IVA PEKÁRKOVÁ NOCH SO EINER
ÜBERSETZT VON MARTINA LISA
IVA PEKÁRKOVÁ NOCH SO EINER
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BETON
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NOCH SO EINER
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FÜR IMMER EIN KLEINER JUNGE
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NACHWORT JAROMÍR KONEČNÝ
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MARTINA LISA
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IVA PEKÁRKOVÁ
Dieses Buch wurde gefördert mit Mitteln des tschechischen Kulturministeriums und des Deutsch-Tschechischen Zukunftsfonds.
1. Ausgabe © Iva Pekárková, 2018 Übersetzung © Martina Lisa, 2018 Aus Beton, Mladá fronta, Praha 2014 Nachwort © Jaromír Konečný, 2018 Fotografie © Mária Pinčíková (Übersetzerin), David Konečný (Autorin) © Větrné mlýny, 2018 © Wieser Verlag, 2018 Lektorat: Uwe Grelak Graphische Gestaltung und Satz: Kateřina Wewiorová Druck und Bindung: Tiskárna Havlíčkův Brod (www.thb.cz) Alle Rechte vorbehalten. Konzept und Dramaturgie der Buchreihe Tschechische Auslese: Radim Kopáč (Kulturministerium der Tschechischen Republik) ISBN 978-80-7443-291-0 (Větrné mlýny) ISBN 978-3-99029-335-5 (Wieser Verlag)
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… und der Raum nimmt ihn in den Arm. Die Feldlinien verbiegen sich, schmiegen sich an ihn, umrunden ihn wie auf der Formel für Mandragora, so stark und heilend spürt er die Umrisse seines Körpers, die Arme, den Kopf, den Rumpf, sein Körper wächst in den Raum hinein und auf einmal wiegt er nichts mehr, die Schwere des Lebens löst sich von ihm, schwebt über ihm, unter ihm, um ihn herum und die Kurve des Horizonts, dieser langweilige Halbkreis der flachen Erde, verwandelt sich in Gipfel und Täler, in Spitzen und Gruben, in eine Kurve des Kardiogramms namens Kosmos, das gerade jetzt aufzeichnet – tick, tick, tick –, wie sein Herz zum allerletzten Mal schneller zu schlagen beginnt. Endlich begreift er, dass auch er Flügel hat. ZEHN Über die glitschigen Betonplatten rutschte er immer ins Wasser und kraxelte dann wieder hoch, mit den Spitzen seiner Schuhe hakte er sich in die runden Löcher der grauen Sechsecke ein, die ineinander passten wie die Zellen einer Bienenwabe, nur dass sie nicht so durchsichtig waren und ab und zu stand eine ab. Jára erinnerte sich, dass sie noch vor einem halben Jahr gewackelt hatten, jetzt saßen
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sie aber fest, geschützt von einer Schicht grüngräulichen Schleims. Es war der Schleim der Algen, pfui-pfui-pfui, sagte Opa immer zu ihm, „Nicht mit den Händen da rein“, und reichte ihm einen Stock. Er wusste, dass kleine Jungs wie Jára immer im Bach herumstochern mussten, und weil es ein stinkiger Bach war und einen anderen gab es hier nicht, suchte Opa immer irgendeinen Stock, den er Jára geben konnte. Opa hatte immer ein Taschenmesser dabei und Jára durfte zuschauen, wie er sich einen kleinen Zweig am Busch oder Bäumchen aussuchte – manchmal auch einen, der bis zu den Nachbarn hinüberhing, und dabei grinste er dann immer verschwörerisch –, dann zog er aus der Tasche das Messer, ritzte langsam und geduldig die Rinde an einer Stelle an, brach dann das Holz ab und ein paar Minuten später gab er Jára schon einen glatt bearbeiteten Stock. „Hier“, sagte er, „wühl da nicht mit den Händen herum“. Und so wühlte Jára immer mit dem Stock herum, er hockte auf der schiefen Betonwabe, über den tiefen, dunkelgrauen Bach gebeugt, wo man nichts sehen konnte, nur manchmal konnte man nah am Ufer erkennen, wie das Mosaik der Wabe weiterging. Manchmal schlug er auf die Oberfläche mit Opas Stock ein, bis sie Blasen bildete – und dann wunderte er sich, dass der hellgraue, aufgeplusterte Klumpen langsam weggetragen wurde, und immer in dieselbe Richtung. „Nur so“, sagte Opa, „oder wenn du auf die Wasseroberfläche ein flaches Blatt legst, erkennst du, dass der Bach fl ießt!“ Als Opa noch jung war, hatte der Bach in Stromschnellen geblubbert, immer war da eine Wurzel oder ein Stein im Weg gewesen, die er umfließen musste, er hatte sich im Zickzack durch die Wiesen gewunden und unten, unter dem Wurzelwerk, hatten Krebse gelebt.
