TAGE DER JUNGEN DRAMATIK 28. 4. — 2. 5. 2020
TAGE DER JUNGEN DRAMATIK
Di. 28. 4. — Sa. 2. 5. 2020
Online auf Facebook und Youtube
PROGRAMM
Di. 28. 4. 2020 19 Uhr
Fr. 1. 5. 2020
BRUNO BRANDES MEIN IDEAL IST SO SCHÖN, ICH KANN ES MIR MEIN LEBEN LANG ANSEHEN
JOHANNES KOCH JEDER MENSCH IST SCHÖN (UND WENN EINER NICHT SCHÖN IST, DANN IST ER AUCH KEIN MENSCH) (AT)
Videopremiere auf dem Youtube-Kanal des Staatstheaters Braunschweig und der Facebook-Seite des Theaters Magdeburg Anschließend Nachgespräch mit dem Autor und dem Regisseur im Livestream auf der Facebook-Seite des Theaters Magdeburg
19 Uhr
Szenische Inszenierung im Livestream auf der Facebook-Seite des Theaters Magdeburg Anschließend Nachgespräch mit dem Autor und dem Regisseur
Mi. 29. 4. 2020 19 Uhr
Sa. 2. 5. 2020
WIBKE CHARLOTTE GNEUß GLÜCKWUNSCH
TILL WIEBEL WIR WASSERBÄREN
Szenische Inszenierung im Livestream auf der Facebook-Seite des Theaters Magdeburg Anschließend Nachgespräch mit der Autorin und der Regisseurin
Videopremiere auf dem Youtube-Kanal des Staatstheaters Braunschweig und der Facebook-Seite des Theaters Magdeburg Anschließend Nachgespräch mit dem Autor und dem Regisseur sowie Preisverleihung im Livestream auf der Facebook-Seite des Theaters Magdeburg
19 Uhr
Do. 30. 4. 2020 19 Uhr
MARIE LUCIENNE VERSE NOVA PARK Videopremiere auf dem Youtube-Kanal des Staatstheaters Braunschweig und der Facebook-Seite des Theaters Magdeburg Anschließend Nachgespräch mit der Autorin und der Regisseurin im Livestream auf der Facebook-Seite des Theaters Magdeburg
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Der Jurypreis wird vergeben durch: Henrieke Beuthner rowohlt-Theaterverlag Lara-Joy Bues Theaterkollektiv »Markus&Markus« Gunnar Decker Autor und Redakteur »Theater der Zeit« Amelie Niermeyer Regisseurin, Professorin am Mozarteum Salzburg Tim Kramer Schauspieldirektor Theater Magdeburg
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DIE TAGE DER JUNGEN DRAMATIK SIND EINE CHANCE FÜR NEUE THEATERAUTOR*INNEN
Studierende des Deutschen Literaturinstituts Leipzig sowie des Fachbereichs Kulturwissenschaften und Ästhetische Kommunikation der Universität Hildesheim waren zu Beginn der Spielzeit 2019 / 20 durch das Staatstheater Braunschweig und das Theater Magdeburg eingeladen, sich mit einem Stückentwurf für eine Auftragsarbeit inklusive Uraufführung zu bewerben. Das Besondere an diesem Wettbewerb ist der Fokus auf angehende Dramatiker*innen unter Studierenden, die nicht bereits fertige Stücke einreichen mussten – ein Umstand, der von Autor*innen regelmäßig erwartet in Vorleistung zu gehen, gerade wenn sie noch nicht etabliert sind. Aus insgesamt 32 Einreichungen höchst unterschiedlicher thematischer und ästhetischer Setzungen wählten die Braunschweiger und Magdeburger Dramaturg*innen fünf herausragende Entwürfe aus, die ursprünglich alle gemeinsam in einer »Langen Nacht der Jungen Dramatik« in ihrem Rohzustand präsentiert werden sollten, szenisch eingerichtet durch verschiedene Regisseur*innen. So sollten Jury und Publikum eine Vorstellung davon bekommen, welches Potential die Stücke in der weiteren Entwicklung haben können. Aufgrund der Corona-Pandemie war die Präsentation der szenischen Einrichtungen auf der analogen Bühne nicht mehr möglich. Stattdessen entschieden sich beide Theater für andere Formen der Umsetzung, die die Möglichkeiten der digitalen Zusammenarbeit und Präsentation nutzen. Während das Staatstheater Braunschweig für die Texte von Bruno Brandes, Marie Lucienne Verse und Till Wiebel eine experimentalfilmische Umsetzung fand, erarbeitete das Theater Magdeburg für die Texte von Wibke Charlotte Gneuß und Johannes Koch eine szenische Lesung per Videochat, die dem Publikum im Livestream präsentiert werden. In der 4
Woche vom 28. 4. bis 2. 5. 2020 sind die Ergebnisse auf der Facebook-Seite des Theaters Magdeburg bzw. dem Youtube-Kanal des Staatstheaters Braunschweig zu sehen. Auf der Magdeburger Facebook-Seite findet zudem nach jeder Präsentation ein Nachgespräch im Livestream statt, wobei das Publikum die Möglichkeit hat, über den Chat zu partizipieren. Im Anschluss an die letzte Präsentation am 2. 5. verkündet die Jury in diesem Livestream das Siegerstück, das entsprechend der Wettbewerbsidee in seiner Weiterentwicklung gefördert werden soll. Der*Die betreffende Autor*in erhält einen konkreten Stückauftrag zur Uraufführung am Theater Magdeburg in der Spielzeit 2020 / 21, dotiert mit einer Preissumme von insgesamt 6.500,- Euro. Der Publikumspreis, der ursprünglich durch Abstimmung der Braunschweiger und Magdeburger Zuschauer*innen vergeben werden sollte, wird unter den veränderten Umständen in seiner Summe aufgestockt, um ihn gleichmäßig an die vier anderen Autor*innen zu verteilen. Das Projekt des Autor*innenwettbewerbs zwischen dem Staatstheater Braunschweig und dem Theater Magdeburg in Kooperation mit den Universitäten Hildesheim und Leipzig wird in der kommenden Spielzeit weitergeführt. Auch wenn wir sicher sind, dass die diesjährigen Online-Präsentationen allesamt sehenswerte und spannende Umsetzungen zeigen, so hoffen wir doch für den kommenden Wettbewerb, dass die Stückentwürfe der Endauswahl auf der Bühne gezeigt werden können.
