»Würde man die Mona Lisa übermalen?«
Interview mit Thomas Albert
Interview mit Thomas Albert
Thomas Albert Professor für Barockvioline und Alte Musik; Dirigent und Violinist; Leiter des Bremer Musikfestivals Musikalische Leitung und Dirigent bei »La Betulia Liberata« und »L’Orfeo«
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Wie sind Sie zur Musik und zum Dirigieren gekommen? Das war ein Traum. Ich bin in Ottersberg zur Waldorfschule gegangen. Später entstand dort auch diese Kunstschule. Der Schulgründer war mein Werklehrer und seine Frau war meine Handarbeitslehrerin. Ich kenne noch die ersten drei Studenten, die dort anfingen. In der Waldorfschule hatte fast jeder in der Klasse ein Instrument, nicht nur Blockflöten, sondern auch Streichinstrumente und dadurch war das in die Wiege gelegt. Unser Lehrer war der Kammermusikchef von Radio Bremen und er hat uns Kinder in eine nicht-solistische Laufbahn befördert. Wir spielten immer miteinander! Vom ersten Tag an nicht alleine! Ich würde sagen, das war die wichtigste Erfahrung überhaupt! Wenn man ein Streichinstrument spielt, dann lernt man erst mal, das Ding und den Bogen zu halten, und dann streicht man nur die leere Saite. Dann wurden wir im Schulorchester hinten rein gestellt und durften immer nur die leere d-Saite oder die leere e-Saite streichen und von den anderen kamen irgendwelche Harmonien, die sich bewegten. Aber wir waren dabei! Bei mir steht über dem ganzen Leben: Ensemble! Es gibt natürlich die Peaks, das sind die solistischen Sachen, die macht man natürlich auch. Aber eigentlich geht es nur, wenn es ein Ganzes ist.
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Wahrscheinlich kam daher die Begeisterung, das ist ja etwas anderes, als wenn man jahrelang alleine üben muss, bevor man überhaupt mal mitmachen darf. Deshalb würde ich auch Kindern immer sagen, lernt ein Orchesterinstrument. Mit einem Orchester kommt auch die ganze soziale Seite, man muss sich mit jemand anderem abstimmen, um eine Harmonie oder auch eine gewollte Disharmonie zu haben oder sie aufzulösen. Ich übertrage das auf’s Leben. Das Dirigieren war ein kühner Traum. Ich habe relativ früh viele Konzerte gehört und gesehen, und ich hab‘ Karajan erlebt, das hat mich fasziniert! Irgendwann habe ich angefangen, von meiner Geige aus zu dirigieren und habe das auch viele, viele Jahre lang gemacht. Ich hatte mein eigenes Orchester und irgendwann fängst du an, probst und lässt die Geige weg. Ist man als Dirigent der Oberkommunikator eines Orchesters? Ja, aber es ist ja nicht nur im Orchester so, sondern auch in der Oper. Man muss auch die Sänger und Sängerinnen mitnehmen, die kommen mit ihrem Einsatz mal zu früh, mal zu hoch, mal zu tief, mal zu spät. Wie auch immer, man muss sie anschauen und verfolgen, wie sie singen würden, wie sie atmen,
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und im Moment des Ausatmens oder mit dem Ansatz des Tones setzt man selber den Bogen auf die Saite. Es gehört eine gewisse Hingabe dazu, um mitreißend zu sein als Dirigent. Was verlangen Sie den Musikern ab? Begeisterung, aber auch eine gewisse Kontrolle. Begeisterung alleine reicht nicht aus, es muss Motivation da sein, Energie ausgehen. Bei 8, 10 oder 16 Geigen pennt einer immer oder ist nicht so ganz dabei. Man muss nach den Strichgeschwindigkeiten gucken, der eine macht es so und der andere immer so und es sollte ja eigentlich klingen wie eins. Das geht natürlich nicht, es ist immer so ein bisschen Sand dabei. Es mischt sich, aber das ist auch das Tolle, sich in einer Stimme zu finden. An manchen Stellen ist der Sand ja ganz gut fürs Getriebe. Ja, das macht es besonders. Aber man muss letztlich zu einer emotionalen Kernaussage kommen. Das Publikum darf von dem, was man daran gearbeitet hat, nichts spüren. Die Musik muss einfach mitreißen und da geht keine besser als die von Mozart. Den haben wir ja zweimal vertreten. Wie ist
