6/2011 - There and back again. Reisend schreiben, lesend reisen

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über.morgen

www.uebermorgen.at | Jahr 3, Ausgabe 6 | Fr 26.8.2011 | Kostenlos

Interview auf S. 11

FOTO: HS

Gastkommentar auf S. 9

There and Back Again reisend schreiben, lesend reisen über.thema S. 4-7

FOTO: LAPERLA

talking_revolution@spain FOTO: GILES T1

Die Flottille, die nicht auslaufen darf

ER FOTO: ST

Der verstaatlichte Monarch S. 13

NECK

FOTO: LISA KÖPPL

Hand in Hand: Rechte Recken S. 12

Die Hedonisten: Nackter Protest S.14


über.ich

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über.kurz

Von Reisen berichten

Nervige Medien

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Bei der Räumung des besetzten LobmeyrHofs in Wien 16 am 14. Juli wollte die Polizei “nicht gestört werden”. Zu „ihrer eigenen Sicherheit“ wurden JournalistInnen vom ORF, Kurier, Wiener Bezirkszeitung und WienTV.org daran gehindert das Gebäude zu betreten und dessen verwiesen. Kurzerhand wurde ein großräumiges Areal, rund um den Lobmeyr-Hof für die Presse gesperrt. Ehrlicher formulierte es eine Polizeibeamtin „ Do is Presseverbot jetzt, jo!“. Erstaunlich war allerdings: Das „Presseverbot“ galt nicht für die Kronen Zeitung. Videos dazu auf D http://wientv.org/

Proteste beim Weltjugendtag

Volksbegehren Vom 3. bis zum 10. November läuft die Eintragungsfrist für das Bildungsvolksbegehren. Infos unter D www.vbbi.at. Das Volksbegehren gegen Kirchenprivilegien kann nur noch bis zum 15. Oktober unterschrieben werden. Details unter D www.kirchen-privilegien.at.

Freiheit statt Angst 2011 Demonstriert wird im September gegen Vorratsdatenspeicherung und Totalüberwachung der BürgerInnen auf EU-Ebene. An der Demonstration in Brüssel unter dem Motto „Freiheit statt Angst“ werden auch einige österreichische AktivistInnen teilnehmen. Wien – 10. September, Berlin – Voraussichtlich 10. September, Brüssel – 17. September D http://tinyurl.com/3vqtwnd

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Will ich mitbekommen, was jemand frühstückt oder dass der eine Sonnenuntergang wirklich der allerschönste war, schau ich mir lieber Frauentausch oder Elizabeth T. Spiras “Liebesgsch’ichten und Heiratssachen” an und fröne dem Sozialporno gleich in Reinform. Reiseberichte sind wahrscheinlich nur gesellschaftsfähige Angeberei, die Flugangst unter den sozialen Lastern. Ich war bisher einmal bei einem Reisevortrag, musste sogar da reingestolpert werden, und bekam all meine unreflektierten Vorurteile - und damit Befürchtungen - binnen Minuten bestätigt; die sich allerdings mehr an der Frage orientierten für wen diese Vorträge denn sind. Die zynische Erklärung dafür waren eben jene SozialSoftPorno-Konsumenten, die gerne von der weiten Welt träumen, sich aber vor diesen Welt(T)räumen fürchten, übersteigen sie doch so schnell den eigenen Tellerrand und damit Horizont.

FOTOS: CG

Als "Parasiten" vom Sprecher der spanischen Bischofskonferenz beschimpft, von PolizistInnen mit Schlagstöcken verprügelt - das passiert Menschen, die sich gegen den Papstbesuch in Madrid aussprechen. Der Besuch des Pontifex Ratzinger kostet mind. 50 Millionen Euro. Und das Ganze bei einer Jugendarbeitslosigkeit von über 40 Prozent und großer Armut!

as mit den Reiseberichten ist doch so eine Sache: es wird berichtet, dass bereist wird. In den meisten Fällen erübrigt sich daher das Lesen, nur selten gehen diese Geschichten über das Beschreiben des banalen Reisealltags hinaus.

Wenn Reisende falsch abbiegen ten, untermalt mit klischeetriefender „Eingeborenenmusik“ – oder das, was man hier darunter versteht. Es wurde keine Geschichte erzählt, auch zwischen den Zeilen nur gähnende Leere, Bilder blieben der Leinwand vorbe-, dem Kopf enthalten. Mag gut sein, dass ich einfach nur Pech hatte und ähnliche Vorträge sonst besser sind, da jedoch niemand früher ging und auch der Applaus nicht ironisch wirkte, erlebte ich wahrscheinlich ungesunden Durchschnitt. Und trotzdem sitze ich jetzt gerade hier und schreibe, während du woanders und viel später – und auch hier und jetzt – das liest. Warum also das Ganze?

Die Winkles betätigen sich in der Branche für Gefühlsproduktion für Leute, die von eigenen, durch die eigenen Lebensumstände hervorgerufenen Gefühlen so weit entfernt waren, Wenn schon scheiße dass nur noch das große tanzen, dann so, dass (wenn auch nur simulierte) die ganze Welt es sieht Casper; So Perfekt. Abenteuer sie aus der Reserve locken konnte?

John Irving; Gottes Werk und Teufels Beitrag Besagter Vortrag handelte von einer Reise durch Zentralamerika - Kolumbien war auch dabei - und blieb dabei eine Aufzählung von Fakten und Orten, untertitelt mit Bildern, die einem Billigreiseführer entsprungen sein konn-

Deshalb wahrscheinlich. Ich sitze übrigens gerade Bier.trinkend in Budapest, quasi vollständigkeitshalber. ♦ Die gesellschaftsfähige Angeberei unserer AutorInnen ab Seite 4 dieser Ausgabe.


über.ich

über.inhalt

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[red] Wie man uns unterstützen kann: Nutzen Sie die Möglichkeit durch ein Spendenabo die über.morgen Monat für Monat frei Haus geliefert zu bekommen: Dhttp://abo.uebermorgen.at oder Dspenden@uebermorgen.at Konto: 20010926409 | BLZ: 14200 BIC: EASYATW1 IBAN: AT431420020010926409 Zweck: über.morgen Alle Einlagen gehen ausschießlich zugunsten des Vereins (Druckkosten).

über.termine Am 2. September findet wieder der Wiener Nightride statt. Von 19 Uhr bis 6 Uhr Früh kann man gratis U-Bahn fahren und genießt außerdem gratis Eintritt in allen teilnehmenden locations. D www.24stundenwien.at

Ein Kulturerlebnis der ganz besonderen Art verspricht das Theaterfestival at.tension zu werden. Vom 9. bis 11. September präsentieren

Vom Ende des Sommers und von unendlichem Durst

FOTO: BERGIUS, FLICKR

s geht mir gut, ich mein, es könnte weißgott schlimmer sein, meldet unser Redakteur vom Ufer des Schwarzen Meeres und sinniert über die Frage nach dem Warum des Reisens (Seite 7). Fremd im Iran – eine Reise zu Sittenpolizei, Teufelstänzern, verhassten Heilsbringern und der Freiheit, die sich in die Wüste zurückgezogen hat (Seiten 4 bis 6). Der rechte Weg führt die FPÖ zu einem Freundschaftsabkommen mit der rechtspopulistischen Serbischen Fortschrittspartei (Seite 12). Sind Politik und Spaß vereinbar? Ja, sagt die Hedonistische Internationale und protestiert nackt und tanzend gegen das System (Seite 14). LeserInnen kommentieren, erklären und empören sich auf den Seiten 8 und 9. Die Seite 10 widmen wir dem im Juni verstorbenen Dieter Schrage – einem Mann, dem es gelang, unterschiedliche Strömungen und Generationen der Linken zu verbinden. Was wurde aus der Ölkatastrophe am Golf von Mexiko? Unter vor.gestern berichten wir über Aktuelles von heute (Seite 13). Gesudert, rezensiert, gebellt und sudokiert wird diesmal auf den Seiten 14 und 15.

