und sogar Teile des Holzbodens für vier Wochen entfernte, um mit Schlamm, künstlichen Wasserläufen und einem Urban-Gardening-Projekt Natur, Nachhaltigkeit und Kunst in einer Art Happening zusammenzubringen, wirkten die Alteingesessenen nicht sonderlich 243

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halle. Ausreichend sind diese städtischen Mittel nicht: Daher beschaffen die Gruppen und Einzelkünstler:innen mit Förderanträgen Geld vom Land, vom Bund, von Stiftungen und gewinnen Spenden. Das Publikum wiederum teilt das „Produktions­­haus Naxos“ nur in einer Schnittmenge, besonders groß ist diese nicht. Mittlerweile sei eine gewisse Mischbewegung zu beobachten, sagen Weber und Möllendorf. Das geht langsam voran, vor allem zu den Diplominszenierungen, die das Studio zeigt, kommt ein studentisches Milieu, das eher weniger zu den literarischen Stücken des Praml-Theaters ginge. Womöglich aber haben gemeinsam realisierte Formate wie das paarweise Spazierengehen samt Unterhaltung der einzelnen Künstlerinnen und Künstler aller Ensembles mit dem Publikum während der Corona-Beschränkungen sogar zur Mischung beigetragen. Dass Filmfestivals wie Nippon Connection mit enormen Besucher:innenzahlen die Halle mieten, dürfte auch zur Bekanntheit des Ortes selbst und seines Angebotes beitragen.


Epilog: Darstellende Kunst, eine Probe-Bühne

begeistert – und ein Jugendprojekt im Hinterhofgarten wiederum nahm Formen an, die zu Protest der Anwohner:innen führten. Daraus lerne man auch, sagt Birgit Heuser. Die Frage, wer wann welche Räume nutzt und wie, regeln mittlerweile etablierte Kommunikationsstrukturen. Es herrsche „Harmonie mit Konflikten“, umschreibt Heuser den Alltag des Produktionshauses. Wobei Möllendorf schnell hinzufügt: „Aber fair in der Sache, wenn wir streiten.“ Ein wenig erinnert das an WG-Konflikte – und in der Tat sind die alltäglichen organisatorischen Fragen das Hauptthema, wenn es rumpelt zwischen den Produktionshaus-Nutzer:innen. „Wir haben nicht die Bürde, über künstlerische und ästhetische Fragen einig zu sein“, sagt Nils Wildegans. Das ist einerseits diplomatisch formuliert und trifft andererseits den Nagel auf den Kopf. Man sehe die Arbeiten der anderen an, sagt die Leitungsgruppe – „aber das Prinzip des Produktionshauses ist, dass die Dinge nebeneinanderstehen können.“ So formt man mittlerweile ein zweites, deutlich mehr im Off situiertes Produktionshaus genau gegenüber dem Rollenmodell, das 1988 auf der anderen Seite der Waldschmidtstraße eröffnet hat: Dem Frankfurter Mousonturm, der einst auch als Spielort lokaler Künstler:innen jenseits des Mainstreams angefangen hatte und das heute in einem internationalen Koproduktionskontext tätig ist. Das hat für alle Konsequenzen. „Wir spielen weniger als früher“, sagt Michael Weber. „Das gehört dazu, wenn man das Haus teilt. Und es gibt auch 244

keine Ellbogenpolitik.“ Aber als einzige Gruppe hat das Theater Willy Praml nicht nur ein Repertoire, sondern mit En-Suite-Produktionen wie Jesus d’ Amour an Weihnachten und Ostern auch zeitintensive Produktionen. „Wir haben ein Ensemble, das braucht Planungssicherheit“, sagt Weber. Alle anderen arbeiten zwar in mehr oder weniger festen Konstellationen, nicht aber in einem Ensemble wie das Theater Willy Praml. Aufgrund der Förderpolitik, sagt Möllendorf, sei das Programm von Studio Naxos wiederum oft recht kurzfristig. Neben den wiederkehrenden Akteuren kommen Jüngere zum Zug, Absolvent:innen der ortsansässigen Hoch­­­­ schulen etwa. Bekommt etwa jemand keine Projektförderung, obwohl Zeit und Raum verplant sind, dann muss umdisponiert werden. Manchmal wiederum sind Produktionen so erfolgreich, dass sie wiederkommen sollen – der Förderstruktur in Hessen und Frankfurt, die keine Wiederaufnahmen oder Gastspiele unterstützt, zum Trotz. Und mit „Eleganz aus Reflex“ und Philipp Stange sind von Beginn an zwei Ensembles bei Naxos vertreten, die mittlerweile national sehr erfolgreich unterwegs sind. Was wiederum neue Probleme auftut: Nils Wildegans, der das Bühnenbild für Carolin Millners „Eleganz aus Reflex“ macht, muss immer wieder überlegen, wie stark er sich auf den Ort Naxoshalle einlässt. Denn mittlerweile sind Millners Regiearbeiten wie die Reihe Rot oder Tot (2017/19) auf Tour, werden zu Gastspielen und Festivals eingeladen. Wenn dann Stücke zu stark