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Ihre Erfahrung als Leiter, was muss man als Student selber mitbringen und wie weit geht ihre Rolle? Was ist Ihnen wichtig in der Ausbildung? In der Ausbildung ist mir nicht wichtig, dass sie schon früh lernen, wie das Zuchtprinzip Orchester funktioniert, sondern ich möchte, dass die Musiker informiert sind über das, was sie tun, sowohl beim Solospiel als auch im Ensemble. Es ist wichtig, dass man weiß, was man tut, dass man weiß, an welcher Stelle man was tut, dass man nicht sagt: »Öhhh Dienst, wann ist Pause?« Sondern, dass man weiß, man ist Bestandteil einer gesamten Produktion. Man sollte eigentlich mitatmen an allen Stellen, auch wenn man gar nicht spielt. Dieses Ensemble-Bewusstsein, die Eigenverantwortlichkeit einer Gruppe, hören, wach sein – das sind die Parameter, die ich in der Ausbildung mit den Studierenden versuche hinzubekommen. Es gibt Proben, da geht es 30 Minuten nur darum, die Tonhöhe auszutarieren und danach gibt man ihnen ein Ziel und sagt: »Da wollen wir jetzt hin.« Es ist ein Mitnehmen und nicht nur Reinpeitschen, es geht darum, die Motivation zu übertragen. Die Kraft und die Spannung sollten so groß sein, dass die Musiker, wie wir beide jetzt, auf der vorderen Stuhlkante sitzen und nicht... (lehnt sich lässig zurück) – Gewerkschaft!
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»Wenn es nicht klappt, dann liegt es vor allem daran, dass die Leute um eine gemeinsame Linie rangeln.« Das hat man auch gemerkt bei den Studierenden, die Energie und die Konzentration. Sind Sie da an Grenzen gestoßen in den beiden Projekten? Ja, es gab natürlich Grenzen. Ich hätte manchmal gern ein paar mehr Leute gehabt, weil die Studenten irre viel um die Ohren haben. Mit Aushilfen ist das so ein Problem, aber letztendlich muss ich sagen, ich höre das Band immer mal ganz gerne. Also sind Sie mit dem Resultat zufrieden?
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Für eine Hochschulaufführung war es eine spektakuläre Präsentation. Ob es jedem gefällt, im Dom oder die Masken, die Hebebühne, der Klang, die Sänger, das Licht – zu allem könnte man jetzt aus professioneller Sicht ganz viel sagen –, aber wichtig ist die Reaktion des Publikums und die haben diese ganzen Energien, die in allen Bereichen da waren, so gespürt und das in so einer jungen Besetzung. Da war soviel drin an Emotionalität, Empathie, Sympathie, Emphase und das ist es, worauf es ankommt! Vordere Stuhlkante und dann kleben sie auch an meinen Lippen. Welche Rolle spielt denn der Raum für die Musik? Der Raum ist ein ganz entscheidender Punkt, denn es geht auch um die visuelle Seite, um den Gesamteindruck. Rein akustisch geht es um Entfernungen, es darf nicht zu trocken sein, es muss eine gewisse Tragfähigkeit da sein, eine Mischfähigkeit und das ist natürlich im Kirchenraum und für unsere historischen Instrumente immer einfacher als in einem trockenen Studio. Es ist allerdings grausam, weil man alles selbst machen muss. Wenn ich ein Stück mache, dann weiß ich genau, was ich hören will und dann will ich die Mischung mit dem Raum und mit dem, was produziert wird, als eins erleben.
