THOMAS LÖTSCHER, DEMOKRATIE MIT ZUKUNFT (Kurzvorschau)

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Die Erschaffung der modernen Schweiz Thomas Lötscher mitDemokratieZukunft

DemokratiemitZukunft Thomas Lötscher Die Erschaffung der modernen Schweiz

Impressum Für die grosszügige Unterstützung geht unser Dank an die Bonny Stiftung für die Freiheit und an den Kanton Zug Alle Angaben in diesem Buch wurden vom Autor nach bestem Wissen und Gewissen erstellt und von ihm und dem Verlag mit Sorgfalt geprüft. Inhaltliche Fehler sind dennoch nicht auszuschliessen. Daher erfolgen alle Angaben ohne Gewähr. Weder Autor noch Verlag übernehmen Verantwortung für etwaige Unstimmigkeiten. Alle Rechte vorbehalten, einschliesslich derjenigen des auszugsweisen Abdrucks und der elektronischen Wiedergabe. © 2022 Weber Verlag AG, 3645 Thun/Gwatt Text: Thomas Lötscher Weber Verlag AG Gestaltung Titelbild Sonja Berger Gestaltung Inhalt Shana Hirschi Lektorat Alain Diezig Korrektorat David DerISBNwww.weberverlag.chHeinen978-3-03818-401-0WeberVerlagwirdvom Bundesamt für Kultur mit einem Strukturbeitrag für die Jahre 2021–2024 unterstützt. Drucksacheneutral No. 01-12-409142 – www.myclimate.org © myclimate – The Climate Protection Partnership

DemokratiemitZukunft Thomas Lötscher Die Erschaffung der modernen Schweiz

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Dieses Buch widme ich meiner wunderbaren Frau Esther, die mich mit viel Geduld und Liebe in allem unterstützt, was ich an packe; unseren Kindern Simon und Tamara in der Hoffnung, dass sie ihr Leben auch in Frieden und Freiheit gestalten dürfen; und nicht zuletzt meinen Eltern Simon und Marie-Theres, die mir viel auf den Weg gaben. Ein herzliches Dankeschön geht auch an all jene Menschen, die mich inspirierten, unterstützten und mir neue Ansichten und Welten eröffneten.

1. Vorwort 8 2. Einleitung 10 3. Ausgangslage 13 3.1 Utopie, Theorie und Praxis 13 3.2 Kurzer geschichtlicher Abriss 17 3.3 Begriffe 26 3.4 Fünf Staatsformen im Bundesvertrag 30 3.5 Unterschiedliche Demokratisierungsgrade 32 4. Handlungsdruck 35 4.1 Druck von aussen 35 4.2 Kantonsgrenzen hemmen die Entwicklung 41 4.3 Wachsende Differenzen zwischen den Kantonen 45 5. Zunehmende Ungeduld 48 5.1 Klosterstreit 48 5.2 Jesuitenfrage 50 5.3 Freischarenzüge 51 5.4 Sonderbund: letzter Krieg der Schweiz 54 6. Wozu eine Verfassung? 57 7. Verfassung in kürzester Zeit 59 7.1 Zusammensetzung der Kommission 59 7.2 Entstehungsgeschichte 60 7.3 Laute Nebengeräusche 66 7.4 Kein umfassender Schöpfer 69 7.5 Ausgewählte exemplarische Kurzbiografien 70 Inhalt 6

8. Schwerpunkte der Verfassung 80 8.1 Organisation des Bundes 80 8.2 Bundesaufgaben 80 8.3 Individuelle Freiheitsrechte 85 9. Weitere Entwicklung 123 9.1 Das grosse Ganze sehen: der Weg zum Erfolg 123 9.2 Demokratie stärken: Initiative und Referendum 125 9.3 Vom Kapitalismus zur sozialen Marktwirtschaft 126 9.4 Nachzügler auf der Überholspur: Kanton Zug 127 10. Eine Demokratie aufbauen 130 10.1 Stärken und Chancen des Systems 130 10.2 Schwächen und Risiken des Systems 131 10.3 Fazit 133 11. Eine Demokratie zerstören 135 11.1 Beispiele 136 11.2 Muster und Elemente des Demokratieabbaus 139 12. Eine Demokratie für immer? 143 12.1 Was ist der Wert unserer Demokratie? 143 12.2 Kann sich unsere Demokratie abschaffen? 146 12.3 Fit für die Zukunft bleiben! 146 13. Literaturverzeichnis 151 14. Autorenporträt 156 7

Der Sonderbundskrieg von 1847 war der letzte Krieg auf Schwei zer Boden. Kurz nach diesem Bürgerkrieg erarbeitete eine 23-köp fige Kommission in weniger als zwei Monaten eine Verfassung, die die Schweiz nicht nur unter Wahrung der Eigenheiten und Unterschiede der verschiedenen Regionen und Kantone grundle gend neu aufbaute. Sie brachte der neu geschaffenen Nation Frei heit und Wohlstand. In ihren Grundelementen hat diese Verfas sung bis heute Bestand. Vom Ende des Sonderbundskriegs über die Erarbeitung der Verfassung, ihre Ratifizierung in allen Kanto nen bis zur Einsetzung des Parlaments, der Wahl des Bundesrats und dessen erster Sitzung verstrich nicht einmal ein Jahr. Diese zeitliche und organisatorische Gewaltsleistung – notabene ohne Handy und Computer und mit Pferden als schnellstem Transportmittel zu Lande – ist so heute kaum mehr vorstellbar. Kommt hinzu, dass die Schweiz unter grossem Druck der sie um gebenden europäischen Grossmächte stand. Dies waren allesamt absolutistische Monarchien, denen Freiheit und Demokratie ein Dorn im Auge waren und die auf eigenem Territorium entspre chende Bestrebungen brutal niederschlugen. Die Schweiz, die Flüchtlinge aus diesen Ländern willkommen hiess, sah sich denn auch mehrfach mit mehr oder weniger offenen militärischen Inter ventionsdrohungen konfrontiert. Aber auch unter den Kantonen herrschte nicht Einigkeit. Dass es trotzdem gelang, auf friedliche Weise und unter Respektierung und Wahrung der unterschiedli chen Kulturen aus dem losen Staatenbund einen vereinten libera len und demokratischen Rechtsstaat zu formen, der bis zum heu tigen Tag Bestand hat, ist eine grossartige Leistung der damaligen Visionäre. Es war nur möglich, weil sich die Beteiligten echt be mühten, konstruktive Lösungen zu finden, und bereit waren, auch mal einen Kompromiss einzugehen für das grosse Ganze.