Wir danken unseren finanziellen Förderern:
Am Staatstheater Braunschweig finden die »Tage der Jungen Dramatik« im Rahmen der dritten »Thementage« unter dem Titel »Anders schreiben« (vom 24. 4. bis 2. 5. 202) statt, gefördert von der Stiftung Niedersachsen.
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MEIN IDEAL IST SO SCHÖN, ICH KANN ES MIR MEIN LEBEN LANG ANSEHEN BRUNO BRANDES Bruno Brandes »Mein Ideal ist so schön, ich kann es mir mein Leben lang ansehen« ist mehr ein mäandernder Gedankenstrom als ein geschlossenes Stück mit klar zuzuordnenden Figuren und linearen Handlungsabläufen. Mit poetischer Eindringlichkeit entwirft Brandes gerahmte Miniaturen, die unterlaufen werden von surrealen Einschüben: »Der Text bewegt sich zwischen Erinnerungen und Bildern aus fiebrigen und kristallenen Fiktionen, wissenschaftlichen Exkursionen und sucht nach alternativen Realitäten in Konjunktivutopien.« (Bruno Brandes) Der ständige überraschende Perspektivwechsel birgt die Chance, dass sich die Grenzen des Vorstellbaren auflösen. Der Theaterraum wird zu einem »Möglichkeitsraum« (Brandes), in dem durch die Freiheit permanenter Veränderung eine Auseinandersetzung über das anarchische wie das utopische Potential der Theaterarbeit freigesetzt wird.
Umsetzung durch das Staatstheater Braunschweig Es lesen Gertrud Kohl, Isabell Giebeler, Klaus Meininger, Roman Konienczny Am Overheadprojektor Lukas Pergande, David Els Licht Matthias Lebe Ton Dominik Stenzel, Thomas Bohnsack Postproduktion Gregor Dobiaschowski Szenische Einrichtung (One Take) Christoph Diem Dramaturgische Betreuung und Moderation Nachgespräch Holger Schröder
Videopremiere des Stückentwurfs Di. 28. 4. 2020 19 Uhr 6
Bruno Brandes, geboren 1996 in Berlin, studiert seit 2017 Szenische Künste an der Universität Hildesheim. Vor dem Studium FSJ, Abenddienst und Assistenzen an den Sophiensaelen in Berlin. Sein Theatertext »Manchmal seufze ich und denke: Ich bin ein einsamer Stern« gewann 2019 den Publikumspreis des Writer‘s Studio am Schauspiel Hannover und wurde von Teilen des Ensembles szenisch gelesen. Zurzeit inszeniert er sein drittes Stück mit Studierenden der Uni Hildesheim. 7
II. Ölfelder B: Das Meer liegt jetzt still da, als läge noch ein dunkelglänzendes Seidentuch darüber. C: In der Mitte des Meeres steht eine alte Ölplattform. A: Man könnte hier symbolisch bleiben oder konkreter werden, aber wozu sollte das führen? Wir nehmen also die alte Ölplattform im Meer ohne Bezüge und Kontext, so ist das Bild ja auch eigentlich unmittelbarer. C: Okay. Die Stahlträger der Plattform ragen etwa dreißig Meter aus dem Meer hinaus. Aus den Containerräumen erhebt sich der Bohrturm und ein Landeplatz für Helikopter. D: Später wird einer der Stahlträger im Osten brechen und die Plattform wird in das dunkle Wasser fallen, 11.000 Tonnen Öl werden im Meer versinken und durch die Flammen im Meer paddelt noch der Fahrer eines Pizza-Lieferdienstes zur Plattform.
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A: Warum ist die Jugend eigentlich dem Apokalyptischen so nahe? C: Ja, seltsam. B: Die Wellen zersplittern am unteren Gerüst. Für einen Moment ist das Licht, das sich in den Wellen in der Mitte des Ozeans spiegelt, das gleiche, das in der Präfektur Osaka unweit der Bucht in einer Pfütze im Hinterhof einer Garküche zerbricht. A: Da ist eine Allee aus Containern, zwischen denen der Dunst aus den Küchen hängt, manchmal scheint er wie Kunstnebel im roten Glühen der Papierlaternen. D: Wo sind wir?
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FRAGEN AN BRUNO BRANDES
Welche neuen Geschichten und Stimmen braucht das Theater? Leise Stimmen, die untergehen im sich selbst Mitteilen der Leute drumherum. Ich bin mir aber nicht sicher, ob dem Theater zu geben, was es braucht, die Lösung für ein Theater ist, dem etwas fehlt. Irgendwas Hoffnungsvolles vielleicht auch. Wie bist du dazu gekommen, für das Theater zu schreiben? Das hat kurz vor Beginn des Studiums 2017 angefangen, da hab ich kleine Szenen geschrieben. In Hildesheim hat Tim Staffel doziert, bei ihm hab ich dann mein erstes Stück geschrieben und das erste Mal eine Szene mit Spielenden weitergearbeitet. Er war dann aber leider schnell wieder weg aus Hildesheim, aber ich hab dann einfach weitergeschrieben. Für mich sind Szenen eine wunderbare, freie Form von Text. Kann man Schreiben überhaupt »lernen«? Wie wird man Dramatiker*in? Welche Bedingungen liefert dein Studium dafür? Ja klar kann man Schreiben lernen. Ob man Theatertexte schreiben gerade in Hildesheim lernen kann weiß ich nicht, wird das da angeboten? Ich glaub da nicht dran, dass es Leute gibt, die alles aus dem Ärmel schütteln können. Wie man Dramatiker*in wird weiß ich leider auch nicht, aber wenn da jemand mehr weiß, bin ich über die Antwort auch dankbar. Ich les dann einfach im Programmheft, was die anderen da antworten, wir haben ja alle die gleichen Fragen.
