PHILIPPE D. LEDERMANN: DIE LAWINE KOMMT

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Die Lawine kommt! und andere Geschichten aus dem Leben von Philippe Daniel Ledermann

© 2022 Weber Verlag AG, 3645 Thun/Gwatt

ISBN www.weberverlag.ch978-3-03818-404-1

neutral Drucksache

Weber Verlag AG Gestaltung Cover: Sonja Berger Satz: Andrea Dätwyler

Impressum Alle Angaben in diesem Buch wurden vom Autor nach bestem Wissen und Gewissen erstellt und von ihm und dem Verlag mit Sorgfalt geprüft. Inhaltliche Fehler sind dennoch nicht auszuschliessen. Daher erfolgen alle Angaben ohne Gewähr. Weder Autor noch Verlag übernehmen Verantwortung für etwaige AlleUnstimmigkeiten.Rechtevorbehalten, einschliesslich derjenigen des auszugsweisen Ab drucks und der elektronischen Wiedergabe.

Texte: Philippe Daniel Ledermann Lektorat und Korrektorat: Rolf Grossenbacher

Bildbearbeitung: Adrian Aellig Korrektorat: Heinz Zürcher

Fotos : Alle Fotos stammen, wenn nicht anders vermerkt, aus dem Privatarchiv von Philippe Daniel und Marina Ledermann.

Der Weber Verlag wird vom Bundesamt für Kultur mit einem Strukturbeitrag für die Jahre 2021–2024 unterstützt.

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Noch nicht tot …? (1980) 182

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Der arglistige Autohändler (1996) 204

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Student mit Doktortitel (1987–1994) 189

Das Wunder in der Kapelle (1959).................................................... 131

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Der Internierte (1954) 87

Nachlese 246

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Inhalt5

Der Gelähmte im VW-Käfer (1953) 69

Der schwarze Don Juan (1953) 76

Das Schwesterchen aus dem Nichts (1950) 15

Der altersschwache Osterhase (1951) 43

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Mondscheinfahrt mit Beichte (1958) 118

Das Urknallerlebnis des Klosterschülers (1964) 150

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Tante Louises erster Neger (1966) 171

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Onkel Franz’ wiederentdeckte Freiheit (1953) 61

Ein echter Medizinmann (1950) 32

Zerstörte Karrieren (1960–2018) 138

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Rote Karte für die Falsche (2020) 216

Gefahr im Verzug (2020–2022) 223

Die Lawine kommt! (1949) 6

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Das Forellentrio (1956) 108

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Der liebe Gott und das Kälbchen (1952) 52

Von Mäusen und Milchfett (1955) 95

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An einem dieser Tage musste mein Vater, der Kaminfegermeister des Amtsbezirks Oberhasli, gusseiserne Koch herdplatten nach Guttannen liefern und ich fünfjähriger Knirps durfte ihn begleiten. Seine Platten ersetzten die alten Gusseisenringe in den Holzkochherden und erleichterten das Kochen und Reinigen der Pfannen um ein Vielfaches. Die neuartigen Platten machte der Vater den Bäuerinnen und Hausfrauen jeweils während seiner Russarbeiten schmack haft und bot sie erst noch viel günstiger an als der Eisenwarenhändler in Meiringen. Überdies lieferte er ihnen die Ware ins Haus und installierte die Platten.

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s war ein extrem schneereicher Dezember. Tagelang schneite es ununterbrochen bis kurz vor Weihnachten.

Die Lawine kommt! (1949)

E

Da löste wie auf Knopfdruck ein Wärmeeinbruch mit starken Regenfällen den pausenlosen Schneefall ab. Es regnete und regnete und regnete. Schon nach kurzer Zeit kam es zu Über schwemmungen im Unterland und zu einer massiv höheren Lawinengefahr in den Bergen.

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Mein Vater, der Kaminfegermeister des Amtsbezirks Oberhasli, in jungen Jahren

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Bisher benötigte man für jede Pfannengrösse einen entsprechenden Ring, um sie überhaupt verwenden zu können. Dazu kam bei dem antiquierten Prinzip, dass Boden und Bauch der in den Ring gesteckten Pfannen tief hinunter in den Feuer raum des Kochherds reichten, wo sie der Glut oder direkt den Flammen ausgesetzt waren. Dadurch wurden die Gefässe zwar rundum heiss wie die Wok-Pfannen der Asiaten, aber sie brannten mit der Zeit aus, bekamen Löcher und wurden unbrauchbar. Durch den unmittelbaren Kontakt mit dem Feuer wurden sie zudem kohlrabenschwarz und waren kaum mehr sauber zu kriegen, weder aussen noch innen. Beim neuen Prinzip lagen die Pfannen auf der Platte, blieben sauber und hat ten eine längere Lebensdauer. Ich sehe meinen Vater noch heute lebhaft vor mir, wie er seine «Weiber» – so nannte er liebe voll seine Kundinnen – für die neumodischen Platten begeisterte. Damit hatte er einen solchen Erfolg, dass er mit dem Plattenverkauf zeitweise mehr verdiente als mit dem Russen. Pro verkaufte sogenannte Vollplatte bekam er vom Hersteller zehn Franken. Aus Sicht der damaligen Kaufkraft hätte er mit dem Erlös aus 480 Herdplatten einen neuen VW-Käfer kaufen können. Und ich hätte für zehn Franken – damals ein Vermögen für ein Kind – fünfzig Mohrenköpfe bekommen, also Schokoküsse, wie man sie heute politisch korrekt nennen müsste; sie waren meine absoluten Favoriten unter den Süss waren. Zum siebten Geburtstag wünschte ich mir sieben davon und bekam sie auch. Ich verschlang sie alle am selben Tag. Für einen zukünftigen Zahnarzt nicht gerade vorbildlich, nichtMeinwahr?Ätti, wie ich meinen Vater nannte, hatte am Handel der Kochherdplatten richtig Freude bekommen und auch gutes Geld verdient. Er hatte für Geldgeschäfte kein schlechtes