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Kommentar Die Hundstage sind vorbei. Das Sternbild des Canis Major ist jetzt zur Gänze über dem Südhorizont sichtbar: Das Ende der heißesten Jahreszeit kündigt sich an – das war der Sommer 2011. Zeit für uns, zu melden was gesehen wurde, beim Reisen durch die Welt. Reisen bildet, Reisen lässt den Suchenden finden und erweitert den Horizont. Aber was haben die LeserInnen davon? ”Reiseberichte sind wahrscheinlich nur gesellschaftsfähige Angeberei, die Flugangst unter den sozialen Lastern”, vermutet ein über. morgen -Reporter. Der Reisebericht aus dem Iran bietet die Probe aufs Exempel: Unser Reporter ließ die Menschen zu Wort kommen, die ihm auf seiner Reise begegneten und fand die Freiheit im zarathustrischen Pilgerort Chak Chak. Nach dem Vergehen des Sommers und der Rückkehr vom Reisen („Prioritäten lenken Leben“ ) bleibt die Hoffnung auf einen warmen Altweibersommer. Hat übrigens nix mit alten Weibern zu tun, sondern mit Spinnen und Spinnfäden. Und

ist auch kein Eingriff ins Persönlichkeitsrecht älterer Damen, wie das Landgericht Darmstadt 1989 feststellte. Der Altweibersommer ist mir eh lieber als die sommerliche Hitze, die den Asphalt aufweicht, sodass Fahrradständer darin versinken und die Drahtesel umkippen. Außerdem muss man ständig Flüssigkeit zu sich nehmen, da man sonst vom Austrocknen bedroht ist. Ich habe daher in den letzten Tagen oft über Durst nachgedacht und darüber, dass es kein Wort im Deutschen gibt, das den Zustand des Nicht-durstig-Seins benennt. Anders verhält es sich mit dem Hunger. Das Gegenteil von hungrig ist satt. Das bringt präzise die Abwesenheit von Hunger zum Ausdruck. Im Internet hab ich dann betrunken als Gegenteil von durstig gefunden. Aber aus eigener Erfahrung weiß ich, dass das nicht das Ende des Durstes bedeuten muss. Wie auch immer. Lest die über.morgen, trinkt viel und, in Ermangelung eines passenden Adjektivs, leidet nicht unter Durst ohne betrunken zu sein. Einen angenehmen Altweibersommer wünscht die Redaktion der über.morgen. ♦

"Ich habe in den letzten Tagen oft über Durst nachgedacht..."

junge internationale Künstler ausgefallene Aspekte des zeitgenössischen Theatergeschehens am Kulturkosmosgelände Flugplatz Lärz nördlich von Berlin. D www.attension-festival.de Am 16. September verwandelt sich die Josefstädter Straße beim Straßenfest für einen Tag in eine autofreie Zone. Neben einem vielseitigen Unterhaltungsprogramm kann man auch auf ausgebreitetem Rollrasen entspannen. Für alle die es vielleicht noch nicht wissen: Am

[red]

1. Oktober beginnt das Wintersemester! Die Online-Anmeldephase startet schon im September. Also ÖH-Beitrag zahlen und anmelden.. Die nächste Redaktionssitzung der über. morgen findet am 29. August um 19.30 Uhr in der Pizzeria Mario statt. Kommt vorbei und bringt euch ein. Wir freuen uns auf euch. Termine und Informationen auf D www.facebook.com/ueber.morgen und D www.uebermorgen.at!

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Die Freiheit wohnt in der Wüste Persische Nacht zur Zeit des arabischen Erwachens

FOTOS: MAHU

Straße nach Chak Chak

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hat do you think of Iran, fragt Nasrin, wie schon unzählige Landsleute vor ihr. No, the question is: What do YOU think of Iran? – Sie überlegt kurz und meint schließlich prompt: Iran is a bad country. [mahu] Ich sitze auf einer beschatteten Steinbank am Meidan-e Emam in Esfahan. Ursprünglich “Naqsch-e Dschahan” geheißen, “Entwurf der Welt”. Und wirklich strahlt dieser in einfacher Architektur gehaltene Riesenplatz, überragt nur von smaragdenen Kuppeln und in der Ferne aufragenden, blassen Bergrücken, eine Majestät aus, die allem einen Glanz stiller Feierlichkeit verleiht. “Esfahan ist die Hälfte der Welt!”, sagen die Esfahanis. Sitzt man hier, scheint es nicht übertrieben. Drei junge Studentinnen kommen auf mich zu. Stark geschminkt, die bunten Kopftücher nur das hintere Drittel des Hauptes bedeckend. Alle Klassiker werden abgefragt: Herkunft, Beruf, Familienstand... Die beliebte Gretchenfrage bleibt diesmal aber aus. Dann bringt Nasrin, 21-jährige Informatikstu-

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dentin, den Bad-Country-Satz an. Mitten am belebtesten Platz der Stadt, vor der halben Welt. Ich bin verblüfft und etwas beunruhigt. Vor ein paar Tagen noch hatte eine andere Studentin auf diese Frage mit nur einem einzigen Wort geantwortet: “Dangerous...” ”There is no freedom in this country”, so Nasrin weiter. Das Ehrenrettungsangebot, a la ”But the people are so helpful and friendly”, schlägt sie strikt ab: ”Just to foreigners!” Es wird weitergetratscht. Smalltalk, Gelächter. Plötzlich tritt ein Herr an uns heran. Er schreit Nasrin an. Ein Streitgespräch. Er zieht ab. “You have to go!” – “Why?” – “Police!” Meine erste Begegnung mit der berüchtigten Sittenpolizei. Wir haben Anstoß erregt. Im Weggehen blicke ich mich zu einer Gruppe Frauen in schwarzen Chadors – iranischen Ganzkörperschleiern – um. Sie spä-

hen mir argwöhnisch nach. Ich bin nach drei Wochen Iran immer noch überrascht über den unbändigen Hunger junger Leute nach Information von “außen”, nach dem Austausch mit Menschen aus anderen Teilen der Welt. Groß ist die Unzufriedenheit, größer aber ist die Angst vor dem Staat. Nicht ohne Grund…

Gastfreundschaft und Repression

Gestern lud mich Ahmad auf eine Tasse Kaffee ein. Er hatte in den 70ern in England Medizin studiert. Vor sechs Jahren wurde er fuer 22 Monate in ein Irrenhaus gesperrt, weil er am Ufer des Kaspischen Meeres Tai Qi-Übungen praktiziert hatte. Der Vorwurf: Er sei ein “devils dancer” und “verse writer”. Seit seiner Rückkehr in den 90ern wird er verdächtigt ein englischer Spion zu sein. Mit allen Mitteln versucht man ihm beizukommen. Das nächste Mal würde man ihn als Drogendealer vorführen, das sei das Einfachste: ”Maximal two years – I'm gonna get hanged! For sure…” Ich verlasse den Meidan-e Emam und spaziere durch das Gassenlabyrinth des Basars. Ein


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Zarathustrischer Schweigeturm bei Yazd

Basari winkt mich zu sich und serviert Tee und leckeres persisches Süßwerk. Er spricht kein Wort Englisch. Egal. Die berühmte persische Gastfreundschaft bedarf keiner Worte. Von Seiten der Behörden ist mit dieser aber ganz schnell Schluss – wenn man z.B. am falschen Ort eine zu professionell aussehende Kamera um den Hals hat. Fünf Stunden Verhör und fünf Tage Beschattung hatte dies einem Belgier in Teheran eingebracht.

Die Freiheit wohnt in der Wüste

Im winzigen zarathustrischen Pilgerort Chak Chak, mitten im Nirgendwo in den Wüstenbergen nördlich von Yazd, schob Tala ihr Kopftuch zurück und legte ihr Haar frei. Tala und Ava, Studentinnen aus Teheran, hatten mich vor ein paar Tagen zu einem Ausflug eingeladen. Was denn geschehe, sollte dies irgendein Fanatiker sehen? “They would put her in prison”, so Ava trocken. Der Fahrer schnitt uns eine Wassermelone auf und schenkte Tala einen warmherzigen Blick. “The people here are Zoroastians, they don’t care”, erklärte Ava, als ich mich unsicher umschaute. “I don’t like Islam”, pos-

tulierte sie nach einer Weile. Die arabischen Revolutionen hätten sie positiv überrascht. Sie hätte ihnen das alles nicht zugetraut. Die Ressentiments gegen die arabische Welt sitzen tief – wohl ein Erbe des ersten Golfkrieges. Es wird ihnen auch noch immer die “arab inva-

"This crazy people!", er meinte die Mullahs, "You should throw them out of the country!" sion” – oder “muslim invasion”, wie mir andernorts erklärt wurde – vor 1400 Jahren nachgetragen. Ob denn hier im Iran etwas von dieser Aufbruchsstimmung zu spüren sei? Nachdem die Staatsgewalt anfängliche Demonstrationen vor sechs Monaten zusammengeknüppelt hätte, nicht mehr. “The people are too afraid to go on the streets. We don’t dare!”, erklärte sie und deutete auf Tala: “She was on every

demonstration the last years. I was too afraid.” (Einige Tage später sollten sich in Teheran dennoch Demonstranten auf die Straße wagen. Anlass war der Jahrestag der Wahlen vor zwei Jahren. Hunderte wurden festgenommen...) Später, im kleinen Wüstenstädtchen Meybod, blieb ich vor einem besonders kreativen Propagandaposter stehen. Ayatollah Khomeini in Heilsbringerpose mit gleißendem Heiligenschein, in Wolken entrückt. “Everybody hates him!”, so Ava, formte mit ihrer rechten Hand eine Pistole, richtete sie auf seinen Kopf und ließ ein leises “bang!” hören. Es war sein Todestag. Niemand der umstehenden Leute regte sich daran. Die Freiheit wohnt hier in der Wüste…

The people are not happy

Ich schlendere weiter durch den Basar. Said, Teehausbesitzer in fünfter Generation, gibt mir eine Führung durch den ehemaligen Hamam. “The people are not happy”, erzählt er, nachdem er sich über den Rückgang der Touristenzahlen seit Ahmadinejads Amtsantritt beschwert hat. “You know, there’s the people and there’s the

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Der Meidan-e Emam in Esfahan

politicians…”, fügt er hinzu, besorgt, man könne die Iraner mit dem herrschenden politischen System gleichsetzen. Vor zwei Wochen, als der Bus von Teheran nach Shiraz eine Pause einlegte, kam ein junger Mann auf mich zu. “We were suppor-

