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Raum & Zeit
Unberührte Landschaften, so weit das Auge reicht. Eine Fülle von Wildtieren, die ungehindert umherziehen können, wie es die Natur vorgesehen hat. In der Buschsavanne, der Wüste und in Feuchtgebieten. Eine Vogelwelt voller erstaunlicher endemischer Arten, die nirgendwo sonst auf der Welt vorkommen. Das alles mag dem Neuling vorkommen wie Szenen aus dem König der Löwen. In Namibia sind sie alltäglich. Dieses unbeschreibliche Land – seine Fauna, Flora und Kultur – ist keine Fabel aus einem Kinderbuch. Namibia ist schroff, gefühlvoll, befreiend und natürlich. Namibia ist echt. Man muss dieses Land mit Sanftheit berühren und betreten, man muss es mit jeder Faser seines Wesens in sich aufnehmen, es sehen, riechen und genießen, wie es nur mit viel Zeit und mehr als genug Platz möglich ist.
Wie man in Namibia sagt: wenn der Sand der ältesten Wüste der Welt erst einmal in den Schuhen steckt, bleibt er für immer dort. Denn es gibt so viel zu entdecken, von den ausgedörrten Ebenen des tiefen Südens bis zu den ergiebigen Wäldern des hohen Nordens und alle inspirierenden Ansichten dazwischen. Es scheint unmöglich, dieses ausgedehnte Land mit seiner Gesamtfläche von 824.292 km² und der zweitgeringsten Bevölkerungsdichte der Welt in einem zweiwöchigen Urlaub kennenzulernen. Möglich ist das zwar, aber Namibia im Eiltempo ist nicht empfehlenswert. Das ist der Grund, warum Namibia-Freunde immer wieder zurückkehren. Und weshalb Einheimische an langen Wochenenden mit viel Zeit und Muße immer nur einen kleinen Winkel des Landes erkunden. Auf diese Weise genießen sie bewusst jeden kostbaren Augenblick, jede aufregende Vogelsichtung, jeden farbenprächtigen Sonnenuntergang, jede staubige Schotterstraße, auf der es nur im Schneckentempo voran geht.
So soll Namibia erlebt werden – gründlich und ohne Eile.
Wenn man von der flachen rechten Hand den Daumen ausstreckt und die übrigen Finger einknickt, ergibt sich der Umriss von Namibia. Vielleicht ist es das einzige Land der Welt, das mit einer Hand dargestellt werden kann. Doch weder unsere ständig wiederkehrenden Gäste noch die reisefreudigen Einheimischen können Namibia wirklich wie ihre Westentasche kennen. Die Mischung von Linien, Adern, Schönheitsflecken und Falten ist vielfältig, aber betrachten Sie das eher als eine Herausforderung, was es alles zu entdecken gilt, denn als ein Abenteuer, das Sie sich getrost entgehen lassen können.
Im ausgestreckten „Daumen“ des Landes, also in der Sambesiund der Kavango-Region, spielt Zeit kaum eine Rolle, und das Leben geht geruhsam seinen Gang. Wer sich Namibia nur als Wüstenland vorstellt, wird von den nordöstlichsten Landesteilen angenehm überrascht sein. Immerwährende Flüsse prägen diese Regionen und die Lebensweise der Einheimischen. An den Ufern von Kwando, Linyanti, Chobe und Sambesi sowie dem Okavango in den Regionen Kavango Ost und Kavango West betreiben die Caprivianer und Kavango-Völker Fischfang, Ackerbau und Viehzucht.