Was war der Ausgangspunkt für deinen Stückentwurf, den du für den Autor*innenwettbewerb eingereicht hast? Das sind meistens Orte, die dann sehr romantisch von den Spielenden entworfen werden, dann geht das Schreiben und die Recherche davon assoziativ weiter. Generell schreibe ich aber keine fertigen Stücke mit Figuren und Handlung sondern einfach immer weiter und ein paar Szenen sind dann ein Stück. Ich versuche aber, dass innerhalb eines Stückes öfter auf ein paar Themen zurückgekommen wird, damit man nicht so verwirrt ist. Welche Erwartungen hast du ans Theater, an die Darsteller*innen und die Regie, hinsichtlich der Umsetzung deines Textes? Wie konkret sind deine eigenen Vorstellungen zur Umsetzung, wenn du schreibst? Die Texte sind für mich nur der erste Schritt zur Aufführung, dann fangen wir an mit den Spielenden, für die es geschrieben ist, das Stück daraus zu entwickeln. Die Texte passen dann im Optimalfall zu den Spielenden, sonst müssen wir wieder viel streichen. Die Umsetzung und die Darstellenden sind im Schreibprozess verankert, dafür schreibe ich. Eigentlich ist das, was nach dem Schreiben kommt, dann meistens auch der schönere Teil, dann ist man nicht mehr so alleine. Leider ist das seltsamerweise im Theater noch nicht so verbreitet wie z. B. im Film, deswegen muss man da, glaube ich, immer ein bisschen kämpfen dafür, dass man nicht einfach nur die Texte liefert und dann raus ist.
Welche Themen und welche Formen interessieren dich vor allem? Ich finde es toll, wenn man im Theater sitzt und dann der Eindruck entsteht, im nächsten Moment, in der nächsten Szene könne alles passieren, in diesem Sinne ein absolut anarchischer Raum. Der Text und die Inszenierung bilden dabei ein Gerüst, an dem sich die Spielenden orientieren und in dem sie sich frei bewegen können. Daraus kann in den Aufführungen ein Möglichkeitsraum entstehen, in dem man Dinge ausprobieren kann, aus dem Neues entstehen und wachsen kann. Ein spontan wirkendes, aus der unmittelbaren Situation zwischen Zuschauenden und Akteur*innen hervorwachsendes Theater. 10
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GLÜCKWUNSCH WIBKE CHARLOTTE GNEUß Abtreibung – ob man sich nun dafür entscheiden sollte, oder nicht – ist eine lebensverändernde Erfahrung … Jede Frau auf der ganzen Welt muss das Recht haben, diese Entscheidung über sich und ihre Zukunft selbstbestimmt zu treffen. Die junge Autorin Wibke Charlotte Gneuß lässt in ihrem Text »Glückwunsch« vier Frauen zu Wort kommen, die mit dem nach wie vor bestehenden Tabu brechen und über ihre Schwangerschaftsabbrüche sprechen. Basierend auf Interviews, die die Autorin geführt hat, entstehen vier anonyme Stimmen, die ihre Geschichte erzählen, welche ebenso für viele tausende andere Frauen stehen.
Umsetzung durch das Theater Magdeburg Mit Iris Albrecht, Maike Schroeter, Anja Signitzer, Carmen Steinert Szenische Einrichtung Petra Schönwald Dramaturgische Betreuung Laura Busch, Elisabeth Gabriel Moderation Nachgespräch Laura Busch
Szenische Inszenierung des Stückentwurfs im Livestream Mi. 29. 4. 2020 19 Uhr 12
Wibke Charlotte Gneuß, geboren 1992, lernte Buchbinden und Soziale Arbeit und studiert derzeit am Deutschen Literaturinstitut Leipzig. Neben Veröffentlichungen u. a. in der JENNY, der Tippgemeinschaft und im Maulkorb ist sie Mitherausgeberin des Gefangenenmagazins Aufschluss der JVA Torgau und Leipzig. 13
Stimme 3 Ich gehe damit eigentlich recht locker um. Ich glaube auch, dass es sehr wichtig ist mit vielen Menschen darüber zu sprechen, das Tabu zu brechen. Und es ist auch gar nicht so leicht, es zu erzählen, ich verstehe die anderen Frauen. Wir erzählen in unserer Gesellschaft lieber Erfolgsgeschichten. Führerscheinabbrüche – wenn man sozusagen seinen Führerschein nicht besteht, wollte ich sagen – dann erzählt man das ja auch nicht gern. […] Stimme 2 Ich dachte wirklich eine Zeit lang, dass ich gern Mutter wäre. Gemeinsame Wohnung, Familienfeste. Solche Bilder, die man dann im Kopf hat. Wie man beispielsweise sein Kind aus dem Kindergarten holt und es auf einen zuläuft mit offenen Armen oder wie man zu dritt durch ein Volksfest läuft, überall Buden, das Kind will Pommes, die kosten 6,50, völlig überteuert und dann zahlt man die doch. Solche Bilder. (Trinkt einen Schluck Rotwein.) […] Stimme 1 Ich dachte eben, dass es gesellschaftlich ziemlich anerkannt ist, Sex zu haben und keine Kinder kriegen zu wollen und wenn die Verhütung davor nicht klappt, dann macht man das halt hinterher, ist doch logo.
Stimme 3 Und so ist das immer. Beim Feiern, beim Kochen, auf dem Nachhauseweg. Und wie soll man da auch reagieren, wenn man dir das erzählt. Soll man Mitleid haben oder nur kalte Fragen stellen? Es ist schon komisch. In der Schule, also sozusagen bei der Hebammenausbildung, da kann ich das auch erst recht nicht erzählen. Als es um Abtreibung ging, bin ich extra nicht hingegangen, weil ich nicht wollte – (Sie legt das Tuch auf den Öltopf, setzt sich auf den Boden.) Na, ich wollte keine, also, nicht emotional. (Schweigt.) Also, es fällt mir sozusagen leichter, es zu erzählen, wenn die Person fremd ist. Ich weiß nicht, klar, freie Welt, diesdas. Aber ich habe eben ein Kind abgetrieben. Das ist schon, naja, was anderes, als wenn die Oma stirbt, oder? […] Stimme 4 Wenn man. Wenn man über Dinge. Wenn man über Dinge spricht. Man macht sie damit so klein, so lächerlich. Verstehst du? Dafür gibt es gar keine Worte. Jedes Wort ist ungenau und dann setzt man noch eins dran und eins drauf und dann stehen da drei kleine blöde Worte, weißt du.