If you have any questions, I’ll give you an answer. ters of Mussawi and they wanted to kill us!”, erzählte der Englischstudent aus der Hauptstadt empört, als wir über die Proteste vor zwei Jahren sprachen. “This crazy people!“, er meinte die Mullahs, “You should throw them out of the country!“ Wir tauschten Facebook-Kontaktdaten. Jeder hier hat Facebook... Ich verlasse den Basar und wandere die grüne Chahar Bagh Abbasi Street hinunter. Dort ein “Salam!”, da ein herzliches “Welcome to Iran!”,

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vereinzelte “I love you!”-Rufe aus vorbeifahrenden Autos. Ein Mann Mitte 60 bleibt stehen und gibt mir förmlich die Hand: “Welcome to Isfahan!” Er sei in den 70ern nach Los Angeles ausgewandert und seit langer Zeit wieder zu Besuch in seiner Heimatstadt. “If you have any questions, I’ll give you an answer”, meint er feierlich. Ad hoc fraglos, bedanke ich mich und gehe weiter. “We have the choice between bad and worse. We choose bad”, meinte Amir vorgestern bei einer Tasse Tee. Seit die USA in Ägypten (sic!) einmarschiert seien, sei klar, dass eine Revolution nicht unbedingt eine Wendung hin zum Guten bringe. Woher er denn seine Informationen beziehe? “BBC Persia”, viele Leute hätten trotz des Verbotes Satellitenschüsseln. Wenn die Behörden davon erfahren, kommen sie ins Haus und nehmen die Anlage mit. Solange man keinen Widerstand leiste, sei dies ohne weitere Konsequenzen.“Let them take it and get a new one the next day”, beschrieb er das übliche Prozedere. Dank Proxyprogrammen hat auch so gut wie jeder Zugang zum freien Internet. “Do you have Facebook?” – ich tippte meine

Mailadresse in sein Handy ein.

Iran Good? – Iranian People Good!

In einem Park am Ufer des Zayandeh werde ich auf eine Wasserpfeife eingeladen und mit einem Säckchen Sonnenblumenkörner beschenkt. “Iran good?”, fragt Ali, und zieht genüsslich an der Pfeife. “Iranian people good!” – Er lässt bedächtig ein paar Rauchringe aufsteigen. Dann ein zustimmendes Nicken,

Esfahan ist die Hälfte der Welt!

gefolgt von einem warmen Lächeln. Spätabends auf der Si-o-Se-Brücke überfällt mich ein älterer Herr – “What is the best country in Asia??”, fragt er erwartungsvoll und voller Enthusiasmus, kann die Antwort aber nicht mehr abwarten und ruft einer unsichtbaren Masse zu: “I love Iran! It’s the best country in the world!!!” ♦


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n e t h c i r isen be

Vom Re

Und weißt Du, wie die einen Quarterpounder mit Käse in Paris nennen? […] Royal mit Käse! Vincent Vega; Pulp Fiction Den eigenen Horizont erweitern - in kaltes kulturelles Wasser geschmissen werden - dem eigenen goldenen, westlichen Käfig entspringen – die Suche nach Authentizität globaler Ungerechtigkeit – dem Unerwarteten jeden Tag neu ins Auge sehen – das ist nur ein kleiner Auszug der Gründe, die ich meinen Reisen vorschiebe. Besonders erfreue ich mich an der Dekonstruktion des Alltages und seiner Normalität, wenn jedes Frühstück und jeder Sonnenuntergang etwas Besonderes, und damit mehr als nur Beiwerk werden – der flockige Kaffee vor dem Zelt im nassen Wald ist nicht eklig, sondern romantisch; die untergehende Sonne reicht fürs Abendprogramm, und nicht nur zur Zwangsläufigkeit. Ich habe wieder Zeit, ganze Musikalben durch zu hören und Bücher zu lesen, die seit Monaten auf Regalen vor sich hin verstauben.

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as mit dem Reisen ist doch so eine Sache: man fährt in fremde Länder, entreißt sich dem selbstgeschaffenen Alltag, ändert damit Umgebung und Umstände und das nur, um sich selbst näher zu sein. Man fliegt oder fährt nur zu oft um den halben Globus, in der Hoffnung genau dort sich selbst zu finden, als gäbe es gute Gründe dafür. [cg]

Es geht mir gut, ich mein, es könnte weißgott schlimmer sein. E1NS 2WO; Danke, gut Und so schön das alles auch klingt, ist es in meinem – und wahrscheinlich genug anderen Fällen notorisch Reisender – mehr aus einer Schwäche heraus, dass ich mich regelmäßig von A nach B und zurück nach A bewege. Die medizinische Sicherheit, die es in Österreich gibt; oder das Wissen um Hilfe meiner Freunde und Familie, wenn ich sie benötige bzw. das generell sichere Umfeld zu Hause; ich entziehe mich diesen Errungenschaften als wären es Belastungen, und das nur aus der Unfähigkeit heraus, das Besondere im Kleinen auch zu Hause zu entdecken. Ich lebe in der Millionenstadt Wien, aber fahre weg um neue Leute kennen zu lernen; russisches, thailändisches oder türkisches Essen, italienischen oder moldawischen Wein, als auch ihre kulturellen TrägerInnen gibt es dort ebenso wie die Möglichkeit nur wenige Kilometer entfernt im Wald etwas Einsamkeit oder auf einem Berggipfel die untergehende Sonne zu finden. Lass ich dabei noch mein Handy zu Hause, hab ich genauso dieses Gefühl, auf mich allein gestellt zu sein. Die Zeit zum Lesen müsst ich mir nur nehmen, anstatt sie mir durch Internet-Berieselung nehmen zu lassen.

Prioritäten lenken Leben.

Luxus Chris (Stieber Twins); Doppeltes Risiko

Ich habe mich heute früh eine Stunde in die gerade aufgehende Sonne gesetzt, mich mit kaltem Wasser tröpfchenweise geduscht, mein Geschäft auf einem Plumpsklo verrichtet und 20 Minuten gebraucht um mein koffeinhaltiges Heißgetränk zu machen. Ich sitze flockerlkaffee.trinkend auf der Krim und genieße es, quasi vollständigkeitshalber. ♦ Der Autor reist viel und berichtet gern, und befindet sich gerade auf einer Motorradtour rund um das Schwarze Meer. D http://photoscg.blogspot.com/

Der notorisch Reisende auf der Suche nach neuen Bildern: Thaiboxer trainieren am Strand von Constanta.

FOTOS: CG

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Der Staat ein Panoptikum Gastkommentar

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er kann sich noch an Zeiten des Eisernen Vorhangs erinnern, als die wenigsten ein Festnetztelefon hatten und man gezwungenermaßen von einer Telefonzelle Gebrauch machen musste, neben der einE StasimitarbeiterIn stand und im Fünf-Minuten-Takt in den Hörer "Dieses Gespräch wird kontrolliert", wiederholte? Denn jedeR BürgerIn könnte als TerroristIn oder StaatsverschwörerIn gesehen werden. Hat sich bis dato etwas geändert? Nein, es fand nur ein Upgrade auf die digitale Ebene statt, was wir heute unter Vorratsdatenspeicherung, Bürgerverfolgung und INDECT hören, sehen und lesen können. "Wer die Freiheit aufgibt, um Sicherheit zu gewinnen, wird am Ende beides verlieren."; ein altbekanntes Zitat von US-Staatsmann und Ökonom Benjamin Franklin, das heute so aktuell ist, wie eh und je. Im Herbst 2011 soll das Anti-Terror-Paket stehen. Obwohl sich gezeigt hat, dass in Oslo ein

christlich fundamentaler Terrorist die Verbrechen begangen hat, scheint Frau Mikl-Leitner gemeinsam mit Herrn Strache die Werte des Abendlandes hochhalten zu wollen. Im Terrorpaket finden sich vor allem Maßnahmen zur Überwachung von radikalen IslamistInnen. Die Fahndung nach Einzelpersonen bedeutet, dass jedeR InternetbenutzerIn in Zukunft mit Überwachung zu rechnen hat. Facebook-Postings, Blogeinträge und E-Mails werden miteinander verknüpft und zu einem Persönlichkeitsbild zusammengefügt. Der gläserne Mensch wird mit dem Terrorpaket zur Realität. Diese Daten in den Händen von PolitikerInnen, die mündige BürgerInnen am liebsten abschaffen würden und diese unter Generalverdacht stellen, sind ein Freibrief für die Abschaffung der Meinungsfreiheit und Demokratie. Damit entzieht der Staat den BürgerInnen das Vertrauen und macht sie zu potenziellen TerroristInnen, die präventiv überwacht werden müssen. Wann gab es den letzten Terroranschlag in Österreich? Verschiedene Gruppen, wie z.B. die Piraten-

partei, treten entschieden gegen die anlassbezogene Gesetzgebung auf. Es ist dringend an der Zeit seine Stimme gegen die fortschreitende Überwachung der BürgerInnen zu erheben. In diesem Sinn kann ich mich nur den Worten unseres Bundespräsidenten Heinz Fischer anschließen: "Wir sind eine offene und pluralistische Gesellschaft und das wollen wir bleiben." ♦ Patryk Kopacznynski, Piratenpartei

