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Zwischen „Ent-Fremdung“ und „Er-Holung“

Ein Reisegespräch zwischen Tobias Richter und Leonhard Weiss

Tobias Richter: Ich habe mir für unser Gespräch über das Thema „Reise“ ein paar Überlegungen notiert; auf dem Kongressblock, den alle TeilnehmerInnen beim letzten INASTE-Kongress im Mai bekommen haben. Der Kongress hatte den Titel „Realizing Humanity“. Und die Themen „Reise“ und „Realizing Humanity“ gehören für mich zusammen: Indem man unterwegs ist, kann man vielleicht seine Menschlichkeit neu an der Menschlichkeit der anderen entdecken. Was Diogenes anscheinend immer wieder gemacht hat, dass er auf der Agora von Korinth oder Athen am helllichten Tag mit einer Lampe herumging, um Menschen zu suchen, ist für mich auch so ein Reisemotiv. Kann man das so sehen?

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Leonhard Weiss: Ja, auf jeden Fall. Oft denken wir bei Reisen ja an Welt-, an Naturerfahrungen, aber letztlich sind es meist Menschenbegegnungen, die eine Reise prägen. Wobei es doch interessant ist: Man trifft andere Menschen – und erfährt dabei doch vor allem sehr viel über sich selbst.

TR: Der aus Bulgarien stammende Autor Ilija Trojanow, der auf vier Kontinenten gelebt und fast hundert Länder bereist hat, schreibt in seiner „Gebrauchsanweisung fürs Reisen“, Reisen sei fatal für Vorurteile, Bigotterie und Engstirnigkeit. Wenn man die immer mit sich trägt, können ja keine Begegnungen stattfinden, man ist nur in sich selbst gefangen und verhaftet. Vielleicht ist das die große Hoffnung, die mit Reisen verbunden ist: dass man das alles loslassen und überwinden kann.

LW: Wenn man auf Reisen geht, hat man ja meist Vorstellung davon, wo man hinfährt. Es ist diese Vorstellung, die einen in Bewegung bringt. Zu den großartigsten Reisenden der Literaturgeschichte gehört für mich ja Baudolino, der Held des gleichnamigen Romans von Umberto Eco. Baudolino ist einer, der permanent lügt, der andauernd Geschichten erfindet, Phantasien entwickelt – und mit diesen Geschichten oft die Welt verändert und „Geschichte macht“. Das ist ja der Witz, den Eco immer wieder einbaut, dass Ereignisse, die wir aus Geschichtsbüchern kennen, eigentlich nur deswegen so stattgefunden haben, weil Baudolino mal wieder eine Lügengeschichte erfunden hat. Ein zentrales Thema dabei ist die Suche nach dem im Mittelalter legendären Priesterkönig Johannes. Baudolino, so erzählt Eco, trägt ganz viel zum Ruhm dieses mythischen Königs bei, von dem man im Mittelalter meinte, er beherrsche ein christliches Reich im Osten Asiens. Und schlussendlich verschwindet Baudolino aus der Erzählung, weil er jetzt endgültig dort hinreisen will, um dem Priesterkönig zu begegnen. Man könnte sagen, er baut seine eigene Phantasielandschaft, die er dann bereist, die aber schlussendlich immer wieder ganz anders aussieht, als er sie in seiner Phantasie entwickelt hat. Mir scheint, das ist ein schönes Bild des Reisens: Wir brauchen eine Vorstellung, wir brauchen Phantasie dafür, was uns in der „Fremde“ erwarten kann. Doch dann kommt’s drauf an, nicht bei der Vorstellung, bei dem Vorurteil, wie Trojanow vielleicht sagen würde, zu bleiben, sondern offen zu sein für das, was uns an „Fremdem“ begegnet. Wenn wir nur das sehen, was wir erwartet haben – dann ist die Reise ja uninteressant.

TR: Ja, die Fremde, das Fremde … Damit ist immer auch eine gewisse Ängstlichkeit verbunden. Kann ich die überwinden, und bin ich bereit für ganz neue, ganz anders geartete Erfahrungen? Das ist natürlich eine Mutfrage, und Trojanow sieht das so: „Vielleicht ist das größte Reisehindernis unsere Ängstlichkeit. … Wir können uns ein Beispiel nehmen an dem Briten James Holman in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts, der als Blinder allein eine fünfjährige Weltreise unternahm. Holman empfand das Ungewisse als Lebenselixier, so, als beherzige er das Diktum der taubblinden Schriftstellerin Helen Keller, die etwa hundert Jahre später schrieb: ‚Das Leben ist entweder ein waghalsiges Abenteuer oder vollkommen belanglos.‘“ Was für ein Mut von diesem Holman! Welche Sicherheiten hat er denn?