8 1. Vorwort

gangspunkt

Dieser Wille, gemeinsam tragfähige Lösungen zu erarbeiten, ist ein Lehrstück für die Politiker und Menschen von heute. Zu oft ist die heutige Politik geprägt vom sturen Beharren auf eigenen Positionen und von einem Zusammenschustern eines Flickwerks, das bestenfalls dazu führt, in einer Abstimmung eine knappe Mehrheit zu erringen. Getrieben von der Tagesaktualität schei tern diese Konstrukte oder zerfallen nach kurzer Zeit, weil ihnen Weitblick und eine ganzheitliche Sicht fehlen.

Schweizerinnen und Schweizer sollten die Zusammenhänge rund um die Entstehung ihres Bundesstaats und seine Funktionsweise kennen, um ihr Land und dessen System zu verstehen. In dieser Form ist die Schweiz einzigartig. Dieses Wissen ist aber auch inte ressant für Ausländer als Vergleichsbasis zum eigenen Land. Und es fördert vielleicht das Verständnis dafür, weshalb die Schweiz nicht Mitglied der Europäischen Union werden will, aber gern mit ihr Dieseszusammenarbeitet.Buchbringtdie

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Geschichte der modernen Schweiz und die sich daraus ergebenden Erkenntnisse in kurzer und verständli cher Form auf den Punkt. Somit ist es geeignet für einen schnel len Einstieg für jene, die keine Wälzer durcharbeiten mögen, aber auch für Menschen, die sich vertiefter interessieren – als Aus mit Verweisen zu weiterführender Literatur.

«Wer eine Niederlage im Kampf für das Richtige erleidet, steht wieder auf. Wer sich anpasst und nachgibt, ist für immer erledigt.»

2. Einleitung

Winston Churchill, britischer Premierminister 1940–1945 und 1951–1955 1788 ratifizierten die dreizehn Gründerstaaten ihre Verfassung und gründeten damit die Vereinigten Staaten von Amerika. Sech zig Jahre später gaben sich im Herzen Europas 23 Kantone eine Verfassung und erhoben damit den eidgenössischen Staaten bund zum schweizerischen Bundesstaat. Ist also die Schweiz nichts anderes als eine kleine Kopie der USA? Wenn dem so wäre, hielten Sie anstelle dieses Buchs lediglich eine kleine No tiz in den Händen. Die moderne Schweiz ist nicht einfach so «passiert». Ihre Entste hung ist eine spannende Geschichte! Sie ist Ausdruck von visionä ren Leistungen und Weitblick, aber auch von Machtpoker, Kräfte messen, Zufällen und nicht zuletzt von sehr viel Glück. Diese spannende Geschichte ist selbst vielen Schweizerinnen und Schweizern nicht bekannt und steht völlig zu Unrecht im Schatten von Rütlischwur und Wilhelm Tell. Die Gründung der Urschweiz, vom Deutschen Friedrich Schiller literarisch meisterhaft insze niert, vom Italiener Gioachino Rossini zu einer Oper komponiert und von unzähligen Malern auf Leinwand festgehalten, bietet wohl Stoff für dramatische Unterhaltung und ein nationales Zu sammengehörigkeitsgefühl. Aber die Gründung des Bundesstaats, die Erarbeitung der ersten Schweizer Verfassung in weniger als zwei Monaten, beinhaltet ebenfalls viel Dramatik und könnte schweizerischer nicht sein. Sie ist eine Geschichte von Gegensät zen, vom Suchen und Finden von Konsens, vom Vor- und Nachge 10

ben. Und ganz besonders ist sie nicht die Geschichte eines einzi gen Übervaters, sondern in ihr werden Schicksale von Menschen verwoben, die sowohl wichtige Beiträge leisteten und dabei von der Gemeinschaft getragen wurden, gleichwohl aber auch irrten, worauf andere den entscheidenden Impuls für die weitere Entwick lung lieferten. Und alles in einem Land, das umzingelt und bedroht von europäischen Monarchien war, die gar nichts von Demokratie und individuellen Freiheitsrechten hielten und dies die Protagonis ten unserer Geschichte auch immer wieder mit unverhohlenem Muskelspiel und Säbelrasseln spüren liessen.

Der Weg zur Bundesverfassung war also kein gradliniger: Modelle wurden erwogen, verworfen, adaptiert und kombiniert. Die Entste hung der Schweiz gleicht einem politischen Stafettenlauf: Hervor ragende Leistungen einzelner Personen reihten sich aneinander, aber erst in der Summe brachten sie den Erfolg. Dabei beeinflusste das Modell der Vereinigten Staaten die Organisation des schweize rischen Staats durchaus. Interessant ist allerdings, dass sich die amerikanischen Gründerväter zur Legitimation ihrer Unabhängig keit und der Staatsgründung auf das Naturrecht1 bezogen und da bei explizit auf den Genfer Jean-Jacques Burlamaqui und den Neu enburger Emer de Vattel. So haben also Schweizer die Gründung der Vereinigten Staaten beeinflusst und das Modell der USA die Gründung der modernen Schweiz. Ist die direkte Demokratie der Schweiz noch zeitgemäss? Ist sie angesichts unserer schnelllebigen, global vernetzten Welt noch tauglich, den heutigen Herausforderungen zu begegnen? Diese Fragen werden immer wieder aufgeworfen. Für mich ist klar, dass das Modell Schweiz noch immer funktioniert. Um es zu verstehen und die neuen Herausforderungen damit bewältigen zu können, muss man aber seine Entstehung, seine Geschichte und die damit verbundenen Konflikte und Fragestellungen kennen. 1 Freiheit als natürliches, von Gott gegebenes Recht, siehe auch Kapitel 3.1.2 «Staatstheoretiker».