Doch zurück zur Lieferung von Herdplatten nach Guttannen oder zur Frage, wer da eigentlich Schicksal spielt: Auf der Fahrt zu diesem Ort gut vierzehn Kilometer oberhalb von Meiringen muss man kurz vor dem Dorfeingang den Spreit graben passieren, eine gewaltige und tiefe Furche, die vom Ritzlihorn mit enormem Gefälle bis zur Grimselstrasse und unter ihr durch hinab bis zum Fluss mit Namen Aare führte. Im Winter stellte der Schnittpunkt zwischen dem Graben und der Strasse – das sogenannte Lauikreuz1 – einen der gefährlichsten Strassenabschnitte im ganzen Berner Oberland dar. Dort verschüttete die «Spreitlaui» genannte Lawine immer wieder die Grimselstrasse, besonders in schneereichen Zei ten. Ausgerechnet dort, nur etwa hundert Meter vor diesem

1 Lauikreuz = Lawinenkreuz; die Guttanner/innen nennen diese Stelle «Teifischlöcht» (tiefe Schlucht)

9 Händchen. Schon lange vor dem Plattenhandel hatte er da und dort mit dem Verkauf einer Kuh, eines Kalbes oder eines Ferkels, Erfolg gehabt. Doch nach dem traumatischen Ereignis mit der «Spreitlaui» veränderte sich seine Philoso phie, und er liess den Handel mit den Herdplatten sein. Möglicherweise, weil in ihm ein tiefer Schicksalsglaube schlum merte. Er war der Überzeugung, dass der Lebensweg von Menschen und Tieren, überhaupt der ganze Weltenlauf und damit auch alle Ereignisse im Leben eines Menschen vorherbestimmt sind. Er glaubte nicht daran, dass man sein Schick sal selbst beeinflussen kann, und hielt nichts von Zufällen oder vom freien Willen. Allerdings war er auch kein sonntäg licher Kirchgänger. Er setzte seinen Fuss nur bei Beerdigungen, Taufen, Hochzeiten oder Konfirmationen in eine Kirche. «Tue recht und scheue niemanden, so brauchst du auch nicht andauernd in die Kirche zu rennen», war seine Devise.

«Furztrocken der Tank. Diesem Bürschchen werde ich heute Abend noch zeigen, wo der Hammer hängt …!»

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neuralgischen Kreuzpunkt, stottert unser VW-Käfer plötzlich und bleibt abrupt stehen wie ein störrischer Esel. Ich sehe den Ätti fragend an, der sogleich beginnt, dem guten Wägelchen sanft zuzureden, etwa so, wie er mit seinen Tieren im Stall sprach. Doch es hilft kein Bitten und Betteln und auch kein Fluchen. Die Karre bockt. Ungutes ahnend steigt der Vater aus, öffnet die Motorhaube, schraubt den Tankdeckel los und guckt durch den Einfüllstutzen in den Benzintank. Gähnen de Leere! Er kann nicht glauben, dass kein einziger Tropfen mehr drin ist, wo doch Arnold, der Meistergeselle, erst am Vortag vollgetankt hat. Mit leichtem Bewegen des Autos versucht er, dem Tank ein glucksendes Geräusch zu entlocken. Doch da tut sich nichts. Unterdessen stehe ich neben ihm und höre gerade noch, wie er murmelt:

Für mich unendlich lange sausen und brausen dichte Staubwolken um uns herum. Es nimmt mir fast den Schnauf. Doch von einem Moment auf den andern, so schnell, wie das

Da wird ein furchterregendes Donnern hörbar. Ein gewaltiger Windstoss pfeift uns um die Ohren und erreicht fast augenblicklich Orkanstärke. Ich spüre, dass mich der Wind gleich wegfegen wird. Ich habe keine Ahnung, was da überhaupt geschieht. Umso besser weiss es dagegen Ätti. Er nimmt meine Hand und rennt mit mir so schnell er kann vom Auto weg hinter einen mannshohen Felsen, lässt sich auf mich fallen, umklammert meinen Körper mit seinen starken Armen und drückt sich und mich in die rettende Felsnische hinein. Völlig ausser Atem und mit vor Schreck verzerrtem Gesicht brüllt er mir ins Ohr: «Die Spreitlaui kommt!!!»

Es dunkelt schon. Im ersten Moment kommt es mir vor, als wäre mein Vater eingeschlafen, denn er hat die Augen geschlossen und atmet ganz tief. Er scheint Zwiesprache mit der Lawine zu halten oder in einem Dialog zwischen der übermächtigen Berggewalt und ihm winzigen Menschlein zu sein. Vielleicht spricht er auch ein Dankgebet. Nach weiteren langen Minuten sagt er gequält lächelnd zu mir:

«Anscheinend hat unser treues Auto wie ein Hund die nahende Gefahr gewittert und ist deshalb nicht mehr weiter gefahren, sonst lägen wir jetzt von der Spreitlaui begraben irgendwo da vorne …», er zeigt mit der Hand, an der ich Blut entdecke, in die Richtung des Lawinenkegels, «… und wären beide tot.»

«Wir haben unsagbares Glück gehabt!»

11 gigantische Getöse begonnen hat, ist es auch schon wieder vorbei. Nun herrscht eine unheimliche, gespenstische Stille. Mit einer dicken Schneeschicht bedeckt kauern wir noch eine Weile steif gefroren in der Nische. Schliesslich befreit sich mein Vater vom Schnee und gräbt mich aus. Nicht weit von uns entfernt liegen meterhoch Schnee, Eisblöcke und Geröll. Das Auto steht noch auf der Strasse. Es ist von einer dicken Schneeschicht bedeckt und sieht aus wie ein Iglu. Sogleich beginnen wir damit, das Wägelchen vom Schnee zu befreien. Dank des vollen Reservekanisters im Kofferraum erhält der Motor wieder den benötigten Kraftstoff. Dem Vater gelingt es nach einigen Versuchen, den VW zu starten. Er wendet ihn, stellt ihn etwas weiter weg an den Strassenrand, stellt den Motor ab und zieht die Handbremse. Dann sinkt er in sich zu sammen. Eine endlose Weile später raunt er mir mit tonloser Stimme ins Ohr:

Ich weiss nicht mehr, wie lange wir noch still und kraftlos im Auto sitzen geblieben sind, bevor wir nach Hause fuhren. Auf alle Fälle war es bereits stockdunkel, als wir dort an kamen. Was die berüchtigte Spreitlaui-Lawine in jenen Minuten anrichtete, sah man in vollem Ausmass erst Tage danach. Sie hatte alles wegrasiert, was ihr im Wege stand. Auf der Strasse lagen meterhohe Schneeberge, gespickt mit Felsbrocken, Steinen und Baumstämmen.