[…]
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FRAGEN AN WIBKE CHARLOTTE GNEUß
Welche neuen Geschichten und Stimmen braucht das Theater? Neue Stimmen, keine Ahnung. Die Stimmen sind doch längst da. Das Theater muss ihnen nur zuhören. Das Theater muss auf Zehenspitzen durch die Vororte schleichen, in die Schlafzimmer kriechen, bestenfalls in der Besenkammer wohnen. Dort leben die Geschichten. Das Theater kann die Geschichten hinter der Tür hervorkehren und ins Bühnenlicht rücken. Es kann individualisiert wahrgenomme Erfahrungen als kollektives Moment begreifen und dadurch strukturelle Ungerechtigkeiten sichtbar machen. Es kann öffentliche Diskurse entfachen, soziale Bewegung befeuern. Das kann Theater. Aber dafür braucht es keine neuen Stimmen, sondern nur gutes Gehör für die Geschichten, die längst da sind. Wie bist dazu gekommen, für das Theater zu schreiben? Die Texte wollten das so. Das war Prosa, die auf dem Blatt leer und unausgesprochen zurückblieb. Die Texte wollten geweint und geschrien, geschwiegen und gelacht werden. Das klang pathetisch, also dachte ich: das ist was fürs Theater. Also schrieb ich fürs Theater. Kann man Schreiben überhaupt »lernen«? Wie wird man Dramatiker*in? Welche Bedingungen liefert dein Studium dafür? Im Studium lernen wir auf jeden Fall kritisch lesen und lektorieren. Wirklich, wir können alle richtig gut lektorieren. Wenn ich Verlagschefin wär, würde ich alle meine Mitarbeiter*innen von den Instituten fischen. Aber Schreiben, nein, Schreiben kann man nicht im schulischen Sinne lernen. Viel funktioniert über Vorbilder, Texte, die man liebt und dann auseinandernimmt, um zu verstehen, wie sie aufgebaut sind. Scharfe, treffende Kritik kann auch lehrreich sein. Vor allem aber muss man sich dem Schreiben aussetzten, das muss einen zersetzen und zusammenhalten. Und dafür ist das Studium ein guter Ort, weil er institutionelle Zugehörigkeit, Kritik und Anerkennungsstrukturen vermittelt. Na, und zum Dramatikerinnendasein kann ich nicht viel sagen. Schätze, das ist wie bei der Prosa: man geht bekümmert durch die Welt, kann die Miete nicht zahlen und wird Schöngeist genannt. 16
Welche Themen und welche Formen interessieren dich vor allem? Ich interessiere mich für Dokumentarisches, Alltägliches. Ich glaube, dass alles im Einzelnen geschieht. Der einzelne Mensch ist Schauplatz, Kulisse und Protagonistin widersprüchlicher Interessen, Bedingungen, Erwartungen, Hoffnungen und Ängste. Das Erleben der Einzelnen spiegelt historische, politische und soziale Wirklichkeiten. Es gibt so viele universelle, kollektive Erfahrungen, die individualisiert wahrgenommen werden, weil die Erlebenden ihre Geschichten nicht erzählen und ihnen niemand zuhört. Ich arbeite mit Interviews, verbringe viel Zeit in Bibliotheken, höre den Leuten in der Mittagspause zu. Für das Projekt »Glückwunsch« habe ich Flyer auf Toiletteninnentüren und Bushaltestellen geklebt und habe so meine Interviewpartner*innen gefunden. Ich bin sehr dankbar, dass so viele Frauen ihre Erfahrungen mir mitgeteilt haben. Und auch verwundert, dass sich nur ein einziger Mann gemeldet hat. Was war der Ausgangspunkt für deinen Stückentwurf, den du für den Autor*innenwettbewerb eingereicht hast? Ein Schwangerschaftsabbruch. Oder nein: eigentlich war es die polnische PiSPartei, die fordert, dass Frauen, die sich nach einer Vergewaltigung für einen Schwangerschaftsabbruch entscheiden, mit bis zu drei Jahren Gefängnishaft bestraft werden sollen. Gleichzeitig wurde hierzulande die Debatte um §219a geführt und während Vertreter*innen aus Politik und Kirche laut über Abbrüche stritten, schwiegen wir Frauen beschämt. Weil Schwangerschaftsabbrüche für die einzelnen noch immer ein Tabu sind, etwas, worüber man nicht spricht, weil man das eigentlich nicht tut. Etwas, das Ärzte und Ärztinnen nicht mal auf ihre Homepage schreiben dürfen. Dieses Nichtgespräch, dieses Schweigen verfestigt implizit eine soziale Norm, in der Schwangerschaftsabbrüche unmoralisch und verwerflich sind, und individualisiert kollektive Notlagen. Dagegen wollte ich anschreiben. Doch das konnte ich nicht allein tun. Ich bin sehr dankbar, dass mich so viele Frauen unterstützt haben. Wir sind nämlich ganz viele. Das ist es ja gerade. Welche Erwartungen hast du ans Theater, an die Darsteller*innen und die Regie, hinsichtlich der Umsetzung deines Textes? Wie konkret sind deine eigenen Vorstellungen zur Umsetzung, wenn du schreibst? Ich habe da gar keine konkrete Vorstellung und möchte auch nicht lange darüber nachdenken, sonst bekommen die Erwartungen tatsächlich doch eine Kontur. Nein, ich freue mich, diese ganzen Widersprüche und Zweifel auf der Bühne zu haben. 17
NOVA PARK MARIE LUCIENNE VERSE Marie Lucienne Verse lässt in der – bereits namentlich als innovativ markierten – psychiatrischen Klinik »Nova Park« verschiedene Figuren aufeinandertreffen. Es sind Patient*innen wie medizinisches Personal, aber auch Angehörige mit ihren jeweils ganz eigenen Fragestellungen, Ängsten und Gedanken. In schnell aneinandergeschnittenen, kurzen und kürzesten Szenen gibt die Autorin Einblicke in einzelne Räume der Klinik und gleichzeitig in das Innenleben der Menschen. Dabei setzt sich nach und nach das Mosaik eines Ortes zusammen, dessen Anspruch und Realität erlebbar und damit überprüfbar werden: die Psychiatrie wird dabei auch als Institution zur Diskussion gestellt, oszilliert zwischen Utopie und Dystopie.