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Dieses Buch will gerade diese Zusammenhänge aufzeigen, Ver ständnis schaffen für das Wesen und den Wert der schweizeri schen direkten Demokratie. Die Schaffung des Bundesstaats ist ein Teil unserer Geschichte, über den wir uns ungeniert freuen dürfen. Damit haben unsere Vorfahren etwas Einzigartiges ge schaffen. Es lohnt sich, dazu Sorge zu tragen und mit dem Erbe verantwortungsvoll umzugehen. Freiheit, Stabilität und Wohlfahrt unserer Nation sind weder selbstverständlich noch unzerstörbar. Darüber hinaus ist dies nicht «nur» ein weiteres Geschichtsbuch. Vergleicht man die Entstehung des schweizerischen Bundesstaats mit der aktuellen politischen Lage der Schweiz, treten verblüffen de Parallelen und Ähnlichkeiten zutage, nicht nur, aber vor allem auch im Verhältnis der Schweiz zur europäischen Nachbarschaft.

So ist dieses Buch auch ein Plädoyer für Selbstbewusstsein, na tionale Eigenständigkeit und den Mut, das Schicksal in die eige nen Hände zu nehmen. Bewahren wir die Errungenschaften un serer humanen Demokratie, entwickeln wir sie weiter und gehen wir verantwortungsvoll mit unserer Freiheit um; denn wir wol len getreu nach Friedrich Schiller weiterhin «frei sein, wie die Väter waren». Das bedeutet allerdings nicht eine Abschottung gegen aussen, sondern schliesst eine partnerschaftliche Zusam menarbeit auf Augenhöhe mit anderen Nationen und Staatenge meinschaften ein.

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Insofern bietet uns die Geschichte Anschauungsmaterial zum Um gang mit Herausforderungen: Wo soll man sich flexibel den Ver änderungen anpassen, wo standhaft an Bewährtem festhalten? Welche Allianzen sind Erfolg versprechend und wo bleibt der Star ke am mächtigsten allein? Dieser Zielkonflikt, von Friedrich Schil ler mit Werner Stauffacher und Wilhelm Tell personifiziert, be gleitete die Schweiz durch ihre jahrhundertealte Geschichte und ist heute noch immer aktuell.

Für den Grossteil der Weltbevölkerung ist eine Staatsform wie jene der Schweiz auch heute noch reine Utopie. Sie erscheint un erreichbar, ganz der Definition von Duden online für «Utopie» und «utopisch» entsprechend, wonach es sich bei einer Utopie um ei nen «undurchführbar erscheinenden Plan», eine «Idee ohne reale Grundlage» handelt. Utopisch ist etwas dann, wenn es «nur in der Vorstellung, Fantasie möglich; mit der Wirklichkeit nicht verein bar» Staatsutopienist.2 sind allerdings nichts Neues. So beschrieb der eng lische Staatsmann und Humanist Thomas Morus schon 1516 in seinem Roman «Utopia» eine ihm ideal erscheinende Gesellschaft, und der italienische Philosoph, Dominikaner, Politiker und Dich ter Tommaso Campanella tat es ihm 1602 mit dem «Sonnenstaat» gleich. Eine Utopie beschreibt im zeitgenössischen Vergleich ei nen besseren Zustand als Hoffnung für die Zukunft. Insofern sind beide Werke echte Utopien; denn sie beschreiben im Vergleich zu damals eine bessere Gesellschaft. Allerdings sahen sie das Ideal in einem fertig entwickelten stabilen Endzustand. Daran scheiter ten sie. Das lässt sie aus heutiger Sicht – verglichen mit der Schweiz – zu Dystopien werden, weil sie eine aus heutiger Optik nicht wünschenswerte Gesellschaftsordnung beschreiben. Nicht wünschenswert deshalb, weil sie in der Entwicklung zum Besse ren auf halbem Weg stehenblieben und diesen Stand einfroren, ohne Raum zu bieten für weitere gesellschaftliche Entwicklungen.

3.1 Utopie, Theorie und Praxis 3.1.1 Staatsutopien und ihre Grenzen

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13 3.

Ausgangslage

Duden online: Utopie/utopisch.

3 Lötscher, S. 27.

Wesentliche Freiheitsrechte bleiben den Bürgern von Utopia und dem Sonnenstaat verwehrt.3 Daraus lässt sich ableiten, dass die ideale Staatsform Raum lässt für die Weiterentwicklung der Ge sellschaft und ihrer Individuen. Sie muss dem Einzelnen das «Streben nach Glück» ermöglichen unter Wahrung eines Rah mens, der die Stabilität des Staates und die Freiheit all seiner Bür ger möglichst gewährt. Für die Eidgenossen ist Realität geworden, was vielerorts leider immer noch Utopie ist. 3.1.2 Staatstheoretiker

Burlamaqui (1694–1748), Genfer Jurist, Philosoph und Schriftsteller, war ein bedeutender Vertreter des Naturrechts. Auch er berief sich auf Gott, kam aber zu einem komplett anderen Fazit: Gott schenkt den Menschen das Leben als freie und gleiche Wesen. Die logische Ableitung daraus ist, dass sie verpflichtet und berechtigt sind, dieses Leben und ihre Freiheit zu verteidi gen, zu nutzen und gleichermassen die Freiheit der anderen zu respektieren. Die Fähigkeiten, die Gott den Menschen mitgibt, sollen für Gutes genutzt werden. Burlamaqui versteht darunter das, was der Selbsterhaltung dient, den Menschen weiterbringt, seine Lebensumstände verbessert und ihm Vergnügen bereitet.

Über Jahrhunderte legitimierten die Monarchen und Aristokra ten ihren Machtanspruch durch die «göttliche Ordnung». Es sei der Wille Gottes, dass ein von ihm mandatierter Monarch an sei ner Stelle über das Volk herrsche, um Recht und Ordnung auf rechtzuerhalten.

