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Anästhesie Journal 32 (4) 2020 Umgang mit Literatur
Wann ist ein Patient «verlegungsreif»?
Ergebnisse einer Pretest-Posttest-Studie im Aufwachraum nach HNO-Eingriffen
Benjamin Albiez
Es gibt keinen evidenzbasierten «Goldstandard», um den besten Zeitpunkt einer Verlegung von Patient/innen aus dem Aufwachraum auf die Abteilung zu ermitteln. Kann ein Assessment dazu beitragen, eine sichere Verlegbarkeit zu gewährleisten und die Aufenthaltszeit im Aufwachraum zu verkürzen? Diese Frage steht im Zentrum einer aktuellen Studie. Herr N. kam um 8.35 Uhr aus dem OP in den Aufwachraum. Inzwischen sind etwa zwei Stunden vergangen. Der Status des Patienten ist stabil. Es gab keinerlei Komplikationen. Somit spricht nichts dagegen, Herrn W. auf die Abteilung zu verlegen. Doch alle Fachpersonen, die im Aufwachraum arbeiten, kennen das Problem: Häufig gilt die zeitbasierte Verlegung als «ungeschriebene Regel». Sie lautet: Patient/innen sind «verlegungsreif», wenn eine definierte Zeitdauer unter Überwachung vergangen ist. Die Verlegungsreife basiert somit nicht auf dem individuellen Zustand der Patientin/des Patienten, sondern auf einem festgesetzten Zeitwert. Die Folgen eines solchen Vorgehens sind bekannt: Überfüllte Aufwachräume zu Spitzenzeiten, begrenzte Aufnahmekapazitäten, Wartezeiten und stockende Prozesse. Es gibt zwar evidenzbasierte Assessmentinstrumente, um die Verlegungsreife zu bestimmen. In der klinischen Praxis besteht jedoch kein «Goldstandard». Revell et al. (1) haben diese Problematik in ihrer Klinik erkannt. Im Rahmen eines Projekts zur Qualitätsentwicklung implementierten sie ein evidenzbasiertes Assessment, um die Verlegungsreife der Patient/ innen im Aufwachraum einzuschätzen und somit objektiv, einheitlich und patientenbasiert zu regeln. In einer PretestPosttest-Studie gingen die Autor/innen der Frage nach, ob dieses Assessment in der Praxis anwendbar ist.
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Im Zentrum des vorliegenden Beitrags steht die Analyse der Studie von Revell et al. (1) anhand der Critical Appraisal Checklist (2). Ausgangslage Die Literaturrecherche von Revell et al. (1) zeigt, dass es auf der Basis eines Assessments physiologischer Parameter möglich ist, Patient/innen früher aus dem Aufwachraum zu verlegen, ohne ihre Sicherheit zu gefährden. Der Modified Aldrete Score (MAS) und die Richmond Agitation Sedation Scale (RASS) sind evidenzbasierte Assessmentinstrumente, um den Erholungszustand der Patient/ innen nach einer Anästhesie einzuschätzen. In vielen Spitälern kommt eines dieser beiden Instrumente zum Einsatz. Um eine möglichst umfassende Beurteilung zu erhalten, wenden Fachpersonen den MAS oft gemeinsam mit anderen Assessmentinstrumenten an, beispielsweise mit der RASS. Erfolgt die Verlegung der Patient/innen auf der Basis des MAS und der RASS, lässt sich die Liegedauer im Aufwachraum verkürzen, ohne dass es häufiger zu unerwünschten Zwischenfällen oder negativen Auswirkungen auf die Patientenergebnisse kommt. Die präoperativen Holding-Zeiten im Aufwachraum lassen sich ebenfalls reduzieren (3, 4, zitiert in 1). Somit haben vordefinierte Verlegungskriterien tatsächlich einen positiven Einfluss auf den Verlegungsprozess.
Methode Revell et al. (1) untersuchten ein «convencience sample» (Gelegenheitsstichprobe) von 169 erwachsene Patient/innen nach HNO-Eingriffen. Sie teilten die Stichprobe in drei Kategorien ein: «endotracheal», «extratracheal» und «andere». Dadurch wollten sie gewährleisten, dass jeweils gleich viele Eingriffe jeder Kategorie in die Studie einbezogen waren. Die Autor/ innen untersuchten 85 Patient/innen vor und 84 Patient/innen nach der Einführung des Assessments. Dabei erhoben sie die Verlegungszeiten vor und nach der Implementierung. Als «Verlegungszeit» definierten sie jenen Zeitpunkt, an dem eine Patientin/ein Patient die Verlegungskriterien erfüllte. Revell et al. (1) schlossen Patient/innen mit bekannten signifikanten postoperativen und intraoperativen Komplikationen aus, ebenso solche, die intubiert blieben oder intensivpflichtig wurden. Vor Einführung des Assessments erfolgte die Verlegung der Patient/innen auf die Folgeabteilung frühestens nach 90 Minuten, falls eine Verlegungsberechtigung vorlag.