Umsetzung durch das Staatstheater Braunschweig Mit Katharina Hackhausen, Saskia Petzold, Tobias Beyer, Luca Füchtenkordt, Georg Mitterstieler, Robert Prinzler, Mattias Schamberger, Joshua Seelenbinder Kamera Dirk Auth Ton Eric Wood Postproduktion Sonja Horisberger Kostüme Annika Bethke Szenenbild Annika Bethke, Sena Zahirović Regie Sena Zahirović Dramaturgische Betreuung und Moderation Nachgespräch Katharina Gerschler
Videopremiere des Stückentwurfs Do. 30. 4. 2020 19 Uhr 18
Marie Lucienne Verse, geboren 1994 und aufgewachsen in Berlin, studierte Psychologie und seit 2019 am Deutschen Literaturinstitut Leipzig. Teilnahme am Treffen Junger Autor*innen 2016. Preisträgerin beim Retzhof-Preis für junge Literatur 2018 und beim Literaturpreis Prenzlauer Berg 2019. 19
RAUM 218, 2. OG rechts KRUSE ich bin müde müdigkeit, die von innen die stirn nach außen drückt tobias becker erzählt vom besuch seiner eltern ich denke an die beleuchtete baustelle neben den zuggleisen heute morgen, die intensität des drückens variiert je nach körperhaltung, ich lehne mich vor, es wird nicht besser tobias becker trägt ein glänzendes hemd aus polyester ich frage, ob ihm ein beispiel einfällt denke an die männer in orangener schutzkleidung die lichtkegel ihrer stirnlampen ich sage, dass ich das verstehe sehr gut verstehe ich stelle eine medikamentenumstellung in aussicht wir warten noch die nächste woche ab wir, tobias und ich dann piept die uhr die vierten 55 minuten sind vorbei das klicken der tür aus dem augenwinkel sehe ich die schachtel zigaretten neben den tackernadeln
Raum 008, EG links TOBIAS mein zimmer: möbliert, fleckenloser teppich, halb heruntergelassene rollläden ein flachbildschirm zwischen fußballpostern nachts wache ich auf sehe meine träume auf dem bildschirm ronaldinho im orangenen auswärtstrikot (das gleiche wie auf dem poster) legt feuer in der linken ecke des bildschirms es breitet sich aus die funken springen ins zimmer auf meine bettdecke, auf die spitzenvorhänge unter den rollläden, auf mein hemd über der stuhllehne die synthetikfasern knistern
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FRAGEN AN MARIE LUCIENNE VERSE
Welche neuen Geschichten und Stimmen braucht das Theater? Ich denke, dass sie nicht neu sind, aber: Geschichten und Stimmen, die alte Ordnungen in Frage stellen, dabei keine Perspektive der Überlegenheit einnehmen, nicht nach einfachen Antworten suchen. Wie bist dazu gekommen, für das Theater zu schreiben? Aus Neugier auf diese andere Arbeitsweise mit Text, die Mehrdimensionalität. Dass noch andere Personen mit dem Text arbeiten und vielleicht etwas ganz anderes aus ihm entstehen kann, als ich mir vorgestellt habe. Kann man Schreiben überhaupt »lernen«? Wie wird man Dramatiker*in? Welche Bedingungen liefert dein Studium dafür? Ich denke, Schreiben bleibt immer zu gewissen Teilen ein unvorhersehbarer und nie abgeschlossener Prozess. Lernen vielleicht am ehesten im Sinne einer Beschleunigung dieses Prozesses durch Ausprobieren, Lesen, Überarbeiten, die ständige Auseinandersetzung mit dem eigenen Schreiben im Studium, wo unterschiedliche Blicke auf Texte und poetische Vorstellungen aufeinandertreffen.
Was war der Ausgangspunkt für deinen Stückentwurf, den du für den Autor*innenwettbewerb eingereicht hast? Ich hatte zuerst die Vorstellung von einem Ort: Nova Park, einer psychiatrischen Klinik, deren Methoden und Ansätze als neu und vielversprechend dargestellt werden, die aus verschiedenen Perspektiven aber zunehmend widersprüchlich erscheinen. Also ein Ort, der zwischen Dystopie und Utopie oszilliert und an dem verschiedene Figuren aufeinandertreffen. Mich interessieren die unterschiedlichen Umgänge der Figuren mit diesem von der Außenwelt isolierten Ort und ihre sich verändernden Beziehungen zueinander. Welche Erwartungen hast du ans Theater, an die Darsteller*innen und die Regie, hinsichtlich der Umsetzung deines Textes? Wie konkret sind deine eigenen Vorstellungen zur Umsetzung, wenn du schreibst? Nova Park ist mein erster Stückentwurf, daher habe ich eigentlich keine konkreten Erwartungen oder Vorstellungen, sondern bin einfach gespannt, was auf der Bühne mit dem Text passiert und wie sich mein Blick auf ihn verändert.
Welche Themen und welche Formen interessieren dich vor allem? Die Auswirkungen äußerer Umstände auf Individuen und Beziehungen, Widersprüche, Zustände des Ungleichgewichts, die Diskrepanz zwischen Selbst- und Fremdwahrnehmung. Die Frage nach Grenzen und Möglichkeiten von Texten. Welche Vorstellungen über Wirklichkeit werden reproduziert? Und: das Ungesagte, die Leerstellen. 22
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JEDER MENSCH IST SCHÖN (UND WENN EINER NICHT SCHÖN IST, DANN IST ER AUCH KEIN MENSCH) (AT) JOHANNES KOCH Johannes Koch erzählt in einer Mischung aus epischen, monologischen und dialogischen Szenen die Geschichte eines jungen Mannes, der nicht nur mit den typischen Themen des Erwachsenwerdens zu kämpfen hat, sondern auch mit einer Sucht, die gesellschaftlich vor allem weiblich konnotiert ist: Anorexie. Bildgewaltige Passagen über das Begehren nach Anerkennung und Gemeinschaft kontrastieren Zuschreibungen der Mitmenschen von außen. Genauso wie das protagonistische Ich von den Erwartungen der Umwelt und durch die eigenen Wünsche zugedeckt wird, gelingt Johannes Koch ein Textbild, das den Protagonisten nie konkret benennt und damit vielfältige Möglichkeiten der szenischen Umsetzung und des Sprechens eröffnet.