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Aus der Unfehlbarkeit Gottes leiteten sie den absoluten Anspruch seiner Stellvertreter auf Erden ab – mit dem Segen der katholischen Kirche, die ebenfalls monarchisch auf gebaut war und es tendenziell heute noch ist. Sie sahen es als Gottes Willen, dass einige im Prunk schwelgten und viele in Ar mut Jean-Jacquesdarbten.

vor und hält fest: «Wir halten diese Wahrheiten für ausgemacht, daß alle Menschen gleich er schaffen worden, daß sie von ihrem Schöpfer mit gewissen unver äußerlichen Rechten begabt worden, worunter sind Leben, Frey heit und das Bestreben nach Glückseligkeit. Daß zur Versicherung dieser Rechte Regierungen unter den Menschen eingeführt wor den sind, welche ihre gerechte Gewalt von der Einwilligung der Regierten herleiten; daß sobald einige Regierungsform diesen Endzwecken verderblich wird, es das Recht des Volks ist, sie zu verändern oder abzuschaffen, und eine neue Regierung einzuset zen, die auf solche Grundsätze gegründet, und deren Macht und Gewalt solchergestalt gebildet wird, als ihnen zur Erhaltung ihrer Sicherheit und Glückseligkeit am schicklichsten zu seyn dünket.»6

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Kurz gesagt: Der Mensch soll und darf nach wahrem und dauer haftem Glück streben. Das ist der Ursprung und die Basis der unveräusserlichen Menschenrechte. Diese Rechte liegen somit in der Natur des Menschen.4

In einer Grussbotschaft an die Schweiz zum 720. Geburtstag der Eidgenossenschaft hielt Hillary Clinton im Namen Präsident Oba mas und des amerikanischen Volkes fest: «Amerikas Gründer wur den inspiriert durch die Ideen und Werte früher Schweizer Philo sophen wie Jean-Jacques Burlamaqui und Emer de Vattel, und die Schweizer Verfassung von 1848 wurde durch unsere eigene Verfas sung beeinflusst. Das Schweizer Bekenntnis zur Demokratie ist ein 4 Holenstein, S. 348 f. 5 Holenstein, S. 349. 6 Erste deutsche Übersetzung: Pennsylvanischer Staatsbote, Philadelphia, 9. Juli 1776.

Die Gründerväter der Vereinigten Staaten von Amerika beriefen sich auch auf Burlamaqui. James Wilson, philosophischer und juristischer Kopf der amerikanischen Revolution, kam 1774 zu folgendem Schluss: «Das Naturrecht ist bei den Pflichten jedem anderen Recht übergeordnet.»5 Zwei Jahre später liegt die ameri kanische Unabhängigkeitserklärung

16 Beispiel für alle Nationen und Völker, die sich nach Freiheit und Menschenrechten sehnen.»7 3.1.3 Ein Werk von Praktikern 3.1.3.1 Kommission mit Regierungserfahrung

Der Auftrag zur Erarbeitung einer neuen Staatsorganisation und einer Bundesverfassung als Ersatz für den bisherigen Staaten bund und den Bundesvertrag wurde von der eidgenössischen Tag satzung (Bundesversammlung) einer eigens eingesetzten Bundes revisionskommission übertragen. In dieser Kommission ist jeder Kanton mit einer Stimme vertreten, meist derjenigen des Regie rungspräsidenten, der vielerorts den Titel Landammann trägt. Es sind die hellsten Köpfe der Kantone, gebildet, politisch und meist auch wirtschaftlich erfahren. Sie vertreten die Interessen ihrer Kantone. Aufgrund ihrer beruflichen Herkunft und Vernetzung tragen sie das Wissen um lokale Wirtschaftsstrukturen und deren Bedürfnisse in die nationale Politik. Die Kommission vereint so mit eine Vielfalt an Pragmatikern, die ihrerseits die Vielfalt der damaligen Schweiz in die Beratungen einbringen. Eine Sonder stellung nehmen die katholischen Kantone der Innerschweiz und ihre zugewandten Orte Freiburg und Wallis ein. Als Verlierer des noch kein Jahr zurückliegenden Sonderbundskriegs stehen sie noch unter Aufsicht der siegreichen Besatzungstruppen. Sie sind durch liberale Katholiken vertreten, die in ihren Kantonen aller dings in der Minderheit sind.8 Das ist Fluch und Segen zugleich, wie sich noch zeigen wird. 7 (englisch,(Aussenministeriumhttps://2009-2017.state.gov/secretary/20092013clinton/rm/2011/07/169371.htmderVereinigtenStaaten,29.Juli2011,abgerufenam5.Juni2021ArchivversiondesU.S.DepartmentofState)). 8 Holenstein, S. 47 f.

Der Sonderbundskrieg war ein Bürgerkrieg. Umso bemerkens werter ist es, dass die Sieger doch recht pfleglich mit den Verlie rern umgingen und bemüht waren, den nationalen Zusammenhalt wieder herzustellen. Trotz verständlichen Ressentiments beider seits gelang dies recht gut, wenn auch nicht ohne Zwischentöne und Opfer, wie das Beispiel des Schwyzer Vertreters Melchior Diethelm zeigt, der seinen politischen Absturz in der Heimat in einen Durchbruch für den Bund umwandelte, nicht zuletzt dank tatkräftiger Unterstützung der anderen katholischen Vertreter und gegen den Widerstand des Zürcher Vertreters und nachmali gen ersten Schweizer Bundespräsidenten Jonas Furrer. Dies zeigt deutlich, dass nicht eine kleine Machtelite ihre Positionen rück sichtslos durchdrückte, sondern dass um Positionen und Konsens gerungen wurde. Die Vertreter der Kommission wussten sehr wohl, dass nicht sie die letzte Entscheidung treffen würden, son dern die Bevölkerung der Kantone. Deshalb war ein mehrheitsfä higer Konsens äusserst wichtig. Die katholisch-konservativen Ver treter, die am Staatenbund von 1815 festhielten, waren ebenso ausgeschaltet wie die Ultraradikalen, die die Kantone auflösen und einen Einheitsstaat errichten wollten. Letztlich setzte sich der Kompromiss der politischen Mitte durch, wie noch so oft in der nachfolgenden schweizerischen Geschichte.9 3.2 Kurzer geschichtlicher Abriss

17 3.1.3.2 Rücksicht auf Verlierer

Der nachfolgende kurze geschichtliche Abriss erhebt keinerlei Anspruch auf Vollständigkeit, sondern dient lediglich dazu, die Entstehung des schweizerischen Bundesstaats in einen groben historischen Kontext zu stellen, um die nachfolgenden Entwick lungen besser verständlich zu machen. 9 Holenstein, S. 48.