„We should be ruthlessly critical..“ Gastkommentar

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ir Linken sind schon ein braves Grüppchen. Wir werden kontinuierlich informierter, lesen Nachrichten, lesen Theorie. Engagieren uns. Doch irgendwann gelangt man an den Punkt der Ratlosigkeit. Überall Missstände und Voraussetzungsketten, kaum ein Bereich, in dem nicht unzählige soziale Bewegungen ihren unendlichen Ehrgeiz abarbeiten. Wozu das Ganze? Ein Fass ohne Boden. Überall nur Krisen. Jede soziale Bewegung, und jedeR ihrer AkteurInnen, schlicht jedes Individuum, gelangt mal an diesen Punkt. Krise bedeutet auf Griechisch: Entscheidung. Der Moment der Krise, der Moment der ausstehenden Entscheidung, verläuft meistens ähnlich. Krisen, seien es politische, seien es persönliche, sind im wesentlichen Momente, in denen bisher angewandte Wertesysteme nicht mehr funktionieren und der Prozess der kontinuierlichen Sinnbildung schlicht im Leeren verläuft. Und vielleicht liegt hier, im komplexen Gefüge des eigenen Wertesystems, zwar nicht die Möglichkeit der Auflösung der Ratlosigkeit, aber durchaus ein erster Angriffspunkt. Denn nur www.facebook.com/ueber.morgen

zu oft wissen wir einfach nicht mehr, wie wir unser persönliches, und auch unser politisches Handeln, sinnvoll messen können. Wir sind eine Generation ohne Zukunft, ohne Generationenvertrag, ohne eigene Theorie, ohne Vorbilder. Den Glauben an die Politik verloren, würde uns keine Partei der Welt mit einem Programm überzeugen können, so sehr sind wir auf uns selbst gestellt. „What does it mean to be a revolutionary today?“, fragt sich der slowenische Philosoph Slavoj Zizek in seinem oft zitierten Vortrag, und bietet als eine mögliche Antwort die radikale Kritik an: „We have to be ruthlessly critical!“ Zizek beim Wort genommen, wird ab sofort alles, was uns begegnet und beschäftigt, radikal kritisiert. Jedes noch so lieb gewonnene Muster, jedes unmittelbare Ereignis, wird so zum unmittelbaren Untersuchungsgegenstand. Jeder Gang zum Arbeitsamt, jedes Zeitunglesen, jede Auseinandersetzung in der Arbeit wird zum politischen Akt, jede Diskussion unter FreundInnen zu einem lebhaften Diskurs. Sich die Fragen zu stellen, was ich für richtig halte, was mein Wertesystem formt, bedeutet immer auch den Weg der Unmittelbarkeit zu

gehen. Sich auf das zu konzentrieren, was einen direkt formt und beschäftigt. Handlungsunfähigkeit tritt so schnell in den Hintergrund, und durch den Entschluss zur Kritik wird das eigene Wertesystem wieder aufgewertet. Die ersten und basalsten Formen der Entscheidungsfindung eröffnen häufig den Weg aus der Apathie der Handlungslosigkeit und schärfen das von der Krise gebeutelte, eigene Wertesystem. "You see down there? This is the brain of the monster. Here you were born, here you fight." sagte einst Che Guevara zu Jean Ziegler. Kritisiere alles, glaube nichts. ♦ Iga Mazak, Studentin


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Warten auf die Krise Gastkommentar

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as für ein Sommer! Nachdem das Wetter uns ein Monat lang scheinbar zum Narren halten wollte, halten sich die Temperaturen nun schon sagenhafte drei Tage über 30 Grad. Ganz recht, die Börsen erlebten gerade einen einwöchigen schwarzen Freitag, der Kapitalismus jagt von einer Krise zur nächsten, von der ökonomischen in die soziale und wieder zurück, und ich schreibe über das Wetter. Aber irgendwie machen das doch alle so? Laut den Medien ist die Welt längst untergegangen: Die Strahlen aus Fukushima sind bald schon so selbstverständlich wie die der Sonne selbst und die Katastrophe in Somalia, Millionen von Menschen sind auf der Flucht vor Hunger und Durst, scheint unser geringstes Problem zu sein. Das Wort Griechenland erregt da die Gemüter schon mehr, aber dass die Schulden Italiens, Spaniens, Irlands, Frankreichs und der USA auch mal fällig werden, na, da reden wir drüber, wenn’s so weit ist. Jetzt ist zuerst mal Sommer. Schließlich fährt die Bim ja noch, die Regale in den Märkten sind noch voll, auch wenn alles

immer teurer wird. Die Leute drängen geschäftig wie immer durch die Straßen, fröhlich wirkt niemand so recht, aber das waren die WienerInnen eh nie. Seltsam normal nimmt sich der Alltag aus, vergleicht man ihn mit dem ständigen Ausnahmezustand, der in den Medien zu herrschen scheint. Wahrscheinlich erwarten wir, dass die Katastrophe über uns kommt wie ein deutliches, eindeutiges Zeichen, wie eine Sirene, wie ein Erdbeben, ein Sturm. Vielleicht wird es so passieren. Oder langsam. Kann es denn sein, dass all die Schulden vielleicht gar nicht das Problem sind? Sondern, dass sie angehäuft werden müssen, um das Rad am Laufen zu halten? Und ist uns denn bewusst, dass sie trotzdem von jemandem beglichen werden müssen? Dass das voraussichtlich nicht die Banken sein werden, sondern die, die sich am wenigsten dagegen wehren? Ist uns denn bewusst, dass die Plünderungen in England eine direkte Folge solcher Ungerechtigkeiten sind? Und dass sie nur eine von vielen Möglichkeiten sind, Druck aus dem Kessel zu lassen? Ist uns denn bewusst, dass der nächste Bundeskanzler womöglich Strache heißt? Und, dass die Rechte nie mit der Wimper gezuckt hat, den sozialen „Frieden“ mit Gewalt durch-

zusetzen - oder sogar weiter zu gehen? Wir sollten diese Krise nützen. Wir sollten nicht warten, bis uns ein eindeutiges Zeichen aus der Lethargie holt, denn dann wird es wahrscheinlich zu spät sein. Wir sollten uns Gedanken machen, was nach der Krise kommen soll und dann, wie wir sie beenden. So wie’s ausschaut, gibt es keinen Weg zurück mehr in die „heile Welt“ von vor 2008. Diese Zeiten sind vorbei. Welche Zeiten folgen, sollten wir bestimmen und nicht dem Lauf der Dinge überlassen. Machen wir das Beste draus. ♦ Victor Höck, Student

Blockade des Schweigens gebrochen! Gastkommentar

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ie Fernsehbilder der israelischen Militäraktion „Gegossenes Blei“ machten mich ungeheuer zornig und rüttelten mich auf, mich mehr mit der Situation in Gaza zu beschäftigen: eine Blockade von 1,5 Millionen Menschen zu Land, Luft und See, das größte Freiluftgefängnis der Welt. Gaza solle damit, so werden die politischen Verantwortlichen in Israel in geleakten US-Depeschen zitiert, „am Rande des Abgrunds gehalten werden, ohne es hinunterzustürzen“. Die Blockade mit der „Selbstverteidigung“ Israels zu legitimieren, ist absurd und zynisch: Denn gerade die strukturelle Gewalt der israelischen Unterdrückung heizt die militärische Gewaltspirale weiter an. Das ist keine Rechtfertigung dafür, wenn sich die Unterdrückten mit völlig falschen Mitteln zur Wehr setzen (z.B. der Raketenbeschuss Südisraels), aber wer diese Gewaltspirale stoppen will, kann nur zu einem Schluss kommen: Ende der Blockade als ersten Schritt zu Verhandlungen, Frieden und Versöhnung. Die Gaza-Flottillen-Bewegung hat mich

daher von Anfang an begeistert: mit dem Mut der Gewaltfreiheit diese unsägliche Blockade zu durchbrechen, die die Menschen in Gaza in jeder Hinsicht erniedrigt, allen Menschen in dieser Region Unfrieden bringt und nur den politischen Scharfmachern - auf beiden Seiten - nützt. Mit der Möglichkeit in diesem Jahr an der Flottille teilzunehmen, hatte ich endlich das Gefühl, meinen Zorn über „Gegossenes Blei“ in eine sinnvolle, politische Aktion münden lassen zu können. Über den Ablauf der Flottille ließe sich viel erzählen, im Kern aber wird bleiben: Die EU hat sich selbst zum Gefängniswärter von Gaza gemacht, indem Griechenland genötigt wurde, das Auslaufen der Gaza-Flottille zu unterbinden. Für mich persönlich war es eine wunderbare Erfahrung, mit Menschen aus ganz unterschiedlichen Nationen und Kulturen rasch eine gemeinsame Sprache zu finden, weil uns ein gemeinsames Anliegen eint, gemeinsam mit vielen GriechInnen gegen die Sozialabbaupolitik und die Gefangennahme unserer Schiffe zu demonstrieren, weil wir gesehen haben, dass in Griechenland die Demokratie nicht nur in der Wirtschafts- sondern auch in der Außen-

politik durch das Diktat von EU-Kommission und IWF ausgehebelt wird und einen kleinen Beitrag dazu geleistet zu haben, dass heute sehr viel mehr Menschen von der Not der Menschen in Gaza wissen und dass die Menschen in Gaza wissen, dass sie Verbündete auf der ganzen Welt haben. Es ist uns zwar nicht gelungen, die Gaza-Blockade physisch zu durchbrechen, wir konnten aber mit unserer Aktion die Blockade des Schweigens brechen, die um dieses Unrecht gelegt worden ist. ♦ Gerald Oberansmayr, D www.werkstatt.or.at www.uebermorgen.at