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Doch diese Krebse, die waren richtig fies! Man musste nur kurz mit der Hand unten am Ufer herumtasten – und zack, war der Finger in der Krebsschere: Aua, wie das wehgetan hatte! Jára saß in der Hocke auf der Betonwabe, den Stock hat er schon lange weggeworfen und sein Arm steckte bis zum Ellenbogen im dunklen undurchsichtigen Wasser ohne Krebse. Seine Ärmel sind nass geworden, die Schuhe auch und die Hose sogar bis über die Knie, doch unter der Wasseroberfläche hätte sonst was sein können! Immer wenn er mit der Hand etwas Geheimnisvolles ertastete, überkam ihn dieses süße, wunderbare Gefühl der Bange, dass er fast weinen musste. Und er zog es heraus. Zugebissen hat es nicht. Es war ja kein Krebs. „Eine Schlammschnecke“, sagte Opa. Die Schnecke war ein rundes Dreieck, und es mussten noch viele Jahre vergehen, bis Jára begriffen hatte, dass es eben das Geometrische war, was ihn an der Schnecke so faszinierte. Und auch der geometrische Kontrast mit der anderen Schnecke, die hier lebte – der Posthornschnecke, einem flachen, graubraunen Rädchen mit spiralförmigem Gehäuse. Er konnte sich erinnern, wie er da am Bach hockt, die eine Hand umklammert die Schlammschnecke, die andere die Posthornschnecke, und er spürt, wie die kalten Gehäuse in seiner Hand warm werden, er rutscht die glitschige Platte hinunter ins Wasser, ist verwirrt vom Gestank/Duft, von der Schönheit/Hässlichkeit und davon, wie sich mit hauchdünnem Schmatzen die Atemmembran der Schnecken öffnet und schließt und – zum ersten Mal im Leben – ist er bis zum Platzen gefüllt von etwas Verzweifeltem, Zerbrechlichem und Schmerzlichem, von diesem verwirrenden, bebenden Etwas, von dem er später,
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wenn er es schon lange nicht mehr spürt, begreifen wird, dass dies das Glück war. Opa starb, und erst bei der Beerdigung erfuhr Jára, dass er schon lange krank gewesen war, dass er angeblich schon seit Jahren dahin schwand. Jára hatte nie gemerkt, dass Opa irgendwohin schwinden würde, und als er versuchte, sich das vorzustellen, sah er Opa nicht schwinden, auf keinen Fall. Er sah ihn nur ganz langsam über die schiefe Fläche, die an eine Bienenwabe erinnerte, hinuntergleiten, er rutschte auf dem graugrünen Schleim weiter und weiter, tiefer und tiefer unter die Oberfläche des Bachs, lautlos, ausdruckslos. Das Wasser nahm seine Beine, den Rumpf, den Hals, bis man nur noch den Kopf sehen konnte und in der Hand, hochgestreckt bis zur Augenhöhe, hielt er noch das Taschenmesser fest und bearbeitete einen Stock zum Stochern, bis er dann völlig unter der Wasserfläche verschwunden und nicht mehr zu sehen war, egal, wie tief sich Jára vorbeugte. Doch er wusste, dass Opa dort irgendwo war, dass es nur eine Frage der Zeit war, bis er ihn aus der Tiefe des Wassers herausziehen würde, anstatt von Schlammschnecken und Posthornschnecken, und dass er ihn in seiner Hand wärmen würde. Er schlug auf das Wasser ein, bis es Blasen bildete, und dann schaute er zu, wie sich der grauweiße Klumpen drehte, erst auf die eine, dann auf die andere Seite, um dann langsam und ehrenvoll weggetragen zu werden. Er schniefte zweimal und hat so seinen Opa beweint. Schon zum vierten Mal stieß er sich am Betonrand des Schulsportplatzes. Von den Turnenden war er der Ungeschickteste und wurde deshalb ganz nach hinten gesteckt, damit er den anderen nicht im Weg stand und den Rhythmus störte. Man tranierte für die „Gemeinschaftsübung der Jun-