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Sie sind auch Leiter und Gründer des Bremer Musikfestivals, dadurch haben Sie schon mit vielen bekannten und renommierten Künstlern zusammen gespielt. Zum Beispiel mit Gemma Bertagnolli. Wie sind Ihre Erfahrungen? Gibt es heute noch die sogenannten Operndiven? Wie wichtig sind sie? Ja das gibt es noch – das ist oft ganz viel Haltung, das ist auch Attitüde und manchmal auch Macke –, da kommt alles Mögliche zusammen. Jedenfalls ist es oft etwas ganz Persönliches und ich muss ganz ehrlich sagen, wenn jemand divenhafte Allüren hat, sei es in der Regel gestattet, wenn die Leistung da ist und die Meisterschaft einfach offensichtlich ist. Das Interessante dabei ist, je besser die Leute sind, desto besser ist ihr Selbstverständnis, desto weniger haben sie Macken und Allüren und desto normaler sind sie. Haben Sie Präferenzen? Mögen Sie das klassische Konzert lieber, wo es wirklich nur um die Musik geht, oder kann man das nicht sagen? Das sind alles unterschiedliche Dinge. Ich habe letzten Sommer auch wieder eine große Händelproduktion mit den Studenten gemacht, das ist eine Oper/OratoriumMischung und das Spannende daran ist, dass die Musik so irre ist, dass man es zwar mit
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Szene machen könnte, aber wenn die Musik richtig rüber kommt, auch von den Sängerinnen und Sängern, dann ist das eigentlich gar nicht nötig. Also wollen Sie doch die Oper kürzen? Nein, nein, nein! Ich möchte darauf hin, dass von beiden Seiten etwas passieren muss. Die Imaginationskraft auf der Publikumsseite muss von allen Bereichen der Ausführenden mehr gestärkt werden. Nicht einfach nur den Text können und die Noten, sondern in den Bildern drin sein, in den Rollen drin sein, um die Imaginationsfähigkeit rüber zu bringen. Bei Regie und Ausstattung ist es auch nicht so, dass man mit dem Stoff macht, was man will, sondern man greift in demselben Sinne die Imaginationsfaktoren auf und geht aufeinander zu. Ich glaube, dann entsteht eigentlich das, was man sich wünscht, dieses Multikunstwerk. Gesamtkunstwerk? Ja, ich finde, es ist ein Gesamtkunstwerk und es ist eine Symbiose, die entsteht. Wenn es funktioniert! Wenn es funktioniert, voilà!
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»Das Dirigieren war ein kühner Traum.« Das ist ja gerade die Diskussion, dass es oft leider doch nicht... Dass es so extrem auseinanderdriftet, ist vor allem in Deutschland ein Problem. Die Regisseure machen, was sie wollen, und sind auch noch stolz darauf. Von der Inszenierung »Die Banditen« im Bremer Theater hört man, dass die Leute reihenweise aus dem Theater laufen. Sie kommen mit der Inszenierung nicht klar. Das sind einfach Zeiterscheinungen, aber in Italien oder Frankreich würde das nicht passieren. Wir reden da von einer völlig anderen Welt. Auch da gibt es viel Reduktion und Modernität, aber es ist immer eine Reduktion, um im Inhaltlichen zu konzentrieren, und nicht, um die Meinung des Regisseurs, des Bühnenbildners oder Ausstatters umzusetzen. Wenn es nicht klappt, dann liegt es vor allem daran, dass die Leute um eine gemeinsame Linie rangeln. Wenn es nicht klappt, dann muss man es auch lassen! Wie sehen Sie denn die Zukunft der Oper? Wie erreicht man junge Leute? Gibt es gewisse