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Wie aus einem Traum erwachend, sagt Ätti mit klangloser, trockener Stimme:

«Nein, mein lieber Bub, es war nicht das Auto, es war der liebe Gott, der uns am Leben gelassen hat.»

Nachdenklich betrachtet er seine zerschürfte Hand. Sie wird wieder heilen und das böse Ereignis vergessen machen, wie auch die Bäume und Sträucher, Blumen und Gräser nachwachsen und den erodierten Graben begrünen werden, als wäre nichts geschehen. Bis es der Allmacht oder Gott oder dem Teufel erneut gefällt, mit einem neuen, möglicherwei se noch gewaltigeren Lawinenniedergang die Menschen auf die unbeeinflussbare Macht hinzuweisen. Vielleicht schon im nächsten Winter oder erst in ein paar Jahren, nur um unmissverständlich zu zeigen, wie allgegenwärtig und unberechen bar diese ist.

Wir haben uns danach oft gefragt, ob an jenem Tag die Stimme des Schicksals einigen Schutzengeln befohlen hatte, auf dem Rücksitz unseres Autos Platz zu nehmen, um auf der Fahrt hinauf nach Guttannen auf den Mann mit seinem Sohn aufzupassen. Oder retteten uns nicht die Schutzengel, son dern einfach Arnolds Unzuverlässigkeit? Hätte er tags zuvor den Wagen betankt, wie es seine Aufgabe gewesen war, dann hätten wir uns nicht mehr solche Fragen stellen können. Ihm,

Hauptgespräch am Tisch war tage- bis wochenlang nur dieses Ereignis. Ich mag mich noch daran erinnern, dass über Niedergänge der Spreitlaui gesprochen wurde, bei denen es Tote gegeben hatte. So vernahm ich, dass ein Jahr oder zwei Jahre zuvor auf der Guttanner Seite ein Auto mitsamt seinen zwei Insassen von der Lawine erfasst worden war. Es habe mehrere Tage gebraucht, um den zerquetschten Wagen mit den beiden Leichen, einem Ehepaar aus der Gegend, zu finden und auszugraben. Immer wieder fragte ich mich, wes halb Ätti und ich davonkamen und jenes Ehepaar nicht. Eine Frage, die ich mir jetzt nicht mehr stelle, denn ich vermag sie heute genauso wenig zu beantworten wie damals.

13 dem Meistergesellen, oblag die Wartung des Autos. Dazu gehörte auch, es von Zeit zu Zeit zu waschen und dafür zu sorgen, dass immer genug Benzin im Tank war. Den Reservekanister musste er im gegebenen Fall ebenfalls nachfüllen. Zum Lohn durfte er nach dem Waschen mit dem Wägelchen jeweils eine kleine Spritzfahrt unternehmen, wozu er mich hin und wieder mitnahm, wenn sein damaliges Schätzchen gerade keine Zeit hatte. Ironie der Geschichte: Arnold hatte just wegen ihm vergessen, den Tank zu füllen. Da er in jener Zeit nur noch dieses Mädchen im Kopf hatte, liess er gelegentlich das Werkzeug zum Russen zu Hause oder vergass eben zu tanken. Der alte VW-Käfer hatte noch keine Benzinuhr, die auf den ersten Blick den Füllstand des Treibstoffs erkennen liess. Da es in jenen Tagen auch viel weniger Tankstellen gab als heute, war man bei leerem Tank und ohne Reserve aufgeschmissen. In unserem Fall hatte jedoch der Leichtsinn oder die Lebenslust Arnolds unser Leben gerettet. Der Ätti verzichtete jedenfalls darauf, ihm zu zeigen, wo der Hammer hing.Das

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Die Spreitlaui ist eine der grössten und gefährlichsten Lawinen im Berner Oberland, unberechenbar wie alle Lawinen. Erst fast zwanzig Jahre nach diesem Ereignis, genauer 1967, wurde in einer ersten Etappe im Bereich des Lauikreuzes eine Schutz galerie über die Grimselstrasse gebaut. Allerdings eine viel zu kurze, sodass sie dreizehn Jahre später talauswärts verlängert werden musste. Ein weiteres Kuriosum um diese Galerie war dies: Wenn nur die Männer und Frauen von Guttannen über den Bau hätten entscheiden können, wäre wohl keine zu kurze Lawinengalerie gebaut worden, sondern überhaupt keine. –Was?!, fragt man sich mit Recht. Es ging ums Einkommen: Durch das Konstrukt brach den Männern dieser Gegend eine grosse Verdienstmöglichkeit weg. Vorher schaufelten sie jeweils in tage-, nicht selten wochenlanger Arbeit für reich lich Geld im Stundenlohn oder gar Akkord die Schneemassen weg, um die Strasse wieder befahrbar zu machen.

Es sind eben doch auch die Menschen, die bedingt Einfluss auf das Schicksal nehmen können. Also hatte mein Ätti in dieser Sache nicht recht. Das tut aber meiner Verehrung für ihn keinen Abbruch, hat er mir doch dank seines raschen Handelns das Leben gerettet.