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gen“, mit diesem und jenem Utensil, so genau kann er sich nicht mehr erinnern, es war sieben Uhr morgens und die ganze Klasse führte die Pflichtübungen für die Spartakiade durch, zu der nur ein paar Auserwählte fahren würden. „Nicht so gequält gucken!“, fuhr ihn die Lehrerin an. „Spartakiade – das ist wahre Freude! Willst du etwa nicht mit nach Prag? Plachý! Nicht verstecken! Man sieht eh deine Ohren!“ Plachý Jaroslav, plachý – scheu schon im Nachnamen, rieb sich das Knie und zischte vor Schmerz, am liebsten wollte er sofort untergehen. Hier. An Ort und Stelle. Aber der Schulsportplatz war keine Wasseroberfläche, doch er stellte sich vor, wie sich die Erde öffnete und ihn in sich hineinzog, und beschütze vor der Lehrerin, vor der schrillen Tonbandmusik, die ihm Gänsehaut einjagte, vor seinen Mitschülern, die sich jetzt nach ihm umdrehten, kicherten und grinsten und ihre Fratzen in den Händen versteckten, die sie sich vorm Mund hielten. „Elefantenohren, Elefantenbeine“, skandierte Zdeněk nur eine Reihe vor ihm. Er skandierte leise und rhythmisch. Drehte sich um, damit die Generalin das nicht sah und spuckte ihn durch seine Zahnlücke an. Er traf Járas Bein. Die Spucke floss über das nackte, rosaweise Schienbein, und auch wenn es da keinerlei Ähnlichkeit gab, erinnerte sie ihn an den Schaumklumpen im Bach. An diesen Schaum, den er immer auf der Wasseroberfläche geschlagen hatte, mit dem Stock von Opa. Er beugte sich herunter, um die Spucke wegzuwischen, die Jungs grinsten hinter vorgehaltener Hand und – „Plachý!“, schrie die Lehrerin auf. „Was treibst du denn da? Suchst du dich nach Flöhen ab, oder was? Ein bisschen mehr Leben in das Trauerspiel!“ Sie nannten ihn Elefant, Fledermaus oder Dickhäuter – wegen der Ohren, aber auch, weil er so übersensibel
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war. Er konnte sich nicht raufen. Und es reichte, wenn man ihn einige Male mit dem Lineal in den Rücken piekste, ihm auf den Fuß trat, seine Schultasche wegnahm, die Sachen langsam, eine nach der anderen, herausholte und mit einem Ekelausdruck auf den Boden warf – und schon ist er weinerlich geworden. Richtig geweint hat er nicht, das nicht, aber mit einer schrecklichen Trauermiene, die seine Mitschüler zum Lachen zwang (einem sonderbaren, unguten Lachen, das sie selbst in Verlegenheit brachte), rieb er sich das Schulterblatt, betastete seine Fußfläche oder sammelte seine Sachen wieder ein. Rot wurde er nicht, eher bleich, seine Ohren verwandelten sich in wütende, rot leuchtende Planen, die locker als Banner taugen würden – aber im Unterschied zu den Bannern, logen seine Ohren nicht, an ihnen konnte man erkennen, in welcher Stimmung er war und was er dachte. Sein Opa (der andere Opa, der aus Smiřice) schüttelte nur den Kopf über seine Ohren und forschte in Familienalben nach Vorfahren, von denen er sie geerbt