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Punkte, die sich noch ändern müssten? Nein, die Fragestellung nach der Jugend in der ganzen Kultur halte ich für völlig unsinnig. Es war schon immer eher der ältere Fürst, der einen Künstler bestellt hat, den Palazzo mit Stuck oder Malerei zu bestücken. Für bestimmte ästhetische Schritte braucht man seine Zeit im eigenen Lebensrhythmus. Ein Opernpublikum unter 40 im Stamm? NEVER! Ich glaube einfach, dass bestimmte Dinge eine Zeitwertigkeit und auch einen Altersbezug haben und ich habe damit überhaupt kein Problem. Braucht man für die Oper also Reife? Ich glaube ja, oder zumindest eine gewisse Bereitschaft, sich darauf einzulassen, und die Fähigkeit, diese ganzen Einf lüsse eines solchen Gesamtkunstwerkes aufzunehmen. Eine gewisse imaginäre Reife? Nennen wir es mal so, manche Leute haben das auch schon mit 16. Die rennen ins Theater und sagen: »Oper find ich super!« So etwas gibt es natürlich, aber die kann man für eine ganze Stadt an einer Hand abzählen. Ich glaube, das kommt durch das Elternhaus. Es ist ganz einfach: an die
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Hand nehmen, mitnehmen! Wenn man einmal Feuer gefangen hat, dann lässt einen das Thema Oper nicht mehr los! Es gibt Serien in Paris, wo man überhaupt keine Tickets mehr bekommt. Oder auch bei dem Phänomen, wenn ein Kino eine OperLive-Übertragung macht – es ist knackevoll! Es gibt über Monate im voraus Vorbestellungen. Die Menschen, die ein bisschen angestochen sind von Oper, werden sie immer lieben, weil sie das Leben widerspiegelt. Ich glaube, die Oper hat eine Riesenzukunft, weil sie sehr persönlich anspricht auf unterschiedliche Facetten. Die einen haben bei »Betulia« den Raum als eindrucksvoll empfunden und die anderen vielleicht die Kostüme. Auch wenn das mit »Betulia« noch nicht so viel zu tun hat, ist es ein Teil des Gesamtkunstwerks und sie nehmen was mit. Das ist es, was zählt. Das hatte ja schon mit »Betulia« zu tun, weil der Raum versucht hat, das Gefühl in diesen Ort zu transferieren. Das haben sie aber oft nicht verstanden. Das haben sie vielleicht nicht bewusst verstanden, aber versteht man das nicht intuitiv? Danke für das Stichwort. Die berühmte Kraft ist das Subkutane, wir nehmen nicht
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immer alles nur frontal mit. Wie funktioniert dann Werbung? Es ist ein Eindruck! Im Gegenteil, wenn es zu sehr eins zu eins ist, dann wirkt es plötzlich flach und banal, man muss schon eine gewisse Abstraktion dabei haben. Oper ist ja auch Gefühl. Ja, das Frontale ist das eine, aber man hantiert in jeder Gattung der Kunst immer auf verschiedenen Ebenen, wenn man das Leben kommentieren oder widerspiegeln möchte. Mal frontaler, mal dichter dran, mal abstrakter oder entfernter und ich glaube, der eigentliche Schritt ist, wenn man sich mit einem historischen Stück auseinandersetzt und plötzlich feststellt: »Mein Gott ist das aktuell!« Es ist ja etwas anderes, still dazusitzen oder als Zuschauer die Möglichkeit zu haben, sich zu bewegen und die Musik und die Bilder im Raum aus verschiedenen Perspektiven wahrzunehmen. Begrüßen Sie so einen Schritt? Ich begrüße ihn total! Das geht nicht immer, aber da wo die Konzepte es ermöglichen, ist es einfach toll! Durch die Möglichkeit sich zu bewegen, bekommt das Stück etwas Räumliches. Es entsteht eine Bewegung im Stück, man geht mit, man wird herangeführt an die verschiedenen Orte und an das,