über.denken

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„Wie ich noch einmal über die Stränge schlagen wollte…“

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m 29. Juni verstarb der Künstler, Anarchist, Kulturtheoretiker, Lektor und politische Aktivist Dieter Schrage in Wien. [ts]

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FOTO: MARTIN JUEN

Dieter Schrages Begräbnis spiegelte noch einmal die Vielseitigkeit dieses liebenswürdigen Anarchisten wieder. Am 12. Juli versammelten sich am Penzinger Friedhof neben Dieter Schrages Frau Margit und seiner Familie hunderte Menschen, die ihn im Laufe der letzten Jahrzehnte als Kunsttheoretiker, Lehrer oder politischen Aktivisten schätzen gelernt hatten. Es war wohl wirklich einzigartig, dass sich hier linke SozialdemokratInnen, Grüne, AnarchistInnen, KommunistInnen, Autonome, (Sub-) Kulturschaffende und HausbesetzerInnen noch einmal zusammenfanden. Während Bruno Aigner ein Grußtelegramm des Bundespräsidenten verlas, wehte zwischen den Gräbern eine schwarzrote Fahne. Die HausbesetzerInnen des wenig später geräumten LobmeyerHofs versuchten Grüne und Sozialdemokraten anzusprechen. Jetzt wo Dieter Schrage nicht mehr vermitteln konnte, vermittelte er (vergeblich) an seinem Grab. Es gab in der gesamten Wiener Linken wohl keinen Menschen, der so unterschiedliche und teilweise antagonistische Szenen miteinander verband. Dabei biederte sich Dieter Schrage nie jemandem an, sondern machte aus seinem eigenen Anarchismus nie einen Hehl. Politisch stand er konsequent weit links von Sozialdemokratie und Grünen und träumte zugleich immer wieder davon, ein breites fortschrittliches Bündnis zu schmieden, in denen Linke unterschiedlichen Coleurs für längst überfällige Reformen zusammenarbeiten können. Der liebenswerte Anarchist war ein großer Menschenfreund im Allgemeinen aber auch im Besonderen und deshalb fiel es ihm auch so schwer mit Parteien, die er längst politisch aufgegeben hatte, zu brechen. Er kannte die Menschen dahinter und mochte sie auch dann, wenn er politisch nicht mehr mit ihnen übereinstimmte. Der 1935 im Ruhrgebiet geborene und dort aufgewachsene Dieter Schrage kam 1960 zum Studium nach Wien, wo er zunächst in der SPÖ, aber auch in der Außerparlamentarischen Opposition aktiv war. Als Kulturreferent des Wiener Kunstfonds der Zentralsparkasse der Gemeinde Wien, als Mitbegründer und Leiter des Freien Kinos und von 1979 bis 2001 aIs Kura-

Dieter Schrage bei einem Vortrag im besetzten Hörsaal C1 am Unicampus in Wien tor am Museum Moderner Kunst, das damals noch im 20er-Haus untergebracht war, spielte Schrage eine wichtige Rolle in der Modernisierung der Wiener Kulturszene. 1979 war er eine treibende Kraft in der Arena-Besetzung. Seither ging in Wien kaum eine Hausbesetzung über die Bühne, in der Dieter Schrage nicht zumindest eine Vermittlerrolle einnahm. Ohne ihn gäbe es sicher keine Arena und vielleicht auch kein WUK und kein EKH. 1987 wechselte er von der SPÖ zu den Grünen, um dabei, wie er es 1998 in einem Buchtitel formulierte „vom Regen in die Traufe“* zu kommen. Bei den Grünen wurde er politisch rasch am linken Rand isoliert. Versuche, auf wählbare Listenplätze für Nationalrats- und Gemeinderatswahlen zu kommen, scheiterten. Als Politiker kam er nie über den Bezirksrat hinaus. Politisch blieb er immer Anarchist, was 1992 auch in der Gründung der Pierre-RamusGesellschaft, gemeinsam mit Ferdinand Groß (1908-1998), Adi Rasworschegg (1923-2003) und anderen AnarchistInnen, Ausdruck fand. Zuletzt führte Dieter Schrage mit vielen Linken innerhalb und außerhalb etablierter Parteien Gespräche noch einmal ein politisches Projekt links der Grünen und der SPÖ zu gründen. Was ihn dabei von anderen älteren Linken in dieser Stadt unterschied, war auch sein Zugang zu Jüngeren. Als Mitbegründer und Ehrenvorsitzender der Grünen SeniorInnen pflegte er ein besonders enges Verhältnis zur Grünalternativen Jugend. Dabei begegnete er auch Jugendlichen auf Augenhöhe, nahm auch linksradikale

Teenager ernst. Ich kann mich noch genau an jenen offenen Brief erinnern, den er im Oktober 1994 in der AKIN, der Diskussionspostille der Wiener Linken, nach meinem Austritt aus den Grünen veröffentlicht hatte. Dieter Schrage nahm den Parteiaustritt eines 19jährigen Genossen aus Vorarlberg ernst, teilte meine Kritik an den Grünen, zog jedoch andere Konsequenzen. Diese Haltung ist symptomatisch für ihn. Dieter Schrage nahm Menschen ernst, die seine Enkel sein könnten. Man musste nicht etabliert und bekannt sein, um seine Aufmerksamkeit zu erhalten. Er hörte den AußenseiterInnen, den Jungen, den Radikalen genauso zu wie den UniversitätsprofessorInnen und ParlamentarierInnen. Als Lektor an Universitäten und Kunsthochschulen in Wien und Salzburg nahm er seine Studierenden ernst und engagierte sich ganz selbstverständlich auch für deren Anliegen. Zuletzt solidarisierte er sich mit der Unibrennt-Bewegung und trat am 14. November 2009 im besetzten C1-Hörsaal auf. Dieter Schrage konnte damit nicht nur unterschiedliche Strömungen, sondern auch unterschiedliche Generationen der Linken verbinden. Sein Verlust ist damit ein Verlust für die gesamte Linke und für diese Stadt, zu deren Entstaubung er so viel beigetragen hat. ♦ Dieter Schrage: Wie ich noch einmal über die Stränge schlagen wollte und dabei vom Regen in die Traufe kam. Texte zu einer alternativen Grünen Politik. Wien, 1998


über.politik

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Auf der Straße mit den Indignados FOTO: MARA STACCA

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ebastian Kugler hat einen Monat lang Spanien bereist, um die dortige Protestbewegung zu unterstützen. Mit der über.morgen sprach er über die „Indignados“, ihre Forderungen und was die #spanishrevolution mit #unibrennt verbindet. [vic]

Sebastian, was war deine Motivation, einen Monat lang die spanischen Indignados vor Ort zu unterstützen und wie hast du das gemacht? Ich finde, spanische Proteste haben ein starkes Zeichen des Widerstands gesetzt und versucht, den Startschuss für europaweite Jugendbewegungen zu geben. Die Gründe, warum sie ausgebrochen sind, die hohe Arbeitslosigkeit, Frustration über das de-facto Zweiparteiensystem oder die Perspektivenlosigkeit der Jugendlichen, das sind Phänomene, die man in verschiedener Intensität in ganz Europa antrifft. Daher hat die Bewegung ganz klar das Potenzial, europaweiten Widerstand tatsächlich auf die Tagesordnung zu bringen, und das wollte ich unterstützen. Ich habe dort eine junge Schwesternorganisation der SLP, aber auch die lokalen Asambleas unterstützt, indem ich zum Beispiel Plakate designed oder Veranstaltungen organisiert habe.

Was sind die Grundanliegen der Bewegung?

Da gibt es drei große Hauptthemen. Zum einen die totale Desillusionierung der Menschen über die Politik. Mittlerweile sehen sie alle Parteien, teilweise sogar die Linkspartei, als Vertreter desselben Systems, es macht für sie keinen Unterschied mehr, wen man wählt. Zum anderen gibt es da die eine immens große Arbeitslosigkeit. 40% der Jugendlichen haben keine Arbeit, das ist verdammt viel. Zum Beispiel bin ich einmal in einen kleinen Laden gegangen, der Verkäufer hat gleich erkannt, dass ich nicht von hier bin. „Hier gibt es keine Arbeit“, hat er sofort gesagt, „es gibt in ganz Barcelona keine Arbeit!“ Er selber war fertig studierter IT-Techniker, der

auch keine Arbeit gefunden hat und sich dann einen kleinen Gemüseladen aufgemacht hat. Das macht die Bewegung stark, fast alle, die du dort fragst, sind en paro, arbeitslos. Dazu kommt die absurde Situation, dass es zur Zeit zu sehr vielen Delogierungen kommt, obwohl ein großer Wohnungsleerstand herrscht. Die Menschen sehen für sich einfach keine Zukunft mehr im Kapitalismus, sie machen ihn für all das verantwortlich.

Welchen Einfluss haben die Wirtschaftskrise und die Proteste in Griechenland auf die Bewegung?