Jede:r mindestens zwei Jobs, aber höchstens karg entlohnt Dazu kommt die Schwierigkeit, dass die „2000 Quadrat­ ­meter Einzimmerwohnung“, wie Möllendorf die Halle nennt, nicht parallel bespielt werden kann. Das geben Akustik und Technik nicht her. Genau das Offene macht aber auch die Faszination des Gebäudes aus. Also muss man sich arrangieren, mit genauen Probe- und Spielzeiten. Dennoch kann der Lautstärkepegel enorm sein, an einem Tag mit Bühnenbildbau oder Toneinrichtung erst recht. Im Kopfbau der Halle, wo das Theater Willy Praml sein Büro hat, gibt es auch einen Probenraum, der geteilt bespielt wird. Dafür gibt es regelmäßige Sitzungen mit Möllendorf und Praml, Andrea Hagel, die organisatorisch tätig ist, Nils Wildegans, der die Technik leitet, und Birgit Heuser, die einerseits beim Theater Willy Praml Schauspielerin ist und zusammen mit Weber Geschäftsführerin, andererseits aber seit vielen Jahren die Fachfrau für Buchhaltung auf dem Gelände. „Wir haben alle mehrere Hüte auf“, sagt sie. Im Theater Willy Praml war das schon immer so – bis hin zum Putz- und Thekendienst.

Dass sie alle mindestens zwei Jobs haben, karg entlohnte obendrein, gehört zum Produktionshaus Naxos dazu. Möllendorf macht Lichtdesign für ver­­­­ schie­­­­­­dene Mitglieder des Produktionshauses, Kunst mit seinem eigenen Label „Dorfproduct“, führt die Geschäfte von Studio Naxos und steht zusammen mit Praml dem Gesamthaus vor. Nils Wildegans wiederum wendet etwa ein Drittel seiner Zeit für die technische Leitung der Halle auf, er ist der Bühnenbildner und Raumdesigner für „Eleganz aus Reflex“ und gestaltet als freischaffender Designer Räume und Ausstellungen. Auf die Uhr schauen sie bei diesen Aufteilungen nicht. Abgesehen davon, erläutert Möllendorf, sei das Personal extrem knapp. Und ohne technische Leitung und Organisation ist das Gebäude nicht zu bespielen – eine Schwierigkeit, mit der etliche freie Kunstorte hadern, erst recht ein Industriedenkmal, das bislang das Glück hatte, kaum vom neuen Zweck überformt worden zu sein. Auch wenn, nach einigen Eingriffen, in der Zukunft beträchtliche Sanierungen durch die Stadt als Eigentümerin erfolgen müssen. Viele hätten gefragt, ob sie in der Halle spielen könnten, sagt Praml – aber am Ende sei nichts daraus geworden. Was nicht nur daran liegen dürfte, dass auch das Theater Willy Praml die Kohabitation erst hat lernen müssen. Viel Arbeit und Hingabe braucht es, um in der Halle zu reüssieren. Das will nicht jede:r, jenseits der künstlerischen Arbeit. Das sei auch eine Generationenfrage, vermutet Heuser. Jüngere, so ihre Erfahrung, seien nicht so schnell bereit, sich länger und stark zu 245

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auf den besonderen Raum der Naxoshalle zugeschnitten sind, hat das im schlechtesten Fall auch Absagen zur Folge, weil man die Produktion nicht an andere Bühnen anpassen kann. „Das ist eine Frage, die man sich immer wieder stellen muss: Die Stärke, die der Raum hat, kann man nicht mitnehmen“, sagt Wildegans.