Zweifellos bietet der Nordosten Wildtiererlebnisse, die als größere Bereicherung als irgendwo sonst empfunden werden. Denn Steppenwild und Großkatzen treffen auf die Flussbewohner: Flusspferde und Krokodile. Und nicht zu vergessen, die gewaltigen Elefantenherden, die durch diese Region ziehen und den Wasserreichtum weidlich nutzen. Hinzu kommt eine ungeheure Vielfalt an Vogelarten, darunter Karminspint und Schreiseeadler, die unvergessliche Beobachtungen garantieren. Die wundersame Wasserwelt der Sambesi- und KavangoRegion lässt sich am besten auf einer gemächlichen Flussfahrt erleben. Die Boote müssen langsam fahren, um Nilpferde und Krokodile nicht zu stören und auch nicht die Einheimischen, die mit ihrem Mokoro oder Watu (handgefertigter Einbaum) auf den Flüssen unterwegs sind. Die Einbäume haben keinen Motor, sondern werden mit Paddeln oder langen Stangen fortbewegt. Die Fischer suchen geduldig nach einer perfekten Stelle, um ihre Netze auszuwerfen. Die Belohnung sind einige kleine Fische für das Abendessen der Familie. Junge Männer hüten am Flussufer Rinder und Ziegen. In den Gärten, geschützt durch dichtes Dornengestrüpp, reifen Tomaten.
In einem Land wie Namibia – und in seinen Regionen wie Sambesi und Kavango, in denen die Zeit nicht drängt – wird die Geduld des gemächlichen Reisenden belohnt. Kwando, Linyanti, Chobe, Sambesi und Okavango fließen langsam, aber doch kraftvoll dahin. Ebenso sollte man die Erkundung ihrer Nebenflüsse und Bäche mit Geduld angehen, ganz als ob man darauf wartet, dass die Ernte gedeiht, das Vieh sich sättigt und kalbt und dass die Fische anbeißen.
Eine lange, kurvenreiche Strecke führt von der Sambesi-Region nach Südwesten zum Etosha-Nationalpark. Namibias Straßen gehören zu den am besten instand gehaltenen auf dem gesamten Kontinent. Es ist eine längere Fahrt nach Etosha, einem weiteren bemerkenswerten Wunder der Natur. Dieser allseits beliebte und viel fotografierte Nationalpark braucht gar nicht lange vorgestellt werden. Allein schon der Reichtum an Wild – Antilopen, Spitzund Breitmaulnashörner, Elefanten und scheue Großkatzen – sowie eine vielfältige Vogelwelt. Mopane-Bäume und Akazien bilden eindrucksvolle Kontraste zu den weiten weißen Flächen der riesigen Pfanne im Herzen des Parks. Auch Etosha ist ein Ziel, für das man sich viel Zeit nehmen sollte.
Im gesamten Park gelten strikte Tempolimits. Abgesehen von den offensichtlichen Gründen ist das gemächliche Tempo sehr vorteilhaft. Schalten Sie den Motor aus, und wenn sich der feine weiße Staub gelegt hat, lehnen Sie sich zurück und warten. Nichts ist zur Entschleunigung besser geeignet als eine Wasserstelle in Etosha. Geduldiges Warten wird belohnt, je länger man dasitzt und durch ein Fernglas oder einen Kamerasucher schaut, in Roberts Bird Guide oder in einer Ausgabe der Travel News Namibia blättert. Nur noch einen Moment mehr und Sie werden womöglich Zeuge einer Auseinandersetzung zwischen Löwe und Nashorn an der Wasserstelle, oder Sie können eine Giraffe beobachten, die endlich den Mut aufbringt, sich zum Trinken herabzubeugen. Richten Sie Ihren Blick auf die Bäume: vielleicht entdecken Sie ein hervorragend getarntes Eulennest, oder eine Anchietas-Kobra, oder gar einen Geparden auf der Lauer. Sie können die feinen Nuancen des Tierverhaltens nur dann wahrnehmen, wenn Sie nicht in Zeitdruck sind.
Eine Reise durch den Etosha-Nationalpark kann gut und gerne mindestens eine Woche Ihres Reiseplans in Anspruch nehmen, aber es gibt noch so viel mehr von Namibia zu entdecken. Zu dem Glücksgefühl, dieses Land zu erleben, gehören auch die Straßen, die sich scheinbar endlos in der Ferne verlieren. Wählen Sie die weniger befahrenen Routen, wo Ihnen über viele Kilometer hinweg möglicherweise kein einziges Auto begegnet. Das ist nur eine Kostprobe von Namibias ungeheurer Weite, die tiefe Eindrücke hinterlässt.