Die Geschichte begann an einem Samstag gegen Mittag im April 1950. Ich war gut fünfeinhalbjährig. Schon Tage zuvor hatte ich an der Geschäftigkeit meiner Eltern gemerkt, dass etwas in der Luft lag. Vor allem stutzte ich, als meine Mutter – mein Müeti – im kleinen Zimmer neben meinem das Bett mit frischen Laken bezog. Mehr noch, ein ungutes Gefühl beschlich mich und drückte mir auf die Brust wie ein zentnerschwerer Stein. Die kleine Kammer gehörte früher mir, bis mein Bruder Paul plötzlich starb und ich sein grosses Zimmer beziehen durfte. Ich fragte mich deshalb, ob ich wieder in die Kammer umziehen müsse. Vielleicht kommt Paul doch wieder zurück und ist gar nicht ganz tot, ist wieder aufgewacht, wie das die Sonntagsschullehrerin über Jesus erzählt hatte. Nun begriff ich auch Vaters Anordnung nach Pauls Verschwinden, dass dessen Platz am Esstisch leer bleiben müsse und weder von mir noch einem seiner Kamin fegergesellen in Beschlag genommen werden dürfe. Immer klarer wurde mir, dass Paul wieder zurückkommen würde. Wes halb sonst wäre seine Brille mit den dicken Gläsern zusammen mit seiner Jugendangelkarte im Sekretär in der Stube aufbewahrt worden? Und im Keller standen auch noch seine frisch gewachsten Skis, die er am Sonntagmorgen benutzen wollte, als ihn Vater tot in seinem Bett vorfand. Paul würde also wieder heimkehren.

Das Schwesterchen aus dem Nichts (1950)

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Mein «Bruder» Paul Schulman als ca. Dreizehnjähriger

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Ich hatte Angst vor Paul, schon früher. Er mochte mich nicht leiden. Ich war ihm im Weg, als ich plötzlich in seine neue Fa milie eindrang. Er befürchtete, dass ich ihm Vater und Mutter wegnehmen würde. Paul war aber nicht eigentlich der rich tige Sohn meiner Eltern, wie ich ja auch nicht, was ich aber damals noch nicht wusste. Er stammte aus einer sehr wohl habenden jüdischen Kaufmannsfamilie aus Berlin. Während der Nazizeit kam der Sechsjährige als Flüchtlingskind in die Schweiz und wurde von meinen Eltern aufgenommen. Sie liebten das kleine, schwarzhaarige, hochintelligente Kerlchen wie ihr eigenes Kind und er sie, als wären es seine Eltern.

Ich war 1947 als knapp Dreijähriger nach Meiringen in die Familie Ledermann gekommen, wo bereits jener Paul lebte. Mein leiblicher Vater war, wie ich später herausfinden sollte, ein Chirurg und Professor an der Universität Genf. Meine richtige Mutter war die Tochter aus einer reichen Unterneh merdynastie aus dem Genfer Patriziat, wie es auch mein Vater war. Sie waren zwar verheiratet, aber nicht miteinander, hatten beide eigene Familien. Mich, den Bastard, Bankert oder Balg, wie man in jenen Tagen ein uneheliches Kind nannte, mussten sie so schnell wie möglich loswerden; nicht nur aus gesellschaftlichen Gründen, sondern ebenso sehr aus erbrechtlichen und moralischen Überlegungen. Ein uneheliches Kind gehörte sich in diesen Kreisen nicht und eine Scheidung schon gar nicht. So etwas Ungehöriges war mehr als «déplacé». 1950 hatte meine Mutter die Verzichtserklä rung auf ihren Sohn Philippe unterschrieben. So konnten Ledermanns mich, das Waisenkind von Genf, adoptieren 2 .

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2 Die fast unglaubliche Begegnung mit seinen leiblichen Eltern viele Jahre danach sowie weitere dramatische, aber auch amüsante Erlebnisse finden sich in: Papiereltern , autobiografischer Roman von P. D. Ledermann, 734 Seiten, Weber Verlag, Thun, 2019. ISBN 978-3-03818-231-3

«Mein Schwesterchen …?»

«Philippe, gib dem kleinen Mädchen die Hand. Es heisst Gisela und ist jetzt dein Schwesterchen.»

Ich wollte doch gar kein Schwesterchen, auch keinen Bruder mehr … Ich war zwar schon sehr erleichtert, dass nicht Paul neben mir sass, aber was sollte das nun?! Bereits auf der Heimfahrt hatte sich der Himmel verfins tert. Der Ätti meinte, dass sich ein unheimliches Gewitter zusammenbraue, und gab Gas. Schon erhellten die ersten Blitze den Himmel und die entsprechenden Donnerschläge folgten, als wir unser Haus erreichten. Ich ging mit dem Vater in den Stall zu den Tieren, aber hinter mir trottete nun diese Gisela her, und das störte mich. Sie machte sich durch ein fürchterliches Geschrei bemerkbar, das den Lärm des Unwetters übertönte. Sie schrie, als wäre sie in der Hölle angekom men. Ich tat so, als hörte ich sie nicht. Ätti dagegen drehte

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Zurück zum Samstag im Frühling 1950: Ätti hiess mich in den VW-Käfer einsteigen, und als auch Müeti neben ihm Platz genommen hatte, ratterte das Gefährt in Richtung Dorf zum Bahnhof Meiringen. Kaum angekommen, fuhr auch schon ein Zug ein. Meine Eltern äugten gespannt auf die Eisenbahnwagen, derweil ich im Auto sitzen blieb und ängstlich auf das unvermeidbare Erscheinen Pauls wartete. Endlich kamen die Eltern zum Auto zurück. Aber da ich auf dem Hintersitz mit Bammel in den Hosen heruntergerutscht war, vermochte ich nur ihre Köpfe zu erspähen. Von Paul war nichts zu sehen. Langsam wagte ich mich wieder auf den Sitz zurück und entdeckte zwischen Ätti und Müeti ein kleines Mädchen. Vorerst war ich erleichtert, bis das Mädchen neben mich auf den Sitz kroch und mich anstarrte, als hätte ich zwei Köpfe. Da hörte ich das Müeti sagen:

«Du brauchst keine Angst zu haben», hauchte er ihm ins Ohr, «es passiert dir nichts, mein kleines Mädchen, du bist hier in UndSicherheit.»ich?Mich drückte niemand an sich. Ich hatte zwar nicht Angst wie diese Göre, aber Ätti hätte mich trotzdem an sich drücken oder mir wenigstens die Hand geben können. Und dann, wie nannte er sie: «… mein kleines Mädchen …»?

