TOTALOPER Interview 07 alexander müller

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»Oper bedeutet Abstraktion, Überspitzung des Alltags, des Lebens.«

Interview mit Alexander Müller



Interview mit Alexander Müller

Alexander Müller Diplomstudent Komposition im 8. Semester an der HfK bei Prof. Younghi Pagh-Paan und Prof. Jörg Birkenkötter; Aufführung seiner Stücke mit den Bremer Philharmonikern und dem Oldenburgischen Staatsorchester Zuschauer bei »La Betulia Liberata« und »L’Orfeo«



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Welche Oper des interdisziplinären Opernprojektes hat dir am besten gefallen? Mir hat als Zuschauer am besten »La Betulia Liberata« gefallen. Das lag vor allem an dem Ort der Aufführung. Der Bremer Dom gab den Zuschauern die tolle Möglichkeit, sich frei bewegen zu können. Man konnte sich der Musik gezielt aussetzen oder sich bewusst entziehen und einen Rückzugsort suchen. Dadurch war die gesamte Aufführung aus unterschiedlichen Winkeln erlebbar. Ich glaube, darin liegt viel Potenzial. Die Aufführung wurde auch bei mehrmaligen Besuchen nie uninteressant, weil sie so viele Möglichkeiten in sich barg. Welche der HfK-Opern findest du aus musikalischer Sicht am bedeutendsten? Am bedeutendsten ist mit Sicherheit »L‘Orfeo« aufgrund seiner Einzigartigkeit in der Musikgeschichte. Es ist eine der ersten Opern, die jemals geschrieben wurde. Sie markiert den Beginn der Wiederkehr der antiken Tragödie auch aus musikalischer Sicht. Damals hatte man den typischen Chor, der die Handlung beschreibt und bestimmt. Man spielte auch auf völlig anderen Instrumenten. Das sind ganz andere Strukturen in der Oper als heute. Die Musik ist aus heutiger Sicht ganz anders als die, die man aus


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der Hauptzeit der Oper, den letzten 300 Jahren, kennt. Welches ist dein Lieblingsopernwerk? Ich weiß nicht, ob ich eine Lieblingsoper habe. Ich bin grundsätzlich eher an der Musik als an dem Visuellen interessiert. Das heißt nicht, dass ich es nicht genauso schätze, aber mir genügen meistens schon die Klänge, die musikalischen Gebilde, um gedanklich »sehen« zu können. Ich bevorzuge daher das Konzert. Was bedeutet Relevanz in der Musik für dich? Relevanz bedeutet, etwas Musikalisches zu schaffen, was es in der Musikgeschichte noch nie zuvor gab. Es muss nicht alles neu erfunden sein. Aber es sollte ein Mittel, das man kennt, auf eine andere Art bedient werden. Durch die Kontextualisierung in ungewohnten Zusammenhängen entsteht automatisch etwas Neues. Ich zitiere an dieser Stelle gerne die Oper »Wozzeck« von Alban Berg, welche eine der ersten Opern ist, die zwölftonal geschrieben wurde. Es gibt darin eine von vielen Stellen, die signifikant geworden ist für die Umkontextualisierung von gewohntem Material. Wozzecks Frau Marie hat ihn soeben mit dem Tambourmajor betrogen und dafür Schmuck erhalten, quasi


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ein Akt der Prostitution. Als Wozzeck eintritt, sieht er sie mit dem für ihre armen Verhältnisse ungewohnten Wertgegenstand. Er wird natürlich misstrauisch, lässt aber nach Kurzem ab und gibt ihr stattdessen sein »ehrlich verdientes« Geld, das er als Versuchskaninchen für einen wahnsinnigen Arzt erhalten hat. In diesem Moment der Übergabe erklingt ein reiner, äußerst leiser Dur-Akkord, der im harmonisch hoch komplexen Zwölftonfeld Bergs bis dato eigentlich keine Berechtigung findet. Dieser Dur-Dreiklang ist normalerweise nichts Ungewöhnliches und wird traditionell als Wohlklang oder Konsonanz empfunden. An dieser Stelle der Oper jedoch bemerkt Marie, dass sie Unrecht getan hat (»Ich bin doch ein schlecht Mensch. Ich könnt mich erstechen. Ach! Was Welt! Geht doch alles zum Teufel: Mann und Weib und Kind!«) und Wozzeck scheint das Vertrauen in seine Frau verloren zu haben. Das ist der Wendepunkt der Oper, der zu Wozzecks späterem Mord an Marie sowie seinem Selbstmord führt. Die Konsonanz des Akkords wirkt an dieser Stelle geradezu gespenstisch und beklemmend und ist alles andere als das, was man mit der traditionellen Dur-Moll-Harmonik verbindet.


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Denkst du, dass heute noch Opern komponiert werden, die relevant sind? Klar. Es gibt immer wieder Opern, die es mit den gerade genannten Mitteln schaffen, Erwartungen zu brechen und auf andere Art auch wieder zu erfüllen. Ein großes Potenzial sehe ich persönlich noch in der räumlichen Gestaltung. Etwas, was seit Jahrhunderten das Konzert und Opernleben beherrscht, ist die Trennung zwischen Bühne und Publikum. In der Überwindung der Distanz steckt meiner Meinung nach enormes Potenzial, auch um die Ängste des Publikums vor zeitgenössischer Musik zu bearbeiten. Man könnte die Menschen viel mehr in die Handlung miteinbeziehen. Glaubst du, man könnte das Publikum durch ein neues räumliches Gefüge auch empfänglicher machen? Schließlich muss man sich ja auch erst einmal auf Musik einlassen können und wollen. Ja genau! Wenn der Klang nicht mehr getrennt ist durch eine Bühne und wenn man sich ihm nicht entziehen kann oder nur entziehen kann, wenn man sich selbst auch bewegt, dann ist es eine unglaubliche Möglichkeit, die Musik wirklich erfassen zu können und sich ihr wirklich hinzubegeben. Ich glaube, nur so kann man die Scheu davor verlieren.