Vielleicht die, dass er überall Menschen finden wird, die ihm weiterhelfen, die zu Weggefährten werden. Eine unglaubliche Hoffnungssicherheit. Diese Bereitschaft, sich überraschen zu lassen, ist wohl etwas, das mit Reisen verbunden ist.

LW: „Weggefährten“, „Hoffnungssicherheit“, „Bereitschaft, sich überraschen zu lassen“. Wenn ich Dir zuhöre, könnte ich meinen, du sprichst über gelingenden Unterricht, über eine ideale Schule…

TR: Ganz genau! Wie viele Schuljahresansprachen bedienen sich der Reisemetapher – immer und immer wieder wird dieses Reise-Bild bemüht: „Liebe Schülerinnen und Schüler, wir begeben uns auf eine lange Reise…“

LW: Das mit dem Bild ist interessant. Im Vorfeld unseres Gesprächs habe ich mir auch die Frage gestellt, warum eine Schulzeitschrift wohl das Thema „Reisen“ wählt. Mir scheint, zum einen kann Reisen natürlich buchstäblich für eine Schule von Bedeutung sein. Gerade in Gesprächen mit ehemaligen WaldorfschülerInnen merkt man das ja oft. Auch bei mir selber ist es so: Eine der stärksten Erfahrungen meiner Schulzeit war das Sozialpraktikum. Ich bin mit einer Klasse der Karl Schubert-Schule auf Landschulwoche gefahren. Eine doppelte Herausforderung: in einer komplett neuen Situation an einem fremden Ort. Eine starke Erfahrung. Und ich habe noch heute die Erinnerung an einen Burschen, der, als er gemerkt hat, dass er bei einem Spaziergang durch die Weinberge zeitweise mit mir allein unterwegs war, sich einfach auf den Boden geworfen hat und nicht mehr weitergegangen ist, auch – so vermute ich –um auszuprobieren, was ich denn nun machen würde. Schon eine ordentlich herausfordernde Situation. Kurzzeitig habe ich mir nur gedacht: Oh, mein Gott. Wo bin ich, was mach’ ich? Ich hatte das Gefühl: Ich bin wirklich „ver-reist“; im Sinne von falsch gereist, wie in „ver-laufen“ … Aber irgendwie haben wir die Situation hinbekommen. Wie, weiß ich gar nicht mehr. Letztlich war es eine herausfordernde, aber wunderbare Woche.

Du hast vorher von der „Mutfrage“ des Reisens gesprochen. Reisen im Schulzusammenhang sind, so scheint mir, doppelte „Mutfragen“: Sie brauchen Mut auf Seiten der verant- wortlichen Erwachsenen – und sie können den Heranwachsenden die Chance bieten, Mut zu zeigen.

Zum anderen kann das Reisethema im Schulkontext aber natürlich auch metaphorisch verstanden werden: Ist nicht jedes Lernen, jeder „Bildungsprozess“ eine „Reise“?

TR: Ja, man könnte auch sagen, dass jede Epoche auch ein neuer Kontinent ist, den es zu bereisen gilt, wo ich neue Entdeckungen und neue Erfahrungen mache.

LW: Wobei man sich, wenn wir metaphorisch bleiben, auch die Frage stellen kann: Handelt es sich bei einem Unterricht eher um eine Reise per Flugzeug, mit toller Aussicht über große Gebiete, oder um eine Weitwanderung, bei der ich mir ein Stück Welt buchstäblich ergehe? Oder auch: Ist es eher eine Pauschalreise oder eine Individualreise?

TR: Wobei ich immer meine ganz individuellen Entdeckungen machen kann – auch wenn andere sie vorher schon gemacht haben. Diese neue Teilhabe macht die Individualreise zu einer Sozialreise.

LW: Zu fragen wäre auch, wer denn die Geschwindigkeit der „Reisegruppe“ bestimmt. Wieweit ist man da getaktet? Oft muss ich, wenn ich auf einer Reise bin, pünktlich an ein Ziel kommen, etwa weil mein Quartier reserviert ist. Gilt das auch für die „Reise“ einer Epoche? Und wie weit können hier die „Mitreisenden“ das Reisetempo bestimmen? Wie hat der „Reiseleiter“ die Reise vorgeplant? Kennt er sich in dem zu bereisenden Gebiet so gut aus, dass er auch kurzfristig entscheiden kann, mit der Gruppe vielleicht einen anderen Weg zu gehen, als geplant?