19 sich um, nahm das verängstigte Mädchen auf die Arme und drückte es an sich.

Als das Gewitter vorüber war, klammerte sich Gisela im mer noch an meinen Vater und liess ihre nackten Beinchen schlaff herunterhängen. Ich kniff sie in die Wade und sagte zu ihr, als sie ihr verweintes Gesicht zu mir drehte, dass das Gewitter vorbei sei und sie nun wieder auf ihren eigenen Füssen stehen könne. Aber der «Sougoof 3» tat so, als verstünde er meine Worte nicht. Gisela konnte sie auch nicht verste hen, denn ich sprach nur den Haslitaler Dialekt, und der war für das kleine deutsche Mädchen unverständlich, was ich da mals natürlich nicht wusste. Ich konnte ihre Sprache zwar auch nicht verstehen, aber das war etwas ganz anderes, schliesslich sprach man im Haus meiner Eltern nicht so wie sie.

«Warte nur, bis wir mal alleine sind …», raunte ich. Da wandte sich der Ätti mit grimmigen Blick um und meinte:

«Pass nur auf, was du tust, sonst krachts!», und er zeigte mir seine grosse rechte Hand, vor der ich enormen Respekt hatte. Doch ich liess mich nicht einschüchtern und wegen die ses flennenden Mädchens schon gar nicht. Ich war noch von Paul her gewohnt, mich zu verteidigen. Wenn nicht mehr wie früher gegen ihn, so jetzt eben gegen die mir aufgezwungene Schwester. Ich begann Pläne zu schmieden.

3 Schweizerdeutsch: abschätzige Benennung für freches, ungezogenes Kind

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war todunglücklich und machte es wie Bäri, unser Berner Sennenhund, wenn er unzufrieden war, ich fing an zu kläffen. Immer, wenn ich bellte, schaute sie mich mit grossen unschuldigen Augen an, als hätte ich sie geschlagen. Klar hätte ich ihr manchmal gerne eine gehauen, aber ich tat es nicht. Im Grunde genommen ging es mir ja gar nicht um Gisela, sondern um meine Eltern, die sie mir wegzunehmen im Be griff war. Jeden Tag, jede Stunde von frühmorgens bis zum Zu-Bett-Gehen strich sie um Mutters oder Vaters Beine wie ein hungriges Kätzchen. Und mich nahmen sie kaum mehr wahr. Sogar der Meistergeselle, der Gisela beim Abendessen gegenübersass, schwärmte öfter:

Inzwischen erfuhr ich von meinen Eltern mehr über den Störenfried: Gisela war fünf Jahre alt und hatte acht Ge schwister, alle älter als sie. Da Giselas Familie unter dem Hitlerkrieg gelitten hatte und auch jetzt noch in bitterer Armut leben musste, hatten die geplagten Eltern durch das Rote Kreuz für ihre Kinder Pflegeplätze gesucht. Unter Umständen wären sie sogar bereit gewesen, eines ihrer Kinder zur Adoption freizugeben, vor allem das jüngste, eben diese Gisela, weshalb sich meine Eltern beim Roten Kreuz gemeldet hatten.

zahn.Ich

Seit sie herumgeisterte, hatte ich keine ruhige Minute mehr. Überall, wo sich meine Eltern aufhielten, drängte sich dieser Balg dazwischen, ja stiess mich manchmal sogar zur Seite. Eines Tages brachte sie meiner Mutter gar selbst gepflückte Blumen von der Wiese. Was heisst schon gepflückt? Ausgerissen hatte sie diese mitsamt den Wurzeln. Und was heisst Blumen? Es war ein Büschel von schäbigem Löwen

Mit jedem Tag wuchs die Angst in meinem Herzen, alles zu verlieren. Also nahm ich mir vor, Gisela auf irgendeine Weise verschwinden zu lassen. Aber wie? Sollte ich ihr die

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Jahre später begriff ich die Bedeutung des Spruchs «Eifersucht ist eine Leidenschaft, die mit Eifer sucht, was Leiden schafft». Auch wenn ich diese Worte als Kind nicht verstand, litt ich. Ja, ich litt schrecklich unter der Gegenwart Giselas. Sie hatte vom ersten Tag ihrer Anwesenheit an in unserem Haus gemacht, was sie wollte. Niemand schalt sie. Mich dagegen strafte man, wenn ich zu laut war, und liess mich einfach links liegen, als existierte ich nicht mehr. Nicht einmal Bäri beachtete mich noch. Er wedelte fast nur noch um das blöde Meitli herum.

Kinder sind nicht grausam, nur ehrlich. Grausam sind die Erwachsenen. Es gehört zum Wesen der Eifersucht der Kinder, dass sie nicht merken, dass sie eifersüchtig sind, sie kämpfen unbewusst um die Nähe ihrer Eltern und deren Liebe. Wie hätte ich damals wissen sollen, dass zur Liebe auch das Gefühl der Eifersucht gehört, selbst wenn sie wie in meinem Fall unbegründet war. Aber damals gabs nur eines für mich: Ich wollte meine Eltern nicht wieder mit jemandem teilen müssen, auch nicht unsere Tiere. Doch genau das wollte Gisela. Einmal erwischte ich das kleine Luder, wie es meinen Kaninchen Gras durch das Drahtgitter hindurch reichte, um sie für sich zu gewinnen. Meine Stellung im Haus schwebte in Gefahr.Erstviele

«Bist du aber ein herziges Meiteli4, so richtig zum Fressen!»

4 Mädchen

Ich fragte mich dann jeweils, weshalb er die dumme Gans nicht fresse wie der Wolf das Rotkäppchen. Mir wäre das nur recht gewesen, je schneller desto besser.

