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Uralt und unerwartet: Eine Reise entlang der berüchtigten Skelettküste
Eben noch Sonnenschein und eine leichte Brise. Tags darauf verbreitet Nebel eine unheimliche, mystische Stimmung. Am unberührten weißen Strand tost der stürmische Atlantik. Die weichen Hänge der gewellten Dünen stehen im krassen Kontrast zu den schroffen Felswänden, die einen Trockenfluss säumen. Wie Monolithen, die Wache halten. Ein wasserarmes Hinterland. Doch wohin man auch schaut, überall ist Leben. So viele Gegensätze in nur einem Atemzug! Genau das ist es, was diesen Ort am Rande der menschlichen Existenz prägt. Eine Dichotomie von rau und sanft. Von hell und geheimnisvoll. Aus Verlassenheit und pulsierendem Leben. Ein uraltes Land, das von sichtbaren Einflüssen des Menschen weitgehend unbehelligt ist – abgesehen von den Hunderten von Wracks, die entlang der Küste und in der Wüstenlandschaft verstreut sind. Die Überreste einer vergangenen Ära, als dieser turbulente Küstenstrich der Fluch der Seefahrer war und zur Endstation vieler glückloser Abenteurer wurde. Das ist Namibias Skelettküste.
Auf meinen Reisen durch fast alle Teile dieses unglaublichen Landes hatte ich schon mehrfach das Glück, mit dem spektakulären Skelettküsten-Nationalpark Bekanntschaft zu machen. Doch meinen jüngsten Besuch konnte ich erstmals als Familienurlaub gestalten. Mein Mann und ich, mit Mutter und Vater im Schlepp, brachen auf um privat die makellose Schönheit dieses Parks zu erkunden. Die Shipwreck Lodge war unser Ziel. Es gibt nur wenige Plätze auf der Welt, die ein noch weniger COVID-freundliches Umfeld haben als Namibia mit seiner endlosen Weite und seiner natürlichen Tendenz zur sozialen Distanzierung. Tatsächlich habe ich mich nirgends auf der Welt so sozial distanziert gefühlt wie in der Namib-Wüste, vor allem im nördlichen Teil, der zum SkelettküstenNationalpark gehört. Als ich auf dem Vorderdeck der Shipwreck-Hauptkajüte stand, wurde mir klar, dass es außer dem kleinen Besucher-Kontingent in der Lodge keine weitere Menschenseele im Umkreis von fast 100 km gibt. Bei so viel Platz ringsum kann man endlich mal loslassen... und tief durchatmen.
SCHMACHVOLLE GESCHICHTEN
Jahrhundertelang war die Skelettküste verrufen. Die Geschichtsbücher berichten von großen Abenteurern, die auf der Suche nach neuen Welten über die Meere segelten. Der Weg nach Fernost führte fast unweigerlich um die Südspitze Afrikas, und der Südwesten des Kontinents wurde vielen zum Verhängnis. Namibias stürmische Küste erstreckt sich über mehr als 1 500 km vom Kunene im Norden bis zum Oranje im Süden. Allein an diesem Küstenabschnitt zwischen den beiden Grenzflüssen sind nach Schätzungen mehr als 1.000 Schiffe gesunken. Der nördliche Teil der namibischen Atlantikküste und die landeinwärts angrenzenden Wüstenlandschaften bilden den Skelettküsten-Nationalpark. Vom Trockenflusslauf des Ugab nordwärts bis zum Kunene und landeinwärts bis 70 Kilometer, bewahrt dieses Naturschutzgebiet einige der ursprünglichsten und unberührtesten Wüsten- und Trockenlandschaften der Welt. Dieses Wildnisgebiet birgt eine überraschende Fülle an Leben. In den Tälern und entlang der ephemeren Flussläufe gedeiht eine Tier- und Pflanzenwelt, die sich den rauen Verhältnissen angepasst hat. Von zerstörerischen Eingriffen des Menschen ist diese Region weitgehend unberührt. Aber es gibt Beweise, dass sich der Mensch – ob absichtlich oder nicht – schon in viel früherer Zeit in diese unwirtliche Gegend gewagt hat. Eines der faszinierendsten Merkmale des Parks ist die Ansammlung von Wracks entlang seiner Küste sowie die zahllosen Skelette, manche sogar von Menschen, die im Sand verborgen waren. Schneeweiß gebleicht von Wind und Wetter. Daher der Name Skelettküstenpark. Die Überreste von Schiffen sind bescheidener als man es sich vorstellt, wenn man an “Schiffswrack” denkt. Felsen vor der Küste und das unaufhaltsam tobende Meer haben sie in Fragmente aus Holz oder Metall zerlegt – ein Hauch von Erinnerung, der die Geschichte weiterleben lässt. Die Geschichten über die Unglücksschiffe sind der Hauptgrund, weshalb dieser Küstenabschnitt berühmt-berüchtigt geworden ist. Sie liegen als Mahnmäler an diesen einsamen Stränden und warnen andere vor den Gefahren der tückischen, und dennoch so bezaubernden Skelettküste.