Über die Jahrhunderte wuchs die Eidgenossenschaft stetig, und je mehr Mitglieder sie umfasste, umso mehr Staatsformen gehör ten ihr an. Während die Landbevölkerung der Urkantone weitge 10 bundesbrief-von-1291.html?lang=de.https://www.admin.ch/gov/de/start/bundesrat/geschichte-des-bundesrats/

Dieses Bekenntnis trägt wohl den aufklärerischen Strömungen von Schillers Zeit Rechnung, dem Streben nach individueller Freiheit und Gleichheit. Diese Ideale der Französischen Revolution von 1789 flossen denn auch in die Bundesverfassung von 1848 ein.

Wir wollen frei sein, wie die Väter waren, eher den Tod, als in der Knechtschaft leben.

18 3.2.1

Wir wollen trauen auf den höchsten Gott und uns nicht fürchten vor der Macht der Menschen.

Allerdings ging der Bund der alten Eidgenossen nicht so weit. Viel mehr handelte es sich in der Realität um eine gemeinsame Organi sation des Zusammenlebens der drei Talschaften Uri, Schwyz und Unterwalden inklusive Verteidigungsbündnis, die sich zwar eigene Richter ausbedang, im Übrigen aber die bestehenden Herrschafts verhältnisse unangetastet liess. So hält die deutsche Zusammenfas sung des lateinischen Textes unter Punkt drei explizit fest: «Jeder soll aber gemäss seinem Stand weiterhin seinem Herrn dienen.»10

Die alte Eidgenossenschaft

Gemeinhin wird der Rütlischwur von 1291 als Beginn der Eidge nossenschaft betrachtet und damit einer über 700-jährigen Ge schichte von Freiheit und Unabhängigkeit. Literarisch hat dies Friedrich Schiller 1804 in seinem Drama «Wilhelm Tell» mit fol gendem gemeinsamen Bekenntnis der alten Eidgenossen auf den Punkt gebracht: Wir wollen sein ein einzig Volk von Brüdern, in keiner Not uns trennen und Gefahr.

Frankreich half der alten Eidgenossenschaft auch, sich nach Wes ten auszudehnen. So wurde die Waadt 1803 in den Bund aufge nommen, Neuenburg, Genf und Wallis kamen 1805 dazu. Die enge Beziehung zu Frankreich öffnete den Schweizer Raum für das Ge dankengut der französischen Aufklärung.15 So wurden bereits im 11 Andrey, S. 287. 12 Kölz, S. 14 ff. 13 Kuntz, S. 30. 14 Kuntz, S. 46 f. 15 Kuntz, S. 54 f.

19 hende Freiheitsrechte genoss, galt dies für die ländlichen Gebiete vieler städtischer Kantone nicht. Sie waren beispielsweise in den Kantonen Zürich, Bern und Luzern Untertanengebiete der Städte. Dazu kamen heutige Kantone, die als Vogteien Untertanengebiete einzelner oder mehrerer Kantone waren. Beispiele dafür sind Aar gau, Thurgau und Waadt. Mit dem preussischen Fürstentum Neu enburg gehörte sogar eine Monarchie dem eidgenössischen Bund an.11 Hinzu kommt, dass im 18. und 19. Jahrhundert vor allem in den Städteorten eine Entwicklung von relativ demokratischen Strukturen hin zu einer Aristokratisierung stattfand, indem ein gesessene Patrizierfamilien die Macht unter sich aufteilten.12 1516, dem Jahr nach der empfindlichen Niederlage bei Marignano, schlossen die Dreizehn Orte einen «Ewigen Frieden» mit Frank reich und verzichteten fortan auf Expansionskriege.13 Die Verbin dung mit Frankreich gewann an Stärke und der westliche Nachbar verfügte über das grösste Kontingent an Schweizer Soldaten. Die se brachten nicht nur Geld, Titel und Bildung nach Hause, son dern auch Kenntnisse der «internationalen» Sprache und damit eine gewisse Weltgewandtheit. Der Dreissigjährige Krieg hätte wahrscheinlich das Ende der Eidgenossenschaft bedeutet ohne ihr Bekenntnis zur Neutralität und die französischen Interessen im Hintergrund. Der Westfälische Friede brachte den Kantonen die völlige Unabhängigkeit vom Deutschen Reich. Somit begann 1648 die Souveränität der Schweiz.14

ff.

20 18. Jahrhundert Ideen und Theorien ausgefeilt, die als Basis mo derner Demokratien dienten und teilweise heute noch Bestand haben. Rousseau und andere traten für den Gesellschaftsvertrag16, die Gewaltenteilung und den Parlamentarismus ein.17 Zeitgenössi sche Biografien zeigen, dass die damaligen Gebildeten sehr mobil waren über Sprach- und Landesgrenzen hinaus. Die Verflechtung zwischen Deutschland, Österreich, Frankreich, Grossbritannien, Schweden und den Vereinigten Staaten war sehr eng. Die Ideen und Einflüsse breiteten sich über Staatsgrenzen hinaus aus. Auch die Schweizer waren sehr gut in dieses Beziehungsnetz eingebun den. In einzelnen Gebieten der Schweiz entwickelten sich bereits Individualrechte.18 Die entstehenden Wirtschaftstheorien führten zu wirtschaftlichen Freiheitsrechten und brachten den Wirtschafts liberalismus hervor.19 3.2.2 Helvetik Als 1798 die französischen Truppen von Napoleon Bonaparte ein marschierten, bedeutete dies die faktische Auflösung der alten Eidgenossenschaft. Die Franzosen plünderten die Staatskassen und gründeten die Helvetische Republik, einen Tochterstaat nach französischem Muster. Obwohl sie nur fünf Jahre Bestand hatte, führte die von aussen aufgezwungene und dadurch instabile Staatsform zu Machtkämpfen und einer bewegten Geschichte. Die Eidgenossen vermochten sich mit der ausgeprägten Zentrali sierung nicht anzufreunden. Trotzdem beinhaltete die Helveti sche Republik einige Elemente, die später wieder aufgegriffen wurden. So wurden die Untertanenverhältnisse aufgehoben und ein Zweikammersystem eingeführt. Die Schaffung der Einwoh nergemeinden parallel zu den Bürgergemeinden und die Einfüh

ff.