TR: Du hast jetzt den Reiseleiter genannt. Und zu dem Reiseleiter kommen noch die Weggefährten dazu. Ganz wichtig! Vor zwei Jahren bekam ich den folgenden Aphoris- mus von einem Schulfreund aus Kindertagen: Was ist wichtiger – der Weg oder das Ziel? Weder noch – es sind die Weggefährten. Und Weggefährten wechseln, es mögen Menschen, Tiere oder Dinge sein. Auch ein Wort, ein Satz kann mich begleiten und mir Weggefährte werden. 12 Jahre mit den gleichen WeggefährtInnen zusammen. Chance oder Belastung? Manchmal beglückende Momente, wo etwas umschlägt – wo Vorurteile oder auch zementierte Urteile plötzlich ins Wanken geraten und man etwas ganz neu sieht.

Christoph Ransmayr beschreibt in seinem wunderbaren Reisebuch „Atlas eines ängstlichen Mannes“ 70 Reiseerfahrungen und beginnt jede Schilderung mit den Worten „Ich sah…“ Er schaut in die Welt und sieht etwas. Das, was ihn vorher nicht sehen ließ, hat er überwunden und führt ihn zu unglaublichen Entdeckungen, auch Entdeckungen seiner selbst. Alte Seh- oder Hörgewohnheiten dürfen einen nicht behindern. Trojanow notiert gegen Ende seines Buches: „Nichts motiviert einen so sehr, die Augen offen zu halten, wie ein Reisetagebuch.“ Sind Epochenhefte nicht auch Reisetagebücher oder können sie solche werden?

LW: Ein schöner Gedanke! Nicht Abschriften von fertigen Reiseführern, sondern individuelle Reisetagebücher…

TR: Und wie ist das eigentlich mit dem Morgenspruch: Ich schaue in die Welt… Ein täglicher Beginn einer neuen Reise in die Welt?

LW: Eine entscheidende Frage: Wie kommt eigentlich die Welt ins Klassenzimmer? So, dass das Klassenzimmer nicht ein abgeschlossener Mikrokosmos ist, sondern ein Ort, an dem den jungen Menschen, wie es der große Didaktiker Martin Wagenschein mal formuliert hat, „Beispiele mit hoher Wirklichkeitsdichte“ begegnen.

TR: Ja, „Wie kommt die Welt ins Klassenzimmer?“ ist die eine Bewegung. Die andere: Wie wird das Klassenzimmer zur Welt? Kann ich da die Türen und Fenster öffnen, sodass sich Welt ereignet?

LW: Wieder ein Mutfrage… Wie jede Reise.

TR: Aber von Reisen erhoffen wir ja auch Erholung – und was ist eigentlich das Erholsame am Reisen, warum verreist man? Man kann das zurücklassen, was einen belastet, einschränkt, wo man sonst immer von Sicherheiten umgeben ist, kurz, wo die Menschlichkeit zu kurz gekommen ist.

LW: Von Ödon von Horvath gibt es doch diese schöne Formulierung: „Ich bin eigentlich ganz anders, aber ich komme nur so selten dazu.“ Man könnte auch sagen, eine „erholsame“ Reise erlaubt uns, so zu sein, wie wir hoffen, „eigentlich“ zu sein. Du hast am Anfang den Titel des INASTE-Kongresses („Realizing Humanity“) erwähnt. Man könnte auch sagen: Beim Reisen hoffen wir, das aus unserem Menschsein zu realisieren, woran wir ansonsten gehindert werden. Es geht also, mit Marx gesprochen, beim Reisen auch darum, nicht „entfremdet“ zu sein. Man fährt in die „Fremde“, um dort hinzukommen, wo man nicht entfremdet ist oder wird.

TR: Das urdeutsche Wort „Erholung“ macht das auch deutlich: Man holt etwas heran, was man verloren hat.

LW: Das könnte auch wieder ein schönes Bild für die Schule sein: der Ort, wo das realisiert werden kann, was der eigene Impuls ist!

TR: Das war jetzt ein echtes Schlusswort – nicht im Sinn von Ab-, sondern Aufschluss. Lass uns damit unsere GesprächsReise beenden. ¶

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