Epilog: Darstellende Kunst, eine Probe-Bühne

verpflichten, einem Ort und Strukturen gegenüber. „Man muss viel Verantwortung übernehmen wollen“, pflichtet ihr Möllendorf bei. Diejenigen, die jetzt dabei sind, nehmen diese Aufgabe an. Es brauche aber mehr Perspektive für die junge Generation – und Stellen, um ihnen einen Lebensunterhalt zu ermöglichen. Die guten Leute verließen sonst den Betrieb, sagt Möllendorf. Beispiele hat er in seinem eigenen Kollegenkreis: „Künstler haben die Tendenz, ihre Arbeit mit egal wie wenig Geld zu machen. Man muss aufpassen, dass die Kulturpolitik da nicht vorgreift.“ Sich darauf zu verlassen, dass die Künstler:innen schon irgendwie durchkommen, hält Möllendorf für ebenso gefährlich wie die finanzielle Stagnation der Naxoshalle. Zum Teil, sagt er, gingen die Beteiligten in finanzielle Vorleistung, um überhaupt Spielmöglichkeiten vorhalten zu können. Ein enormes Risiko bei den kargen Mitteln. Zu wenig Spielorte gebe es nicht in Frankfurt, sagt er: „Man muss die Kapazitäten erhöhen. Dazu braucht es Personal, um Umbauten und anderes zu leisten.“ Die Kulturpolitik müsse das betreiben, bislang sei es nicht geschehen. Auch in der Naxoshalle könnte trotz der architektoni­ ­schen Besonderheiten noch mehr produziert und gezeigt werden, nur fehlen die nötigen Mittel. Dass weiter eher ein Gießkannenprinzip vorherrsche in der kommunalen Förderung, statt diejenigen zu stärken, die ein Strahlkraft erzeugen, kritisiert Praml selbstredend auch mit Blick auf die Naxoshalle. Es müsse doch darum gehen, die „Kultur für alle“ zu stärken. Und dafür brauche es Schwer246

punkte. Möllendorf sieht das ähnlich. Ihm fehlt es daran, die Strukturen, die es gibt, besser zu finanzieren und ihr Niveau zu heben. Im Geist Hilmar Hoffmanns, sagt Praml, gebe es nun auf Naxos eine einmalige Chance. Aber wenn man das nicht wolle, setzt Möllendorf hinzu, müsse die Politik das auch sagen.

„Patchwork-Finanzierung“ in „der größten Spielstätte Mitteleuropas“ Schon vor 20 Jahren, sagt Praml, habe er angefangen, der städtischen Kulturpolitik zu beschreiben, was man aus dem Naxos-Areal im Verbund mehrerer Akteure machen könnte. Mehr als den Rat, die schöne Idee doch mal zu „behalten“, habe er nicht gehört. Jetzt packen sie es einfach mit dem an, was als Patchwork-Finanzierung möglich ist. Und Praml beharrt weiter darauf, mit der Halle „die größte Spielstätte Mitteleuropas“ zu betreiben. Hätten damals andere Gruppen die restlichen Hallen auf dem Gelände – auch sie geeignet als Kulturorte mit riesiger Spielfläche und Off-Charme – besetzt, „wir hätten heute das größte Kulturzentrum Europas“, sagt Praml, und das meint er, der als eines seiner Vorbilder die Cartoucherie von Ariane Mnouchkine in Paris nennt, völlig ernst. Aber niemand hat sich die Nebengebäude durch schieres Bespielen erst einmal gesichert – ebenfalls große Hallen, in denen unter anderem das Lager eines Trödlers geräumt worden war. Nur die Sprayer hatten sich die Wände mit riesigen


teilen mit den „Alten“ – neben Praml, Heuser, Weber, Behling, seit geraumer Zeit als Jüngere beim Theater Willy Praml auch Jakob Gail, Anna Staab und Muawia Harb, der über die Flüchtlingsprojekte des Theaters zum Ensemble fand – die Bereitschaft, mit den Gegebenheiten umzugehen. Im Sommer heiß, im Winter eiskalt, oft staubig und stets mit dem Maschinenölgeruch behaftet, der von der Industriegeschichte des Ortes zeugt – das muss man als Arbeitsort wollen. Pramls Truppe wollte das, sie hatte sich damals regelrecht eingenistet in der riesigen Halle – hatte es ausgehalten, mehrmals vor dem Aus zu stehen: in Ermangelung der Mittel und eines Mietvertrags, wegen baulicher Mängel – und einmal auch, weil die Behelfskonstruktionen, die das Theater auf eigene Faust eingebaut hatte, den Brandschutzbestimmungen nicht entsprachen und wieder abgebaut werden mussten. Auch in der Zukunft muss voraussichtlich einiges saniert werden an dem Gebäude, sein Betrieb erfordert, bei allem Off-Charme, enorm viel Einsatz und Hingabe. Allen aber, die im Jahr 2023 am Produktionshaus Naxos arbeiten, ist anzumerken, wie sehr sie an diesem Ort hängen. Nicht die schlechteste Voraussetzung, um das Modell in die Zukunft zu führen.