16 Die Macht geht von der Gesellschaft aus (Volkssouveränität). Das Individuum ordnet seine Interessen jenen der Gemeinschaft unter. 17 Kölz, S. 34 ff. 18 Kölz, S. 42 19 Kölz, S. 45

Napoleon war es, der angesichts ständiger Quere len, aber auch aufgrund gesamteuropäischer Entwicklungen der Helvetischen Republik den Todesstoss versetzte, indem er mit sei ner Mediationsakte eine deutlich föderalistischer23 ausgeprägte Verfassung schuf. Dass Aargau, Thurgau, Tessin, Waadt und Teile St. Gallens nicht wieder Untertanengebiete wurden, missfiel vor allem den Bernern. Angesichts der Drohungen Napoleons mit ei nem Einmarsch akzeptierten sie allerdings die neue Ordnung.24

20 Siehe dazu auch Kölz, S. 111–123. 21 Kölz, S. 136. 22 Die Kapitel «Mediation» bis «Regeneration» basieren hauptsächlich auf dem Textabschnitt «Auf dem Weg zum Bundesstaat» der Bundesverwaltung: admin.ch/aboutswitzerland/de/home/politik-geschichte/geschichte-der-schweiz.html.www.eda.

23 Erklärung von Föderalismus und Subsidiarität im Kapitel 3.3.3 «Föderalismus und Subsidiarität». 24 Kölz, S. 143. 25 Kölz, S. 145 ff.

Die Förderung der individuellen Freiheit und des wissenschaft lich-wirtschaftlichen Fortschritts gelang allerdings nur in Ansät zen.21 Zur Zeit der Helvetik umfasste die Schweiz 21 Kantone. 3.2.3 Mediation22 Ausgerechnet

21 rung der Friedensrichter nach englischem Vorbild sind ebenso Errungenschaften der Helvetik wie das Verfassungsreferendum.20

Die Mediation stellte insofern einen Rückschritt in alte Muster dar, als der Bund zugunsten der Kantone eine Schwächung erfuhr. Auch die Individualrechte wurden nach kurzer Blüte wieder ein Obwohlgeschränkt.25diefranzösischen Truppen abzogen, blieb die Schweiz bis 1813 ein französischer Vasallenstaat und somit von Frankreich ab hängig. Die heute noch auf den schweizerischen Münzen aufge prägte Bezeichnung «Confoederatio Helvetica» (Schweizerische Eidgenossenschaft) geht auf die Mediationszeit zurück und ist heute noch Basis der internationalen Abkürzung «CH».

Die benachbarten Grossmächte Frankreich, Preussen und Österreich übten als absolutistische Monarchien Druck auf die Schweiz aus, da mit die alte Ordnung möglichst erhalten blieb. Als die liberale Juli revolution von 1830 den französischen König Karl X. entthronte, ver schaffte dies der Schweiz Luft für einen liberalen Aufbruch, der Regeneration genannt wird. Insbesondere die grossen Kantone des Mittellands gaben sich neue liberale Verfassungen, welche die Ge waltentrennung mit repräsentativ gewählten Parlamenten und die Gleichberechtigung aller Kantonseinwohner einführten. Allerdings ist diese allgemeine Rechtsgleichheit zu relativieren, so galt sie näm

22 3.2.4 Restauration

Nach dem Zusammenbruch der französischen Herrschaft in Euro pa brach die Zeit der Restauration an. Der Begriff geht auf den Berner Karl Ludwig von Haller und sein Werk «Restauration der Staatswissenschaften» zurück. Im Wesentlichen ging es dabei um eine Rückkehr zum «Ancien Régime», das heisst zur vorrevolutio nären aristokratisch geprägten Ordnung. In Europa wurden die Monarchien wieder installiert. Am Wiener Kongress von 1814/1815 garantierten die europäischen Grossmächte die Vollständigkeit und Unverletzlichkeit des schweizerischen Territoriums und ins besondere die Neutralität. Allerdings wachten diese Monarchien –insbesondere Frankreich und Österreich – darüber, dass die alte Ordnung in der Schweiz intakt blieb, und beäugten demokratische Entwicklungen kritisch. Der Bundesvertrag vom August 1815 gab den Kantonen die meisten staatlichen Kompetenzen zurück. Aus genommen und damit Bundessache waren die Aussenpolitik und Teile des Wehrwesens. Wesentliche Grundrechte wie die Gewerbeund Niederlassungsfreiheit fehlten. Das und die kantonal unter schiedlichen Zölle, Währungen und Masse hemmten die wirt schaftliche Entwicklung. Immerhin blieben die vormaligen Untertanengebiete gleichberechtigte Kantone. 3.2.5 Regeneration

23 lich nicht für Juden und (je nach Kanton) nicht für Nicht-Katholiken.26

Auch bei den politischen Rechten gab es Einschränkungen: So kann ten einige Kantone für das Stimm- und Wahlrecht einen Vermögens zensus, also ein Mindestvermögen als Voraussetzung zur Ausübung der Bürgerrechte. Armengenössige, Konkursiten, «in Kost und Lohn» Stehende, mit Wirtshausverbot Belegte, religiöse Minderheiten und Geistliche waren Gruppen, die von den politischen Rechten ausge schlossen sein konnten. Generell verfügten die Frauen über kein Stimm- und Wahlrecht. So waren 1848 nur rund zwanzig bis dreissig Prozent der Bevölkerung stimmberechtigt.27 Mit Einführung der Pres se-, Vereins-, Versammlungs-, Handels- und Gewerbefreiheit blühte das Vereinswesen auf. Gelehrte Gesellschaften, Schützen-, Turn-, Sänger- und Studentenvereine auf nationaler Ebene förderten das Zusammengehörigkeitsgefühl über die Kantone hinaus. Herrschte zuvor bei den kantonalen Parlamenten ein klares Über gewicht der Städte gegenüber den Landregionen, so brachte die Re generation zumindest teilweise die politische Gleichheit, indem die Parlamentssitze bevölkerungsproportional verteilt wurden, analog dem heutigen Nationalrat. Allerdings erfolgte die Umsetzung nicht überall gleich konsequent. Beispielsweise stellte die Stadt Zürich mit ihren 10 000 Einwohnern einen Zwanzigstel der Kantonsbevöl kerung, hielt aber im Kantonsparlament einen Drittel der Sitze –immerhin nicht mehr die Mehrheit.28 Als persönliche Freiheit gilt der Schutz von «Leib, Leben, Ehre und Vermögen». Angeklagte wurden durch die Unschuldsvermu tung geschützt, die Folter wurde abgeschafft, aber nicht die Todes strafe. Die «Freiheit, seine Anlagen und Kräfte zu entwickeln, und, den Rechten eines anderen unbeschadet, zu gebrauchen» klingt schon sehr modern und ist eine Konsequenz aus dem Be kenntnis zur Naturrechtslehre.29 26 Kölz, S. 322. 27 Kölz, S. 320 ff., und Holenstein, S. 436. 28 Kölz, S. 320 ff. 29 Kölz, S. 326 ff.