Die Krise war in Spanien bis vor Kurzem etwas, das sich vorrangig an den Börsen und in den Medien abspielt. Mit der Staatsschuldenkrise und Kürzungen wird die Krise dann aber schon sehr konkret: Wenn plötzlich die Schule ums Eck geschlossen werden muss, beginnen die Menschen zu begreifen, dass die Krise alle betrifft. Auf der anderen Seite haben wir schon seit Längerem massive Proteste in Griechenland. Zwischen den beiden Bewegungen gibt es so was wie eine Wechselwirkung: Zunächst hat Griechenland die spanische Bewegung mit ausgelöst und inspiriert. Später, als die Besetzungen in Spanien zu Zentren des Widerstands geworden sind, haben die Griechen das Konzept übernommen und beispielsweise den Syntagma-Platz besetzt.

Es gibt einige Ähnlichkeiten zwischen #unibrennt und den Indignados in Spanien: beides Jugendbewegungen, dort wie da waren Besetzungen die Ausgangsorte. Warum hat die spanische Bewegung so an Momentum

gewonnen, wo das Audimax ab einem bestimmten Zeitpunkt stark an Elan verloren hat?

Erstens hat man in Spanien die großen Besetzungen irgendwann aufgegeben und ist in die Barrios (Nachbarschaften, Anm.) „expandiert“, wo man die Asambleas gegründet hat, was den Vorteil hatte, dass man nicht mehr auf diese schwerfälligen Riesenplena angewiesen war. Zweitens hat sich die Audimaxbewegung dezidiert als Bildungsbewegung verstanden. Sie hat zwar sehr wohl einen antikapitalistischen Brückenschlag gemacht, aber man hat so ein bisschen das Gefühl, dass diese Forderungen, die ein wenig breiter angelegt waren, nur dazu da waren, die eigenen Inhalte, also die der Bildungsfragen, weiterzubringen. Aber obwohl die Bewegung in Spanien noch kein explizit ausformuliertes Programm hat, hat sie Forderungen, bei denen die Menschen das Gefühl haben, das betrifft sie konkret. Es ist auch in einer gewissen Weise die Frage des Zeitpunkts: Eine unibrennt-Bewegung, die inmitten von generellen brutalen Sparpaketen ausbrechen würde, hätte größere Chancen, sich auch so zu verbreitern. Ich denke, das Erfolgsgeheimnis einer Jugend- oder Studierendenbewegung ist, keine Jugend- oder Studierendenbewegung zu sein, sondern sich auszubreiten. Das ist etwas, was die spanische Bewegung geschafft hat und die unibrennt-Bewegung nicht. ♦ Sebastian Kugler (19), ist Aktivist in der Sozialistischen Linkspartei und hat sich auch in der Audimax-Besetzung engagiert.

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über.politik

Der Biedermann und die Brandstifter H

C Strache gibt sich derzeit bieder und moderat. Nach dem Blutbad in Norwegen schloss er den Nationalratsabgeordneten Königshofer aus der FPÖ aus. Der hatte die Morde des rechtsradikalen Attentäters mit Schwangerschaftsabbrüchen verglichen. Strache bekam von fast allen Seiten Applaus für seine Entscheidung. Hat Strache sich nun zum Demokraten gemausert, werden er und seine Partei allmählich salonfähig? [hs] Wer Straches wahre Denkmuster ergründen will, sollte sich seine außenpolitischen Kontakte näher anschauen. Im Juni dieses Jahres schloss die FPÖ ein Freundschaftsbündnis mit den serbischen Nationalisten um Tomislav Nikolic. Nikolic war von 1998 bis 2000 Milosevics Stellvertreter. Von 2003 bis 2008 führte Nikolic die Serbische Radikale Partei Vojislav Seseljs. Seselj sitzt seit 2003 in Den Haag in Haft. Er ist wegen Kriegsverbrechen im Jugoslawienkrieg angeklagt. Anfang der Neunziger Jahre gründete Seselj die Serbische TschetnikBewegung (Srpski CetniCki Pokret), 1991 die Serbische Radikale Partei (SRS). Seselj drohte unter anderem das slowenische Kernkraftwerk Krsko, Wien und andere europäische Hauptstädte bombardieren zu lassen. Seseljs Stellvertreter, Tomislav Nikolic, empfahl 2006 den beiden mutmaßlichen Kriegsverbrechern Karadzic und Mladic:"Wenn sie [die Strafverfolger] an ihrer Türschwelle stehen, sollten sie Selbstmord begehen…Ein Sich-Ausliefern wäre unmoralisch und unserbisches Verhalten. Sie dürfen sich nicht ergeben. Wenn alles zusammenstürzt, wenn der serbische Mythos zusammenbricht, dann müssen sie wissen, was ihnen zu tun bleibt.“

Fragwürdige Partner

2008 organisierte Tomislav Nikolic, der neueste Busenfreund Straches, noch als Chef von Seseljs SRS, die Proteste gegen die Verhaftung Radovan Karadzics. Karadzic gilt zusammen mit Ratko Mladic als Hauptinitiator und spiritus rector der Kriegsverbrechen in Bosnien und des Völkermords von Srebrencia. Zur Erinnerung: fast vier Jahre lang belagerten Tschetniks Sarajevo, schossen auf alles, was sich bewegte. Es war die längste Belagerung einer Stadt im 20. Jahrhundert. Rund 10.000 Menschen (darunter 1.500 Kin-

der) wurden getötet, zahllose zum Teil schwer verletzt. Am 10. Oktober 2008 gründete Nikolic die neue Partei Srpska Napredna Stranka (SNS, deutsch: Serbische Fortschrittspartei). Mit diesem Mann und dessen Partei schlossen HC Strache und die FPÖ am 22. Juni 2011 hoch offiziell ein Freundschaftsabkommen. Vielleicht wusste die FPÖ-Spitze wieder einmal von nichts, nichts von der Vorgeschichte der SNS, nichts von Nikolics Rolle und seinen Zielen, seiner Haltung zu Karadzic, nichts von den Kriegsverbrechen Mladics. Vielleicht ist die vom Unglück verfolgte FPÖ wieder einmal völlig ahnungslos in eine Falle getappt, die Tschetnikfalle diesmal? Vielleicht hat sich Tomislav Nikolic ja vom Saulus zum Paulus gewandelt, so wie HC Strache es uns auch von sich selbst glauben machen will.

Rechte Mythen gegen den Islam

Die Dinge liegen jedoch anders. Die FPÖ und ihr Parteichef teilen die kruden Ansichten Nikolics und der serbischen Nationalisten. Laut HC Strache treibt „die USA die Islamisierung voran“. Indiz hierfür sei die Rolle der transatlantischen Großmacht in Ex-Jugoslawien. Der Rechtspopulist hat sich auch eingehender mit der serbischen Geschichte beschäftigt. Besonders die Schlacht auf dem Amselfeld von 1389 (!) hat es ihm angetan. Damals verloren die Serben die Oberhoheit über den Kosovo an den türkisch-osmanischen Gegner. Aus der Schlacht am Amselfeld leitet Strache, ebenso wie die serbischen Tschetniks, ab, der Kosovo dürfe nie unabhängig, nie von den Serben aufgegeben werden. Nach dieser Logik wäre das Baltikum urdeutsches Gebiet, denn dort hatte bis zur Schlacht bei Tannenberg 1410 der Deutsche Ritterorden die Oberhoheit und Heimstatt. Historische Ungenauigkeiten sind üblich

unter Rechtsnostalgikern. Im Amselfeld, sprich Kosovo, so Strache, gehe es darum, gemeinsam mit den serbischen Nationalisten das christliche Abendland gegen die moslemische Bedrohung zu verteidigen. Das Märchen vom alles entscheidenden Kosovo scheint ein stereotypes Trauma unter Rechtsextremen zu sein. Auch der deutsche Nadelstreifen-Rechtsradikale Thilo Sarrazin bekommt Angstzustände, wenn er an den Kosovo denkt. Auch der selbsternannte Eugeniker bemüht gerne und intensiv den Kosovo als Beispiel muslimischer Überfremdung. "Die Türken erobern Deutschland genauso, wie die Kosovaren das Kosovo erobert haben: durch eine höhere Geburtenrate", meinte der Ex-Bundesbanker 2009 in einem Interview mit "Lettre International". Das alles klingt wie abgeschrieben aus dem wirren Konvolut „2083“ des Attentäters von Oslo. Dessen paranoide Vorstellungen setzen allerdings erst bei 1683 an.