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»In der Überwindung der Distanz steckt meiner Meinung nach enormes Potenzial, auch um die Ängste des Publikums vor zeitgenössischer Musik zu bearbeiten.«


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Ist die Auflösung der Distanz auch für das Genre der Oper interessant oder ausschließlich für die neue Musik? Ich denke, das geht Hand in Hand. Bei zeitgenössischer Oper muss zwangsläufig darüber nachgedacht werden, egal ob es neue oder traditionelle Musik ist. Man mag gar nicht erwägen, wie häufig z. B. Mozarts Zauberflöte bis heute aufgeführt worden ist, aber ist dabei ein einziges Mal die klassische Bühnenkonstellation hinterfragt worden? Heutzutage werden alle möglichen Opernhandlungen zeitgemäß angeglichen an politische, gesellschaftliche Missstände etc. Aber sie werden von uns Zuschauern immer getrennt, mit dem erhobenen Zeigefinger auf der Bühne präsentiert. Wir sollen uns durch Provokation und Schockeffekte direkt anteilig und verantwortlich fühlen, was meiner Meinung nach nur bedingt funktioniert. Verlassen wir das Theater, sind wir wieder in unserer sicheren bürgerlichen Welt und haben mit dem zuvor Geschehenen nichts mehr gemein. Was passiert aber, wenn die Handlung z.B. auf unseren Sitznachbarn in der Oper Einfluss nimmt, der gerade noch wie ein unauffälliger Zuschauer gewirkt hat? Dann plötzlich befinden wir uns mittendrin und könnten selbst einer der Hauptdarsteller sein. Die Nähe zur Aktion macht uns betroffen oder motiviert uns im positiven Sinn.


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Welche Stoffe sollten noch zu einer Oper werden? Das ist die schwierigste Frage. Es gibt so viele Opern über Liebe, über Hass. Mich würde etwas Zwischenmenschliches interessieren, aber mehr auf einer Ebene, welche die menschliche Existenz im Allgemeinen hinterfragt. Mir geht es nicht um Geschichten, die irgendwas erzählen, sondern um größere Zusammenhänge. Am interessantesten sind für mich Themen, die möglichst alle Menschen betreffen. Was bedeutet Menschsein und wie fühlt es sich an? Ich bin vor Kurzem auf den Autor Arno Schmidt gestoßen, dessen virtuose, vielschichtige Sprache allein schon wie Musik funktioniert. Es geht ihm weniger darum, eine Handlung zu beschreiben, als den Moment eines Gedankengangs, einer Beobachtung in Worte zu fassen. Ich kenne keinen Autor, der das so ehrlich und menschlich formuliert. Diese Augenblicke des Gefühls, der Wahrnehmung gehen uns alle an und sind damit allumfassend, unabhängig von Herkunft oder Hintergrund. Musikalisch diese Momente einzufangen wäre ein großer Reiz für mich.


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»Oper hat das wertvolle Vermögen, sowohl emotional als auch existenziell beeinflussen zu können.« Du hast selbst auch schon mal eine Oper geschrieben. Willst du das wieder machen? Ich habe eine Kinderoper geschrieben. Da gab es sehr viele Probleme. Bei der Oper hängt einiges zusammen. Es sind nicht nur der Komponist und der Kompositionsvorgang an sich, sondern es ist auch die Zusammenarbeit mit dem Dramaturgen, mit den Sängern und Orchestermusikern. Bei einer Inszenierung gibt es so viele Dinge zu diskutieren und zu kommunizieren, um zu einem zufriedenstellenden Ergebnis zu kommen. Man muss ständig Kompromisse machen.


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Man kommt immer wieder zu der Erfahrung, dass die eigene Vorstellung von der Musik so nicht umgesetzt werden kann. Es ist immer ein Kompromiss, wenn viele Künste zusammenkommen. Was bedeutet die Oper für dich selbst? Sie bedeutet eine Abstraktion des Alltags, des Lebens im Allgemeinen. Man kann in der Oper vieles auf eine überhöhte und zugespitzte Weise sehen, das im Leben auch stattfindet. Somit spielt die Oper immer mit einem Gedanken, einer Wunschvorstellung oder auch einer Horrorvorstellung davon, was passieren könnte, aber nicht zwangsläufig passieren muss. Das macht ihren Reiz aus. Wie fühlt sich die Oper an? Oper ist allgemein etwas sehr Aktives. Man nimmt an unglaublich vielen visuellen und auditiven Signalen teil, die auf einen einwirken. Man hat den Drang verstehen zu wollen, was um einen passiert und versucht es in sich aufzunehmen, es zu analysieren und zu hinterfragen. Erst am Ende, wenn mandie Oper verlässt, merkt man, was eigentlich gerade passiert ist. Den Schlüssel zu einer Oper finde ich immer erst im Nachhinein. Wenn eine Oper gut war, spürt man einen Anstoß zu einer neuen Denkweise


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oder fühlt eine alte bestätigt. Oper hat das wertvolle Vermögen, sowohl emotional als auch existenziell beeinf lussen zu können. Wenn ihr dieses Meisterwerk gelingt, hat sie eine längerfristige Daseinsberechtigung über die Gegenwart hinaus gefunden.




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