24 Gewisse individuelle Freiheitsrechte ermöglichten erst den wirt schaftlichen Aufschwung. Die Eigentumsfreiheit erlaubte es Un tertanen, sich für die 14- bis 25-fache jährliche Naturalleistung von den Feudallasten loszukaufen. Daraus entstanden grund pfandgesicherte Forderungen und der Bedarf nach günstigen Kre diten (Hypotheken). Die Handels- und Gewerbefreiheit führte zur Abschaffung des Zunftwesens und der Monopole. Eng damit ver bunden ist auch die Niederlassungsfreiheit. Sie galt grundsätzlich innerhalb des Kantons beziehungsweise darüber hinaus bei Ge genrecht. So schlossen die Kantone Zürich, Bern, Luzern, Glarus, Freiburg, Solothurn, Aargau, Thurgau, Tessin, Waadt, Neuenburg, Genf und Schaffhausen ein entsprechendes Konkordat. Einige ka tholische Kantone blieben fern aus Furcht um die katholische Glaubenseinheit und gerieten prompt ins wirtschaftliche Hinter treffen, weil die (vorwiegend protestantischen) Industriellen und Handwerker andere Standorte wählten.30

– respektive ihre Interpretation und der Umgang damit – dokumentiert wesentliche Unterschiede der drei damals dominierenden politischen Strömungen: So forderten die Liberalen die Freiheit, ohne Bewilligung zu lehren, während die Radikalen unentgeltlichen, konfessionslosen staatlichen Unter richt verlangten. Die Konservativen schliesslich wehrten sich ge gen eine Trennung des Unterrichts vom Kirchlichen.32 30 Kölz, S. 328 ff. 31 Kölz, S. 339 Kölz,

ff. 32

S. 341 f.

Basierend auf der Meinungsfreiheit, die als Naturrecht nicht ex plizit festgeschrieben war, wurde auch die Pressefreiheit flächen deckend gewährt.31 Dieses Recht war ein besonders schmerzhafter Stachel im Fleisch der benachbarten absolutistischen Monarchien, wussten sich doch auf diese Weise politische Flüchtlinge, Gehör zu Dieverschaffen.Unterrichtsfreiheit

Die Liberalen forcierten die Gewaltenteilung. So machten sie Druck, dass Exekutivmitglieder nicht mehr von Amtes wegen auch Parlamentarier waren. Sie wehrten sich auch gegen Doppel 33 Andrey, S. 344. 34 Andrey, S. 314. 35 Bundesverwaltung – Abschnitt «Auf dem Weg zum Bundesstaat geschichte-der-schweiz.html.www.eda.admin.ch/aboutswitzerland/de/home/politik-geschichte/(1815–1848)»,

25 Allerdings taten sich auch in konservativen Regionen liberale Köpfe hervor. So votierte der liberale Luzerner Tagsatzungsprä sident Kasimir Pfyffer bereits 1831 zugunsten einer «stärkeren und engeren Bundesverbindung und einer vorangetriebenen Zentralisierung».33

die liberalen Regierungen das Bildungswe sen durch die Einführung der obligatorischen Volksschule und die Gründung von Lehrerseminaren und Universitäten. Dies führte wiederum zum Widerstand kirchentreuer Konservativer auf refor mierter und katholischer Seite. Diese befürchteten eine Verdrän gung der christlichen Lehre. Entsprechend wuchsen in den 1840er-Jahren die Konflikte zwischen Liberalen und Konservati ven. Vordergründig war es auch ein Konflikt zwischen den Kon fessionen, hauptsächlich aber entzündete er sich an der Frage, ob die Kantone souverän bleiben sollten oder ob ein Nationalstaat mit umfassenden Kompetenzen zu schaffen sei.35

Die Einführung einer Bundesverfassung scheiterte 1833 jedoch am Widerstand der konservativen Kanto ne, wo der Konflikt zwischen vollberechtigten und benachteilig ten Bürgern teilweise zu Kantonsspaltungen führte, temporär in Schwyz (Innerschwyz und Ausserschwyz) und dauerhaft in Ba sel (Stadt und Landschaft). Da eine Änderung des Bundesver trags der Einstimmigkeit bedurfte, kam die Bundesverfassung nicht zustande. Der Luzerner Paul Vital Ignaz Troxler schlug daraufhin als Modell die Verfassung der Vereinigten Staaten mit ihrem Zweikammersystem vor.34 Damit war er aber noch einige Jahre zu Gleichwohlfrüh.förderten

Armengenössigen und Konkursiten, teilweise auch religiösen Minderheiten das Stimm- und Wahlrecht 36 Kölz, S. 360 ff. 37 https://www.eiu.com/n/campaigns/democracy-index-2020. 38 Holenstein, S. 5.

Die ersten nachhaltigen, bis heute bestehenden Demokratien Euro pas sind die regenerierten Kantone der Schweiz, die sich zur Zeit der französischen Julirevolution von 1830 neue Verfassungen ga ben. Bei der Aktivwahlberechtigung erreichten sie für damalige Verhältnisse sehr hohe Demokratisierungsgrade von bis zu 24 Pro zent, während beispielsweise Frankreich gerade mal 0,5 Prozent erreichte.38 Aus heutiger Sicht ist 24 Prozent ein sehr tiefer Wert, was damit zusammenhängt, dass damals die Frauen generell nicht stimm- und wahlberechtigt waren, womit schon mal rund 50 Pro zent der Bevölkerung wegfallen. Zu den unterschiedlich ausge prägten Demokratien siehe auch Kapitel 3.5 «Unterschiedliche De Nebstmokratisierungsgrade».denFrauenwarauch

26 mandate in Exekutive und Judikative, aber weniger gegen solche in Judikative und Legislative.36 3.3 Begriffe 3.3.1 Demokratie

Der Begriff «Demokratie» stammt aus dem Altgriechischen und be deutet «Herrschaft des Staatsvolkes». Wenn das Volk unmittelbar in die Entscheidungsfindung eingebunden ist, spricht man von einer direkten Demokratie. Wählt es jedoch Repräsentanten, welche dann die Entscheide fällen, ist dies eine indirekte, repräsentative oder parlamentarische Demokratie. Gemäss dem von der Zeitschrift «The Economist» publizierten Demokratieindex 2020. leben nur gerade 8,4 Prozent der Weltbevölkerung in «vollständigen Demokratien».37

In der repräsentativen Demokratie (auch indirekte oder parla mentarische Demokratie genannt) wählen die Stimmberechtig 39 Holenstein, S. 76.