EINE OASE DER GEBORGENHEIT
„Das hätte ich nie erwartet“, sagt meine Mutter als wir die Ansammlung von netten Dingen auf Regalen und Beistelltischen und die gemütlichen Ecken in Augenschein nehmen, die das Ambiente der Shipwreck Lodge prägen. Sie hatte wohl mit einer typischen namibischen Lodge gerechnet, wie so viele andere, die wir schon besucht haben. Aber das hier ist nicht das SafariCamp des Großvaters. Das hier ist stilvoll und eklektisch und fühlt sich irgendwie doch wie zuhause an. Die behaglichen Kuschelsessel am Kamin sind mit luxuriösen Stoffen drapiert, damit man an nebligen Tagen mit einem guten Buch und einem Glas Merlot drinnen gut aufgehoben ist. Wenn draußen die Sonne lacht, fällt helles fröhliches Licht durch die seltsam schrägen Fenster; Liegestühle locken ins Freie, und Gin Tonics rufen fast so laut wie die unglaubliche Aussicht, die sich vor der Lodge ausbreitet. Immer ein Kontrast. Die zehn Kajüten der Shipwreck Lodge schmiegen sich an den Hang einer Düne. Die Lodge ist nach Nordwesten ausgerichtet, mit Blick auf den Atlantik ebenso wie auf den trockenen Flusslauf des Hoarusib. Das Erscheinungsbild der Gästekajüten und des Hauptbereichs ist gestrandeten Kuttern nachempfunden. Mobilisieren Sie Ihre Seebeine: die Innenausstattung der Kajüten – mit Bullaugen und allem, was dazugehört – vermittelt tatsächlich das Gefühl, dass man sich auf einem alten Holzschiff befindet, auf dem Weg zu fernen Landen voller Abenteuer und neuer Entdeckungen. Die Mitarbeiter der Lodge stammen aus Dörfern der kommunalen Hegegebiete Sesfontein und Puros. Sie haben das Ruder fest im Griff, sind stets mit einem Lächeln und einem Getränk zur Stelle, und sie haben wundervoll unterhaltsame Anekdoten über das Leben in dieser abgelegenen Ecke von einem der letzten unberührten Fleckchen Erde auf Lager.
POESIE DER EXTREME
Am frühen Morgen brechen wir mit unserem Reiseleiter Rocky zu einer Fahrt in die Natur auf. Wir wollen das Flussbett des Hoarusib erkunden. Der Hoarusib ist ein Trockenfluss – das heißt, er führt nur gelegentlich Oberflächenwasser. Er ist das Habitat einer Vielzahl von Lebewesen. Zumeist gehen die verräterischen Anzeichen von Springböcken und Gemsböcken der eigentlichen Sichtung voraus. Mit den berühmten, der Wüste angepassten Elefanten und Löwen habe ich bei früheren Exkursionen in der Umgebung dieses sagenhaften Flusslaufs außergewöhnliche Begegnungen gehabt, aber diesmal bekamen wir keine zu Gesicht. Bekanntlich ist Namibia der Liebling aller Geologen, und auch Rocky ist begeistert von allem, was vulkanischen und sedimentären Ursprungs ist. Faszinierende uralte Gesteinsformationen gibt es an vielen Stellen entlang des Flusslaufs. Man kann sie also bestaunen, ohne dass physische Anstrengungen erforderlich wären. Im Hoarusib-Tal befinden sich einige der ältesten geologischen Formationen im Lande. Die hoch aufragenden Felswände, die den Flusslauf säumen, sind bis zu 2,6 Milliarden Jahre alt. Der geologische Höhepunkt dieser Fahrt sind zweifellos die Clay Castles (Lehmburgen): feinkörnige Tonablagerungen, die im Laufe der Jahrmillionen durch Erosion geformt worden sind. Diese Kunstwerke der Natur sind strukturell faszinierend, und der Blick von ihrem Gipfel –nur ein kurzer Aufstieg – ist wie aus einer anderen Welt. Das Gesamtbild erinnert an die antike Felsenstadt Petra in Jordanien. Doch hier, in den entlegensten Winkeln der namibischen Wildnis, drängen sich keine Besucherscharen wie in Petra. Wir halten inne auf diesem Monument aus Lehm, das wiederum einen starken Kontrast zu den nahegelegenen sanften Dünen bildet, um die Poesie der Textur, der Schatten und der Farbtöne ringsum auf uns wirken zu lassen.