Umsetzung durch das Theater Magdeburg Mit Iris Albrecht, Christoph Förster, Ralph Opferkuch, Anja Signitzer, Carmen Steinert Szenische Einrichtung David Stöhr Technische Umsetzung David Stöhr, Caroline Rohmer Dramaturgische Betreuung Caroline Rohmer, Elisabeth Gabriel Moderation Nachgespräch Elisabeth Gabriel
Szenische Inszenierung des Stückentwurfs im Livestream Fr. 1. 5. 2020 19 Uhr 24
Johannes Koch, 1989 geboren, studierte Linguistik und am Deutschen Literaturinstitut Leipzig. Er war u. a. Artist in Residence auf dem Prosanova Festival 2017 und Stipendiat beim Heidelberger Stückemarkt 2018. Sein Stück »24/7« war für das Hans Gratzer Stipendium 2019 nominiert. Veröffentlichungen in Zeitschriften und Anthologien, zuletzt in Edit #80. Johannes Koch ist Teil des queerfeministischen Autor*innenkollektivs Taxiboytoy. Er lebt in Leipzig. 25
DIE JUNGS ZEIGEN IHRE KÖRPER HER
DIE BETROFFENEN RINGEN UM WORTE – Wann hat das angefangen? – Was guckst du mich jetzt so an? – Frage an alle. – Pubertät. – Nee. – Hätte ich jetzt auch gesagt. Pubertät. – Schulzeit. – Ich glaub früher. Kindheit. Oder noch vor der Kindheit. – Wie, vor der Kindheit? – Von Geburt an. – Glaub ich nicht. – Auf keinen Fall. – Als Tendenz. – Mit sowas wird man nicht geboren. – Nicht ausgeprägt, aber als Anlage. – Er war in der Tendenz immer schon ein bisschen – halt etwas – jetzt guckt mich doch nicht so an. Wisst ihr nicht, wie ich das meine? […]
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Sommer. Es ist Sommer, und es ist heiß, Badewetter. Ihr fahrt zum Kanal, du und die Jungs. Ihr steht aufgereiht am Kanalrand. Jungskörper, Jungskörper in Badehosen, schwitzende Jungskörper in Badehosen. Guckt euch diese Körper an, richtig am glänzen, am Rand vom Kanal. Luft holen, genau: Arschbombe. […] Und wenn du unten aufschlägst, wird das Wasser weich sein. Oh ja. Wenn du unten aufschlägst, wird das Wasser weich wie Fleece sein, es wird dich richtig einmummeln, das Wasser, du wirst richtig drin verschwinden. Und wenn du schließlich wieder auftauchst, wirst du merken, dass etwas sich verändert hat, auch wenn du nicht gleich sagen können wirst, was. Das Licht wird irgendwie heller sein, und die Farben werden kräftiger sein, und die Gerüche – alles, was vorher schon da war, ist jetzt noch mehr da: Der dampfende Kanal, die glänzenden Körper, die tropfenden Linden am Ufer, die Sonne, die Luft; die Jungs, die eben noch hochgestarrt haben zu dir, werden am Rand stehen und sich nach dir bücken, um dir rauszuhelfen. Und dann werden sie dich, einer nach dem andern, umarmen wollen. Du wirst nass sein, und sie schon wieder getrocknet, aber das wird ihnen nichts ausmachen, sie werden anstehen, um dich zu umarmen, und auch wenn sie nichts dabei sagen werden, wirst du wissen, wie es gemeint ist.
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FRAGEN AN JOHANNES KOCH
Welche neuen Geschichten und Stimmen braucht das Theater? Ich glaube, dass es im Moment das explizit Politische brauch – also Texte, deren Anspruch nicht nur ein diskursiver ist, sondern die wirklich das Ziel haben, Gesellschaft zu verändern. Queere Autor*innen müssen gehört und gespielt werden, Autor*innen of Colour, Nicht-Muttersprachler*innen. Das ist alles nichts Neues, aber es ist immer noch wahr, und es ist immer noch drängend. Wie bist dazu gekommen, für das Theater zu schreiben? Ich habe lange Zeit vor allem Prosa geschrieben. Die einzigen dramatischen Texte, die ich kannte, waren schrecklich langweilige Schullektüren. Im Studium bin ich dann mit zeitgenössischer Dramatik in Berührung gekommen. Mir gefiel, dass die Texte oft experimenteller sind, mehr wagen. Außerdem sind sie eben nur ein Teilstück in einem kollaborativen Prozesses. Im Schreiben versuche ich, Musik und Bühne und Kostüme mitzudenken. Es ist einfach alles mehr sexy als Prosa. Kann man Schreiben überhaupt »lernen«? Wie wird man Dramatiker*in? Welche Bedingungen liefert dein Studium dafür? Schreiben kann man auf jeden Fall lernen, und zwar vor allem durch Feedback. Das hat das Deutsche Literaturinstitut Leipzig (DLL) mir geboten, also jede Menge Möglichkeiten, konzentriert über Texte zu sprechen. Es ist besonders, sich in einem Raum zu bewegen, in dem sich so viele Leute ernsthaft für Literatur und Schreiben interessieren. Gleichzeitig ist das DLL haarsträubend konservativ und verstaubt. Insofern hat das Studium mir auch viele Gelegenheit gegeben, mich zu ärgern und darüber nachzudenken, was ich im eigenen Schreiben und im Sprechen über Literatur anders machen will. 28
Welche Themen und welche Formen interessieren dich vor allem? Mich interessieren im Schreiben Themen, die mich auch sonst im Leben beschäftigen: Meine Angst vor dem Rechtsruck der Gesellschaft. Queer sein. Aushandlungen mit Friends und Lovern über gemeinsame Pläne für die Zukunft. Popmusik. Das Internet. Und so weiter. Was war der Ausgangspunkt für deinen Stückentwurf, den du für den Autor*innenwettbewerb eingereicht hast? In meinem Text geht es um Männlichkeit und Magersucht. Ausgangspunkt war meine eigene Magersucht mit 16, die für mich stark mit Heteronormativität und Männlichkeits-Erwartungen verbunden war. Das sind toxische Dinge, die leider immer noch sehr präsent sind, allen Fortschritten zum Trotz. Bei mir persönlich ist es zum Glück inzwischen lang genug vorbei, um mit Abstand darüber schreiben zu können. Welche Erwartungen hast du ans Theater, an die Darsteller*innen und die Regie, hinsichtlich der Umsetzung deines Textes? Wie konkret sind deine eigenen Vorstellungen zur Umsetzung, wenn du schreibst? Die Sprache meines Textes ist, glaube ich, ziemlich bild- und detailreich. Insofern wünsche ich mir eher eine zurückgenommene, abstrakte Umsetzung, bei der die visuelle Ebene das Geschriebene nicht doppelt. Außerdem fände ich es großartig, wenn gesungen wird. Mein Thema ist ein, ja, irgendwie ein Emo-Thema, und ich glaube dass Musik helfen kann, das Ganze nicht zu tief in den Stimmungskeller rutschen zu lassen.