haben könnte. Seine Mutter strickte ihm große Mützen, solche Skimützen, die an den Seiten breiter waren, damit die Ohren darunter passten, und diese Mützen stülpte sie ihm noch mit zwölf Jahren über, bevor sie ihn aus der Tür schob, und so ist es etliche Male passiert, dass ihn einer der Mitschüler in dieser Spezialhaube erblickte, und die ganze Klasse hatte dann eine Woche lang ihren Spaß. Er war fast schon dreizehn, als ihm die Ohren operiert wurden – Vater hat ihm alles erklärt: Man würde ihm die Ohren an der Seite ein bisschen abschneiden, damit sie nicht mehr so groß wären, und Jára wachte schon Wochen vor der Operation regelmäßig mit der Vorstellung auf, wie sich ihm ein Chirurg nähert, in der Hand eine riesige Gartenschere …
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… aber dann, als er alles hinter sich hatte, war er überrascht, dass man ihm die Ohren gar nicht abgeschnitten hatte, sie wurden nur mit zwei Stichen (sagte der Arzt), mit Zweien (sagte die Krankenschwester) an den Kopf genäht. Das hat gereicht. Die Ohren standen nicht mehr ab, Jára sah nicht mehr wie ein Elefant aus – oder wie ein Tapir, er hatte schon immer gedacht, er wäre ein Tapir – und seinen Mitschülern machte es keinen Spaß mehr, ihn mit „Schaut euch mal den Elefanten an! Hat angenähte Ohren!“ aufzuziehen. Also zogen sie ihn mit anderen Dingen auf. Und Jára hat sich die Haare wachsen lassen, damit man die Ohren nicht mehr sehen konnte – eine kleine Rebellion, aber die Eltern haben sie erlaubt. Sie haben zwar hier und da etwas gesagt, aber zum Friseur musste er nicht. Einmal, das war schon in der Oberschule, haben sie im Unterricht so ein Spiel gespielt. Die Lehrerin hatte wohl irgendwo (im Pädagogischen Blatt wohl) gelesen, dass sich die Schüler dadurch öffnen würden. Sie waren doch ins Alter gekommen, wo man sich fragt, was einen wohl so erwarten würde. Wer bin ich? Was bin ich? Welchem Tier sehe ich am meisten ähnlich? Und was wäre ich denn gern für ein Tier? Und sie hat sie danach gefragt. Na, kommen Sie schon, seien Sie nicht so schüchtern, es ist doch nur ein Spiel. Das Spiel hat nicht wirklich funktioniert. Die Schüler haben nur verlegen gegrinst, rutschten unruhig auf den Bänken hin und her, kratzten sich an der Nase, am Hals, rieben sich die Hände und sagten dann nur: „Weiß nicht.“ Bis dann Richard, der, seitdem man denken konnte, ein Gesicht voller Pickel hatte und von dem man sich erzählte, er würde „es“ schon seit der Grundschule machen – (der, der dann im letzten Schuljahr, ein halbes Jahr vor dem Abi, der Direktorin sagen würde, dass ihm die Schule
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am Arsch vorbei gehe und die Partei könne ihn mal – um danach nie wieder gesehen zu werden, was ihm natürlich einen Heldenstatus brachte, der ihm auch dann blieb, als er später, wie man sich erzählte, zum Handlanger beim Bau geworden war) – dieser Richard also, bequem auf der Schulbank gestützt und mit der nach vorne gestreckten Wampe, die es zu der Zeit noch nicht gab, Richard in der typischen Richard-Pose, in der er dann sein ganzes Leben lang sitzen würde, nur statt einem Kuli ein Bier mit Korn in der Hand und einem von Jahr zu Jahr wachsenden Bauch, dieser Richard also brüllte dann: „Ein Hund!