Ein Spiel mit dem Feuer

Zur Information: 90% der Einwohner des Kosovo sind albanischer Herkunft, 10% serbischer. Trotzdem meint Straches Freund Nikolic in einem SPIEGEL-Interview vom Mai 2008, der Kosovo sei serbisch und unaufgebbar. Strache legt noch eins drauf und nennt den Kosovo „urserbisch“. Bereits seit über 150 Jahren bilden Albanischstämmige die Mehrheit im Kosovo. Kaum verhohlen droht Nikolic mit Krieg, sollte der Kosovo sich Albanien zuwenden. Das unterstrich er erst jüngst erneut in einem Interview mit dem Sender B92. (Rund 200.000 Menschen serbischer Herkunft leben in Wien. Zwar gibt es - wie unter Österreichern auch - eine Minderheit nationalistischer Unbelehrbarer, doch die Mehrzahl der Serben und Menschen mit serbischer Herkunft hat mit HC Strache nichts im Sinn. Die Aufmerksamkeit dieser Menschen ist, wenn sie die Tiraden von Strache und Nikolic hören, mehr geschärft für die Gefahr als die der österreichischen Öffentlichkeits-Profis. Die ganz normalen Serben wissen, was Straches und Nikolics Äußerungen in Konsequenz bedeuten: Krieg... ♦

Impressum: Medieninhaber & Herausgeber: Verein zur Förderung studentischer Eigeninitiativen. Taubergasse 35/15, 1170 Wien. Homepage: www.uebermorgen.at; Redaktion: Verein zur Förderung studentischer Eigeninitiativen. Taubergasse 35/15, 1170 Wien; Redaktionelle Leitung: Markus Schauta, Lisa Köppl; Layout: jaae, Cover: alma, papeX; Herstellerin: Druckerei Fiona, www.fiona.or.at; Herstellungs- und Erscheinungsort: Wien; Alle Rechte, auch die Übernahme von Beiträgen nach §44 Abs. 1 Urheberrechtsgesetz: © Verein zur Förderung studentischer Eigeninitiativen. Dem Ehrenkodex der österreichischen Presse verpflichtet. www.facebook.com/ueber.morgen


über.denken

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Öl, Chemie und Krabben Nachrichten von vor.gestern

V

or etwas mehr als einem Jahr überschlugen sich die Medien in Berichten über die Ölkatastrophe im Golf von Mexiko, bei der die Förderplattform „Deepwater Horizon“ explodierte, mehr als 800 Millionen Liter Öl ins Meer traten und elf Menschen starben. Die Titelseiten waren voll von Bildern ölverklebter Vögel und schwarz gefärbter Küsten. [red] Sämtliche Versuche, das Leck zu verschließen, scheiterten, bis schließlich Chemikalien eingesetzt wurden. So genannte Dispergatoren, die das Öl in winzige Tröpfchen teilen sollten, um es für ölfressende Mikroben leichter vertilgbar zu machen, wurden in riesigen Mengen über das verseuchte Wasser gepumpt. Doch was ist eigentlich aus den Verschmutzungen geworden? Verschwunden, wie die Medienberichte, sind die Verschmutzungen leider nicht. Forscher der ETH Lausanne fanden beispielsweise 1000

Meter unter der Wasseroberfläche eine riesige Ölfahne, die zu tief treibt, als dass sie verdunsten könnte, und auch noch weit vom eigentlichen Unglücksort entfernt Meerestiere und -pflanzen schädigen könnte - ganz zu schweigen von nach wie vor ölverschmutzten Küstenabschnitten. Welche Auswirkungen der Einsatz der Chemikalien hat, ist bis heute umstritten. Einige sind überzeugt, dass der Einsatz der Chemikalien die richtige Entscheidung war, da die starke Sonne und das warme Wasser im Golf von Mexiko noch zusätzlich den Ölabbau unterstützen und Teile der Küste sich langsam wieder erholen. Im April 2011 allerdings waren etwa hundert tote Babydelfine an die Küste gespült worden, und Fischer berichten von Krebsen mit merkwürdigen Löchern in den Schalen. Zu diesen Beobachtungen passt die Theorie von Toxikologin Susan Shaw, die das unabhängige maritime Forschunginstitut MERI in Maine leitet – sie besagt, dass die Chemikalien kleine Löcher in Zellmembranen ätzen und so das giftige Öl eindringen kann.

In jedem Fall war der Einsatz der Chemikalie ein Akt der Hilflosigkeit. Zwei Tage lang berieten 50 Professoren darüber, welche Auswirkungen der Einsatz haben könnte, ohne tatsächlich Voruntersuchungen durchgeführt zu haben. Im Prinzip könnte man den Einsatz der Dispergatoren als riesiges Feldexperiment mit auch heute noch unbekannten Folgen bezeichnen. Die nächste Frage ist nun: Was sind die Konsequenzen, die aus der Katastrophe gezogen wurden? So laut der Aufschrei der Gesellschaft kurz nach der Katastrophe war, so schnell ist er auch wieder verklungen – und die Ölfirmen haben die Bohrungen an bereits bestehenden Plattformen im Golf von Mexiko längst wieder aufgenommen, wenn auch mit strengeren Auflagen, Genehmigungen für weitere Bohrstellen könnten folgen. Es ist ruhig geworden um die Debatte der Tiefseebohrungen - und manch einer könnte sich, gemütlich mit dem Auto zur Arbeit fahrend, fragen: Ja, war denn die Ölkatastrophe tatsächlich erst vor.gestern? ♦

Der verstaatlichte Monarch Kommentar

I

Otto Habsburg-Lothringen ist tot.

Die meisten Schaulustigen haben keine allzugroße Freude mit dieser stundenlangen majestätischen Zeremonie. "Es ist nicht angemessen", raunzen sie. Die Trauerfeiern in Mariazell erreichen am Mittwoch ihren Höhepunkt. Weiter geht es mit dem aufwendigen Begräbnis am Samstag in Wien. Bereits im Vorfeld sorgt es für allerhand Kritik. Den einschlägigen Historikern fehlt es an kritischer Auseinandersetzung mit den Habsburgern. Ich habe den Eindruck, dass es sich um ein Staatsbegräbnis handelt. Etliche Straßenzüge werden gesperrt. Das kostet den Steuerzahler eine Menge Geld.

FOTO: LISA KÖPPL

m soldatischen Gleichschritt marschiert das österr. Bundesheer an den tausenden Schaulustigen vorbei. Unter laut hallenden Salutschüssen aus Kanonen, einige zeigen aufs Parlament, geht eine männliche empörte Stimme hinter mir beinahe unter: "Ich schmeiß meine Dosn Bier auf den Habsburger-Soarg!"

Beim Requiem im Stephansdom begrüßt Kardinal Schönborn den ältesten Sohn Ottos als "Erzherzog Karl". Zur Freude der Traditionsverbände und Monarchie-Fans, die sich noch einmal in k.u.k.-Schwelgereien üben und sich in eine längst vergangene Zeit zurückversetzen wollen. Im Stephansdom scheint die projektive Identifizierung, die qualvolle Abhängigkeit mit dem “alten Landesvater” dermaßen tief und gefährlich zu sein, dass das Volk nicht umhin kommt feierlich in Gedenken an ihn der Kaiserhymne, der Volkshymne, zu lauschen. Ein Versuch der Trauernden, darunter Burschenschafter, Studentenverbindungen um KöL (katholische österreichische Landsmannschaften), aber auch um Vertreter des Österreichischen Cartellverbandes (ÖCV) und des Mittelschülerkartellverbandes (MKV), Schützen aus Tirol, Opus DeiMitglieder, Bundespräsident Fischer, Faymann und Pröll und Nationalisten, sich von der historischen Abhängigkeit zu befreien. Die Identifizierung mit dem nicht zum Zug gekommenen Monarchen scheint ins unendliche Unbewußte eingebrannt zu sein. Der Sohn des letzten Kaisers von Österreich

Kreativ gekleidete Trauergäste und Königs von Ungarn "regierte" als Politiker im EU-Parlament, wo er 20 Jahre lang die bayerischen Christlichsozialen vertrat. In Österreich sind staatlich bezahlte Begräbnisse nur für Bundespräsidenten, Bundeskanzler und Nationalratspräsidenten vorgesehen. Die Leichenteile des ältesten Sohnes des letzten österreichischen Kaiserpaares befinden sich nun in der Kapuzinergruft. Dort warten sie auf ihre Seligsprechung - ob beim Totenmahl ein Kaiserschmarrn verzehrt wurde, ist mir nicht bekannt. ♦

Lisa Köppl www.uebermorgen.at


über.reste

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Die Lust am Politischen

Wie die Hedonistische Internationale politischen Spaß betreibt

P

olitischer Aktionismus und Spaß scheinen unvereinbar. Doch die Hedonistische Internationale will das Gegenteil beweisen und setzt auf Ironie, Bass und nackte Haut. [axt]

Ironie stiftet Verwirrung

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Hedonismus à la Epikur

Es geht aber auch um die Ideen Epikurs (um 300 v. Chr.), ein griechischer Philosoph, dessen hedonistische Lehre zum Ziel hatte, die Lebensfreude durch den Genuss eines jeden Tages zu erhöhen und verstetigen. Durch die Vermeidung von Furcht, Schmerz und schwer erfüllbaren Wünschen, welche den Seelenfrieden beeinträchtigen, soll dieses Ziel erreicht werden. Die zentrale Stellung von Lebensfreude beweist sich für Epikur durch die frühkindliche, noch nicht sozial konditionierte, Suche nach Lust und dem Vermeiden von Unlust. Deshalb sei dies die natürliche Richtung menschlichen Strebens. Wenn auf Wohnungsbesichtigungen nackt

Plakat auf der Pro-Guttenberg Kundgebung gegen überhöhte Mieten getanzt wird oder das "Bündnis für urbane Mobilbeschallung (BUMS) Nazis wegbasst“, kann man vielleicht einwenden, dass sich Epikurs Gedanken nicht in allen Aktionen der Internationalen zur Gänze niederschlagen. Das aber ist durchaus programmatisch: Teil der Symbiose aus Hedonismus und Politik ist ja, die Ideologie, die Aktion, das Leben und schließlich sich selbst nicht immer so tierisch ernst zu nehmen. ♦ Mehr Information:

D www.hedonist-international.org

Eine Link-Sammlung zum Thema:

