Stahlbauheute 1/2022
Editorial
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Stahl in seiner schönsten Form: gestern, heute, morgen
Angesichts des Krieges in der Ukraine und der Gräueltaten, die dort verübt werden, dürfte es sicherlich jedem schwerfallen, einfach zum sogenannten Tagesgeschäft überzugehen oder gar die Frage zu diskutieren, welche ökomischen Auswirkungen dieser Krieg auf die Länder Westeuropas hat oder eben haben wird. Empathie, eine Vokabel, die schon seit Längerem oft und gern in den Mund genommen wird, sollte keine leere Worthülse mehr bleiben, sondern gerade jetzt mit Bedeutung, ja mit Inhalt und Leben gefüllt werden: Es galt und gilt, Menschen in Not beizustehen und ihnen entschlossen zu helfen, und zwar unabhängig von egoistisch-nationalstaatlichen Erwägungen und Interessen. Trotz aller Bedenken und Befürchtungen, die einen in solchen Zeiten fast zwangsläufig beschäftigen, gab und gibt es aber bisweilen zumindest kleine Lichtblicke, auf den ersten Blick eher nebensächlich anmutende Entdeckungen in Kultur, Kunst und Literatur, die gleichwohl Trost zu spenden und mitunter auch Perspektiven aufzuzeigen vermögen. Und dazu gehören zwei Bauwerke, auf die ich eher zufällig gestoßen bin.
Fritz Novotny, Gründer des ehedem weltbekannten und weltweit tätigen Architekturbüros Novotny Mähner Assoziierte, hat mit seinem Studienfreund Arthur Mähner zahlreiche Gebäude entworfen und errichtet, die sich in Struktur und Erscheinungsbild als Weiterentwicklung der BauhausIdeen interpretieren lassen – wie zum Beispiel die Otto-Stückrath-Schule im Wiesbadener Stadtteil Biebrich. Als »Grund- und Sonderschule Parkfeld« 1969–1971 geplant und dann 1971–1972 im gleichnamigen, damals noch neuen Wohngebiet verwirklicht, basiert ihre Konstruktion auf einem englischen Fertigbausystem aus Stahl, dessen strenges Grundraster von 0,60 m Novotny und Mähner in puncto Gestaltung freilich überzeugend anzuwenden wussten, sodass ein pavillonartiges Ensemble von großer ästhetischer und funktionaler Qualität entstanden ist, das bis dato beeindruckt. Und auf das Schulhaus in Wiesbaden folgt als zweite »Entdeckung« die Europäische Spallationsquelle (ESS), eine multidisziplinäre Forschungseinrichtung in Lund, Schweden, deren auskragendes Dach im wahrsten Sinne des Wortes von hoher Ingenieurbaukunst getragen wird und damit ebenfalls »Stahl in seiner schönsten Form« veranschaulicht. Vom Buro Happold in Kooperation unter anderem mit Henning Larsen Architects, Cobe und Skanska konzipiert und realisiert, ist dieses bemerkenswerte, momentan in Fertigstellung befindliche Bauwerk ein nachgerade exemplarisches Indiz für die bereits heute erzielbaren Lösungen – und verweist dank seines Designs zugleich auf das Morgen und insofern auf die weiterhin zu erwartende Vielfalt an herausragenden Stahlbauten.
Erwähnung verdient darüber hinaus das 22. »Symposium Brückenbau in Leipzig«, das wir nach »Brücken in der Stadt« im November 2021 am 15. und 16. Februar 2022 wiederum als Präsenzveranstaltung durchgeführt haben – und das mit großem Erfolg, gemessen an der sehr hohen Teilnehmerzahl und dem Renommee der Referenten aus Deutschland, Österreich und der Schweiz. Dass nicht wenige der hier thematisierten und durchwegs elegant anmutenden Straßen- und Bahnbrücken über einen Überbau in Stahloder Stahlverbundbauweise verfügen, war und ist letztlich nur logisch: »Stahl in seiner schönsten Form« beschränkt sich per se nicht auf den Hochbau. Wir hoffen auf baldigen Frieden für die Ukraine und wünschen den Menschen aus und in der Ukraine eine Zukunft ohne Krieg, ohne Leiden und ohne Bedrohungen für Leib und Leben in ihrem Heimatland – ab sofort und das auf Dauer.
Elisabeth Wiederspahn