“ „Was haben Sie da gesagt, Karas? Was möchten Sie werden?“ „N’Hund will ich werden!“ „Sie wollen ein Hund werden? Und warum wollen Sie ein Hund werden, Karas? Und stehen Sie bitte auf, wenn Sie antworten. Damit Sie alle hören können.“ Richard rappelte sich polternd hoch. „Ein Hund, der fickt, pennt und frisst, mehr nicht. Und scheißt.“ Dann setzte er sich wieder. Da war natürlich gleich die Kacke am Dampfen, aber sein so lapidar zusammengefasstes Lebensprogramm hat die ganze Klasse schwer beeindruckt. Warum ist es denn sonst niemanden eingefallen, wie einfach kann es denn sein? Alle haben ihnen immer eingetrichtert, dass sie fleißig lernen und anständig arbeiten mussten, damit aus ihnen einmal etwas Ordentliches werden würde – und sieh mal einer an, es stimmte vielleicht gar nicht. Musste ja zumindest gar nicht stimmen. „Nur ficken, pennen, fressen – und scheißen!“ Es war einer dieser seltsam reinigenden Momente, die man wohl Erkenntnis nennt, ein Moment voller Hundescheiße und doch so kristallklar, denn es wurde ein
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Tabu gebrochen. „Was willst du denn mal werden?“ „Eine Lei-che!“, wieherte der Klassenclown. Natürlich erst in der Pause. Auf einmal wollte sich jeder mitteilen, was für ein Tier er denn gerne wäre. Jára hat keinem etwas verraten, er dachte sich nur, meine Güte, hab ich ja Glück gehabt! Markéta wäre gern eine Gazelle und sah aus wie eine Ziege, Fanda wollte ein Tiger werden und benahm sich wie ein Iltis. Jára hatte es einfach. Er war in seine Vorstellung davon, was er im Leben werden wollte, hineingewachsen, und sie saß ihm so gut, wie ein Paar ordentlich geschusterte Schuhe (wie sein Opa immer sagte, der mit den Stöcken). Jára wollte ein Tapir werden. Ein scheues Nachtwesen mit großen Ohren, denn das sanfte Gehör muss ja das Sehvermögen ersetzen, ein Tapir, der zwar vor der Gefahr flüchtet, doch man sollte sehen, wie er stampfen kann, wie ihn gar nichts aufhalten kann, wenn er seine Familie vor dem Feind verteidigen muss. Jára wusste nicht sehr viel über Tapire, er hatte nur mal etwas über sie in einem Naturkundebuch gelesen, als er noch ein kleiner Junge war, doch eins stand für ihn fest: Er hatte die Seele eines Tapirs! Und im Unterschied zu den Dummköpfen, die sich wünschten, ein Bär zu sein, und dabei hatten sie die Seele einer Maus und sahen wie eine Pute aus, war Jára tatsächlich einem Tapir ähnlich. Er war ein verkleideter Tapir, mit angenähten NEUN Ohren, je zwei Stiche. Auch Mařenka war ein Tapir. Es hat lange gedauert, bis er es wagte, ihr das zu sagen, er war sich nicht sicher, ob sie erkennen würde, dass es ein Kompliment war. Vielleicht hat sie sich auch geschämt für ihre nicht sonderlich großen, aber so wunderbar abstehenden Ohren, die im Gegenlicht im entzückenden Rosa glänzten, und vielleicht hatte man sie