Während sich die Sonne langsam gen Horizont neigt, erkunden wir die Dünen aus nächster Nähe. Auf Quad-Bikes gleiten wir über die majestätischen Sandberge und an ihnen entlang. Ein unglaubliches Gefühl von Freiheit. Der Fahrtwind rauscht vorbei, und um sich herum sieht und spürt man allein die Wüste. Voll und ganz von ihr vereinnahmt. Das sanfte Rosé der Abenddämmerung und das dramatische Rot der Sonne, als sie im Atlantik versinkt, sind das perfekte Crescendo in der Symphonie eines Tages, an dem man Natur, Weite, Ruhe und Freiheit in sich aufgesogen hat. Wir nehmen nur Fotos mit und hinterlassen nur die Fußspuren unseres Abenteuers. Der Wind wird sie weggefegt haben, wenn der neue Morgen dämmert. Die Sonne lässt sich Zeit mit dem Untergehen. Zeit hat an diesem Ort eher träge Dimensionen. Vielleicht ist das aber auch nur unser Wunschdenken. Wir wünschten, dass dieser Sonnenuntergang nie endet... TNNI
EINE GEMEINSCHAFT WIRD GEBRAUCHT
Die Shipwreck Lodge entstand durch eine Joint-VenturePartnerschaft mit den kommunalen Hegegemeinschaften Sesfontein und Puros. Sie ist Teil des sehr erfolgreichen CBNRM-Programms (Community-Based Natural Resource Management) in Namibia, das kurz nach der Unabhängigkeit gestartet wurde. Es gewährt der ländlichen Bevölkerung Rechte an ihren natürlichen Ressourcen. Die jeweiligen Gemeinschaften gründen sogenannte Hegegebiete und verwalten eigenständig die damit verbundenen natürlichen Ressourcen, auch das Land. Damit werden sie in die Lage versetzt, durch Tourismus, Naturschutzjagd und andere Aktivitäten wirtschaftlichen Nutzen für ihre Mitglieder zu erzielen. Viele haben zu diesem Zweck JointVenture-Partnerschaften mit privaten Unternehmen geschlossen. Die Mitarbeiter der Shipwreck Lodge stammen überwiegend aus Dörfern in den genannten Hegegebieten. Sie sind mit der Region bestens vertraut und haben ein ureigenes Interesse am Erfolg des Tourismus als Eckpfeiler ihrer eigenen Lebensgrundlage und der ihrer Gemeinschaft.
ANREISE
Die Anreise zu diesem entlegenen Refugium ist zweifellos Teil des Abenteuers. Ob auf dem Land- oder Luftweg (jedenfalls nicht mehr auf dem Seeweg!): Sie werden von den kontrastreichen, weiten dramatischen Landschaften des Parks begeistert sein. Die Autofahrt ab Windhoek kann an die neun Stunden dauern. Es ist eine wundervolle Reise, doch wenn die Zeit knapp ist, dürfte es praktischer sein, mit einem Charter- oder Rundflugunternehmen nach Möwe Bay zu fliegen. Die eineinhalbstündige Fahrt von der Abholstelle an der Möwe-Bucht, über Dünen hinweg und an der Küste entlang, vermittelt bereits das Gefühl, dass Sie eine abgeschiedene Oase ansteuern.
Text & Fotos Elzanne McCulloch