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WIR WASSERBÄREN TILL WIEBEL Till Wiebel geht mit »Wir Wasserbären« von der missglückten Mondlandung der israelischen Raumsonde Beresheet im April 2019 aus und manifestiert daran eine Fremdeinschätzung der Jetztzeit. Er spinnt ein Szenario, das im darauffolgenden Sommer in verschiedenen Berichterstattungen heraufbeschworen wurde, weiter: Sogenannte Bärtierchen (oder auch Wasserbären) erwachen in den Trümmern der Sonde Beresheet aus ihrem künstlichen Koma und erschließen sich den unbewohnten Mond. Dramaturgisch ereignet sich das Stück in der Parallelität und Verschränkung von drei unterschiedlichen Erzählstrategien (dokumentarisch, dramatisch, episch) und sucht inhaltlich nach einer alternativen Gemeinschaft, einem alternativen Dasein oder gar nach einer Utopie, und entwickelt bzw. artikuliert ästhetisch eine Mischform von Theatersprache. »Im Moment des Fiktionalen wie Dokumentarischen wird das Menschliche im Nichtmenschlichen (im Wasserbären) und das Unmenschliche in einer triebhaften und menschlichen Praxis (der Eroberung des Alls) verhandelt.« (Till Wiebel)
Umsetzung durch das Staatstheater Braunschweig Mit Isabell Giebeler Soufflage Arne Frederik Ziegfeld Inspizienz Céline Karow Licht Harry Heutink, Julian Huke, Matthias Lebe Ton Katharina Heine, Julian Huke Postproduktion Gregor Dobiaschowski, Julian Huke Ausstattung Annika Bethke Regie und Kamera David Castillo Dramaturgische Betreuung und Moderation Nachgespräch Claudia Lowin
Videopremiere des Stückentwurfs Sa. 2. 5. 2020 19 Uhr Im Anschluss: Verleihung des »Preises der Jungen Dramatik« 30
Till Wiebel, geboren 1994 in Ostfriesland, studiert im Master Inszenierung der Künste und der Medien an der Universität Hildesheim und zeigte Arbeiten u. a. beim Körber Studio Junge Regie und beim Theatertreffen der Jugend. 2018 war er Teil der Künstlerischen Leitung des transeuropa-Festivals. Sein Debutstück »Am Wulst der Zeit« wurde 2019 mit dem CumEx-Stückepreis des studioNAXOS in Frankfurt am Main ausgezeichnet und dort uraufgeführt. Er inszeniert am Stellwerk Weimar und ist Mitbegründer des theaterpolitischen Instagram-Accounts schlachtkritik.de. 31
Und das ist nur der Anfang. Aber – und das wissen wir aus anderen Geschichten – Anfänge sind nicht selten das Beste, was einem passieren kann. Und übers Anfangen haben wir schon viel gehört. Und über das Gute – auf der Erde kann einem so einiges Gutes passieren. Manchmal gewinnt man im Lotto. Oder man steht einen Salto. Oder zwei. Oder man schreibt eine 1+. Oder aber man schreibt einen Song und schenkt somit jemandem die Worte, nach denen man verzweifelt sucht, wenn man die Hintergrundmusik für einen Heiratsantrag in aller Öffentlichkeit heraussucht. Oder man stellt einen Weltrekord auf, indem man etwas besonders schnell macht. Oder besonders weit macht. Oder besonders hoch macht. Oder weil man besonders gut dabei aussieht. Und manchmal bekommt man dafür dann einen Eintrag in ein Buch. Oder im Internet. Manchmal verewigt man sich. Und dann wird man erst an Relevanz verlieren, wenn man wie wir – Wenn man sich wie wir – jedem irdischen Kosmos und Wertesystem entzieht. Oder wenn man dazu gezwungen wird, das zu tun. Über sich hinauswachsen basiert nämlich nur in den seltensten Fällen auf einer eigenen Entscheidung. Meistens steckt da ein Dünger hinter. Müssen sie mal drauf achten.
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Oder wenn man seinen Computer, freiwillig oder unfreiwillig, 3 Wochen lang nicht anschaltet. Und man dachte, es sei eine Auszeit, aber es folgt nie wieder eine Einzeit. Oder wenn etwas anderes wichtiger wird und sich niemand mehr dafür interessiert, dass man etwas am schnellsten, am weitesten oder am höchsten kann. Daran, dass man dabei am besten aussieht – daran wird man sich hingegen lange, wenn nicht immer, wenn nicht in allen Systemen und Gezeiten, erinnern. Manchmal muss man auf seinen eigenen zwei Beinen stehen. Oder auf acht Beinen. Oder auf Tischbeinen. Beispielsweise wenn man eine neue Glühbirne in die Fassung der Deckenlampe schrauben muss, um Licht ins Dunkle zu bringen. Dann muss man auf Tischbeinen stehen. Das nennt man dann Aufklärung. Wie viele Astronauten braucht man, um eine Glühbirne zu montieren? Gute Frage. Ich denke, das hängt davon ab, wie fest man daran glaubt, dass das Projekt Erfolg haben wird. Diese Antwort ist richtig. Keine andere ist es sonst. Alle anderen Antworten sind falsch. Auch wenn die Fragen andere sind.