27 verwehrt. Beinahe wäre auch Ulrich Ochsenbein, der spätere Prä sident der Bundesrevisionskommission, diesen Beschränkungen zum Opfer gefallen. Sein Vater hinterliess den Kindern einen Schuldenberg.

Die direkte Demokratie ist die ursprünglichste und reinste Form der Demokratie: Die Stimmberechtigten treffen sich an der Ge meindeversammlung, diskutieren und debattieren, um schliess lich über die Anträge abzustimmen. Dabei kommt allen Stimmbe rechtigten die gleiche Stimmkraft zu. Heute kennt man dieses System noch auf der Ebene der (eher kleinen) Gemeinden, da es mit zunehmender Teilnehmerzahl grosse Anforderungen an Logis tik und Organisation stellt. Mit Appenzell Innerrhoden und Glarus führen nur noch zwei Kantone die Landsgemeinde als «Gemeinde versammlung auf kantonaler Ebene» durch. In anderen Kantons hauptorten zeugt aber heute noch ein Landsgemeindeplatz vom früheren Vorhandensein dieser basisdemokratischen Institution. Wo die persönliche Zusammenkunft schlecht umsetzbar ist, wer den alternativ Urnenabstimmungen durchgeführt. Meinungsbil dung und Stimmabgabe finden dann schriftlich statt. 3.3.1.2 Repräsentative Demokratie

Ulrich Ochsenbein war der Einzige, der das Erbe nicht ausschlug und die Schulden zurückzahlte, womit er sich sei ne bürgerlichen Ehren sicherte.39 Dieser eine verhinderte Konkurs ist somit entscheidend für die Entwicklung der modernen Schweiz, wie sich noch zeigen wird. Die Demokratie kennt verschiedene Abstufungen, welche nachfolgend kurz umschrieben werden. 3.3.1.1 Direkte Demokratie

Die illiberale Demokratie ist der eigentliche Wolf im Schafspelz: Wohl ist sie eine Demokratie, weil sie den Willen der Mehrheit respektiert. Illiberal wird sie durch Missachtung der Anliegen und allenfalls sogar der Rechte von Minderheiten.40 Oftmals führt ein schleichender Prozess von der repräsentativen Demokratie über die illiberale Demokratie in eine Autokratie oder Diktatur. 40 Albright, S. 202.

Der Spagat zwischen direkter und repräsentativer Demokratie war den freiheitsliebenden und auf Mitbestimmung pochenden Schweizern dann doch zu gross. So führten sie schon bald Initia tive und Referendum ein. Damit gaben sie den Stimmbürgern zusätzliche Mitbestimmungsrechte und schufen die halbdirekte Demokratie. Mit der Initiative können Bürger, wenn sie genug Unterschriften sammeln, ein Volksbegehren einbringen, das dann zur Abstimmung gebracht werden muss. Auf der anderen Seite setzt das Referendum an: Wenn genügend Stimmbürger mit ih rer Unterschrift einstehen, dann muss ein Erlass des Parlaments dem Volk zur Abstimmung vorgelegt werden. 3.3.1.4 Illiberale Demokratie

28 ten ein Parlament. Diese Volksvertreter repräsentieren dann die Stimmbevölkerung und fällen an ihrer Stelle die Entscheidun gen. In einem fixen mehrjährigen Turnus finden Neuwahlen statt. Der Volksmund sagt: «Wahltag ist Zahltag», und die Parla mentarier erfahren dann, ob sie im Sinne ihrer Wählerschaft gehandelt haben oder nicht. Während die Schweiz auf gemeind licher und meist auch auf kantonaler Ebene 1848 direktdemo kratisch organisiert war, stellte der neu geschaffene Bund eine repräsentative Demokratie dar. 3.3.1.3 Halbdirekte Demokratie

29 Beispiele für illiberale Demokratien sind Ungarn, die Türkei und Russland. Seit 2020 hat die ungarische Fidesz-Partei dank einer Mehrheit in Parlament und Regierung Verfassungsänderungen durchgesetzt, die die Macht des Parlaments beschneiden und jene des Ministerpräsidenten stärken.41 3.3.2 Rechtsstaat Damit sich in einer Gesellschaft die Menschen in einem freiheit lichen und gleichberechtigten Rahmen entwickeln können, braucht es grundsätzlich eine Demokratie. Doch reicht dies als Bedingung noch nicht aus, wie das obige Beispiel der illiberalen Demokratien zeigt. Die Geschichte ist denn auch voll von Beispie len, in welchen aus Demokratien durch charismatische (Ver-)Füh rer Diktaturen wurden. Die Bevölkerung liess sich durch Verspre chungen und anfangs auch (vermeintlich) gute Leistungen um den Finger wickeln, und als sie merkte, wohin dies führte, war es bereits zu spät. Um dies zu verhindern, bedarf es solider rechtsstaatlicher Struktu ren. Das bedeutet, dass der Staat einen rechtlichen Rahmen schafft, an den er sich selbst auch hält und der die Grundrechte der Bürger garantiert. Jegliches staatliche Handeln bedarf einer rechtlichen Grundlage, die Willkürakte vermeidet. Diese Schranken müssen so stabil und hoch sein, dass sie nicht aufgrund populistischer Propa ganda durch einen simplen Mehrheitsbeschluss aus einer kurzfris tigen Stimmung heraus weggespült werden können. 3.3.3 Föderalismus und Subsidiarität «Föderalismus» ist vom lateinischen Wort «Foedus» für Bund oder Bündnis abgeleitet. Das sagt schon einiges über die Organisati 41 Albright, S. 203.

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