D http://pastehtml.com/view/b3mi2vok5.rtxt

Unser Lieblingsplatz Müsli zum Selbermischen, Cookies, Cupcakes, Brownies, Waffeln und wechselnde Tagesangebote – alles aus regionalen Zutaten, biologisch angebaut. Dazu dann noch fairtrade Kaffee oder Tee, und das Frühstück ist perfekt. Für Gestresste gibt es das Müsli sogar zum Mitnehmen! Zu finden im Corns n' Pops in der Gumpendorfer Straße 37, geöffnet von Montag bis Freitag von 7.30 bis 17 Uhr und Samstags von 9 bis 16 Uhr. ♦

LEVEL: SEHR SCHWIERIG

Unser Zahlenrätsel

Doch wer gehört zu den wirklichen Sympathisanten des damaligen Verteidigungsministers? Sind die Botschaften „Mehr Guttenbergs in unserer Politik. Kein Mobbing!“ oder „Wir sind die Gutten. Junge Union Wuhletal“ ernst gemeint? Und warum unterstützt der Demoanmelder „Alexander Müller“ (seinen Namen will er nicht in der Zeitung stehen haben, da er gerade an seiner Doktorarbeit schreibt) Guttenberg, weil er ihn „nett und gutaussehend“ findet? Die Verwirrung ist perfekt und manch Guttenberg-Sympathisant stimmt mit ein: „Wir sind dein Volk, wir sind dein Volk!“. Das Manifest Organisiert wurde diese Unterwanderung von der Monarchohedonistischen Front der Hedonistischen Internationalen. Die Hedonisti-

sche Internationale ist keine Organisation, eher eine Idee, die sich nur ihrem Manifest, welches in 18 Sprachen verfügbar ist, verpflichtet fühlt. Darin geht es um Freude, Lust, Genuss, Toleranz, sexuelle Freizügigkeit, lächelnde Selbstreflexion und darum, dass Politik und Aktion Spaß machen können. Die Handelnden sind allein für ihr Tun verantwortlich, es gibt keine Hierarchie, denn die „Hedonisten und Hedonistinnen organisieren sich in verschiedensten Bündniskonstellationen um gezielt und ungezielt in Aktion zu treten“.

FOTO: FLICKR, FOTOGRAFIONA

Die vielen bunten Plakate tragen Sprüche wie „Lieber gutt frisiert, als schlecht kopiert“, „Jetzt oder nie – Monarchie!“, „Du hast die Haare schön“, „Guttenberg muss Kaiser werden“ und „Militärputsch jetzt!“. Schauplatz ist eine ProGuttenberg Kundgebung in Berlin. Lautstark wird Karl-Theodor zu Guttenberg unterstützt, nachdem im Februar 2011 Vorwürfe gegen ihn erhoben wurden, er habe bei seiner Doktorarbeit abgeschrieben.


über.reste

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Bitte einmal: Ich will einsteigen! Ein Besuch beim Wiener Sportklub Rezension

dion in Österreich hat”, schreibt Wikipedia. “Mein Herz fliegt in den Himmel über Wien”, sage ich. Wenn alle gemeinsam ihre Schlüsselbünde zum Rasseln bringen, Vereinzelte ihre hohe Erwartung an die Standardsituation nicht zurückhalten können und “Pick erm ane!” herausschreien; wenn man von der Welle mitgerissen zur Melodie von “Fröhliche Weihnacht” mitsingt “Auf dem Mars, auf dem Mond, überall der Sportklub wohnt”, dann ist er frei, der Mensch. Für zwei Stunden ist das Individuum Teil einer wohlwollenden Masse. Teil eines Kampfes, der Spiel und nicht Herausforderung des eigenen Alltags ist. Zufrieden kann man sich dem gemeinsamen Wunsch zu “gewinnen” hingeben und einmal nicht leben, sondern leben lassen. Einmal nicht entscheiden. Einmal einfach dabei sein. Aussteigen aus den eigenen Lebensentscheidungen. Einsteigen in den Habitus einer Gemeinschaft: Do you love the Sportklub? - Yes, I do. (Sportklub, we love you.) ♦

[cgal]

g

Für einmal raus aus dem Alltag, der Entscheidungen auf allen Ebenen fordert. Weg von den Fragen: “Wie geht's den Vorbereitungen für die nächste Prüfung?”, “Wie lange brauchst du noch für dein Studium?” Und “Was machst du später eigentlich damit?”. Raus aus der Welt der vielen Möglichkeiten, der neuen Perspektiven und alten Ängste. Weg von der To-Do-Liste, den Erinnerungs-Post-Its und dem Taschenkalender. Tausch Bücher, Stift und Internet gegen eine Eintrittskarte, Zigarette und Bier. Fahr am Schottentor vorbei - mit der Straßenbahn nach Hernals. Dort nähert sich dem/der AussteigerIn (schon an der Bim-Station) der Ruf einer euphorischen Masse. Da! Das weiße Stadionlicht über den Häusern. Und schließlich tut sich ein Rasen auf, hinter dem die Sonne an so einem Freitag im August rührend kitschig untergeht. 10 Minuten zu spät stehe ich nirgends mehr an. Die Karte für die “Friedhofstribüne” (das ist die, auf die

man muss) kostet für Studis angenehme 8 Euro und wird mir von einem angenehmen Mädchen in meinem Alter verkauft. Das große, alkoholische Bier ein paar Meter weiter (3,30 Euro) von zwei netten Herren, die mich ansehen und sagen: “Das erste Mal?” Ich nicke aufgeregt an den bevorstehenden Verlust meiner Jungfräulichkeit denkend, doch finde mich in die plötzliche Nacktheit warm eingepackt vom zweiten Satz des Alteingesessenen: “Na dann hoffe ich, wir sehen dich hier jetzt öfters!” Die Friedhofstribüne ist nicht groß, aber voller echter SympathisantInnen. Es stimmt, was der Volksmund über den ältesten bespielbaren Fußballplatz Österreichs (1904) mit dem Dornbacher Friedhof im Rücken zu sagen weiß: Hier wird Fußball geatmet. Und das in einer Kulisse, in der keine Fraktur-Parolen die Seiten zieren, sondern eine Wandmalerei, die nicht neu scheint, zwei gescheckte Spielerfiguren zeigt und sagt: “all different, all equal”. “Bemerkenswert an diesem Stadion ist die ungewöhnliche britische Atmosphäre des gesamten Platzes (Zuschauer sind nahe am Spielfeld, Stadionlage im Wohngebiet), die sonst kaum ein Sta-

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Eure über.morgen-Tierredaktion

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Ein ganz armes Hunderl ist der Daniel Domscheit-Berg. Erst hat er WikiLeaks verlassen, weil ihm einiges halt nicht gepasst hat und jetzt hat ihn der Chaos Computer Club verlassen, weil er ihnen halt nicht ganz gepasst hat. Nun sitzt der arme Daniel auf der Straße, veröffentlicht und löscht geheime Daten und keiner weiß genau warum er das so macht. Falls Sie mit so einem schwierigen Fall umgehen können, nehmen Sie sich bitte des armen Daniels an.

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DER WOCHE

Es i s t ein ruhiger, gemütlicher Sonntag. Alles könnte so schön sein, wäre man denn am Samstag noch einkaufen gegangen – so aber bleibt nur der Weg zum Billa am Praterstern. Aus der Ferne sieht man schon, wie sich ein Menschenpulk vor dem Eingang drängt, der schwitzende Security versucht, die kaugummikauenden Teenager, sudernden Proleten und schwankenden Junkies vom Eingang fernzuhalten, weil der Supermarkt sowieso schon aus allen Nähten platzt. Einmal drin, geht die Hölle erst richtig los – zurückgeworfen in längst vergangene Zeiten versucht jeder verzweifelt, sein Essen zu erjagen (ich könnte schwören, dass der Verkauf von Bananen sonntags besonders hoch ist), Omas fahren einen rücksichtslos mit ihrem Einkaufswagen über den Haufen, Mütter mit plärrenden Kindern im Schlepptau rammen einem den Kinderwagen in die Hacken und die Kassaschlange kostet die Hälfte des Tages. Zu überstehen ist das Ganze nur mit dem festen Vorsatz, am besten als Mantra vor sich hin gemurmelt: Nie wieder geh' ich sonntags einkaufen, nie wieder. Bis zum nächsten Wochenende. ♦

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Europa

Brüllt er, und herrlich von Wuchs durchwandelt er sprießende Kräuter. Blendend weiß ist die Farbe, wie Schnee, den weder ein Fußtritt Niedergestampft, noch gelöset der tauende Atem des Südwinds. Muskelig strotzt ihm der Hals; und dem Bug' enthangen die Wampen. Klein zwar ist das Gehörn, doch zierlicher, als von des Künstlers Händen geformt, durchsichtiger auch wie die klarste Juwele. Gar nicht drohet die Stirn, noch schreckt sein leuchtendes Auge; Friede beherrscht das Gesicht. Es staunt die Tochter Agenors, Daß er so herrlich erscheint, und nichts Feindseliges vornimmt. Siehe der Gott schleicht leise vom Land und trockenen Ufer, Erst den täuschenden Tritt in der vordersten Welle benetzend; Weiter sodann und weiter, und ganz in die Mitte der Meerflut, Trägt er den Raub. In der Ferne die Maske des Gottes fällt, die junge Europa geschändet am Boden darnieder, der Gott zurück im Äther; und es flattern, gewölbt vom Winde, die Fetzen.

nach Ovid


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