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früher auch ausgelacht und ihr „Elefant-Elefant“ oder „Fledermaus-Fledermaus“ hinterher gerufen. Wie auch immer es gewesen sein mag, sie hatten es auf jeden Fall nicht richtig erkannt. Sie waren beide Tapire. Beide aßen, beide schliefen und beide waren scheu – aber wenn es darauf ankam, die eigene Familie zu verteidigen, konnte sich keiner mit ihnen messen. Und beide … beide lagen sie nun im Bett, in Mařenkas Bett, ein anderes wäre nicht in Frage gekommen – Mařenkas Eltern waren ja nicht da. Zwei Tapire, einer von ihnen inkognito, rieben ihre nackten, behaarten Körper aneinander – nur essen, schlafen und … und … … es war so wunderschön, heiß, zitt rig, schleimig blubbernd und es hatte diese schwarze Oberfläche, die undurchsichtige, wie auf dem schleimigen Bach, wo er tagtäglich über eine Brücke ging und in dem er schon seit Jahren nicht mehr mit dem Stock gestochert hatte. Jára sank langsam, aber unaufhaltsam in diese schwarze Wasserfläche ein, immer tiefer und tiefer, die Welt wurde dichter, bis sie ganz ölig geworden war, wie ein weiches schwarzes Glas, und er hielt in beiden Händen die Schnecken – die Schlammschnecke in der einen und die Posthorschnecke in der anderen, in den Handflächen wärmte er ihr Gehäuse und schaute zu, wie sich ihre Atemmembranen öffneten und schlossen, wie sich oben manchmal eine winzige Blase bildete und dann wundervoll schmerzlich platzte – und dann wusste er gar nichts mehr von der Welt, er wollte nur tiefer eintauchen, unter der Oberfläche verschwinden, wollte sich schütteln wie ein Neufundländer (schon wieder ein Hund!), wollte mit seinen Händen die stöhnende Glut festhalten …
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… und nein, nein, er wollte nichts mehr, er war zum ersten Mal (zum ersten Mal?) in seinem Leben richtig – „Hör auf! Hör auf!“, schrie die Tapirin. „Du darfst mir doch kein Kind machen! Das hast du versprochen.“ Es war wie ein Faustschlag zwischen die Augen und ein zweiter auf den Solarplexus. Irgendwas spritzte aus ihm in einem Bogen heraus, die schwarze Oberfläche schloss sich über ihm und er war trotz all des Schmerzes absolut … Das erste Mal. Sie waren schon seit über einem Jahr zusammen und Jára studierte schon eine Weile an der Uni, als man ihn kahlgeschoren hat. Also nicht ganz kahl, so nannte man es nicht, er trug nur den vorschriftsmäßigen Haarschnitt, den er von da an weitere vier Jahre tragen würde. Er kam in den militärischen Vorbereitungsdienst. Jára hatte sich eine Uni in seiner Heimatstadt ausgesucht, nur zwanzig Minuten von Zuhause entfernt. Seine Freunde rannten alle weg von den Eltern, zogen nach Brünn, nach Prag oder nach Olmütz, wollten im Wohnheim wohnen und „ein bisschen von der Welt kosten.“ Doch die beiden Tapire wussten, dass sie das Leben im Studentenwohnheim nicht brauchten, auf jeden Fall nicht das wilde. Die Tapire reisten gern, aber nicht so, dass sie Lust hätten, in einer anderen Stadt zu leben, paar Hundert Kilometer weiter, in einer Stadt, wo fast alles gleich war – und wenn es da etwas anderes gab, dann war es eine merkwürdige Andersartigkeit, eine unangenehme. So eine, dass man zwar lange nicht wusste, wo der Konsum war und welcher Bus einen dorthin brachte, wo man hin wollte, doch man konnte sich darauf verlassen, dass einen die Menschen genauso komisch beäugten wie daheim, sie würden nur ein bisschen anders reden, einen anderen Dialekt, würden sich nur ein kleines bisschen
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