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Eva-Maria Magel: Produktionshaus Naxos mit vielen Wohnungen

Bildern erobert – und von 2010 an wurde alles abgerissen. Die Gebäude sind der Wohnbebauung gewichen. Seither bedarf das Miteinander von Kunst, Jugendkultur und Wohnen auch der permanenten Aushandlungen zwischen allen Beteiligten. Die vor allem bei Studentinnen und Studenten beliebten Partys etwa aus den Anfangsjahren von Studio Naxos gibt es auf Grund von Lärm-Beschwerden nun nicht mehr. Damit ging auch ein Teil der Klientel verloren, für die vor der Pandemie die Naxoshalle ein selbstverständlicher Treffpunkt am Wochenende gewesen ist – die einen kamen schon zur Vorstellung, die anderen erst danach zum Feiern. Und kamen womöglich als Publikum wieder. Diese Möglichkeit, neue Leute hereinzuholen, ist weggefallen und mit ihr auch die lukrative Einnahmequelle der Partys. Mit einem Café auf dem Gelände hat es einen Sommer lang eine Initiative gegeben, die Künstler:innen und die Anwohner:innen zu verbinden. Ein großer Erfolg, sagt das Naxos-Team, der jedoch mit viel Aufwand verbunden war. Es soll aber auch da weitergehen, versichern die Vertreter:innen des Produktionshauses. Nur sei ein Dauerbetrieb undenkbar angesichts all der Aufgaben, die mit so wenig Personal gestemmt würden. Dass Theaterbetrieb auf Naxos aber immer auch bedeutet, sich um das Klima draußen vor der Hallentür zu kümmern, auf dem Gelände und darüber hinaus, ist offenkundig allen ein Anliegen, die derzeit unter dem Dach des Produktionshauses arbeiten. Diejenigen, die sich jetzt im Studio Naxos engagieren,



Verzeichnis der Autorinnen und A ­ utoren Matthias Bischoff studierte Germanistik, Komparatistik und Philosophie an der Johannes Gutenberg-Universität Mainz. Er arbeitete als Lektor und Programmleiter im Eichborn Verlag und Knaus Verlag. Seit 2016 unterrichtet er Deutsch als Fremdsprache an einer Berufsschule und arbeitet als freier Lektor. Seit 1990 schreibt er für die Rhein-Main-Zeitung der Frankfurter Allgemeinen Zeitung mit dem Schwerpunkt Theater und Literatur. Dr. Julia Cloot ist Musik- und Literaturwissenschaftlerin. Nach der Promotion in Berlin und Stationen als Chefdramaturgin in Görlitz, Literatur- und Musikreferentin in Hannover und Leiterin des Instituts für zeitgenössische Musik an der Hochschule für Musik und Darstellende Kunst in Frankfurt am Main ist sie seit 2013 als Kuratorin des Kulturfonds Frankfurt RheinMain tätig. Sie ist Autorin von rund 120 wissenschaftlichen und feuilletonistischen Publikationen zu Neuer Musik, älterer Literatur, Musiktheater und Performance. Im Ehrenamt ist sie stellvertretende Vorsitzende des Musikfonds des Bundes und Vorsitzende des Bundesfachausschusses Kulturelle Vielfalt des Deutschen Musikrates. Eva-Maria Magel ist in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung verantwortlich für die Kulturredaktion der Rhein-Main-Zeitung. Sie setzt in ihrer journalistischen Arbeit einen Schwerpunkt in den Darstellenden Künsten, auch über junges Publikum. Sie war Kuratorin des Kinder- und Jugendtheatertreffens „Augenblick Mal!“ und arbeitet an europäischen Hochschulprojekten mit. Buchbeiträge u. a. zu kultureller Bildung, Stanley Kubrick, Maria Schell. Professor Dr. Wolfgang Schneider war Gründungsdirektor des Instituts für Kulturpolitik der Universität Hildesheim und ist Ehrenpräsident der Internationalen Vereinigung des Theaters für Kinder und Jugendliche sowie Vorsitzender des Vorstandes des