Die Gegend nordwestlich von Etosha ist wohl eine der zerklüftetsten, unberührtesten Landschaften in ganz Afrika: das Kaokoland. Trockenflussläufe, gesäumt von Jackalberry-Bäumen, Ana-Bäumen und Gelbrinden-Akazien, schroffe Berglandschaften, einsame Ebenen mit scharfen Felsnasen und die letzten authentischen Ovahimba-Siedlungen prägen diese Region. Wer sich in diese Abgeschiedenheit wagt, wird mit einem Alleinsein belohnt, das ausreicht, die Erde zu umrunden und die Seele zu berühren.
Für die Fahrt ins Kaokoland braucht man ausreichende Mengen an Lebensmitteln, Wasser und Treibstoff, um sich für die Dauer der Reise selbst versorgen zu können. In dem mehr als 40.000 km² großen Gebiet gibt es kaum oder gar keinen Mobiltelefonempfang, und in den kleinen Läden im Herzen der Region wird nur das Nötigste verkauft – Maismehl und Bier. Es ist die absolute Wonne für Leute mit Klaustrophobie und solche, die auf der Suche nach ungezähmten Abenteuern sind. Das einzige empfindungsfähige Leben in dieser zerfurchten Landschaft sind kleine Bestände von der Wüste angepassten Elefanten und Löwen sowie vereinzelte Giraffen, HartmannBergzebras, Gemsbok-Antilopen und Springböcke. In diesem scheinbar unwirtlichen Teil des Landes leben auch Gruppen des halbnomadischen Ovahimba-Volkes, das nach wie vor die Sitten und Bräuche seiner Vorfahren pflegt und sich von Viehzucht und begrenztem Anbau ernährt. Die Ovahimba sind die einzigen Menschen, die Ihnen in der Weite des Kaokolandes begegnen. Selbst ihre Dörfer sind weit verstreut. Ansonsten kreuzen sich Ihre Wege höchstens mit denen von ebenfalls auf Abenteuer bedachten Besuchern. Man kann den weiten Raum genießen, indem man hindurch fährt, oder man hält an. Bauen Sie sich einen Unterschlupf und bleiben Sie ein Weilchen. Mit so viel Raum und genügend Zeit, ihn in sich aufzunehmen, wächst auch unsere natürliche Wertschätzung für die Fauna und Flora und für die Menschen, die ihn bewohnen.
Da weit und breit keine anderen Fahrzeuge Staub aufwirbeln, können Sie auf die Klimaanlage verzichten und mit offenen Fenstern fahren. Lassen Sie die Hügel, die Täler, die Flussläufe und fernen Gipfel auf sich wirken. Die unbezwingbare Landschaft, die schwindelerregende Weite, die Fahrspur –alles gehört Ihnen und dem vereinzelten Ovahimba-Dorf irgendwo im Umkreis.
Im Süden des Landes findet sich ein weiteres Beispiel für völlig unbewohnte Weiten: der Namib-Naukluft-Nationalpark. Seidig anmutende Dünen in Halbmond- und Sternform, Ebenen und Täler in dunkel-orangen Farbtönen, Felsbrocken und Berge. Sie alle wollen gewürdigt werden. Diese befreiende Landschaft wurde über Jahrmillionen hinweg geformt und verändert sich ständig weiter. Hinter jeder Kurve offenbart sich mehr erhabenes Nichts. Blicken Sie in die Ewigkeit, und wenn Sie ein Stückchen weitergekommen sind, entdecken Sie noch mehr Nichts. Neben einem Lagerfeuer, unter einem leuchtenden Gürtel in der Milchstraße, wird die Weite des Alls spürbar und erfüllt das Sein mit Leichtigkeit. Doch lassen Sie das Sinnieren für den Rückflug. In der Namib werden Herz und Seele von der unendlichen Weite, einem einzelnen Gemsbok und dem spärlichen Pflanzenwuchs erfüllt
Ganz gleich mit wem oder wie Sie sich auf den Weg machen: eine Reise durch dieses geheimnisvolle Land wird ganz sicher zu einem herrlichen Fest der Weite und sinnvoll genutzten Zeit – vorausgesetzt, Sie entschleunigen und lassen die Weite auf sich wirken. TNN
Text Charene Labuschagne