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FRAGEN AN TILL WIEBEL Welche neuen Geschichten und Stimmen braucht das Theater? In vielen Aspekten wurde meine Identität, »meine Stimme« und »meine Geschichte« eigentlich schon immer und in verschiedenen Variationen im Theater aufgeführt und hörbar gemacht. Inwiefern ich als weißer, deutscher Mann gerade überhaupt was beisteuern kann, ist deswegen sehr diskutabel. Zumal ich mir nicht zuspreche, jede beliebige Figur, jede Perspektive und jeden Konflikt zu beschreiben und verhandeln zu können, wie andere es tun. Deswegen geht es für mich immer auch um neue Strategien im Schreiben: Postdramatisch. Autofiktional. Dokumentarisch. Kollektiv. In welchen Formen kann ein Theatertext universell und vielstimmig sein? Die Form ist da sehr entscheidend. Und es braucht mehr inszenierte und kanonische Texte von nicht-männlichen und nicht-weißen Menschen. Die Werkstatistik ist in diesen Punkten eine Katastrophe. Wie bist dazu gekommen, für das Theater zu schreiben? Dazu gekommen bin ich eher aus einer Unbeholfenheit. Ich habe mich erfolglos auf ein Austauschsemester in der Schweiz beworben und hatte keinen Plan B für die Zeit. Und so habe ich mich für ein größeres Schreibprojekt entschieden, um den Hildesheimer Winter irgendwie zu überstehen und produktiv zu gestalten. Die Idee für das damalige Stück hatte ich schon länger im Kopf, bin dem Ganzen vorher aber nie richtig nachgegangen. Im Schreiben habe ich dann eine sehr selbstbestimmte Form der kreativen Arbeit und des Erzählens gefunden, die ich vorher sehr vermisst hatte. Theater gemacht habe ich auch die Jahre davor schon, nur nicht in einer expliziten Autorenposition. Kann man Schreiben überhaupt »lernen«? Wie wird man Dramatiker*in? Welche Bedingungen liefert dein Studium dafür? In meinem Studiengang in Hildesheim gibt es nur sehr vereinzelt Anlässe, dramatisch zu schreiben. Wer sie sucht, findet sie. Aber ich habe immer mehr am Theaterinstitut als am Literaturinstitut belegt und im Rahmen meines Studiums daher fast ausschließlich wissenschaftliche Texte verfasst. Ob man Schreiben lernen kann, muss daher jemand anderes beantworten. Ich habe es nicht probiert. Ich habe angefangen Stücke zu schreiben und die bei Wettbewerben und Textwerkstätten eingereicht und so hat sich das entwickelt. Aber natürlich hat mein Studium Einfluss auf mein Theaterverständnis und somit unweigerlich auch auf meine Schreibprozesse. 34
Welche Themen und welche Formen interessieren dich vor allem? Ich selber habe wenig Freude am Schreiben von psychologischen Figuren oder Dialogen oder klassischen dramatischen Formen. Deswegen interessiere ich mich für so ziemlich alle anderen Formen von Theatertext, vor allem weil sie immer noch die Ausnahme sind. Des Weiteren habe ich eine Schwäche für Wortspiele und Aufzählungen. Was war der Ausgangspunkt für deinen Stückentwurf, den du für den Autor*innenwettbewerb eingereicht hast? Ausgangspunkt für »Wir Wasserbären« ist das Unglück der israelischen Raumsonde Beresheet, die eigentlich am 11. April 2019 auf dem Mond landen sollte. Weil es im letzten Moment aber technische Komplikationen gab und ein Haupttriebwerk ausgefallen ist, schlug sie mit vollem Tempo auf den Mond auf und wurde zerstört. Die ganze millionenschwere Mission scheiterte. An Bord der Raumsonde waren mehrere Tausend getrocknete Wasserbären. Das sind sehr resistente und oft weniger als ein Millimeter große Tiere. Die überleben eigentlich alles und können lange ohne Wasser, Nahrung, Sauerstoff – sogar unter Strahlung – überleben. In der deutschen Presse wurde das Szenario verhandelt, ob die Wasserbären auf dem Mond eventuell aus ihrem getrockneten Zustand erwachen könnten und so jetzt unkontrolliert den Mond besiedeln. Das Szenario habe ich aufgegriffen. Der Text ist eine Montage der Perspektive der Wasserbären, die auf dem Mond aufwachen, und einer dokumentarischen Nacherzählung des Unglücks der Raumsonde. Mein Freund Max hatte mir von dem Vorfall erzählt. Er hatte es aus der Tagesschau-App. Welche Erwartungen hast du ans Theater, an die Darsteller*innen und die Regie, hinsichtlich der Umsetzung deines Textes? Wie konkret sind deine eigenen Vorstellungen zur Umsetzung, wenn du schreibst? Wenn man nachvollziehen kann, warum das Team der Produktion zu eben dieser Umsetzung gekommen ist, ist das schon ein befriedigendes Gefühl. Wenn man dann noch das Gefühl hat, alle hätten sich Mühe gegeben, bin ich schon zufrieden. Da ich selbst eine Zeit Regie studiert habe und selber auch immer wieder Theaterarbeiten mache, ist die gedankliche Übertragung auf eine Bühne aber auch immer da. Das hat man trainiert. Unweigerlich wächst mit dem Text bei mir also auch ein Inszenierungskonzept. Aber umso schöner, wenn dann jemand mal einen Gegenvorschlag macht. Das ist ja eine sehr besondere Form der Arbeitsteilung, die auch damit zu tun hat Verantwortung zu teilen.
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TEXTNACHWEISE S. 4 — 5: Caroline Rohmer. S. 6: Holger Schröder. S. 7 — 8: Auszug aus: Brandes, Bruno: Mein Ideal ist so schön, ich kann es mir mein Leben lang ansehen, unveröffentlichtes Manuskript. S. 12: Laura Busch. S. 14 — 15: Auszug aus: Gneuß, Wibke Charlotte: Glückwunsch, unveröffentlichtes Manuskript. S. 18: Katharina Gerschler S. 20 — 21: Auszug aus: Verse, Marie Lucienne: Nova Park, unveröffentlichtes Manuskript. S. 24: Caroline Rohmer. S. 26 — 27: Auszug aus: Koch, Johannes: Jeder Mensch ist schön (und wenn einer nicht schön ist, dann ist er auch kein Mensch) (AT), unveröffentlichtes Manuskript. S. 30: Claudia Lowin. S. 32 — 33: Auszug aus: Wiebel, Till: Wir Wasserbären, unveröffentlichtes Manuskript.
BILDNACHWEISE S. 7: Portrait Bruno Brandes: © Dima Schmitt S. 13: Portrait Wibke Charlotte Gneuß: privat S. 19: Portrait Marie Lucienne Verse: privat S. 25: Portrait Johannes Koch: privat S. 31: Portrait Till Wiebel: © Beatrix Rinke Hintergrundbilder: Free-Photos von pixabay
IMPRESSUM Theater Magdeburg Generalintendantin: Karen Stone Spielzeit 2019/2020 Universitätsplatz 9 39104 Magdeburg Theaterkasse: (0391) 40 490 490 www.theater-magdeburg.de TAGE DER JUNGEN DRAMATIK Text- und Bildredaktion: Caroline Rohmer, unter Mitarbeit von Laura Busch, Elisabeth Gabriel, Katharina Gerschler, Annika Jakobs, Claudia Lowin, Holger Schröder. Konzeption / Gestaltung: Claudia Heynen
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(DAS THEATER IST DER ORT, AN DEM DIE FIKTION IN WIRKLICHKEIT UMGEWANDELT WIRD.) JAJA, ABER DANN LASST UNS DAS AUCH MACHEN. WOLFRAM LOTZ
2019 2020