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was passiert. Ansonsten, finde ich, ist die normale Bühne auch einfach toll, weil ich persönlich immer wieder fasziniert bin von dem Gedanken, dass man ins Theater geht, um sich selbst zu verstehen. Es ist quasi eine symbolische Spiegelung und das ist der Ausgangspunkt. Das Theater hat grundsätzlich zwei Räume: den Raum des Publikums und den der Szenerie, in dem das Leben noch einmal, in anderen Kostümen, Räumen und Rollen dargestellt wird. Angeregt durch die eigenen Lebensumstände sucht man sich seinen Helden, seinen Verlierer oder seinen Komiker und hat die Möglichkeit, durch die eigenen Befindlichkeiten unglaublich auf Emotionen einzugehen. Man sitzt mit den eigenen subjektiven Affinitäten an seinem Platz und muss nicht rumlaufen. Wenn man sich über Sie informiert, bringt man Sie mit der historischen Aufführungspraxis in Verbindung. Warum werden Opern heutzutage nicht mehr original aufgeführt oder inszeniert? Könnte das heute überhaupt funktionieren? Ja klar kann das funktionieren! Und warum wird es nicht gemacht? Das traut sich keiner. Es gab einen Versuch vor 3 Jahren im Theater Cologne, mit ganz sparsamem Licht, davon ausgehend, dass es
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früher keine Scheinwerfer gab. Das war eine ganz andere Atmosphäre, aber da fangen die Probleme schon an. Mit Kerzen zu hantieren und davon gleich 100 Bataillone zu verwalten, damit ein wenig Licht entsteht, ist keine leichte Aufgabe. Man kann natürlich auch sagen, das ist Schwachsinn in der Zeit des Neonlichts. Damals war das für die Menschen das normale Licht und für uns ist es jetzt das Neonlicht. Aber was historische Aufführungspraxis ausmacht, ist die Erfahrung, alles auf dem handwerklichen Wege zu erarbeiten. Angefangen mit dem Lesen des Librettos, das Verstehen des Stoffes, ein geschichtliches und gesellschaftliches Einordnen, die sprachliche Kunst... man sollte sich immer fragen, was hat der Künstler gewollt? Zum Beispiel diese spannende Zeit um 1900, in der es um die Loslösung aus den gesellschaftlichen Konventionen in allen Bereichen ging. Wie spiegelt sich das in der Musik wider oder wann entsteht in der musikalischen Betrachtung diese Individualisierung? Das ist hoch spannend und auch superaktuell, im heutigen Repertoire wie im damaligen, und das meint der Begriff ‚historische Aufführungspraxis’ oder ‚historisch informierte Aufführungspraxis’. Man muss also die Historie kennen, um es zu spielen? Um Neues entstehen zu lassen?
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Ja natürlich. Das eine entsteht doch aus dem anderen! Man sollte alles unternehmen, um das, was an Qualitäten inhaltlich verankert ist, zu verstehen und zu realisieren und erst dann kann man in die Verfremdung gehen. Es gibt Stellen, in denen nur eine ganz geringfügige Veränderung in der Tonhöhe passiert, aber wenn die Sänger das mit der richtigen Intonation machen und der Begleitklang zusätzlich verstärkt, merkt das Publikum: »Ah, hier passiert was Besonderes!« Dann muss man nicht groß rote Farbe darauf kleben, das wird von alleine bemerkt. Ich will damit sagen, dass Handwerk und Verstand die Ausgangslage sind. Man muss wissen was man tut! Ein guter Musiker sollte wissen, warum sich die Dinge so entwickelt haben, nicht um Museum zu machen, sondern um es aktuell besser zu machen! Die historische Aufführungspraxis ist in den 1960er-Jahren maßgeblich hier in Bremen, in Köln und Basel entwickelt worden. Heutzutage gibt es eigentlich kein historisches Repertoire, was nicht auf historischen Instrumenten, mit soviel wie möglich Knowhow, aufgenommen worden ist. Also sollte man möglichst einmal nahe am Original dran gewesen sein, um dann alle Interpretationsmöglichkeiten ausreizen zu können.