Fonds Darstellende Künste, zahlreiche Veröffentlichungen, auch im Verlag Theater der Zeit als Mitherausgeber von „Theatermachen als Beruf“ (2017) und „Theater in der Provinz“ (2019) sowie mehrerer Sammelbände zum Kinder- und Jugendtheater, u. a. „Starke Stücke. Theater für junges Publikum in Hessen und Rhein-Main“ (2019). Professorin Dr. Hanne Seitz promovierte an der Johann Wolfgang Goethe-Universität Frankfurt am Main in Kunstpädagogik, lehrte bis 2017 an der Fachhochschule Potsdam im Schwerpunkt „Theorie und Praxis ästhetischer Bildung“ und forscht zu zeitgenössischer Kunstpraxis, zu Interventions- und Partizipationsmodi, zu pädagogischer Anthropologie und zum Gabe-­ Theorem. Letzte Publikationen: „non non fiction – zur Theorie und Praxis des Spiels und die Rolle der Mimesis im Theater und anderswo“, in: Kubi-Online, 2022, https://doi.org/10.25529/ ngye-fj25 sowie „Enthusiasmus. Mit Sokrates im Gespräch über Dichtung, freien Tanz und Bewegungsimprovisation“, in: H. ­Peskoller/J. Zirfas (Hg.): Die Kunst der Begeisterung. Anthropologische Erkenntnisse und pädagogische Praktiken, Weinheim/ Basel 2023. Judith von Sternburg ist Feuilletonredakteurin der Frankfurter Rundschau und schreibt auch für die Fachzeitschrift „Opernwelt“. Professorin Dr. Kristin Westphal ist Erziehungswissenschaftlerin und Professorin an der Universität Koblenz IfGP, Gründungsmitglied und bis 2019 Leitung des Zentrums für zeitgenössisches Theater und Performancekunst/Studiengang Theater. Forschungsschwerpunkte: Pädagogische Anthropologie und Phänomenologie, Erziehen und Bilden in der Kindheit, Kulturelle und Ästhetische Bildung. Mitherausgeberin von „KIDS ON STAGE. Andere Spielweisen in der Performancekunst. transgenerational. transkulturell. transdisziplinär“, Bielefeld 2022; „Landschaft Performance – Teilhabe“, Bielefeld 2023; „Künstlerische Residenzen in ländlichen Räumen“, Weinheim/Basel 2024. 249


Impressum Poesie, Heimat und Politik Theater Willy Praml Herausgegeben von Wolfgang Schneider

© 2024 by Theater der Zeit Texte und Abbildungen sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung, die nicht ausdrücklich im Urheberrechts-­ Gesetz zugelassen ist, bedarf der vorherigen Zustimmung des Verlages. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, ­Bearbeitungen, Übersetzungen, ­Mikroverfilmung und die Einspeisung und Verarbeitung in elektronischen Medien. Verlag Theater der Zeit Verlagsleiter Harald Müller Winsstraße 72 | 10405 Berlin | Germany www.tdz.de Lektorat: Sophie-Margarete Schuster Gestaltung: Tabea Feuerstein Umschlagfoto: Seweryn Żelazny Printed in Germany ISBN 978-3-95749-511-2 (Paperback) ISBN 978-3-95749-512-9 (ePDF)



„Ich war nie in einem Theaterbetrieb, ich war immer frei“, bekundet der Theatermacher Willy Praml.

ISBN 978-3-95749-511-2

In Frankfurt am Main verankert, behauptet er mit seiner künstlerischen Arbeit ein selbstbestimmtes und politisches Theater. Seit den 1970er Jahren erregte Willy Praml Aufsehen durch die Erprobung neuer theatraler Formen mit Lehrlingen, im ländlichen Raum und mit Faust 1 & 2 in der Frankfurter Paulskirche. Nachdem sein Theaterkollektiv 2000 in einem Industriedenkmal in der Main-Metropole, der Naxoshalle, seine Heimat fand, inszeniert das Theater Willy Praml dort Gesamtkunstwerke, literarische sowie musikalische Projekte, und immer wieder auch interkulturell mit Geflüchteten. Mittlerweile ist aus dem Provisorium ein Produktionshaus geworden: Hier arbeiten Künstler:innen aus der freien Szene; Kino und Konzerte gehören ebenso zum Programm. Die Autor:innen aus Feuilleton und Wissenschaft beschreiben und reflektieren in ihren Beiträgen fünfzig Jahre dieser Theatergeschichte – fünfzig Jahre einer künstlerischen Auseinandersetzung mit der sozialen Wirklichkeit.


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