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Mistgabel in den Bauch rammen? Oder sie auf den Heuboden hinauf locken und sie hinunterstossen? Aber in der Tenne würde Ätti oder der Knecht sie beim Füttern der Kühe entdecken. Besser wäre es, die blöde Ziege in die Jauchegrube zu schubsen und das Grubenloch mit den Holzbrettern zu decken, als wäre nichts geschehen. Wer würde sie dort schon suchen? Niemand. Am besten wäre es allerdings, die Kröte in die Aare zu werfen und zu sagen, sie sei ausgerutscht und augenblicklich im reissenden Wasser untergegangen. Je mehr ich mir ihren Tod wünschte und auch vorstellte, desto mehr fürchtete ich mich aber auch vor der Strafe der Eltern. Vielleicht würden sie mich fortjagen oder ins Gefängnis stecken und nie mehr etwas von mir wissen wollen, mich dort verhungern und verdursten lassen. Dort soll es zappenduster sein und bissige Ratten, grosse Spinnen und grausige Käfer haben, sogar Giftschlangen kröchen nachts herum, hatte ich gehört.

Langsam ging meine Fantasie mit mir durch, und meine Angstzustände vor den wüsten Folgen meiner Tötung wurden zur Panik. Ich fürchtete, dass die Eltern meine bösen Gedanken bereits ahnten. Auch schien mir, dass Ätti nur noch das Nötigste mit mir sprach. Bald würde er kein einziges Wort mehr sagen, wie er das immer tat, wenn ich etwas an gestellt hatte. Sein Schweigen war mir die schlimmste Strafe, tausendmal schmerzlicher als Ohrfeigen. Er redete dann erst wieder mit mir, wenn ich den verursachten Schaden in Ordnung gebracht und mich entschuldigt hatte. Aber in diesem Fall hätte ich das Mädchen nicht mehr lebendig machen können. Also musste ich einen anderen Weg finden, meine El tern wieder auf mich aufmerksam zu machen. Da kam mir eine Idee: Wie waren meine Eltern jeweils um mich besorgt, wenn ich krank war? Also musste ich einfach so richtig krank

5 Planen

«Unser Bub hat schrecklich hohes Fieber. Wenn er uns nur nicht auch noch wegstirbt wie Paul.»

Nur auf eine solche Art und Weise konnte ich die Aufmerk samkeit meiner Eltern wiedererlangen und sie sogar strafen. Aber nicht nur sie, sondern auch die Gesellen und den Knecht oder sogar Gisela. Vielleicht würde sie von sich aus wieder heimgehen nach Deutschland, wo sie herkam und auch hin gehörte. Ätti könnte sie dann von mir aus nach Hause fahren. Das war die Lösung. Ich musste also schwer krank werden. So wie Paul. Vielleicht sogar sterben oder doch fast sterben.

Erstaunlich schnell sollte sich mir die Gelegenheit bieten, den Plan in die Tat umzusetzen. In der Nacht hatte der Föhn wieder einmal das halbe Hausdach abgedeckt. Gisela fürch tete sich dermassen vor dem Sturm und dem Lärm ums Haus herum, dass sie schon fast panisch zu meinen Eltern ins Bett flüchtete. Ich bemerkte es sofort. Denn seit das Biest in der kleinen Kammer neben meinem Zimmer schlief, liess ich meine Tür nachts immer einen Spalt offen, um ja nichts zu verpassen.Amnächsten Morgen war der Föhn zusammengebrochen und es begann zu regnen, ja richtig zu schütten; es wurde eisig kalt. Da hatten weder Ätti noch Müeti noch die Gesellen Zeit, sich mit dem Mädchen abzugeben, denn das Dach musste so schnell wie möglich mit Plachen5 abgedeckt werden. Dafür brauchte es jede Hand mit Ausnahme der Kinderhände.

23 werden. Im Schatten hinter der Scheune wollte ich mich ins nasse kalte Gras legen und so lange frieren, bis ich Fieber hatte, hohes Fieber, und vielleicht sogar ins Krankenhaus gebracht werden musste. Es war mir schon, als hörte ich Müetis besorgte Stimme zu Ätti sagen:

Ich und Gisela waren nur im Weg und wurden weggeschickt:

«Geht jetzt in die Stube spielen und lasst uns unsere Arbeit tun, sonst regnet es bald auch in eure Betten!», hiess es aus allen Mündern und Ecken.

Ich trottete verärgert zur Scheune hinüber, zog rasch den Pullover, das Hemd, das Leibchen6 und zum Schluss auch noch die Schuhe und Socken aus. Dann legte ich mich nur noch in Unterhosen bekleidet der Länge nach auf den durch nässten und eisigen Boden. Ich schloss die Augen und schlotterte schon bald dem Fieber entgegen. Als ich mich schon fast steif fühlte, öffnete ich kurz die Augen … und wer lag neben mir im strömenden Regen und klapperte mit den Zäh nen? Bäri! Und nicht nur er, auch Gisela. Sie lag splitternackt neben mir und schüttelte sich vor Kälte wie ich! Da sah sie mich mit ihren kleinen verweinten Augen so trostlos an, dass ich zum ersten Mal so etwas wie Mitleid für sie empfand. Ich stand auf, hob sie vom Boden, nahm sie auf die Arme und trug sie sachte in die Tenne, wo ich sie ins trockene Heu legte.

Da fiel mir auf, dass sie gar kein Pimmelchen hatte wie ich. Es musste abgetrennt worden sein, denn an der Stelle, wo es hingehört hätte, war ein Riss zu sehen. Was, wenn das die Eltern wüssten? Ich zog das nackte Mädchen verstört an und schlüpfte auch schnell in meine triefenden, klebrigen Kleider. Gisela war unterdessen eingeschlafen oder tat so. Da blieb mir nichts anderes übrig, als das Federgewicht schnell ins Haus an die Wärme zu tragen, wo ich sie sogleich in ihr Bett brachte und mit Decken dick einpackte.

6 Unterhemd

Da die Eltern und Gesellen immer noch mit Aufräumar beiten auf dem Dach und rund um das Haus herum beschäftigt waren, merkte niemand etwas von unserem Regenabenteuer.

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«Das Abendessen ist gleich bereit; ich werde euch rufen.»

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Die Mutter nickte verständnisvoll, schien aber doch ver wundert darüber zu sein, dass ich mich plötzlich so liebevoll um sie kümmerte. Sie meinte nur:

7 Arme Ritter

«An den Tisch, Kinderchen!»