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Einmal dran, ja! Danach kann ich entscheiden, wie ich mit dem historischen Stoff umgehe. Jeder hat eine eigene Sichtweise, jeder nimmt die Mona Lisa anders war! Und diese Sichtweisen, das sind eigentlich die Interpretationen. Aber ich muss die jeweiligen Kunstwerke nicht noch verglittern! Würde man die Mona Lisa übermalen? Man würde sie neu interpretieren, man würde sie nicht übermalen, oder verändern. Das wollte ich gerade sagen, man schaut sie an und das, was in der Vorstellung bleibt, kann man dann selber abstrahieren. Ich glaube, das ist eigentlich genau dasselbe wie hier. Eine Frage zum Repertoire: Das, was heute aufgeführt wird, ist ja relativ eingegrenzt. Entsteht auch etwas Neues, gibt es eine Bewegung auf der anderen Seite? Wo gibt es Potenzial? Wir sehen ja selber, dass es oft sehr schwer angenommen wird. Das Problem ist die Risikobereitschaft. Es gibt Komponisten, die werden gehyped. Aber was man braucht, ist die Konkurrenz! Wenn eine Oper beim ersten Mal ein Erfolg wird, dann bekommen das auch andere Häuser mit und dann müssen sie mithalten. Das ist wie früher, da war es nichts anderes! Aber einer muss den Anfang machen, die
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Komponisten waren doch früher auch umstritten, die Ergebnisse waren nicht immer gleich hoch anerkannt und wurden gelobt. Das ist wie in der Kunst. Deshalb meine ich, dass es eine Frage des Risikos und der finanziellen Möglichkeiten ist. Wenn jemand eine neue Oper schreibt, braucht er unglaublich viel Zeit dafür und die Kosten müssen auch getragen werden. Leider hat man das Gefühl, dass viele Häuser heutzutage auf Nummer sicher gehen. Na klar, die haben Schiss. Aber wenn die Premiere gut wird und die Presse gut ist, dann funktioniert es in der Regel. Wichtig ist, das man unheimlich gute Protagonisten hat, die auf der Bühne so überzeugend sind, dass man danach denkt: »Boah, super!« Noch eine Frage: Muss man Wissen über Oper haben, um sie genießen zu können oder kann man auch unwissend genießen? Also ich kenne Leute, die wissen nichts und sind von Oper total umgehauen und berührt und es gibt Leute, die wissen ganz furchtbar viel und sind trotzdem fasziniert. Und wenn man sie beide erreicht, dann haben wir es eigentlich geschafft. An dieser Stelle möchte ich gerne noch etwas hinzufügen, ich halte die Opernprojekte
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für unverzichtbar, wenn diese Hochschule so bestehen bleibt und in die Zukunft guckt. Weil es eine wunderbare Klammer der Zusammenarbeit ist. Man sollte sogar schon während der Konzeptionsphase noch enger zusammenarbeiten, damit alle an einem Strang ziehen. Das Potenzial sozusagen noch mehr ausschöpfen? Ja, es ist so viel Potenzial da, was überhaupt nicht abgerufen wird und das liegt an den strukturellen Mängeln. Die Chance, mit jungen Leuten etwas zu erarbeiten, die ist wunderschön. Manchmal bekommt man von Studierenden Fragen gestellt, wo man sich denkt: »Warum fragst du das?« – und dann merkt man, diese Frage ist eigentlich völlig berechtigt – wir gehen mit so vielen Automatismen um, und die Arbeit mit Studierenden hält einen frisch. Diese Frische merkt man wiederum in der Arbeit. Wenn ich in die Hf K komme, um zu unterrichten, gehe ich beschenkt wieder raus, weil ich ein paar wesentliche Erfahrungen machen durfte. Ich hoffe, den Studenten geht es auch ein wenig so. Diese beiden Projekte haben sehr viel Spaß gemacht! Danke für die Zusammenarbeit, das war ganz toll!