Sie schloss die Tür hinter sich und ging die Treppe hinun ter. Kurze Zeit später hallte ihre Stimme durchs Haus:

ich die Kammertür knarren. Müeti war unverhofft eingetreten, blieb wie vom Blitz getroffen stehen und sagte sichtlich erleichtert:

«Gott sei Dank, Kinder, ihr seid hier! Wir haben euch überall gesucht. – Was macht denn Gisela im Bett, schon jetzt?»Ich blickte zuerst auf den krebsroten Kopf des Mädchens, dann verunsichert zu Müeti und hauchte kleinlaut:

«Sie hatte wohl einfach sehr kalt.»

Es gab Fotzelschnitten7. Ich mochte nichts so sehr wie Mutters Fotzelschnitten. Auch Gisela liebte sie über alles. Doch entgegen ihrer üblichen Lust auf die süsse Speise, rührte sie keinen Bissen an.

«Willst du lieber etwas trinken?», fragte Ätti besorgt. Er ahnte, dass das Mädchen kränkelte und schenkte ihr heisse Milch ein. Gisela rührte die Tasse nicht an, guckte zu mir und fing an zu weinen. Sie heulte dauernd, schon beim kleinsten Wehwehchen. Ich wusste in diesem Moment natürlich den Grund dafür und hätte es den Eltern auch gerne erklärt, aber

Gisela atmete schwer und schien nun doch tief zu schlafen, während ich mich auf den Stuhl neben ihrem Bett gesetzt hat te und sie ratlos anstarrte. Irgendwann musste ich dann auch eingenicktPlötzlichsein.hörte

Ich war am nächsten Tag als Erster und noch im Nachthemd an Giselas Bett. Sie hatte einen glühend heissen Kopf. Auch ihre Händchen waren feurig, und sie machte keinen Mucks. Ich bekam Angst und rief aufgeregt: «Müeti, komm, schnell, Gisela sagt nichts, ich glaube, sie ist tot Müeti…!»kam so schnell, wie die Beine sie die knarrende Holztreppe hochtrugen. Als sie Gisela sah, hielt sie beide Hände an ihre Wangen und sagte ausser sich:

«Mein Gott, das Kindchen hat hohes Fieber, da muss so fort der Doktor her. Bis er da ist, mache ich Fusswickel, und du gehst sofort in den Stall und holst Ätti!»

26 ich wusste nicht, wie ich es hätte sagen sollen, ohne mein ursprüngliches Vorhaben zu verraten. Die Mutter spürte, dass da etwas war, und sagte:

Und schon ging das Theater um das fremde Mädchen wieder los. Genau das Gegenteil von dem, was ich bezweckt hatte, war eingetreten. Alles drehte sich erneut nur noch um sie. Vor allem nach ihrer Genesung wurde sie erst recht zum behüteten Kind und noch viel mehr verhätschelt. Aber zunächst wurde sie tatsächlich schwer krank. Und ich blieb leider gesund. Ich konnte ja nicht ahnen, dass ich noch früh genug selbst zum Pflegefall wurde. Aber davon in der nächsten Geschichte.DerDoktor kam zu ihr, öfter als nötig, wie mir schien, streichelte sogar ihre feurigen Wangen und sagte:

«Du armes, armes Kindchen, du brauchst keine Angst zu haben, ich mache dich wieder ganz gesund.»

«Sie hat vielleicht Heimweh. Philippe, lass Gisela jetzt in Ruhe, es geht ihr morgen sicher wieder besser, denn Schlaf heilt alle Sorgen.»

Genug ist genug, sagte ich mir. Mein Mitleid für Gisela war gänzlich aufgebraucht. Ich begann sie wieder zu hassen. Oder hatte ich gar nie damit aufgehört? Jedenfalls bedachte ich sie von da an mit noch mehr Argwohn als vor ihrer Er krankung. Ich folgte ihr überall hin, lautlos wie ein Schatten. Doch auch Ätti war auf der Hut. Als ich Gisela wieder einmal wegen einer Kleinigkeit an den Haaren zog, nahm er mich zur Seite und «Komm,flüsterte:wirgehen zusammen in den Stall!», und Gisela wies er an, zur Mutter in die Küche zu gehen.

Zudem brachte er ihr jedes Mal eine Frucht oder sonst etwas zum Naschen mit. Ich bekam nichts.

Ättis Stimme klang weich, warm und besorgt, weder an klagend noch verurteilend, sondern väterlich und freundschaftlich. Ohne Zweifel wusste er, wo mich der Schuh drückte. Aber er begehrte es von mir zu hören, aus meinem Mund. Wohl wissend, dass mich Giselas Gegenwart in unserem Haus, in meinem klar abgesteckten und sozusagen markierten Revier störte. Er wusste auch, dass es eigentlich nichts mit ihr persönlich zu tun hatte. Da hatte er recht.

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Im Stall nahm er mich sogleich ins Gebet. Der Stall war so etwas wie Ättis Beichtstuhl. Da sassen auch schon die Ge sellen drin, wenn sie etwas angestellt hatten, oder der Knecht und nun eben auch ich. Natürlich nicht zum ersten Mal. Er redete auch nie lange um den heissen Brei herum.

Auch jedes andere Geschöpf, ob Mädchen oder Knabe, hätte ich bekämpft. Alle, die um die Gunst und Liebe meiner Eltern buhlten, waren meine Feinde. Meine Eltern und über haupt alles im Haus, in der Scheune oder im Stall gehörten

«Was stört dich eigentlich an Gisela? Meinst du, wir hätten nicht schon lange bemerkt, wie du sie plagst?»

mir. Niemand hatte das Recht, mir etwas davon wegzunehmen. Das hatte Gisela sofort gemerkt und griff erst recht da nach. Erst viele Jahre später wurde mir klar, dass ich damals für Paul denselben Störfaktor darstellte wie Gisela für mich. Ich war für ihn auch nichts anderes als ein unerwünschter, widerlicher Eindringling in sein kindlich abgegrenztes Ter ritorium, das unser animalischer Ur-Instinkt und der Erhaltungstrieb stets als Erstes im Leben markieren.

Aber, abgesehen von diesem Zwist, beschäftigte mich seit dem seltsamen Erlebnis im strömenden Regen noch etwas anderes: ihr fehlendes Pimmelchen. Ich fragte mich nämlich, wie sie wohl pinkle, so ohne. Eines Tages, als ich hinter der Scheune Gras für meine Kaninchen sammelte und sie wieder einmal gelangweilt herumstand und überhaupt keine Anstalten machte, mir zu helfen, fragte ich sie, ob sie mit ihrem Nichts eigentlich Pipi machen könne. Sodann führte ich ihr vor, wie das«Dasging.kann ich auch», wisperte sie, zog ihr Röckchen hoch, die Höschen runter und tröpfelte vor die Beine.

Als ich wieder einmal richtig garstig zu ihr war und mich Ätti unbemerkt beobachtet hatte, zog er mich an den Schlä fenhaaren:«So,Bürschchen, jetzt gehts in den Stall; ich habe dir et was zu Nunsagen.»habeich ihn nach langer Zeit endlich wieder ein mal ganz für mich, dachte ich. Zuerst gibts etwas Schelte,

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«Ist das alles?», fragte ich erstaunt.

Tja, nicht einmal pissen kann sie richtig. Mit der ist gar nichts los, dachte ich. Weder zum Raufen war sie zu gebrau chen, noch mochte sie mit mir auf Bäume klettern. Sie hatte es nur mit ihren doofen Puppen.

29 das nehme ich in Kauf, anschliessend bitte ich um Entschuldigung, und dann erzählt er mir sicher wieder eine neue Geschichte. Wenn wir früher allein waren, erzählte er mir oft spannende Geschichten, wie er etwa einen Räu ber einfing oder auf einer Wiese einen wilden Stier an den Hörnern packte und zu Boden rang, als dieser Mut ter angreifen wollte. Doch heute ging es nicht um Diebe oder wilde Tiere, sondern um Gisela. Ätti erzählte mir, wie schwer es Giselas Familie während des fürchterlichen Krieges gehabt habe. Und auch jetzt sei es noch schwierig für sie, weil der Vater beinamputiert sei und nicht arbeiten könne. Dann käme noch die schauerliche Geschichte mit Giselas Zwillingsschwester dazu. Diese sei in einem Weiher ertrunken. Das sei für Zwillinge schlimmer, als wenn ein älteres oder jüngeres Geschwister sterbe, weil Zwillinge schon im Mutterleib zusammen gewesen seien. Gi sela habe diesen Verlust zwar noch nicht verstanden, aber umso intensiver empfunden, deshalb müsse man ihr helfen und sie ganz fest lieb haben. Und um diese Situation noch etwas zu konkretisieren, schob er nach:

«Du weisst doch noch, wie die Zwillingskälbchen unserer Elsa auf der Wiese stets zusammen waren, sich im Stall ge genseitig leckten, sogar zusammen muhten, wenn sie Durst oder Hunger hatten. Jeder Zwilling ist eben ein Teil des an dern und kann alleine fast nicht leben. So ist es auch bei Gisela gewesen, als sie ihre Zwillingsschwester verloren hatte. Nun sucht sie einen Ersatz, meist in Müeti, oft in mir. Wenn du jetzt lieb bist zu ihr, bildet sich ein unsichtbares Band zwi schen euch, das dich mit Gisela verbindet.»

Ich schämte mich vor Ätti und musste weinen. Von diesem Tag an änderte ich mein Verhalten gegenüber Gisela. Ich be -

schützte sie und spielte mit ihr, sodass wir bald ein Herz und eine Seele wurden. Ich nahm sie mit in den Wald, zeigte ihr, wie man Beeren pflückt, schöne Blätter für die Mutter und Tannzapfen für den Vater sammelt und sogar, wie man unbe merkt im Küchenschrank etwas Schokolade stibitzt.

Fortan wachte ich über Gisela, dass ihr niemand zu nahe kam, wie hier auf der Balisalp am Hasliberg bei einem Picknick mit den Eltern

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Sie nahm meine positive Veränderung wahr und dankte es mir mit Vertrauen und Zuneigung. Schon bald flüchtete sie nicht mehr immer zu den Eltern, sondern kam zu mir. Wenn es gewitterte, kroch sie sogar unter meine Decke. Nicht selten spielten wir Vater und Mutter und umarmten und küssten uns. Ich schaute zu Gisela wie zu einem Baby oder schon fast wie zu einer Freundin.

Im Herbst kam es zur Trennung. Gisela musste wieder zurück nach Schleswig-Holstein. Ihre Familie hatte sich gegen die Freigabe zur Adoption ihres jüngsten Kindes entschieden. Beim Abschied flossen Bäche von Tränen in unserem Haus. So plötzlich, wie das kleine Mädchen aus dem Nichts erschienen war, so verschwand es wieder im Nichts.

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Da wir Kinder noch nicht schreiben konnten, taten das unsere Mütter für uns. Doch die Nachrichten wurden im Laufe der Jahre immer kürzer und von der Frau aus Deutschland wirrer, bis eine ihrer Töchter das Geheimnis lüftete. Giselas Mutter litt an fortschreitender Arteriosklerose – heute spricht man von beginnender Demenz oder Alzheimer. Weiter war in einem der letzten Briefe zu erfahren, dass Gisela die Aufnahmeprüfung ans Konservatorium bestanden hatte, wo sie Querflöte studierte. Sie hatte ein Förderstipendium für BegabteVonerhalten.daanwar von Gisela nichts mehr zu erfahren. Für mich eine traurige Wendung, denn mittlerweile liebte ich sie so sehr, dass ich sie gerne geheiratet hätte. Meine Trauer über das Scheitern dieser Verbindung hielt sich dann allerdings in Grenzen, denn bald danach verlor ich mein Herz an eine andere. Ihr konnte ich endlich selbst schreiben und tat ihr in einem Brief meine Heiratsabsichten kund. Leider antwortete sie nie auf mein Ansinnen. Sie hiess Romy Schneider.

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